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Tony Blair, Großbritannien und die Entscheidung für den Irakkrieg 2001 bis 2003
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Veröffentlicht/Copyright: 1. Juli 2021
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Abstract

Die Beteiligung Großbritanniens am 2003 begonnenen Irakkrieg gehört zu den kontroversesten Ereignissen der jüngeren britischen Zeitgeschichte und hat die Bewertung der Amtszeit des damaligen Premierministers Tony Blair nachhaltig geprägt. Die Frage, aus welchen Gründen und mit welchen Zielen sich die britische Regierung seinerzeit für einen Kurs der dezidierten Unterstützung des von den USA initiierten Kriegs entschied, konnte bislang nicht eindeutig geklärt werden. Die nunmehr zugänglichen Quellen zeigen, dass man sich in London bereits sehr früh auf eine Kriegsteilnahme festlegte und die Öffentlichkeit über die Motive täuschte. Die Art und Weise, wie der Krieg letztlich diplomatisch durchgesetzt und öffentlich begründet wurde, hat die Sicht darauf maßgeblicher geprägt als lange angenommen.

Abstract

Great Britain’s participation in the Iraq War starting in 2003 is one of the most controversial events in recent British history and has strongly shaped the assessment of Tony Blair’s premiership. Questions, what were the reasons and aims which motivated the British Government at the time to decide upon a course of full support of this war initiated by the United States, have not been fully explained to date. Sources now available indicate that very early on London decided to join the war and that the Government misled the public about its motives. The way in which the war was ultimately pushed through diplomatically and justified publicly has shaped the perspective on the war more decisively than it was long assumed.

Vorspann

Die Beteiligung am Irakkrieg 2003 gehört zu den umstrittensten Kapiteln in der Geschichte Großbritanniens im beginnenden 21. Jahrhundert. Handelte Tony Blair als Bushs „poodle“ oder entwickelte er eine eigenständige Strategie, die schließlich zur militärischen Intervention im Irak führte? Fiel die Entscheidung des britischen Premiers aufgrund der sicherheitspolitischen Bedrohung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 oder täuschte er die Öffentlichkeit? Martin Günzel hat die Dokumente und den zwölfbändigen Bericht der 2009 eingesetzten Iraq Inquiry analysiert und kommt zu einem eindeutigen Befund: Blair wollte von Anfang an einen Regimewechsel im Irak, konnte Washington aber davon überzeugen, zu diesem Zweck den diplomatischen Weg über die Vereinten Nationen zu gehen. Als dieser scheiterte, setzte der britische Premier eine Teilnahme an der Invasion auch ohne deren Mandat durch.

I. Großbritanniens Beteiligung am Irakkrieg – ein offenes Forschungsfeld

Wohl keine Entscheidung eines britischen Premierministers nach dem Zweiten Weltkrieg ist so stark in die Kritik geraten wie die Tony Blairs zur Beteiligung britischer Truppen an dem von den USA geführten Krieg gegen den Irak im Jahr 2003. Bis heute ist die öffentliche Behandlung dieses Themas in Großbritannien mit einer Schärfe und Emotionalität behaftet, die eine sachliche Debatte schwierig machten und machen. Angesichts der bekannten verheerenden Auswirkungen der Invasion, die den Irak ebenso betreffen wie die Glaubwürdigkeit westlicher Politik, ist dies wenig verwunderlich. Infolgedessen gilt Blair, ehemals als Hoffnungsträger und Star der britischen Politik gefeiert, heute im eigenen Land als persona non gratissima, und wird aufgrund seiner eilfertigen Folgsamkeit dem amerikanischen Präsidenten gegenüber als Bushs „poodle“ verspottet, sehr oft aber auch als Kriegsverbrecher oder Lügner („Bliar“) diskreditiert.[1]

Doch weder der öffentliche Konsens über die dezidiert negative Bewertung des Irakkriegs noch die umfassende politische Aufarbeitung seines Zustandekommens durch mittlerweile fünf Untersuchungskommissionen[2] sollten die Wissenschaft darüber hinwegtäuschen, dass der Forschungsstand zu diesem eminent wichtigen Thema alles andere als eindeutig ist: Es fehlte lange Zeit an einer umfassenden, quellenfundierten geschichtswissenschaftlichen Studie; stattdessen dominieren journalistische oder politikwissenschaftliche Beiträge auf mehr oder weniger dünner Quellengrundlage.[3]

Seit 2003 konzentriert sich die publizistische Auseinandersetzung über den britischen Weg in den Krieg auf die offizielle Version Tony Blairs und seiner Berater. Diese betonen bis heute einhellig, dass vor dem Hintergrund der weltweiten sicherheitspolitischen Bedrohungslage nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 und der potenziellen Gefahr Saddam Husseins für die Weltgemeinschaft eine Konfrontation mit dem Irak gerechtfertigt gewesen sei. Großbritannien und die USA hätten jedoch der „Entwaffnung“[4] des Irak von seinen Massenvernichtungswaffen Priorität beigemessen, von deren Existenz die politisch Verantwortlichen damals überzeugt gewesen seien. Erst aufgrund der unzureichenden irakischen Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen in dieser Frage und der Uneinigkeit im Sicherheitsrat der United Nations (UN) Anfang 2003 habe man sich in Washington und London zu einem Kriegseinsatz als Ultima Ratio entschlossen.[5] Abgesehen von einigen Autorinnen und Autoren, die diese Version im Wesentlichen stützen, wie beispielswiese Con Coughlin und Jason Ralph,[6] ist sie frühzeitig auf breite publizistische Kritik gestoßen, die im Kern auf die Annahme hinausläuft, die damaligen britischen Entscheidungsträger um Blair hätten sich frühzeitig für eine Kriegsteilnahme entschieden, keine friedlichen Optionen verfolgt und die Öffentlichkeit über ihre wahren Absichten sowie über die Existenz der Massenvernichtungswaffen belogen.[7]

Doch die Fragen nach den konkreten Entscheidungszeitpunkten, den Motiven und strategischen Überlegungen, die hinter der britischen Kriegsbeteiligung standen, konnten in der verfügbaren Literatur, nicht zuletzt aufgrund der dünnen Quellengrundlage, lange Zeit nicht eindeutig geklärt werden.[8] Auch der 2016 vorgelegte Abschlussbericht der sieben Jahre zuvor eingesetzten Iraq Inquiry lieferte, so die hier vertretene These keine befriedigenden, geschweige denn abschließenden Antworten auf diese Fragen. Zwar wertete die Kommission über 150.000 Dokumente aus, befragte über 200 Zeugen und präsentierte schließlich einen zwölfbändigen Bericht, der sich mit sämtlichen relevanten Aspekten der britischen Beteiligung am Irakkrieg befasste: dem Entscheidungsprozess, der eigentlichen Kriegführung, völkerrechtlichen Aspekten, den Nachkriegsplanungen und der Besatzungszeit. Die Kommission untersuchte vor allem, wie gerechtfertigt die militärische Invasion in den Irak gewesen sei. Letztlich fällte sie ein vernichtendes politisches Urteil über die bewaffnete Intervention, die sie als voreilig, ungerechtfertigt und schlecht geplant einstufte und dafür verantwortlich machte, dass Großbritanniens Glaubwürdigkeit beschädigt worden sei.[9] Die Ergebnisse der Kommission sind jedoch mitunter ausgesprochen interpretationsoffen und unterstützen sogar zum Teil das Narrativ der damaligen Entscheidungsträger, wonach der Krieg das Resultat gescheiterter, aber aufrichtiger diplomatischer Bemühungen um eine „Entwaffnung“ des Irak gewesen sei.[10]

Paradoxerweise bietet das von der Kommission zusammengetragene Quellenmaterial nunmehr eine exzellente Grundlage, um genau diese Perspektive infrage zu stellen und den britischen Entscheidungsfindungsprozess im Vorfeld des Kriegs detailliert zu rekonstruieren. Diesen Ansatz verfolgten, allerdings meist nur ansatzweise, auch die wenigen seit 2016 erschienenen wissenschaftlichen Beiträge. Während sich jedoch beispielsweise die Arbeiten von Piers Robinson vor allem darauf konzentrieren, Tony Blairs Regierung eine systematische Kampagne der Täuschung der Öffentlichkeit nachzuweisen und weniger darauf, deren tatsächlichen Motive offenzulegen, publizierte der Politikwissenschaftler Patrick Porter Ende 2018 die erste fundierte Studie zum britischen Weg in den Irakkrieg, mit der die hier herausgearbeiteten Ergebnisse im Folgenden immer wieder abgeglichen werden sollen.[11] Gerade die Geschichtswissenschaft könnte davon profitieren, dass die Kommission einen erheblichen Teil der von ihr zusammengetragenen Dokumente – interne Memoranden und Besprechungsnotizen der britischen Entscheidungsträger sowie nicht zuletzt den umfangreichen persönlichen und brieflichen Austausch zwischen britischen und amerikanischen Akteuren – veröffentlicht und in ihrem Abschlussbericht in einen thematischen Gesamtzusammenhang gebracht hat. Dieser ging allerdings analytisch nicht in die Tiefe und gelangte, wie erwähnt, zu keinen überzeugenden abschließenden Resultaten über die Frage der Genesis der britischen Kriegsbeteiligung. Bislang aber hat sich die Geschichtswissenschaft dieses Quellenmaterials nicht angenommen.

Auf dieser Grundlage ist im Folgenden zu klären, wann genau, aus welchen Gründen und mit welchen strategischen Zielen die britische Entscheidung zur Beteiligung am Irakkrieg gefallen ist. Im Rahmen dieser Analyse wird auch untersucht, wie sehr die britische Regierung überhaupt an einer diplomatischen Lösung der Irakfrage interessiert war und welche Rolle die Frage der Massenvernichtungswaffen in ihrer Politik spielte. Auch gilt es, eine Antwort auf die noch immer offene Frage zu finden: Folgte das Land lediglich dem amerikanischen Kriegskurs, war Blair also, wie ihm zeitgenössisch und seit 2003 regelmäßig unterstellt wurde, lediglich Bushs „poodle“? Oder entwickelte man in London eine eigenständige Strategie gegenüber dem Irak, die letztlich in den Krieg führte? Wenn ja, wie sah diese aus − und in welcher Weise beeinflusste sie das amerikanische Vorgehen?

