Hans Maier ist eine Ausnahmeerscheinung: Er ist ein universaler Gelehrter, ein Humanist, wie sie selten sind, er war Politiker und Kirchenpolitiker von hohen Graden, er ist professioneller Organist, er ist Universitätsprofessor, begeisterter Forscher und brillanter Essayist. Doch beeindruckt nicht allein die Qualität der Bücher und Aufsätze von Hans Maier, sondern ihre angesichts seines vielfältigen wissenschaftlichen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Engagements unglaubliche Quantität – ist er doch alles andere als ein bloßer Stubengelehrter. Sein Schriftenverzeichnis enthält einschließlich der Rezensionen und Zeitungsartikel 1.745 Titel; als akademischer Lehrer betreute er 37 Dissertationen und vier Habilitationen. Als Vertrauensdozent der Studienstiftung des deutschen Volkes widmete er sich intensiv zahlreichen hochbegabten Studierenden, von denen viele noch Jahrzehnte später von seiner persönlich geprägten Art der Förderung schwärmten. Und – nicht zu vergessen: Hans Maier engagiert sich seit Jahrzehnten für das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) und die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Wann er all dies geschafft hat, bleibt sein Geheimnis; zweifellos besitzt er eine ungewöhnliche Selbstdisziplin, zweifellos ist er ein Leistungsethiker. Zwar hat der praktizierende Katholik unter anderem ein Buch über „Die christliche Zeitrechnung“ geschrieben, aber ob man nun den julianischen oder den gregorianischen Kalender zugrunde legt – auch für Hans Maier, den Familienvater mit sechs Töchtern, hat der Tag nur 24 Stunden.
Am 18. Juni 1931 in Freiburg im Breisgau geboren, wurde Hans Maier nachhaltig durch die Bildungswelt seiner Heimatstadt und ihrer Universität geprägt, ganz entscheidend aber zugleich durch die frühen Lebenserfahrungen in der nationalsozialistischen Diktatur und den Zweiten Weltkrieg. Er studierte dort, in München und in Paris Politische Wissenschaft, Geschichte, Philosophie und Romanistik. Zu seinen zahlreichen bedeutenden akademischen Lehrern zählten die so gegensätzlichen Neuzeithistoriker Gerhard Ritter und Franz Schnabel, der Mediävist Gerd Tellenbach und der Romanist Hugo Friedrich. Bei dem aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrten Arnold Bergstraesser, der eine Reihe ausgezeichneter Schüler hatte, wurde Hans Maier 1957 in Freiburg promoviert, dort mit erst 31 Jahren 1962 für Politische Wissenschaft habilitiert und erhielt sogleich einen Ruf auf ein Ordinariat seines Fachs am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), das er bis 1987 innehatte. Äußerlich betrachtet wurde seine glänzende wissenschaftliche Laufbahn unterbrochen, nachdem er als damals noch Parteiloser 1970 auf Vorschlag von Franz Josef Strauß zum Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus in das dritte Kabinett von Ministerpräsident Alfons Goppel berufen wurde. In diesem Amt blieb er von 1978 bis 1986 auch in der Regierung Strauß – insgesamt 16 Jahre in einem zu Zeiten universitärer Unruhen und zahlreicher bildungspolitischer Probleme äußerst herausfordernden Ministerium sind ein ungewöhnlich langer Zeitraum. Doch davon später. Danach blieb Hans Maier noch bis 1987 Mitglied der Fraktion der Christlich-Sozialen Union (CSU) des Bayerischen Landtags. 1988 wurde er nach einem von ihm abgelehnten Ruf nach Freiburg auf den Romano Guardini-Lehrstuhl für Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der LMU berufen, den er bis zu seiner Emeritierung 1999 innehatte. Während seiner Politikerjahre war er von 1976 bis 1988 zugleich Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.
Soweit die äußeren Daten, die schon für sich genommen eine ebenso ungewöhnliche wie glänzende Karriere belegen. Doch gilt das nicht minder für die substanziellen Leistungen seines Lebens- und Berufswegs. Schon die Bemerkung, Hans Maier habe seine wissenschaftliche Laufbahn 17 Jahre unterbrochen, trifft nur auf den ersten Blick zu. Tatsächlich hielt er weiter Seminare ab, kümmerte sich um Studierende und vor allem: Er forschte, schrieb und publizierte munter weiter. Nebenbei, neben einem zeitraubenden Ministeramt? Nein, das Wort nebenbei wäre angesichts der Qualität eine unziemliche Verkennung.
Seine beiden aus der wissenschaftlichen Qualifikation hervorgehenden frühen Bücher sind bis heute Standardwerke geblieben und demonstrieren, dass schon die Bezeichnung Politologe für ihn viel zu eng ist, ebenso gut hätte er sich mit beiden Werken im Fach Geschichtswissenschaft qualifizieren können, mit dem zweiten wohl auch für Rechtsgeschichte: Sein Buch „Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie 1789–1850“ erschien zuerst 1959, erlebte insgesamt sechs Auflagen und wurde sowohl ins Französische als auch ins Englische übersetzt – ein solcher Erfolg ist bei Dissertationen kaum je zu verzeichnen. Auch seine 1966 publizierte Habilitationsschrift „Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre“ wurde dreimal aufgelegt. Beide Bücher erhielten Impulse durch gegenwartsbezogene Fragen, etwa: Woher kommt der Begriff christliche Demokratie, die nach 1945 in den großen Wegbereitern der europäischen Verständigung – Konrad Adenauer, Alcide De Gasperi und Robert Schuman – personifiziert wurde? Beide Bücher beruhen gleichermaßen auf methodologischer Reflexion wie intensiven Quellenstudien. In der Dissertation untersuchte Hans Maier die Entwicklungsgeschichte der christlichen Demokratie seit ihrem Ursprung in der Französischen Revolution vom späten 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Der ideengeschichtliche Schwerpunkt wird durch soziologische und organisatorische Fragen erweitert; einleitend und abschließend (in der Neuauflage) erschließt das Buch grundsätzliche forschungsgeschichtliche Dimensionen. Es handelt sich schon insofern um ein originelles Werk, weil niemand vor Hans Maier den Ursprung der christlichen Demokratie in den Debatten der Französischen Revolution 1791 gesucht hätte, auch nicht Karl Dietrich Erdmann in seinem Buch „Volkssouveränität und Kirche“ (1949). Wenn in der Historischen Zeitschrift Hans Maiers Studie zu Recht als „meisterhaft“ beurteilt wurde, ist zu bedenken, dass es für den damals 26-Jährigen eigentlich erst das Gesellenstück war.
Ist für dieses Buch die Verbindung historischer, politikwissenschaftlicher und auch kirchengeschichtlich-theologischer Fragestellungen charakteristisch, zeichnet sich seine Studie zur Geschichte der „Policeywissenschaft“ durch die Kombination historischer, verwaltungssoziologischer, nationalökonomischer und juristischer Kompetenz aus. Mit diesem originellen Werk, in dem er die Geschichte des Staats- und Verfassungsdenkens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert sozialgeschichtlich kontextualisierte, lieferte er zugleich einen wesentlichen wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag zur „Policeywissenschaft“, „der wissenschaftlichen Lehre von der inneren Politik des älteren deutschen Territorialstaats“. Maier rekonstruierte aus einer Vielzahl bis dahin nicht bekannter beziehungsweise ausgewerteter Quellen die Krise der altständischen Ordnung und ihre Konfrontation mit neuen gesellschaftlichen Ordnungsproblemen. Damit erschloss er die Grundfragen nach Sinn und Zweck des Staats, die in den damaligen Verwaltungsvorschriften zum Ausdruck kommen. Die Formulierung von Staatszielen in einem bis um 1800 noch nicht dualistisch verstandenen Verhältnis von Staat und Gesellschaft führt von der Epochenspezifik zur prinzipiellen Ebene, und damit zum fortwirkend Aktuellen, kurz: Hans Maier leistete dort einen fundamentalen Beitrag zum Ursprung und Wandel des modernen Staatsdenkens. Hans Maier initiierte mit dieser „Staats- und Verwaltungslehre“ eine Forschungsrichtung sowie eine groß angelegte kommentierte und interpretierte Textreihe, die er gemeinsam mit Michael Stolleis, dem langjährigen Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, herausgab: die „Bibliothek des deutschen Staatsdenkens“, für die Hans Maier selbst Hegels berühmte Schrift „Über die Reichsverfassung“ publizierte (2002).