Da sich hierzulande die Rezeption des Irakkriegs oftmals auf den Antagonismus zwischen den USA und Deutschland beschränkt, geht es in diesem Aufsatz vor allem darum, die historische Bedeutung der britischen Beteiligung am Irakkrieg herauszuarbeiten. Diplomatiegeschichtliche Studien erfreuen sich in den Geschichtswissenschaften heutzutage nicht mehr der gleichen Beliebtheit wie früher. Die folgende Analyse zeigt aber einmal mehr die Bedeutung von Arbeiten auf, bei denen es um die existenzielle Problematik von Krieg und Frieden geht. Die Frage, wie es zu einer der verheerendsten militärischen Konfrontation der jüngsten Vergangenheit kommen konnte und welche Rolle einer der bekanntesten Staatsmänner der letzten 20 Jahre dabei spielte, hat für die Zeitgeschichtsforschung eine nicht zu vernachlässigende Relevanz.

II. Die außenpolitischen Voraussetzungen der britischen Kriegsbeteiligung vor 2001

Die britische Beteiligung am Irakkrieg war das Resultat von Entscheidungen, die in Washington und London in Reaktion auf die Terroranschläge des 11. September 2001 getroffen wurden.[12] Doch sind mit Blick auf die Vorgeschichte der britischen Entscheidung auch zentrale Kategorien der Außenpolitik Großbritanniens und Tony Blairs vor 2001 zu diskutieren. Sie müssen berücksichtigt werden, will man die eigentlichen Entscheidungsprozesse im unmittelbaren Vorfeld des Kriegs verstehen. Es handelt sich um die britische Irakpolitik der 1990er Jahre, die Bedeutung der Politik des „Regime Change“ sowie der special relationship Londons mit den USA für die britische Politik.

Im Zusammenhang mit der Vorgeschichte des Irakkriegs wird häufig zu wenig beachtet, dass der Irak Saddam Husseins über die gesamten 1990er Jahre ein konfliktträchtiges Dauerthema im UN-Sicherheitsrat war. Das Land, das 1990/91 nur im Rahmen einer UN-gestützten Militärmission unter Führung der USA von der gewaltsamen Besetzung Kuwaits abzubringen war und bis dahin nachweislich chemische und biologische Massenvernichtungswaffen − nicht zuletzt gegen die eigene Bevölkerung − eingesetzt hatte, wurde in der Folge einem strikten Kontroll- und Sanktionssystem der Vereinten Nationen unterworfen. Grundlage dafür war, und auch dies wird oft vergessen, die bis 2003 in der Weltgemeinschaft und unter den internationalen Waffenexperten weit verbreitete Vermutung, dass der Irak weiterhin an der Herstellung sogenannter Massenvernichtungswaffen arbeite und daher eine potenzielle Bedrohung des regionalen und weltweiten Friedens darstelle. Gerade für den britischen Premierminister Tony Blair spielte diese Überzeugung seit seiner Amtsübernahme im Jahre 1997 eine wichtige Rolle.[13]

Doch der Versuch der UN, den Irak in der Frage der Abrüstung und Überwachung seiner vermeintlichen Waffensysteme zur Zusammenarbeit mit der Weltgemeinschaft zu bewegen, gestaltete sich ausgesprochen schwierig und war Ende der 1990er Jahre in eine Sackgasse geraten: Die UN-Waffeninspektoren, von Saddam Hussein systematisch an ihrer Arbeit gehindert, verließen 1998 aus Protest das Land, woraufhin die USA unter Präsident Bill Clinton und Großbritannien unter Blair im Dezember desselben Jahrs die Operation Desert Fox initiierten und den Irak bombardierten, um die vermuteten Waffensysteme zu zerstören und den Diktator zur Räson zu bringen − ohne Erfolg.[14] Bereits während dieses Militäreinsatzes, aber auch schon zuvor, hatte sich Blair öffentlich zu einer Politik der, wenn nötig militärisch gestützten, Härte gegenüber dem Irak bekannt und die Hoffnung geäußert, dass es eines Tages als Endziel seiner Politik möglich sein würde, Saddam Husseins Regime zu stürzen.[15]

Die irakpolitischen Pläne der britischen Regierung bis zum Sommer 2001 wurden exemplarisch in einem Memorandum des Außenministeriums vom 7. März 2001 umrissen: Das Ziel, so hieß es dort, sei die Wiederherstellung eines freiheitlichen, rechtsstaatlichen Irak, der in Frieden mit sich, seinen Nachbarn und der Weltgemeinschaft lebe. Schon damals wurde die − naheliegende − Schlussfolgerung gezogen, dass dieses Ziel mit dem Fortbestand des Saddam-Regimes unvereinbar sei, weil es eine „fundamentale Veränderung“ der innerirakischen Verhältnisse voraussetze. Deshalb müssten „militärische Maßnahmen“ zumindest „toleriert“ werden. Die Entscheidung für einen militärischen Regimesturz hinge jedoch einerseits davon ab, ob der Irak erneut, beispielsweise durch eine Aufrüstung seiner vermuteten Waffenprogramme, zu einer Bedrohung werden würde, und andererseits, ob es gelänge, die notwendige internationale Unterstützung sowie die rechtliche Basis für einen Krieg zu gewährleisten.[16] Schon an dieser Stelle wird klar: Sollten die Umstände sich ändern, waren die Briten auch schon vor 2001 zum Krieg bereit. Und die Umstände sollten sich ändern.

Grundsätzlich jedoch bestand das Ziel der britischen Regierung bis zum September 2001 nicht darin, einen Krieg vorzubereiten, sondern die Rückkehr der Waffeninspektoren in den Irak und eine verbesserte Sanktionspolitik des UN-Sicherheitsrats zu forcieren. Auch galt es, die neue und gegenüber dem Irak deutlich konfrontativere US-Administration unter George W. Bush auf diesen Kurs festzulegen.[17] Da sich dieses Vorhaben angesichts der Obstruktionspolitik des Irak, aber auch angesichts der in dieser Frage ausgesprochen desinteressierten Haltung der Sicherheitsratsmitglieder Frankreich, Russland und China als kaum umsetzbar erwies, zeigte sich nicht nur die Bush-Administration, sondern auch die britische Regierung bis zum Sommer 2001 zunehmend frustriert über die festgefahrene Irakpolitik.[18]

Obgleich im Falle des Irak bis 2001 eine Politik des „Regime Change“ nicht konkret auf der britischen Agenda stand, korrespondierte die Härte, die Premierminister Blair in der Irakfrage seit Ende der 1990er Jahre an den Tag gelegt hatte, auffallend mit seiner sich zeitgleich verfestigenden Überzeugung, dass eine Politik der militärischen Intervention zum Zwecke der Beseitigung weltpolitischer Bedrohungen und der Verbreitung sogenannter liberaler Werte unter bestimmten Umständen geboten und segensreich sein konnte. Hier spielten das Jahr 1999 und der Kosovokrieg eine wichtige Rolle.[19] In diesem Konflikt, der mit der Verhinderung des vermeintlich genozidalen Vorgehens von Serbiens Staatschef Slobodan Milošević im Kosovo begründet wurde, hatte sich der Premierminister als ein besonders entschlossener Verfechter eines Militäreinsatzes, der sogar für den Einsatz von Bodentruppen warb, exponiert und profiliert.[20]

Nur einen knappen Monat nach Beginn der westlichen Angriffe formulierte Blair in Chicago seine bekannte Doctrine of the International Community, die für seine Außenpolitik gleichsam leitmotivischen Charakter haben sollte. In dieser Rede plädierte der Brite, auch und gerade mit Verweis auf Miloševićs Serbien und Saddam Husseins Irak, dafür, das grundsätzliche Gebot der militärischen Nicht-Intervention in andere Länder infrage zu stellen, wenn diese Länder von menschenverachtenden Diktatoren unterdrückt würden. Die kollektive Sicherheit der Weltgemeinschaft, so legte Blair nahe, sei mitunter am besten zu verteidigen, wenn man mithilfe militärischer Macht liberal-demokratische Werte exportiere. Die Vereinten Nationen forderte er auf, sich diese Ideen zu eigen zu machen, wenn sie weiterhin als effektiver Garant globaler Sicherheit gelten wollten.[21]

Blairs hier angedeuteter und im Kosovo bereits entschlossen praktizierter „liberaler Interventionismus“[22] lief auf einen fundamentalen Bruch mit den außenpolitischen Traditionen der Labour-Partei hinaus, vor allem weil Blair die maßgebliche Rolle der UN als Legitimationsmacht durch die implizite Suggestion infrage stellte, es gebe einen eventuell auch über dem Völkerrecht stehenden humanitären Imperativ, der unter bestimmten Umständen in eine Interventionspflicht münden könne.[23] Seine eigene Partei hatte jahrzehntelang das Prinzip der unbedingten Hoheit völkerrechtlicher Normen und insbesondere der UN in Fragen von Krieg und Frieden hochgehalten sowie eine grundsätzlich anti-interventionistische Außenpolitik präferiert.[24] Blairs außenpolitisches Profil hingegen war seit seiner Amtsübernahme von der Überzeugung geprägt, dass Großbritannien außen- und sicherheitspolitisch eine wichtigere Stellung und eine entschlossenere Haltung einnehmen müsse. Der Kosovokrieg hatte ihn, wie sich auch sein ehemaliger Minister Chris Smith erinnert, in der Sichtweise bestärkt, dass er sich in der Frage von Krieg und Interventionen zur Not auch über fehlende völkerrechtliche Legitimationen hinwegsetzen könne, wenn er selbst überzeugt war, das „Richtige“ zu tun.[25] Der Kosovokrieg und die oben erwähnte Chicago-Doktrin wurden von Blair selbst später im Vorfeld des Irakkriegs zu Orientierungspunkten seiner Kriegspolitik erklärt und sind auch deshalb mit Blick auf das Verständnis seiner Politik nicht zu unterschätzen.