Bereits in den beiden ersten großen Werken wird der ganz eigene Charakter des gesamten Œeuvres von Hans Maier offenkundig, verbindet er doch stets verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, arbeitet methodisch und thematisch interdisziplinär. Soweit möglich verfährt er zugleich komparativ, nationale Engführungen liegen dem universal Denkenden fern: „Notwendige Grenzüberschreitungen“ hat er das in seiner Dankrede für den Karl-Jaspers-Preis 2014 in Heidelberg genannt. In der Geschichtswissenschaft ist es heute schon sehr ungewöhnlich, dass jemand zugleich über die Frühe Neuzeit und das 19./20. Jahrhundert forscht, für Hans Maier ist das selbstverständlich. Doch nicht nur das: So vielfältig die Epochen, so vielfältig sind seine Themen, seine zeitlich ältesten berühren unter anderem die Frühgeschichte des Christentums und Augustinus, sie behandeln die politische Ideengeschichte seit Thomas Morus, die Kirchengeschichte seit dem Augsburger Religionsfrieden. Sein Forschungsspektrum reicht von der Theologie bis zur Literatur, von der Verfassungs-, Parteien- und Parlamentarismusgeschichte bis zu aktuellen Fragen von Kultur, Gesellschaft und Politik – und nicht zu vergessen: zur Musikgeschichte, Musikwissenschaft und zur Geschichte der Orgel, neben dem Cembalo sein Lieblingsinstrument. Über all diese Disziplinen hat er Aufsätze, Bücher und Essays vorgelegt, die sich allesamt durch Luzidität und Subtilität, durch Anschaulichkeit und sprachliche Brillanz auszeichnen. Hans Maier verkörpert wie nur ganz wenige die Einheit der Humanwissenschaften.
Obgleich er viele seiner Jahrzehnte oder Jahrhunderte umspannenden Themen mit einem prononcierten Gegenwartsbezug verfolgt, verfällt er doch nie in den in der Öffentlichkeit und bei zahlreichen jüngeren Historikern grassierenden Fehler, frühere Epochen primär oder gar ausschließlich unter einem heutigen Werthorizont zu beurteilen (und zu verurteilen), sondern behält stets auch eine hermeneutische Dimension des Verstehens im Blick; nicht zufällig hat er für die 6. Auflage des „Staatslexikons der Görres-Gesellschaft“ den Artikel „Historismus“ verfasst. Seine doppelte zeitliche Perspektive führt bei ihm keineswegs zum Relativismus, sondern schließt eine klare Wertorientierung ein. Das gilt für die Politische Wissenschaft, die er mit Arnold Bergstraesser primär als Demokratiewissenschaft versteht, und das gilt nicht minder für die Geschichte: Seine bis heute ungebrochene wissenschaftliche Neugier auf sehr unterschiedliche Phänomene sucht nicht in der Geschichte die Gegenwart, sondern in der Gegenwart die Geschichte. Das zeigt sich in zahlreichen seiner Studien, beispielsweise „40 Jahre Grundgesetz. Eine Bestandsaufnahme“ (1990), „Das Freiheitsproblem in der deutschen Geschichte“ (1991), „Wie universal sind die Menschenrechte?“ (1997) sowie in seinen so gehaltvollen Sammelbänden „Die Deutschen und ihre Geschichte“ (2010), „Christentum und Gegenwart. Gesammelte Abhandlungen“ (2016) und jüngst „Deutschland. Wegmarken seiner Geschichte“ (2021). Doch sowohl diese Bände als auch die fünfbändige Ausgabe seiner „Gesammelten Schriften“ (2006–2010) enthalten immer nur Teile seines Werks.