Schwieriger ist die Bestimmung der historischen Bedeutung der special relationship für die britische Rolle im Irakkrieg: Laut gängigen, vornehmlich politikwissenschaftlichen Ansichten steht dieser militärische Konflikt in der Kontinuität der bis zum Zweiten Weltkrieg zurückreichenden Neigung britischer Politiker, wichtige außenpolitische Ziele und Schritte der USA zu unterstützen und nachzuvollziehen.[26] In der Tat waren Briten und Amerikaner seit dem Zweiten Weltkrieg enge, auch kulturell wie wirtschaftlich verbundene Partner. Doch allzu häufig herrscht in der Literatur ein allzu unterkomplexes Verständnis dieser Tradition vor: Denn die Geschichte der britisch-amerikanischen special relationship seit 1945 war alles andere als widerspruchsfrei und aus ihr lässt sich keineswegs ohne Weiteres eine unbedingte, unkritische britische Gefolgschaftstreue in internationalen Konflikten ableiten: Beim Vietnam-Krieg, dem Falkland-Krieg, bei der Grenada-Invasion und (anfangs) auch der deutschen Wiedervereinigung stellten sich die Briten jeweils gegen die amerikanische Politik.[27]

Hinzu kommt, dass besonders aus einer deutsch-zentrierten Perspektive häufig vergessen wird, dass die britische Folgebereitschaft gegenüber den USA in der Frage des Irakkriegs 2002/03 keineswegs exzeptionell für die Haltung Europas war – im Gegenteil: Der Großteil der heutigen Europäischen Union (EU) unterstützte den amerikanischen Kriegskurs, und, wie der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer bemerkte, fast alle betreffenden Länder „begründeten die sich abzeichnende Zustimmung ihrer Regierung zu dem Krieg vor allem bündnispolitisch“, nicht inhaltlich. Dieser Imperativ prägte auch die Position der deutschen Opposition um Angela Merkel und Edmund Stoiber, den Kanzlerkandidaten der Union.[28]

Im britischen Fall existierte, besonders seit 1990/91, in Bezug auf die Irakpolitik eine besonders starke Interessenkongruenz mit den USA – gerade im Vergleich zu Frankreich und Russland. Darüber hinaus ist für die britische Beteiligung am Irakkrieg vor allem die spezifische Bedeutung, die Tony Blair der special relationship beimaß, von Relevanz:

Seit seiner Amtsübernahme war er von der Überzeugung getrieben, dass die Festigung der britisch-amerikanischen Sonderbeziehung „eines der wichtigsten Ziele der britischen Politik“ darstellen müsse.[29] Auch war Blair nach 9/11 der Ansicht, in Bush einen Verbündeten im Geiste für den liberal-interventionistischen Kampf gegen Terrorismus und Diktaturen gefunden zu haben.[30] Doch mit diesen Auffassungen verband der Premierminister auch eine bestimmte Erwartung: Bereits mit Präsident Clinton gab es große politische Gemeinsamkeiten und ein vertrauensvolles persönliches Verhältnis. Damals und auch später in der Zusammenarbeit mit dessen Nachfolger, George W. Bush, spielte die Überlegung eine große Rolle, durch einen engen Schulterschluss die amerikanische Politik im liberalen und multilateralen Sinne zu beeinflussen, dadurch weltpolitische Konflikte lösbar zu machen und nicht zuletzt auch Großbritanniens Bedeutung auf der Weltbühne zu stärken.[31] Dieses Kalkül geriet zu einem Kernmotiv von Blairs Politik gegenüber den amerikanischen Kriegsbestrebungen ab 2001/02. Es führte ihn zu der, wie er selbst zugab, glaubensähnlichen Überzeugung, dass alles andere als eine bedingungslose Unterstützung der USA im „War on Terror“ undenkbar sei.[32] Gleichwohl wird noch deutlich werden, dass auch die britisch-amerikanische Zusammenarbeit in der Irakfrage, gemeinhin als Höhepunkt der special relationship angesehen, weder widerspruchsfrei noch ausschließlich von eilfertiger britischer Gefolgschaft geprägt war.

Vorläufig ist zu konstatieren, dass wichtige Aspekte der britischen Außenpolitik, die zu der späteren britischen Kriegsbeteiligung beitrugen, schon vor 2001 maßgeblich auf die persönlichen außenpolitischen Anschauungen Blairs zurückgingen. Tony Blair ist wiederholt als ein typischer Überzeugungspolitiker mit enormem Sendungsbewusstsein und Geltungsbedürfnis beschrieben worden. Ein französischer Diplomat im Umfeld von Jacques Chirac drückte es so aus: „Es gibt kein einziges Problem, von dem Blair meint, dass er es mit seinem eigenen persönlichen Einsatz nicht lösen könnte.“[33] Stephen Dyson charakterisierte ihn als einen Politiker „mit einem sehr starken Glauben an seine Fähigkeit, Ereignisse zu kontrollieren, mit geringer konzeptioneller Komplexität und einem ausgeprägten Machtbedürfnis“.[34] Blair war bestrebt, der internationalen Politik seinen Stempel aufzudrücken und seinen Einfluss zu stärken. Die Irakkrise mit einer auf einen Krieg zielenden Supermacht USA bot dafür natürlich einen günstigen Ansatzpunkt.

Es ist sicher interessant, darüber zu spekulieren, ob ein anderer Premierminister sich in der Irakkrise von 2002/03 ähnlich oder genau so verhalten hätte, und ebenso sehr ist es berechtigt, wie Porter vor einer allzu verengten Fokussierung auf die Person Blair zu warnen.[35] Doch ergibt sich das Gewicht des Faktors Blair allein schon dadurch, dass der Labour-Politiker seit 1997 wie kaum ein Vorgänger seit 1945 die britische Außenpolitik und deren Entscheidungsprozesse prägte. Historiker wie Ian Kershaw und Timothy Garton Ash sind sich mit Politikwissenschaftlern wie Mark Phythian und langjährigen journalistischen Beobachtern wie Simon Jenkins darin einig, dass Blair Parlament, Partei und Kabinett mit seinem präsidial-autoritären Führungsstil domestiziert und in ihrer Bedeutung marginalisiert habe. Diese Tendenz hatte zwar bereits vor 1997 begonnen, verstärkte sich jedoch danach weiter. Downing Street No. 10 und Blairs persönlicher Stab gewannen im Entscheidungsprozess ein immer stärkeres Gewicht. Kershaw sieht in dieser Entwicklung eines der historisch bemerkenswertesten Charakteristika der Blair-Ära.[36] Die Autorität Blairs beruhte dabei auf seinem politischen Nimbus: 1997 und 2001 errang er die eindrucksvollsten Wahlsiege der britischen Geschichte – was auch dazu beitrug, dass er und seine Beschlüsse in seinem Umfeld kaum noch infrage gestellt wurden.[37] Auch kennzeichnete insbesondere seine Außenpolitik eine hohe Affinität zu personalisierter Politik unter Umgehung von Institutionen und formellen Treffen (wie im Kabinett). Dagegen bevorzugte er die sogenannte Sofa-Diplomatie und schnelle Entscheidungen.[38] Hier bestimmte er die Agenda weitgehend uneingeschränkt, während er seine Außenminister (Robin Cook und Jack Straw) aus dem Zentrum der Macht drängte.[39]

Nicht zuletzt war die persönliche Macht von Premierminister Blair, mit der er dem Entscheidungsprozess seinen Stempel aufzudrücken vermochte, den strukturellen Rahmenbedingungen des britischen politischen Systems geschuldet: Es handelt sich um ein traditionell zentralistisches, hierarchisches System mit einer starken exekutiven Spitze, relativ schwach ausgeprägten Checks and Balances, einer parteipolitisch ausgesprochen großen Loyalität bei wichtigen parlamentarischen Entscheidungen und, nicht zuletzt, einem enormen Informationsvorsprung des Premierministers gegenüber dem übrigen Kabinett.[40] All diese Faktoren helfen zu erklären, weshalb sich Blair mit seinen ganz persönlichen außenpolitischen Vorstellungen relativ widerstandslos durchsetzen konnte, sodass sich die Irakpolitik Großbritanniens in hohem Maße an der Person Tony Blairs festmachen und mit ihr erklären lässt.[41] Gleichwohl müssen aber auch die innenpolitischen, rechtlichen und internationalen Rahmenbedingungen bei der Positionierung Blairs im Irakkonflikt berücksichtigt werden.

III. Politik der günstigen Gelegenheit(en) – die britische Vorfestlegung auf einen Krieg

Die grundsätzliche Entscheidung Großbritanniens für eine Beteiligung an einer US-geführten Militärintervention gegen den Irak fiel im internen Kreis um Premierminister Blair im Zeitraum von Dezember 2001 bis März 2002. Der Entschluss zu einem militärischen Eingreifen im Irak ging, wie wir heute wissen und wie auch Porter in seiner Analyse betonte, auf die amerikanische Intention zurück, die Terroranschläge des 11. September 2001 als Ausgangspunkt für eine Verwirklichung von bereits seit langem, besonders von konservativen Republikanern im Umfeld von George W. Bush, erwogenen Plänen zu nutzen, den irakischen Diktator Saddam Hussein zu stürzen, das Projekt eines vermeintlichen Demokratieexports in den Irak voranzutreiben und die amerikanische geopolitische Bedeutung in der Region und darüber hinaus zu stärken sowie das eigene militärische Machtpotenzial unter Beweis zu stellen.[42]

Die britische Regierung wurde bereits früh nach dem ersten Schock über 9/11 – die mit über 3.000 Toten bis dahin verheerendsten Terroranschläge in der Geschichte der westlichen Staatengemeinschaft – mit der Perspektive konfrontiert, dass die USA in ihrer Reaktion auf die Anschläge nicht bei dem von den UN gedeckten Kampfeinsatz gegen das Taliban-Regime in Afghanistan haltmachen würden: Schon am 14. September informierte Blairs Pressechef und Intimus Alastair Campbell den Premier, dass das amerikanische Verteidigungsministerium „begierig“ auf eine Invasion des Irak sei. Blair machte sich daraufhin zur Aufgabe, die Amerikaner auf einen „vernünftigen Weg“ zu führen.[43]

Tatsächlich agierte Blair, der bereits unmittelbar nach den Anschlägen die unbedingte Solidarität mit den USA als Imperativ der britischen Politik bezeichnet hatte, in den ersten Wochen nach dem 11. September ausgesprochen vorsichtig: Seine Prioritäten lagen zu dieser Zeit, wie er Bush und die US-Administration bei mehreren Gelegenheiten wissen ließ, auf der Bildung und Festigung einer breiten internationalen Anti-Terror-Koalition sowie dem Afghanistan-Krieg. Vor einer vorschnellen Zielverlagerung auf Saddam Hussein warnte er die Amerikaner zunächst ausdrücklich und argumentierte am 11. Oktober in einem persönlichen Brief an Bush, dass ein Losschlagen gegen den Irak ohne sorgfältige strategische und internationale Vorbereitung die EU, Russland und die arabische Welt verprellen würde.[44] Ähnlich äußerten sich das Foreign Office und der britische UN-Botschafter Jeremy Greenstock.[45]

Nur knapp zwei Monate später deutete sich jedoch ein signifikanter Wandel dieser vorsichtigen Haltung an: In zwei Memoranden an den Premierminister von Mitte November beziehungsweise Anfang Dezember regte Blairs Stabschef Jonathan Powell, vor dem Hintergrund der offenkundigen amerikanischen Bestrebungen, im Irak militärisch zu intervenieren, an, die bisherige britische Politik gegenüber dem Saddam-Regime zu überdenken: „Mir scheint, dass unser übergeordnetes Ziel in der Beseitigung Saddams und nicht in der Entsendung von Waffeninspektoren liegt.“[46] In seinem zweiten Memorandum forderte Powell dann bereits dezidiert die diplomatische Vorbereitung einer Militäraktion, die „erst mit der Beseitigung Saddams abzuschließen“ sei.[47]

Zum ersten Mal also wurde in Downing Street No. 10 explizit ein militärischer Regimewechsel in Bagdad gefordert und hierfür auch bereits eine Strategie skizziert, deren einzelne Elemente in den folgenden Monaten maßgeblich die britische Gesamtstrategie gleich einer Blaupause bestimmen sollten. Powells Überlegungen stießen bei Blair sofort auf ein positives Echo: „Ich stimme dem uneingeschränkt zu“, notierte der Premier handschriftlich über Powells erstes Memorandum und ergänzte, dass er über diese Überlegungen mit „G[eorge]WB[ush]“ sprechen werde.[48]

Im Grunde wird bereits an dieser Stelle das oben dargestellte Narrativ Blairs und seiner Berater widerlegt. In den folgenden Wochen bestimmte – wie die Quellen belegen – die Festlegung auf eine Kriegsunterstützung der USA eindeutig die internen Gespräche über die Irakpolitik des innersten Führungszirkels: Im Februar 2002 fand in Blairs Amtssitz ein Treffen statt, auf dem man die Irakfrage als „Phase 2“ des „War on Terror“ einordnete und sich dazu entschloss, entsprechende politische Strategien auszuarbeiten, die man im März mit US-Vizepräsident Dick Cheney in London sowie einen Monat später mit Bush auf dessen texanischer Ranch in Crawford besprechen wollte.[49] Anlässlich des Gesprächs mit Cheney in London instruierte das Foreign Office den Premierminister am 11. März, folgende Botschaft zu kommunizieren: „Völlige Übereinstimmung mit der Zielsetzung. Welt ein besserer Ort ohne Saddam. Notwendigkeit der Verschärfung des Drucks auf den Irak.“[50] Im gleichen Sinne versicherte Blairs außenpolitischer Berater David Manning – der sich zu einer der wichtigsten Figuren im internen Entscheidungsprozess entwickeln sollte – Bushs Nationaler Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice drei Tage später in Washington: Blair „würde in seiner Unterstützung für einen Regime Change standhaft bleiben“.[51] US-Außenminister Colin Powell konnte Ende des Monats mit Blick auf das kommende Treffen in Crawford angesichts dieser eindeutigen Signale und offensichtlich gestützt auf weitere Zusicherungen ebenso beruhigt wie dezidiert an seinen Präsidenten schreiben, dass Blair in der Frage des anvisierten Irakkriegs „weiterhin an der Seite“ der USA stehe.[52]

Somit gab es bereits im Vorfeld des bis heute oft diskutierten Zusammentreffens von Blair und Bush Anfang April 2002 in den USA auf höchster Ebene eine grundsätzliche Einigung zwischen Briten und Amerikanern, im Irak militärisch zu intervenieren. In den Quellen findet sich kein Hinweis auf eine intern verfolgte alternative britische Politik der Friedenssicherung und Kriegsvermeidung – dies deckt sich mit Porters Befunden, der allerdings der Frage, wann genau sich die Regierung intern festgelegt hatte, keine große Bedeutung zumaß.[53] Welche Motive sowie strategischen Grundüberlegungen hinter dieser britischen Festlegung standen, lässt sich mittlerweile ebenfalls durch die Quellen rekonstruieren.

Die von Blair und seinen damaligen Beratern noch vor der Chilcot-Kommission vertretene und von dieser in ihrem Abschlussbericht implizit als Hauptmotiv akzeptierte Erklärung der konfrontativen Wendung der britischen Irakpolitik im Gefolge von 9/11 betont bekanntlich die Gefahr, die von den vermeintlichen irakischen Massenvernichtungswaffen ausging: Nach den verheerenden Terroranschlägen in den USA sei, so das Narrativ, sicherheitspolitisch der mögliche Besitz solcher Waffen durch Diktatoren und ihre Weiterverbreitung an Terroristen nicht mehr hinnehmbar gewesen.[54] In der Tat äußerten sich Blair und sein Außenminister Straw bereits in der ersten Parlamentssitzung nach den Anschlägen in diesem Sinne. Auch in den internen Dokumenten wurde die Notwendigkeit einer bewaffneten Konfrontation mit dem Irak regelmäßig mit der Unterstellung, dass Saddam Hussein über diese Waffen verfüge, begründet.[55] Entgegen den öffentlichen Verlautbarungen in den folgenden Monaten spielte jedoch keineswegs der Glaube an eine konkrete Bedrohung durch ein vermeintlich einsatzfähiges irakisches Waffenprogramm eine Rolle, sondern vielmehr eine Überlegung, die der damalige Politische Direktor des Foreign Office, Peter Ricketts, im März 2002 folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Die Wahrheit ist: Was sich geändert hat, ist nicht das Tempo von Saddam Husseins Programmen zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen, sondern unsere diesbezügliche Toleranz nach dem 11. September.“[56]

Wir wissen heute, dass erstens der Irak seit den 1990er Jahren keine Massenvernichtungswaffen mehr besaß und dass zweitens sowohl die amerikanische als auch die britische Regierung die Öffentlichkeit in dieser Frage grob täuschten – darauf ist noch zurückzukommen. Doch darf man aus einer Sicht ex post nicht unterschätzen, in welchem Maße das Ereignis 9/11 tatsächlich die sicherheitspolitischen Bedrohungsszenarien in der westlichen Welt und ganz besonders in Washington wie auch London veränderte und den Umgang mit Staaten verschärfte, die bereits seit Jahren als sicherheitspolitische Unruhestifter der internationalen Politik ausgemacht worden waren – zumal wenn diese, wie der Irak, in der Vergangenheit nachweislich Massenvernichtungswaffen besessen, eingesetzt und die UN über ihre Abrüstungsprogramme getäuscht hatten.[57]

Entgegen den Suggestionen des Blair-Lagers lagen die entscheidenden Triebkräfte der britischen Irakpolitik ab Ende 2001 allerdings nicht in diesem Gefährdungspotenzial. Vielmehr verfolgte man in London eine Politik der günstigen Gelegenheiten, die sich aus mehreren Motivbündeln speiste: Der Ausgangspunkt der britischen Kriegspolitik war die sich seit November 2001 in London verfestigende Erkenntnis, dass die Amerikaner auf eine Konfrontation mit dem Irak, möglicherweise einen Krieg, zusteuerten. Dies bestätigte rückblickend vor allem der damalige britische Botschafter in Washington, Christopher Meyer.[58] Und laut David Manning sei es damals alternativlos gewesen, auf diesen wahrgenommenen Kurs der Amerikaner einzugehen: „Die Amerikaner waren entschlossen, sich darauf zu konzentrieren. Wir hatten keine Wahl.“[59]

Diese Herausforderung bot aus Sicht der britischen Verantwortlichen jedoch offenbar auch Chancen, wie ein im Auftrag von Blair erstelltes, zehnseitiges Gutachten des Cabinet Office,[60] das sogenannte Options Paper vom 8. März 2002, belegt, in dem die britische Irakpolitik und ihre Perspektiven analysiert wurden. Dort wurde eine großangelegte Militäroperation mit dem Ziel eines Regimewechsels in Bagdad als eine nunmehr logische und gewinnbringende Fortsetzung der britischen Irakpolitik befürwortet: Diese beruhe, so das Cabinet Office in Anlehnung an Strategiepapiere wie das oben zitierte Memorandum vom 7. März 2001, auf dem Bestreben, einen freiheitlich-rechtsstaatlichen und friedlichen Irak wiederherzustellen. Dazu wurde angemerkt: „Dies impliziert, dass das nicht geschehen kann, solange Saddam Hussein an der Macht ist.“[61] Die bisherige Politik der diplomatischen Konfrontation und Eindämmung des Irak sei nicht zukunftsfähig, Saddams Regime nicht dauerhaft kooperationsfähig und im Übrigen – und dies war ganz offensichtlich der entscheidende Punkt, auch wenn er nicht als solcher kenntlich gemacht wurde – hätten die USA das Vertrauen in die bisher praktizierte diplomatische Politik verloren.[62] Somit hatte sich aus Sicht des Cabinet Office eine entscheidende Bedingung verändert, die bislang gegen eine militärische Option in der Irakpolitik gesprochen hatte.

Dieses Tony Blair vorgelegte Gutachten dürfte dem britischen Premier, der einen liberalen Interventionismus vertrat, ausgesprochen entgegengekommen sein. Wie sehr diese Ansichten ihn dazu brachten, den Irakkrieg als eine günstige Gelegenheit anzusehen, belegt eindrücklicher als vermutlich alle anderen Quellen ein Brief Blairs an George W. Bush vom 26. März 2003, verfasst eine Woche nach Beginn der Kriegshandlungen. Mit bezeichnender Offenheit bekannte sich der Brite dort gegenüber seinem amerikanischen Amtskollegen und Kriegspartner zu einer Politik, die die Konfrontation mit dem Terrorismus und mit dem Saddam-Regime nach 9/11 als Gelegenheit und Ausgangspunkt begriff, die Welt im Sinne westlicher Werte umzugestalten und sie auf diese Weise auch sicherer zu machen: „Daher ist unser fundamentales Ziel die Verbreitung unserer Werte wie Freiheit, Demokratie, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit. [...] Aus diesem Grund ist, wenngleich Iraks Massenvernichtungswaffen die unmittelbare Rechtfertigung für ein militärisches Eingreifen bilden, die Befreiung Iraks von Saddam der eigentliche Gewinn.“[63]

Blairs Weltsicht war erkennbar manichäisch geprägt: Die freiheitlichen Staaten des Westens würden von einer Gruppe terroristischer Kräfte und „Schurkenstaaten“ (Blair machte hier keinen Unterschied) herausgefordert und müssten darauf mit einer selbstbewussten und militärisch gestützten Verbreitung der eigenen Werte reagieren. Wie Porter erkannt hat: Die Briten glaubten tatsächlich daran, mithilfe einer militärischen Intervention und durch den Sturz Saddam Husseins ein Problem aus der Welt zu schaffen und den Irak „zum Besseren“ zu verändern.[64]