Naturgemäß umfasst Hans Maiers Œeuvre auch zahlreiche im engeren Sinne zeitgeschichtliche Studien, die nicht zur Demokratiewissenschaft gehören. Eine verdient besondere Hervorhebung, sein mehrfach aufgelegtes Buch „Politische Religionen“ (zuletzt 2007). Das Buch steht im Zusammenhang mit dem wegweisenden, von ihm an der LMU initiierten und geleiteten internationalen Forschungsprojekt „Totalitarismus und Politische Religionen“, dessen Ergebnisse in drei Bänden (1996–2003) erschienen und – von dem Begriff Politische Theologie ausgehend – vergleichend die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts untersuchte. Seine grundlegenden Überlegungen zu diesem Projekt präsentierte er 1994 bei einem von ihm angeregten Kolloquium im Institut für Zeitgeschichte; seine ausgearbeitete Konzeption veröffentlichte er 1995 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte: „‚Totalitarismus‘ und ‚Politische Religionen‘. Konzepte des Diktaturvergleichs“. Zu seinen Leitlinien gehört die Frage: Welche (pseudo)religiösen Inhalte, Herrschaftsformen und Rituale sind in den totalitären Ideologien, in Nationalsozialismus und Kommunismus, zu finden? Doch geht Hans Maiers Reflexion weit über die Beschreibung pseudoreligiöser Herrschaftsstile, charismatischen Führerkults und messianisch inszenierter kollektiver Erlösungshoffnungen hinaus, indem er fragt: Warum und mit welchen Wirkungen werden in einer säkularisierten Welt politische Ideologien zum Religionsersatz? Warum wurden die totalitären Ideologien zum Opium für das Volk – und nicht mehr nur zum „Opium für Intellektuelle“, wie Raymond Aron für den Marxismus gezeigt hat? In welcher Weise trugen die Politischen Religionen zur Etablierung und zum Erfolg totalitärer Regime bei?
Zu den von ihm thematisierten zentralen Aspekten gehört die unerhörte Entfesselung der Gewalt im 20. Jahrhundert, „die sich der Gesamtgesellschaft bemächtigt hat“. Die Gewalt wird ideologisch zur historischen Notwendigkeit erklärt, damit gerechtfertigt und verschafft den Tätern ein gutes Gewissen. Der von der Vorsehung gesandte Führer verkörpert den absoluten Wahrheitsanspruch, wie ihn im sowjetischen Kommunismus die Lehre der Partei vorgibt, deren Zeitung nicht zufällig (Prawda), Wahrheit heißt.
Diese Fragen und Themen applizierte Hans Maier auf frühe Überlegungen, die unter anderem von Waldemar Gurian ausgingen, dem ersten Deutschen, der zwischen 1927 und 1931 vergleichende Studien zu den totalitären Ideologien veröffentlichte. In dieser Tradition standen neben anderen Eric Voegelin, Raymond Aron und deutsche Emigranten in den USA von Hans Kohn bis zu Hannah Arendt, die seit Ende der 1930er Jahre neue Erklärungen für die ideologiegeleiteten totalitären Diktaturen des Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus suchten. Doch erweiterte Hans Maiers Konzeption diese herrschaftsstrukturellen Ansätze ganz wesentlich, nicht allein substanziell, sondern auch kausal- und wirkungsgeschichtlich. Damit trug er zur ideologischen, soziologischen und herrschaftstypologischen Erklärung zentraler Phänomene des 20. Jahrhunderts bei, nicht zuletzt der scheinbar paradoxen Wirkungsmacht Politischer Religionen in einer säkularisierten Welt.
Hans Maier als Kultur- und Wissenschaftspolitiker verdient eigene Studien. Ohne Zweifel zählt er in der nicht kleinen Riege der bedeutenden deutschen Kultusminister zwischen den 1940er und den 1980er Jahren – von Theodor Heuss bis zu Bernhard Vogel – zu den eindrucksvollsten. Wie nur wenige deutsche Politiker verkörperte er die Verbindung von Geist und Politik, insofern mit Theodor Heuss und Carlo Schmid zu vergleichen – ein Minister nicht nur für Kultur, sondern der Kultur. Nach einigen Fehlbesetzungen dieses Ministeramts gewann der erst 39-jährige Staatsminister Maier diesem Amt schnell Kompetenz und Autorität zurück. Er betrieb in der Universitäts- und Bildungspolitik vielfältige Reformen und zahlreiche Neugründungen von Universitäten und Hochschulen in Bayern. Ohne eine sinnvolle bildungs- und wissenschaftspolitische Traditionswahrung aufzugeben, bemühte er sich um konstruktive Antworten auf die sich rapide verändernde Gesellschaft und ihre Bildungseinrichtungen. Seit Mitte der 1960er Jahre wurden diese mit dem Schlagwort „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ durch die Studentenbewegung, von der schließlich ein Teil in den Linksterrorismus abdriftete, immer schärfer herausgefordert. Als zuständiger Staatsminister überstrahlte der glänzende Redner im Bayerischen Landtag nicht nur Parteifreunde, sondern sämtliche Oppositionssprecher. Es gelang ihm, den Kulturetat beträchtlich zu erhöhen, auf Bundesebene trug er wesentlich zur Stärkung und Integration der Kultusminister-Konferenz bei.
Trotz seiner unbestreitbar hohen Kompetenz wuchs die Zahl seiner politischen Gegner, zumal er auch bei der Gründung des Bunds Freiheit der Wissenschaft und ihrer Organisation aktiv wurde – unter den Initiatoren waren übrigens keineswegs nur Konservative, sondern Sozialdemokraten, beispielsweise der aus dem britischen Exil zurückgekehrte frühere Linkssozialist Richard Löwenthal, Thomas Nipperdey und viele andere, die keineswegs politisch rechts standen, sich indes täglich an den Universitäten der Bedrohung der Lehr- und Meinungsfreiheit erwehren mussten. Das nur partiell zutreffende Image als Konservativer heftete man Hans Maier schnell an, doch welch Wunder: Nach seinem Rücktritt 1986 wuchsen das Bedauern und die Hochschätzung für ihn auch auf Seiten seiner kulturpolitischen Gegner, die nun mehr und mehr seine intellektuelle Liberalität als einen seiner Charakterzüge erkannten. Und kein Zufall war es, dass er zu denen gehörte, die sich schon 1966 an einer Vortragsreihe der LMU über „Die deutsche Universität im Dritten Reich“ beteiligten; dort behandelte er das Thema „Nationalsozialistische Wissenschaftspolitik“.
Sein Rücktritt wurde jedenfalls deutschlandweit mit großem Unverständnis für die Vorgeschichte quittiert. Die offizielle Version lautete: Aufgrund der Größe des Bayerischen Kultusministerium sei dieser – tatsächlich sehr umfassende – und in anderen Bundesländern meist schon auf zwei bis drei Ressorts aufgeteilte Geschäftsbereich von einem Minister allein nicht mehr zu bewältigen. Deswegen wünschte Ministerpräsident Strauß eine Teilung des Ministeriums und bot dem langjährigen Staatsminister den kleineren Teil, das Wissenschaftsressort, an. Hans Maier schlug vor, einen zusätzlichen Staatssekretär zu berufen, lehnte jedoch die Teilung seines Ministeriums ab: Vor die Alternative gestellt, verzichtete er auf ein Ministeramt.