Aus Blairs Ausführungen spricht zweifellos eine bemerkenswerte weltpolitische Hybris; er sah sich hier ganz unverhohlen als Mitarchitekt von nichts weniger als einer „neuen Weltordnung“.[65] Ebenso ist diese Quelle ein bezeichnendes Beispiel für die damals in London und Washington herrschende unreflektierte Begeisterung für das Konzept des Regime Change. Nicht zuletzt standen die dort deutlich werdenden Zielsetzungen in direkter Kontinuität zu Blairs in Chicago wenige Jahre zuvor umrissenen Prinzipien. Wer genau hingehört hatte, hatte Blairs weltpolitische Hybris auch in seiner Ansprache auf der Labour Party Conference Anfang Oktober 2001 erkannt, in der der Premierminister und Parteivorsitzende ausführlich auf die Terroranschläge in den USA Bezug genommen und sich zu dem Satz verstiegen hatte: „Dies ist eine Gelegenheit, die man wahrnehmen muss. Das Kaleidoskop ist geschüttelt worden. Die Stücke sind in Bewegung. Bald werden sie sich neu zusammensetzen. Bevor sie das tun, lasst uns die Welt um uns herum neu ordnen!“[66] Seine Meinung, dass sich aus einer linksliberalen Weltsicht, den Erfahrungen des Kosovokriegs und seinen Chicagoer Grundsätzen zwingend die Bereitschaft ergeben müsse, andere Länder von diktatorischer Unterdrückung zu befreien, äußerte der Regierungschef auch im März 2002 in einem internen Memorandum gegenüber Powell und Manning – dezidiert und unverhohlen mit Blick auf den anvisierten Irakkrieg.[67]

Doch so wichtig diese Hybris und diese inhaltlichen Motive gerade für Blairs persönliche Rechtfertigung eines auf einen Regimewechsel zielenden Kriegs gegen den Irak gewesen sein mögen, so reichen sie gleichwohl nicht aus, die britische Entscheidung zur Unterstützung des amerikanischen Kriegskurses vollständig zu erklären. Dieser Krieg mochte aus Sicht der politisch Verantwortlichen in London nicht zuletzt ein „Krieg der Ideen“ gewesen sein, wie Porter jüngst argumentierte,[68] doch darf man diese These nicht auf Kosten der machtpolitischen und diplomatisch-strategischen Motive der britischen Regierung allzu sehr in den Vordergrund stellen.

Am 3. Dezember bemerkte Simon McDonald, Parlamentarischer Privatsekretär von Außenminister Straw, in einem Memorandum an Manning, dass ein möglicher US-Angriff auf den Irak die Briten mit einem „Dilemma“ konfrontieren könnte: „Unterstützung einer rechtswidrigen und weithin unpopulären Militäraktion oder Distanzierung von einem Kernziel der US-Politik.“ Die Lösung bestand aus Sicht des Foreign Office darin, tatsächlich die Politik gegenüber dem Irak zu verschärfen und sich über die möglichen Grundlagen für einen Krieg Gedanken zu machen sowie in der Zwischenzeit zu versuchen, in enger Abstimmung mit den Amerikanern zu bleiben, solange noch keine endgültigen Entscheidungen gefallen waren.[69]

Allerdings gab es von Beginn an eine klare Tendenz, die auf eine verhängnisvolle Kettenreaktion hinauslaufen sollte: Nicht nur, dass Blair innerhalb der britischen Regierung niemals einen Hehl daraus machte, dass Großbritannien als Antwort auf die Herausforderung der USA durch die New Yorker Terroranschläge auch in der Frage des Umgangs mit dem Irak Schulter an Schulter mit Washington stehen müsse.[70] Die Londoner Regierung, so der britische Botschafter Meyer später vor der Chilcot-Kommission, habe ohnehin von Beginn an mögliche Versuche, die US-Regierung von einem Krieg abzubringen, als „verschwendete Zeit“ verworfen. Vielmehr bestand das Kalkül darin, die Amerikaner von einem durchdachten und international sowie völkerrechtlich durchsetzbaren und vermittelbaren Kurs zu überzeugen.[71] Diese Strategie sollte gleichsam leitmotivischen Charakter für die britische Politik des Jahrs 2002 haben. Die Chilcot-Kommission hat die diesbezüglichen britischen Intentionen nur halbwegs erkannt: Sie ging davon aus, dass die Blair-Regierung ab Ende 2001 bemüht gewesen sei, durch eine enge Zusammenarbeit mit den USA in der Irakfrage die Ziele der US-Administration zu beeinflussen.[72] Doch den Briten ging es nicht um das Ziel Krieg, sondern um die Art und Weise, wie dieses erreicht werden sollte. Alternative Zielsetzungen sind in den Quellen ohnehin nicht erkennbar. Ricketts brachte es im März 2002 auf den Punkt, als er argumentierte, dass Blair durch die Beteiligung an der amerikanischen Irakpolitik auch die Art und Weise, wie diese durchzusetzen sei, mitbestimmen könne. Blairs Mission beschrieb er mit den Worten: „Er kann Bush dabei helfen, gute Entscheidungen zu treffen, indem er ihm Dinge sagt, die ihm sein eigener Apparat vielleicht nicht sagt.“[73]

Laut den Tagebuchaufzeichnungen des späteren Anti-Kriegs-Rebellen Cook formulierte daher Blair während einer Kabinettssitzung am 7. März 2002 seine Haltung in der Irakfrage folgendermaßen: „Ich sage Ihnen, dass wir uns eng an Amerikas Seite halten müssen. Falls wir das nicht tun, verlieren wir den Einfluss darauf mitzugestalten, was sie tun.“[74] Die Bedingungen für eine solche Politik schienen seit Anfang 2002 auch günstig: Im Gefolge von Bushs berüchtigter „Axis of Evil“-Rede Ende Januar 2002, in der der US-Präsident auf offenen Konfrontationskurs mit dem Irak gegangen und damit auf breite internationale Ablehnung gestoßen war,[75] informierten sowohl Botschafter Meyer als auch Manning den Premierminister aus den USA, dass die Briten momentan die einzigen ausländischen Partner seien, auf die Bush noch hören würde, was ihn schlussfolgern ließ: „Das verleiht Ihnen echten Einfluss.“[76] Diese amerikanische Aufgeschlossenheit spricht auch aus Powells Memorandum an George W. Bush von Ende März: Blair wolle, so der US-Außenminister, dem Präsidenten die „strategischen, taktischen und öffentlichkeitsbezogenen Überlegungen präsentieren“, die den Erfolg der Durchsetzung eines Irakkriegs garantieren würden.[77] Mit anderen Worten: Die US-Seite akzeptierte bereits zu einem frühen Zeitpunkt die von Blair angestrebte Rolle eines wichtigen strategischen Stichwortgebers und Wegbereiters bei der politischen Vorbereitung des geplanten Kriegs.

Doch was versprachen sich die Briten konkret von dieser Politik der Beeinflussung durch Kooperation? Zwei (weitere) günstige Gelegenheiten boten sich hier: Zum einen dürfte die bloße Aussicht, die mächtige Weltmacht USA in einer solch elementaren Frage wie der eines möglichen Irakkriegs beeinflussen zu können, für einen profilierungsorientierten Politiker wie Tony Blair eine lohnende Aussicht und eine Möglichkeit gewesen sein, Großbritannien weltpolitisch in Szene zu setzen. Dieses Motiv sah beispielsweise Blairs langjähriger Vertrauter und späterer Generalstaatsanwalt, Ken MacDonald, rückblickend als besonders wichtig an.[78] Zum anderen – und das war nun weder eine opportunistische noch eine rein machtpolitische Überlegung – erkannten die maßgeblichen Politiker und Diplomaten in Downing Street No. 10 und im Foreign Office angesichts der öffentlichen Widerstände gegen die sich abzeichnende aggressive Irakpolitik der USA sowie des völkerrechtlich fragwürdigen Charakters einer möglichen militärischen Intervention die eminente Notwendigkeit, einen solchen Krieg auf eine „clevere Strategie“ aufzubauen, die die Konstruktion eines legitimen Kriegsvorwands unter Berücksichtigung sorgfältiger diplomatischer Vorbereitungen, völkerrechtlicher Aspekte sowie adäquater Kriegs- und Nachkriegsplanungen implizieren sollte. Diese Gedanken artikulierte Blair sowohl in einem Brief an Bush Anfang Dezember 2001 als auch in seinem Gespräch mit dessen Vizepräsidenten Cheney im März 2002 in London. Auch Manning zog aus einer Unterredung mit Rice in Washington den Schluss, dass die Briten versuchten müssten, den von ihm wahrgenommenen amerikanischen „Enthusiasmus“ in Bezug auf den Krieg in diesem Sinne zu ergänzen und mit einer rationalen Rechtfertigung zu versehen. Meyer bestätigte später diese Strategie vor der Iraq Inquiry.[79]

Die Briten arbeiteten dazu im ersten Halbjahr 2002 einen grundlegenden strategischen Rahmen aus – und waren monatelang damit beschäftigt, die USA von diesem zu überzeugen.

IV. Der Weg in den Krieg – die britische Strategie und die Täuschung der Öffentlichkeit

Den Briten war im Gegensatz zu den Amerikanern bereits 2001/02 vollkommen bewusst, dass es international und öffentlich ausgesprochen schwierig durchzusetzen sein würde, den Irak zum Ziel eines westlichen Militärschlags zu machen. Dies konnte aus Londoner Sicht nur gelingen, wenn man für einen Krieg einen scheinbar legitimen Vorwand und breite internationale Unterstützung fand. Diese Überlegungen prägten maßgeblich die britischen strategischen Konzeptionen im Vorfeld des militärischen Konflikts – und letztlich den Weg der US-geführten Koalition in den Irakkrieg insgesamt.