Wenngleich nicht wirklich geklärt ist, welche Motive Strauß hatte, von wem er gegebenenfalls beeinflusst wurde, offensichtlich ist jedoch, dass die offizielle Version nicht die ganze Wahrheit ist. Schon früher gab es verschiedentlich Kritik an Maiers zu liberaler Schulpolitik von der einen Seite, während andere sie als zu konservativ beurteilten. Franz Josef Strauß hat Hans Maier im Parteivorstand der CSU verschiedentlich gegen beide Seiten verteidigt. Ob Strauß angenommen hat, Maier würde eine Teilung akzeptieren, ist schwer zu sagen. Jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel: Strauß hätte Hans Maier halten können. Den damals bundesweit überragenden Kultusminister, eine Zierde des Kabinetts, ziehen zu lassen, mit dem Strauß wie mit kaum einem anderen intellektuelles Niveau und Bildung verbanden, bleibt auch nach 35 Jahren noch unverständlich. Ob selbst der übermächtige Ministerpräsident und Parteivorsitzende, der große Franz Josef Strauß, nicht souverän genug war, einen eigenwilligen Minister von bedeutender Statur zu akzeptieren, ist ebenfalls schwer zu sagen. Das Verhältnis beider war jedenfalls nicht spannungsfrei, zumal es Hans Maier immer wieder verstand, für seine Ziele andere Kräfte zu aktivieren. Wenn er Strauß nicht auf seiner Seite hatte, lavierte er zuweilen gewitzt zwischen dem Ministerpräsidenten, der CSU-Fraktion, der Partei und der öffentlichen Meinung, um seine Position durchsetzen. Ein bequemer Minister ist Hans Maier für seinen Regierungschef jedenfalls nicht gewesen.
Wie dem auch sei: Diese Entscheidung war keine Sternstunde von Strauß. Und die gleiche Einschätzung gilt für seine ablehnende Reaktion auf Helmut Kohls Vorschlag, Hans Maier 1984 als Unionskandidat für das Amt des Bundespräsidenten zu präsentieren (wofür er 1979 schon einmal im Gespräch war). Ohne jeden Zweifel wäre Hans Maier ein würdiger und eindrucksvoller Bundespräsident gewesen – und bis heute der einzige, den die CSU hätte stellen können. Obwohl die Vorgänge, die zu seinem Rücktritt führten, ihn schmerzen mussten, verstand Hans Maier „Politik als Beruf“ zwar als einen wesentlichen Lebensabschnitt, aber nicht als das ganze Leben. Vielmehr gab ihm sein eigentlicher Beruf Unabhängigkeit als Politiker, auch auf ein Ministeramt war er nicht angewiesen.
„Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff.“ – so lautet der Titel seiner 2011 veröffentlichten Erinnerungen, des wohl schönsten seiner Bücher. Anschaulich geschriebene, an Anekdoten und treffenden Porträts reiche Lebenserinnerungen, eine Bildungsgeschichte gewiss, aber doch viel mehr: Eine zeitgeschichtliche Quelle zur Geschichte von Kultur und Politik während der „bösen Jahre“ 1931 bis 1945 und der „guten Jahre“ seit 1945/49, ein Buch auch über die schwierigen Anfänge des literarischen, gesellschaftlichen und politischen Lebens nach der Katastrophe von nationalsozialistischer Diktatur und Weltkrieg, ihren moralischen und materiellen Verheerungen. Trotz seiner literarischen Qualitäten, seiner natürlichen und fesselnden Sprache, ist das Werk in großen Teilen auch das Werk eines Wissenschaftlers, wählt er doch seinen Stoff gekonnt aus und ordnet ihn jeweils zeitgeschichtlich so ein, dass das Buch immer wieder von individuellen Erinnerungen ausgehend, fundierte zeitgeschichtliche Darstellungen bietet. Das gilt, um nur weniges herauszugreifen, für die Wissenschafts- und Hochschulgeschichte, für die Entwicklung der Kirchen, für die Parteiengeschichte. Und auch Passagen über die unterschiedlichen Regierungsstile und Persönlichkeiten von Alfons Goppel und Franz Josef Strauß sind aussagekräftig. Hier spricht nicht allein persönliche Erfahrung, sondern auch politikwissenschaftliche Beobachtung.