Bereits in seinem Memorandum an Blair von Anfang Dezember 2001 hatte Stabschef Jonathan Powell dem Premier einen Vorschlag gemacht, wie ein möglicher Irakkrieg legitimiert werden könne: Es sei wichtig, gegenüber der nationalen wie internationalen Öffentlichkeit die vermeintliche Bedrohung durch Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen und die daraus folgende Notwendigkeit, den Irak zum Ziel eines internationalen Konfrontationskurses zu machen, hervorzuheben.[80] Auf dieser Begründung aufbauend, müsse dann diplomatischer Druck auf Saddam dahingehend ausgeübt werden, dass dieser die UN-Waffeninspektoren wieder ins Land zurückkehren lasse. Falls der Diktator dies ablehne, würde unverzüglich eine Militäraktion folgen. Falls er aber wider Erwarten einlenke, entstehe „die Notwendigkeit, eine neue Forderung für die Rechtfertigung einer Militäraktion zu finden“.[81]

Diese – hier noch relativ unausgegorenen – Überlegungen lieferten die Stichpunkte für die in den folgenden Monaten ausgearbeitete britische Strategie und die Verhandlungen mit den USA über die Bedingungen des Irakkriegs, die auf der Annahme aufbauten, dass die militärische Invasion als solche bereits grundsätzlich anvisiert war und es lediglich um die Frage ging, wie sie international und öffentlich legitimiert und vorbereitet werden konnte. Im Options Paper von Anfang März wies das Cabinet Office noch einmal darauf hin, dass ein US-geführter Angriffskrieg gegen den Irak ohne den konkreten Anlass einer irakischen Bedrohung völkerrechtswidrig sei, weshalb auch dort die strategischen Überlegungen Powells aufgegriffen wurden: Eine Zurückweisung neuer, verschärfter UN-Auflagen zur Rückkehr der UN-Waffeninspektoren durch Saddam Hussein und die formelle Feststellung dieses Sachverhalts durch den UN-Sicherheitsrat könnten die notwendige völkerrechtliche Legitimation für einen Krieg schaffen.[82] Dabei lassen die internen Dokumente aus dieser Zeit keinen Zweifel daran, dass es den Briten nur darum ging, gegenüber der internationalen Gemeinschaft den Anschein zu wahren, an einer diplomatischen Lösung des Irakproblems interessiert zu sein: „Es muss so aussehen, als hätten wir es versucht“, gab das Foreign Office als Taktik vor.[83]

Diese Strategie setzte natürlich voraus, dass die USA und Großbritannien in der Irakfrage den Weg über die Vereinten Nationen beschritten. Von dieser Vorgehensweise versuchten die Briten, die Amerikaner in den folgenden Wochen immer wieder zu überzeugen; Botschafter Meyer, Manning und nicht zuletzt Blair selbst hatten diesbezüglich mehrere Gespräche mit der amerikanischen Regierung: mit Cheney, Rice, Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz und mit Präsident Bush persönlich.[84] Bei ihrem lange vorbereiteten Treffen auf Bushs texanischer Ranch in Crawford im April schien es Blair auch zu gelingen, die USA auf diesen Kurs festzulegen. Der US-Präsident machte zwar deutlich, dass er wenig Vertrauen in die UN und die Möglichkeit, über den Sicherheitsrat einen Irakkrieg durchzusetzen, hatte: „Aber ich versprach, seine [Blairs] Idee in Betracht zu ziehen.“[85] Doch das Treffen von Crawford sowie die dortigen Gespräche sind in der Literatur oft überschätzt worden.[86] Nicht nur trug Blair dort lediglich Ideen vor, die die Briten den Amerikanern bereits im März präsentiert hatten. Vor allem zeigte jedoch das grundsätzliche Einvernehmen in Crawford zunächst keine Wirkungen, wie die Briten noch im Juli 2002 frustriert feststellen mussten: Bis zu diesem Zeitpunkt war noch keine Bereitschaft der USA erkennbar, einen möglichen Irakkrieg in einen internationalen und völkerrechtlichen Rahmen einzubetten.[87]

Für Blair und seine engsten Berater war dies ein Problem: Das Foreign Office und Außenminister Straw fürchteten vor allem, dass ohne eine UN-Resolution kein völkerrechtskonformes Mandat für eine britische Kriegsbeteiligung und daher auch keine Grundlage für eine Zustimmung der Labour-Partei und des Kabinetts sichergestellt werden könnten.[88] Blair hatte somit, trotz der gewichtigen Stellung, die Downing Street No. 10 im Entscheidungsprozess der Briten besaß, einen gewissen rechtlichen und politischen Rahmen zu berücksichtigen. So entsprach die Achtung vor UN und Völkerrecht nicht nur den traditionellen Prinzipien der Labour-Partei, sondern grundsätzlich einem gewissen Konsens in der britischen Außenpolitik. Greenstock beispielsweise betonte in seinen Erinnerungen: „Das Vereinigte Königreich ist für die Durchsetzung und Verteidigung unserer globalen Interessen auf das ordnungsgemäße Funktionieren des internationalen Systems, mit den UN als dessen Zentrum, angewiesen.“ Großbritannien sei keine Supermacht und müsse gerade deshalb besonderes Gewicht auf „internationale und rechtliche Grundsätze“ legen, wenn es um die Frage der Teilnahme an einem Krieg gehe.[89] Hier lagen die Unterschiede zur unilateralen US-Politik – und die Divergenzen in der britisch-amerikanischen Zusammenarbeit auf dem Weg in den Irakkrieg, denn die von Blair in seinem Memorandum vom 26. März 2003 retrospektiv skizzierten ideologischen Rechtfertigungen mochten grundsätzlich denen der Bush-Administration entsprechen, doch gab es zwischen Blairs Vorstellungen und denen der Stäbe von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, seines Stellvertreters Wolfowitz, Cheney und der Nationalen Sicherheitsberaterin Rice auch gewisse Unterschiede. Diese Republikaner, von Michael Mann in seiner immer noch lesenswerten Kollektivbiografie von 2004 als „Vulcans“ bezeichnet, sahen den Irakkrieg vor allem als Gelegenheit für eine Demonstration unilateraler amerikanischer Machtpolitik, die UN und die internationale Diplomatie hingegen in erster Linie als Hindernisse auf diesem Weg.[90] Bis zum Spätsommer 2002 war Blair nicht in der Lage, sich mit seinem multilateral-strategischen Ansatz gegenüber diesen mächtigen Gegenstimmen bei Präsident Bush nachhaltig Gehör zu verschaffen.[91]

Auch auf dem Treffen von Blair mit seinen engsten Beratern – darunter Außenminister Straw und Generalstaatsanwalt Peter Goldsmith – am 23. Juli 2002 in Downing Street No. 10, dessen im Jahr 2005 geleaktes Protokoll zu den bekanntesten Quellen zur Geschichte des Irakkriegs gehört, wurde diese Problematik erörtert. Allerdings führte der Premier den dort Anwesenden eindringlich vor Augen, dass sich Großbritannien „an jeder Militäraktion“ gegen den Irak zu beteiligen habe: Denn unabhängig von einer sicherlich „hilfreichen“ rechtlichen Legitimation eines Kriegs sei es keine Option, den USA die Gefolgschaft zu verweigern, zumal er, der Regierungschef, einen Regime Change in Bagdad als die beste Politik in Bezug auf den Irak ansehe.[92]

Gleichwohl sah sich der kriegswillige Premierminister genötigt, in einem persönlichen Brief an Bush vom 28. Juli seine strategische Konzeption noch einmal ausführlich zu begründen: Die USA, so Blair, könnten diesen Krieg selbstverständlich allein beziehungsweise mit britischer Unterstützung führen; dies sei für ihn kein Problem. Doch angesichts der Herausforderungen, die ein Irakkrieg für die beteiligten Staaten bedeute, bedürfe es internationaler Unterstützung. Gerade für den Fall, so der Brite in einer bemerkenswerten Antizipation der späteren desaströsen Folgen des Kriegs für den Irak und die Region, dass es zu einem langwierigen und opferreichen Feldzug mit „unerwarteten Folgen“ kommen würde, sei eine internationale Beteiligung besser. Die internationale Gemeinschaft sollte offensichtlich für alle negativen Kriegsfolgen präventiv in Mithaftung genommen werden. Doch ohne UN-Mandat oder überhaupt den Weg über die Vereinten Nationen würde eine solche Koalition niemals zustande kommen und auch die britische öffentliche Meinung würde schwer für einen Feldzug zu gewinnen sein.[93]

Der britische Premier skizzierte ausführlich, wie er sich das Vorgehen über die UN vorstellte: Man würde von Saddam ultimativ die Rückkehr der UN-Waffeninspektoren fordern, was dieser vermutlich ablehnen werde. „Falls er ja sagen sollte, schicken wir Teams [Waffeninspektoren] hinüber, und sobald er sich obstruktiv verhält, sagen wir: Er spielt wieder seine Spielchen. Das wär’s dann.“[94] Mithilfe dieses Vorwands, so hoffte Blair, könne man die UN davon überzeugen, dass ein Krieg die geeignete Antwort auf Saddams Verhalten sei.

Diese Quelle belegt nochmals eindeutig, dass es Blair war, der die Idee, einen Krieg mit der Verweigerung von UN-Inspektionen durch den Diktator des Irak zu begründen, an die Amerikaner herangetragen hat. Dem Gesprächsprotokoll des Downing Street-Treffens ist schließlich zu entnehmen, dass die Amerikaner noch im Juli keine diplomatische Strategie hatten, in die sie ihren Kriegsentschluss einzubetten gedachten.[95] Diese Aufgabe übernahm Blair. Seine Strategie beruhte vor allem darauf, sich die bisherigen, ernüchternden Erfahrungen der internationalen Gemeinschaft mit dem Irak und den internationalen Abrüstungsbemühungen zunutze zu machen, Saddam Hussein eine Falle zu stellen und darauf zu spekulieren, dass dieser sich durch die erneute Obstruktion der UN und ihrer Inspektionen selbst ins Unrecht setzte. Hier zeigt sich: Die Art und Weise, wie der Irakkrieg von 2003 letztlich diplomatisch durchgesetzt und legitimiert werden sollte, fußte maßgeblich auf einer in London konzipierten und von dort aus forcierten Strategie.

Doch implizierte dieses Vorgehen mehrere problematische Vorannahmen und Voraussetzungen: So wurde das Ergebnis, nämlich ein Krieg als Folge grober irakischer Verstöße gegen eine UN-Resolution, bereits vorweggenommen. Da mit Saddams zu erwartender Behinderung von Waffeninspektionen ein Krieg gegen den Irak gerechtfertigt wurde, lag es nahe, dass dieser Prozess im Sinne einer self-fulfilling prophecy, bei der der Prophezeiende sich so verhält, dass er zur Erfüllung der eigenen Prophezeiung selbst beiträgt, beurteilt würde. Es war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch gar nicht absehbar, wie eine erneute Inspektion aussehen und sich entwickeln würde, und ebenso wenig, wie sich die übrigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (deren Mitwirkung an einer Neuauflage von Waffeninspektionen notwendig war) bei einer erneuten irakischen Obstruktion der Inspektionen verhalten würden. Würde der Irak sich überhaupt unkooperativ verhalten? Dies lag angesichts seiner vergangenen Haltung gegenüber der UN vielleicht nahe. Sicher war dies jedoch ebenso wenig wie die Annahme Blairs, dass man die übrigen Mitglieder des Sicherheitsrats dazu bewegen könnte, aus einer erneuten irakischen Obstruktionspolitik die Legitimation eines Kriegs abzuleiten. Eine Konfrontation dieser britisch-amerikanischen Perspektive mit davon abweichenden Sichtweisen im UN-Sicherheitsrat (wir kennen sie heute) war von Anfang an angelegt, ohne dass es Anzeichen dafür gibt, dass die britischen Entscheidungsträger in der Downing Street oder im Foreign Office diese Möglichkeit bis zum Sommer 2002 auch nur diskutierten.

Das ist schwer zu erklären, doch darf man nicht vergessen, dass für Blair und seine Berater zum damaligen Zeitpunkt die Intention prioritär war, einen vonseiten der Amerikaner offenbar bereits beschlossenen Krieg in einen Rahmen einzubetten, der aus britischer Sicht national, international und völkerrechtlich vermittelbar war. Und die britische Seite war sehr erleichtert, als sie Anfang September 2002 bei den Amerikanern endlich auf Gehör stieß: Rice versicherte Manning in einem Telefongespräch von Ende August, dass der Präsident nach der aufmerksamen Lektüre des Blair-Schreibens vom 28. Juli von dem dort niedergelegten Kurs überzeugt worden sei.[96] Am 7. September einigten sich Bush und Blair bei einem Gespräch in Camp David definitiv darauf, die britische Strategie zur Grundlage für ihre UN-Politik zu machen: Man würde erstens eine harte UN-Resolution im Sicherheitsrat einbringen, die dem Irak ein straffes, neues Waffeninspektionsregime auferlegen sollte. Zweitens verständigte man sich, im Falle der Nicht-Kooperation des Irak eine zweite Resolution vorzulegen, die den Einsatz militärischer Gewalt gegen Saddams Regime legitimieren würde.[97]

Blair machte, unter anderem auf Anraten des wieder einmal mitgereisten Manning, allerdings deutlich, dass die Briten, sollte Saddam seine Verpflichtungen verletzen, auch ohne ein UN-Mandat mit den Amerikanern in den Krieg ziehen und dabei „eine bedeutende militärische Rolle“ spielen würden. Er und Manning verwiesen dabei auf die „Kosovo-Lösung“: Sollten die Vereinten Nationen, wie drei Jahre zuvor im Konflikt mit Slobodan Milošević, ihrer „Verantwortung“ nicht entsprechen, also ein Mandat für eine Militäraktion verweigern, würden die Briten zusammen mit den Amerikanern trotzdem handeln.[98]

Die Protokolle mehrerer Telefongespräche zwischen Rice und Manning am 10. und 11. September 2002 machen jedoch deutlich, dass die Briten ihre amerikanischen Partner geradezu schulmeisterlich darauf festlegen mussten, sich vorerst an das verabredete Drehbuch zu halten. Dies hieß, die UN davon zu überzeugen, dass es beiden Ländern um die so lange geforderte Neuauflage der Waffeninspektionen im Irak gehe, während die USA und Großbritannien die Ergebnisse dieser Inspektion abwarten mussten. Manning und Blair gaben sich überzeugt: Die Inspektionen würden den Vorwand liefern, einen Krieg zu begründen – selbst wenn es sich nur um falsche Angaben der irakischen Regierung über verbotene Waffenprogramme handelte, die London und Washington Saddam unterstellten. Rice und die US-Regierung, die den UN-Prozess weiterhin im Grunde nur als eine Zeitverschwendung auf dem Weg hin zu einem Krieg ansahen und bei der erstbesten Gelegenheit losschlagen wollten, mussten zunächst ausgebremst werden.[99]

Dieses Vorgehen beruhte jedoch weiterhin auf der Voraussetzung, dass es gelingen würde, der Öffentlichkeit das irakische Waffenprogramm als drängende Bedrohung darzustellen. So arbeiteten die Briten seit Februar 2002 fieberhaft daran, genügend geheimdienstliche Belege für diese gewagte These zu finden. Doch obgleich Regierung und Geheimdienste, wie oben dargelegt, durchaus von der möglichen Existenz eines wie auch immer gearteten irakischen Waffenprogramms ausgingen, mussten die verfügbaren Informationen bewusst übertrieben wiedergegeben und zum Teil manipuliert werden, weil schnell deutlich wurde, dass es keine Beweise oder auch nur Hinweise auf eine tatsächliche, imminente Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen gab. Das Ziel bestimmte hier die Mittel; die Fakten mussten der Politik angepasst werden.[100] Das Ergebnis war das berüchtigte „September Dossier“, das der Premierminister am 24. September 2002 im Parlament vorstellte. Aus diesem Dokument leitete er in verzerrender Weise ein dramatisches Bild von dem angeblichen irakischen Waffenprogramm ab und rechtfertigte damit die These von der Notwendigkeit einer scharfen Konfrontation mit dem Irak.[101]

Dieses heute bekannte öffentliche britisch-amerikanische Begründungsmuster hatte mehrere Vorteile: Der Öffentlichkeit versicherte Blair seit dem Frühjahr 2002 wiederholt, dass es noch keine Entscheidung über einen Krieg gebe, sondern der Fokus auf der UN-gestützten Überprüfung der irakischen Waffensysteme und gegebenenfalls deren Abrüstung liege. Auch im britischen Kabinett blieb Blair bei dieser Sprachregelung – die die Ergebnisse der von ihm und seinen Beratern mit der amerikanischen Seite im Hintergrund geführten Verhandlungen unterschlug.[102] Der britische UN-Botschafter Greenstock versuchte, seinen Kollegen bei der UN weiszumachen, dass hinter der mit den übrigen Sicherheitsratsmitgliedern auszuhandelnden Resolution die britisch-amerikanische Intention stehe: „Den Sicherheitsrat zusammenzuhalten, indem der Irak, mit welchen dafür notwendigen Mitteln auch immer, vollständig entwaffnet wird, allerdings, soweit möglich, ohne Gewaltanwendung.“[103]

Natürlich war schon damals vielen Beobachtern bewusst, dass die Kriegsbefürworter nur nach einem Vorwand für einen Krieg suchten, doch zunächst schien Blairs Strategie aufzugehen: Viele Politiker – unter anderem Joschka Fischer – zeigten sich erleichtert, dass die USA sich offenbar entschlossen hatten, in der Irakfrage den multilateralen Weg über die UN und den Sicherheitsrat zu beschreiten und der Neuentsendung der Waffeninspektoren in den Irak den Vorzug vor einem Militäreinsatz zu geben. Es schien sich den Ländern, wie Frankreich, Russland und Deutschland, die Vorbehalte gegen eine militärische Intervention im Irak hatten, eine Chance zu eröffnen, den spätestens seit Bushs „Axis of Evil“-Rede weltweit befürchteten Krieg zu verhindern, indem man den amerikanisch-britischen Forderungen nach einer scharfen Resolution, die den Irak zur Zusammenarbeit mit den UN in der Frage der Massenvernichtungswaffen aufforderte, entgegenkam. Nur so lässt sich die letztlich einstimmige Verabschiedung der Resolution 1441 durch den UN-Sicherheitsrat im November 2002 erklären.[104] Dabei reflektierte die Resolution – dies darf nicht übersehen werden ­– auch einen breiten internationalen Konsens über die Notwendigkeit erneuerter internationaler Inspektionen der irakischen Waffensysteme vor dem Hintergrund des sicherheitspolitischen Klimas nach dem 11. September 2001.[105]

Die Resolution 1441 – auch dies wird häufig übersehen – war im Ergebnis sehr hart gegenüber dem Irak und lieferte, wie auch Joschka Fischer rückblickend zugeben sollte, den Kriegsbefürwortern von Beginn an gute Ansatzpunkte: Der Sicherheitsrat verurteilte die bisherige, obstruktive irakische Haltung in der Frage der Inspektion seiner Waffenarsenale, legte dem Land ein scharfes neues Inspektionssystem auf und forderte unter Androhung ansonsten erfolgender „ernsthafter Konsequenzen“ die sofortige und uneingeschränkte Zusammenarbeit des Saddam-Regimes mit den Inspektoren, die ab Ende November im Irak ihre Arbeit aufnahmen.[106] Laut Resolutionstext genügte bereits eine mangelhafte Kooperation mit den Waffeninspektoren und eine Täuschung hinsichtlich der Waffenaktivitäten, um eine „Verletzung“ der Resolution festzustellen.[107] Genau dieses Szenario erschien damals aufgrund des Umgangs des Saddam-Regimes mit den UN-Resolutionen und -Inspektoren in der Vergangenheit alles andere als unwahrscheinlich, was Amerikaner wie Briten von vornherein ins Kalkül gezogen hatten.[108] Beide Länder kamen – im Sinne der erwähnten self-fulfilling prophecy – angesichts des zunächst unvollständigen Kooperationsverhaltens der Iraker schnell zu dem Schluss, dass das Regime die Resolution 1441 „materiell verletzt“ und somit „den Pfad des Friedens“ verlassen habe. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Inspektoren bis zum März 2003 keinerlei Massenvernichtungswaffen finden konnten.[109]

Das amerikanisch-britische Vorgehen verlor jedoch auf diese Weise an Überzeugungskraft: Länder wie Frankreich, Russland und Deutschland weigerten sich, die britischen und amerikanischen Argumente zu akzeptieren, den Inspektionsprozess und die Diplomatie für gescheitert zu erklären sowie ihre Zustimmung zu einem Kriegsmandat zu erteilen.[110] Doch Blairs Strategie hatte auf eben ein solches Mandat gezielt; der Weg über die Vereinten Nationen war für ihn kein bloßer Vorwand, wie oft nachträglich angenommen, sondern eine reelle Chance, den amerikanischen Kriegskurs über den Weg der Waffeninspektoren zur gemeinsamen und völkerrechtlich abgesicherten Angelegenheit der UN zu machen. Entsprechend hatte sich Straw noch Ende August 2002 gegenüber Powell geäußert.[111]

Die Situation Anfang 2003 war verfahren: Wollten Briten und Amerikaner noch eine Chance haben, den Sicherheitsrat für einen Konfrontationskurs gegenüber dem irakischen Regime zu gewinnen, musste man den Fortgang der Inspektionen noch mehrere Monate abwarten und darauf hoffen, dass sie verborgene irakische Waffenaktivitäten zutage fördern würden. Diese Verzögerung aber, so erkannte auch Greenstock, würden die USA nicht akzeptieren, denn diese hatten ab dem Frühjahr die Geduld mit dem Prozess verloren und drängten auf den baldigen Krieg entsprechend ihrer bereits ausgearbeiteten militärischen Zeitpläne.[112]