Die Beziehung von Hans Maier zum Institut für Zeitgeschichte wurde schon mehrfach erwähnt, sie ist eng und währt bereits Jahrzehnte: Das erste Mal betrat er das noch in der Möhlstraße gelegene Institut 1954, und er besucht das Haus bis heute. Er publizierte Aufsätze in den Vierteljahrsheften, zuerst 1962 seinen Bericht „Zur Lage der Politischen Wissenschaft in Deutschland“, zuletzt 2019 seinen Beitrag „Hitler und das Reich“. 1993 veröffentlichte Hans Maier in den VfZ eine auch in der Süddeutschen Zeitung abgedruckte eingehende Würdigung unserer Zeitschrift: „Die Pulsschläge der Gegenwart. Vierzig Jahre Vierteljahrshefte“. Von 1995 bis 2009 gehörte Hans Maier dem Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Zeitgeschichte an und ist seitdem dessen Ehrenmitglied, seit 26 Jahren also kann das Institut auf seine regelmäßig und pflichtbewusst wahrgenommene wissenschaftliche Unterstützung zählen. Im Kreis der über Jahrzehnte hinweg hervorragenden Mitglieder des Beirats besaß und besitzt seine Stimme immer unverwechselbare Qualität. Für die Forschungen des Instituts, aber auch in schwierigen Situationen war dieser hochkarätige Beirat stets ein großer Gewinn, als Direktor des Instituts habe ich diese anregenden, niveauvollen Sitzungen in bester Erinnerung. An zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen im IfZ hat Hans Maier ebenfalls teilgenommen.
Hinzu kam Hans Maiers heute schon als wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam zu bezeichnendes Engagement für eines der großen Forschungsprojekte des IfZ, das vermutlich ohne seine Unterstützung nicht realisiert worden wäre: das ungewöhnlich innovative Projekt „Bayern in der NS-Zeit“, dessen Ergebnisse in sechs Bänden publiziert wurden (1977–1983). Der damalige Direktor Martin Broszat leitete es mit Hingabe und nie versiegendem Ideenreichtum, wesentlich unterstützt von Elke Fröhlich und Hartmut Mehringer. Das Projekt ging zurück auf ein Gespräch zwischen Ludwig Linsert, langjähriges Mitglied des Bayerischen Senats und Landesvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds in Bayern, und Kultusminister Maier. Linsert, der während der NS-Diktatur verfolgt worden war und zwei Jahre in Haft gesessen hatte, regte an, ablehnendes Verhalten gegen das Regime nicht allein am Beispiel der bekannten Heroen des Widerstands zu untersuchen. Nach Linserts Einschätzung gab es trotz der riesigen Zahl von Überzeugten, Mitläufern und Karrieristen vielfältige und unterschiedliche Möglichkeiten, sich dem Regime in der einen oder anderen Form zu entziehen. Hans Maier, der ähnliche Erfahrungen aus seiner Freiburger Jugendzeit besaß, der über Kirchen im NS-Regime und über den Widerstand gegen Hitler selbst gearbeitet hatte, fand die Fragestellung vielversprechend, sorgte für eine (beträchtliche) Finanzierung, bezog die bayerische Archivverwaltung in die Arbeit ein und regte das Institut für Zeitgeschichte zu diesem Projekt an.
Martin Broszat reagierte anfangs zurückhaltend, vielleicht, weil er das Vorhaben als staatliche Auftragsforschung betrachtete. Als er sich aber darauf einließ, tat er es mit voller Kraft und entwickelte ein wegweisendes zeithistorisches Projekt, das Furore machte und viele Nachahmer in anderen Bundesländern und Städten fand. Diese breit fundierte, exemplarisch strukturierte Gesellschaftsgeschichte der nationalsozialistischen Diktatur in vielen reich dokumentierten Einzeluntersuchungen differenzierte die bisherige Interpretation erheblich, zeigte sie doch höchst unterschiedliche Verhaltensweisen. Wenngleich der von Broszat mit diesem Projekt eingeführte, ursprünglich in anderem Kontext von Ralf Dahrendorf benutzte Begriff Resistenz verschiedentlich kritisiert wurde, erfuhr doch die Widerstandsforschung eine deutliche Erweiterung und Modifikation.
Ich erinnere mich noch gut, als Martin Broszat, die wichtigsten Mitarbeiter und ich selbst – ich war damals Stellvertretender Direktor – dem Kultusminister die beiden ersten Bände offiziell überreichten. Damit er aber vorher wenigstens einen Blick hineinwerfen konnte, wurden ihm am Vortag die beiden Bücher zugeschickt. Doch eigentlich hatte er kaum die Gelegenheit hineinzublättern, weil er bis spät abends dienstliche Termine wahrnehmen musste. Als wir am folgenden Vormittag im Kultusministerium bei ihm erschienen und Martin Broszat das Projekt vorgestellt hatte, antwortete Hans Maier: Ohne einen Sprechzettel reflektierte er rhetorisch brillant etwa eine Viertelstunde die zentralen Punkte der beiden Bände, ging auf Forschungsprobleme ein und gab problemorientierte Anregungen, kurz: Wir gewannen den Eindruck, der Minister habe sich in den letzten Wochen sehr intensiv mit diesem durchaus komplizierten Forschungsprojekt auseinandergesetzt. Tatsächlich konnte er höchstens zwei Stunden auf die Lektüre von etwa 1.500 Seiten verwendet haben – und nur dann, wenn er um fünf Uhr morgens aufgestanden war, denn bis zu unserem Treffen war er den ganzen Vormittag mit Terminen beschäftigt. Welcher andere damalige Kultusminister besaß solche Fähigkeiten?
Spricht man über all die Leistungen von Hans Maier, über seine zahlreichen hohen in- und ausländischen Ehrungen, seine vielen Ehrendoktorate, vergisst man leicht, was für seine Persönlichkeit besonders aussagekräftig ist: Er wird sich mit Recht über seine vielen Erfolge, über all das, was ihm so glänzend gelungen ist, freuen – sein Wesen aber, seine natürliche Bescheidenheit und Höflichkeit, die Zuwendung zu seinen Mitmenschen, seine bezwingende Liebenswürdigkeit, sein feiner, oft verschmitzter Humor, haben sich nicht verändert.
Für das Institut für Zeitgeschichte, die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte und mich persönlich gibt es vielfältigen Anlass Hans Maier, einem der großen Repräsentanten des deutschen Geisteslebens, ganz besonders zu danken. Wir gratulieren Hans Maier mit unseren herzlichsten Wünschen zu seinem angesichts unveränderter geistiger Frische und Kreativität kaum glaublichen 90. Geburtstag.
© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Aufsätze
- Homosexuelle im modernen Deutschland
- „Zeitung für Deutschland“?
- Die Wegbereiter
- Dokumentation
- Widersprüche eines Modus Vivendi
- Miszelle
- „Im fremden Erdteil ein Kleinod sein, ein Segen werden“
- Notiz
- Bemerkung zur Dokumentation von René Schlott, Ablehnung und Anerkennung. Raul Hilberg und das Institut für Zeitgeschichte, im Januar-Heft der VfZ
- Aus der Redaktion
- Hans Maier zum 90. Geburtstag
- VfZ-Online
- Neu bei den Zusatzangeboten: Nachtrag zu René Schlotts Dokumentation im Januar-Heft
- Rezensionen online
- Rezensionen
- Abstracts
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- Autorinnen und Autoren
- Autorinnen und Autoren
- Hinweise
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