Für die Briten verschärfte sich dieses Dilemma noch dadurch, dass ihr Generalstaatsanwalt Goldsmith seit September 2002 mehrfach deutlich gemacht hatte, dass ein Kriegseinsatz ohne ein explizites Mandat durch die UN völkerrechtswidrig sei und er dies auch genau so begutachten werde.[113] Blair jedoch war entschlossen, nötigenfalls auch ohne UN-Mandat in den Krieg zu ziehen – unter anderem mit dem Verweis auf das „Kosovo-Modell“, wie er im Oktober intern nochmals bekräftigte.[114] In den folgenden Wochen versuchte er, aus dem Zwiespalt herauszukommen: Er versicherte Bush seinen Kriegswillen, gewann jedoch dessen Zusicherung, sich weiterhin gemeinsam um ein UN-Kriegsmandat zu bemühen.[115] Gleichzeitig bereitete der Premierminister eine alternative Legitimationsstrategie für einen britischen Weg in den Krieg vor, indem er bis Anfang März Goldsmith – unter offensichtlich massivem Druck – davon überzeugte, seine Meinung zu ändern und einen britischen Militäreinsatz auch auf der Basis einer einseitigen Auslegung der Resolution 1441 und somit auch ohne zweite Resolution für legitim zu erklären: Der Irak, so argumentierte Goldsmith nur wenige Tage vor dem geplanten Kriegsbeginn Mitte März auf einmal vor dem britischen Kabinett, habe zweifellos die Resolution 1441 verletzt, folglich liege ein Kriegsgrund vor.[116]

Auf die rechtliche Fragwürdigkeit dieses Vorgehens ist in der völkerrechtshistorischen Forschung zum Irakkrieg bereits hingewiesen worden.[117] Wichtig ist hier: Die rechtlichen Rahmenbedingungen wurden genau wie andere politische Aspekte, etwa die Geheimdienstberichte über die Massenvernichtungswaffen, so konstruiert und öffentlich kommuniziert, dass sie dem angestrebten Ergebnis entsprachen.[118] Alle weiteren auftretenden Probleme wurden ähnlich gelöst. So lieferte Blair bereits am 15. Januar 2003 dem House of Commons eine Legitimation für sein Vorgehen im Falle eines „unvernünftigen Vetos“: Sollte Saddam Hussein die Resolution 1441 verletzen, ein Mitglied des UN-Sicherheitsrats sich aber – unter Bruch des „Geistes der UN-Resolution“ – weigern, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, also eine Kriegsresolution durch sein Veto verhindern, dann würde die britische Regierung die Möglichkeit in Betracht ziehen, trotzdem militärisch gegen den Irak vorzugehen.[119] Dies war eine unverkennbare Variation des „Kosovo-Models“.

Aus Blairs Sicht waren damit, trotz seiner und Bushs erfolgloser Versuche, die Mehrheit des UN-Sicherheitsrats hinter eine explizite Kriegsresolution zu versammeln, alle wesentlichen Voraussetzungen für eine britische Kriegsteilnahme und deren Rechtfertigung vor der Öffentlichkeit erfüllt. Nachdem sich Amerikaner und Briten mit ihren Unterstützern aus Spanien und Portugal am 16. März 2003 endgültig auf einen Abbruch des diplomatischen Prozesses geeinigt hatten,[120] beschloss das britische Kabinett am folgenden Tag, im Anschluss an die Vorstellung von Goldsmiths Rechtsgutachten, das Unterhaus um die Legitimation des Einsatzes militärischer Mittel gegen den Irak zu ersuchen.[121] Allerdings bestand nach wie vor die Gefahr, dass Blair, der sich angesichts der massiven öffentlichen Widerstände dazu entschlossen hatte, die Frage der britischen Kriegsteilnahme im Unterhaus zur Abstimmung zu bringen, dort eine parlamentarische Niederlage erleiden und folglich seinen Sturz riskieren könnte.[122] Doch ein Angebot Bushs in einem Telefongespräch wenige Tage vor der entscheidenden Parlamentssitzung, gleichsam in letzter Minute aus der Kriegskoalition auszuscheiden, um ein solches politisches Fiasko zu vermeiden, lehnte Blair mit Verweis auf die gemeinsam erkannte politische Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens ab: Er wollte den Krieg und hatte sich bereits derart prononciert dafür ausgesprochen, dass ein Zurückrudern aus seiner Sicht wohl mit einem massiven persönlichen Gesichtsverlust verbunden gewesen wäre.[123]

Bei der Abstimmung im Unterhaus am 18. März 2003 und der zuvor stattfindenden Debatte zeigte sich deutlich, dass Blairs gewählter Kurs der öffentlichen Täuschung über seine wahren Absichten und strategischen Ziele tatsächlich verfing: Die Parlamentsmehrheit schenkte Blairs Versicherungen Glauben, dass er bis zum Schluss sich für eine friedliche Lösung des Streits um die irakischen Waffenprogramme eingesetzt habe, nunmehr aber alle diplomatischen Optionen ausgeschöpft seien und eine militärische Konfrontation angesichts von Saddams Resolutionsbrüchen sowie der – angeblich – imminenten Gefahr seiner Waffenprogramme geboten sei.[124] Der Großteil der Abgeordneten betrachtete die Auslegung und Umsetzung der Resolution 1441 durch Großbritannien als korrekt und den Krieg als notwendiges Mittel zur Sicherstellung der „Entwaffnung“ des Irak. Sie kritisierten die Weigerung der Mehrheit des Sicherheitsrats, der vermeintlichen Obstruktionspolitik und dem brutalen Charakter des Saddam-Regimes mit militärischer Härte zu begegnen. Auch Analogien zu der gescheiterten Appeasement-Politik der 1930er Jahre gegenüber NS-Deutschland spielten in der Debatte eine, wenn auch untergeordnete, Rolle.[125]

Die bisherigen Analysen haben jedoch eindeutig gezeigt, dass es Blair und seinen Beratern nie um eine friedliche Lösung oder vorrangig um die „Entwaffnung“ des Irak ging und sie niemals von einer konkreten Bedrohung ausgegangen waren, sondern vornehmlich machtpolitische Ziele verfolgten und den Weg über die UN lediglich als Mittel zum Zweck der nachträglichen Legitimation eines bereits früh gefassten Kriegsentschlusses betrachteten.

Diejenigen Gegenstimmen, die bereits damals den völkerrechtswidrigen Charakter des Kriegs, die mangelnde internationale Unterstützung und die Fragwürdigkeit der vorgebrachten Motive hervorhoben,[126] konnten nichts daran ändern, dass es der Regierung letztlich gelang, die Abstimmung mit 412 gegen 149 Stimmen zu gewinnen.[127] Für die Labour-Abgeordneten war dabei eine Überlegung nicht unmaßgeblich: Offensichtlich wollten sie einen bleibenden politischen Schaden oder gar das politische Ende Tony Blairs, den die meisten von ihnen zu diesem Zeitpunkt für den erfolgreichsten Labour-Regierungschef aller Zeiten hielten, vermeiden. Die Regierung verstand es obendrein, sie entsprechend zu bearbeiten.[128]

Die breite parlamentarische Zustimmung zu der Politik der britischen Regierung beruhte jedoch nicht zuletzt auf der Tatsache, dass Blair die zentralen Vorentscheidungen der vorangegangenen Monate vor der Öffentlichkeit, dem Parlament und sogar vor dem Großteil des Kabinetts abgeschirmt hatte. Auch die Chilcot-Kommission kritisierte im Nachhinein diese Politik: Sie stellte fest, dass der Entscheidungsfindungsprozess rund um den Irakkrieg von hoher Informalität, mangelnder Informationsbereitschaft gegenüber den zuständigen politischen Gremien und deren Umgehung sowie der Marginalisierung von Kritikern (wie Cook) geprägt war.[129] Laut den Tagebüchern von Cook scheint im Kabinett am 7. März 2002 (!) das letzte Mal wirklich kontrovers über das Thema Irak diskutiert worden zu sein.[130] Generalstaatsanwalt Goldsmith war nach anfänglichen Widerständen gegen die völkerrechtliche Basis des Kriegs gleichsam umgedreht worden. Außenminister Straw wiederum stellte zwar intern mehrmals die Legitimität eines Kriegs ohne UN-Mandat und internationale Unterstützung infrage, vertrat aber nach außen hin loyal den Kurs des Premierministers.[131] Mit Ausnahme von Clare Short und Cook, die beide als Folge der britischen Kriegspolitik zurücktreten sollten, regte sich im britischen Kabinett offenbar kein nennenswerter Widerstand.[132] Die Tatsache, dass der letztlich gewählte Kurs im eklatanten Widerspruch zu den traditionellen außenpolitischen Prinzipien der Labour-Partei und Großbritanniens insgesamt stand, wurde dabei ignoriert.

Blairs spätere wiederholte Beteuerung, dass er Parlament, Kabinett und Öffentlichkeit niemals in die Irre geführt habe, ist eindeutig eine Lüge. Vielmehr baute die gesamte britische Irakpolitik von Ende 2001 bis März 2003 auf der systematischen Manipulation von Fakten und der ebenso systematischen Irreführung von Parlament und nationaler wie internationaler Öffentlichkeit auf. Dieser Kurs aber war konstitutiv für den britischen Weg in den Krieg und die Fragen von Lüge und Täuschung sind somit, anders als Porter meinte, durchaus wichtig und weiterführend, um den Prozess der Entscheidungsfindung zu verstehen. Weniger eine breite innerbritische Unterstützung einer Regime Change-Politik, die Porter zu erkennen glaubte, als vielmehr die systematische Täuschung über dieses Ziel war wegbereitend für die innenpolitische Durchsetzung von Blairs Kurs.[133] Es ist schwer erklärlich, weshalb der Abschlussbericht der britischen Iraq Inquiry angesichts der von der Kommission selbst zutage geförderten Fakten solch ein klares Urteil vermeidet.

Im Rückblick gehörte es zu den schwerwiegendsten und am meisten kritisierten Aspekten der Entscheidungsfindung der politisch Verantwortlichen in Großbritannien, dass das Land letztlich in einen Krieg zog, bei dem die Planungen für die Nachkriegszeit nicht einmal ansatzweise durchdacht worden waren.[134] So schlug die Regierung verschiedene Warnungen vor allem des Foreign Office in den Wind, dass der Irak infolge einer Invasion durch die Zerstörung der staatlichen Strukturen „fundamental instabil“, ein Hort der Gewalt sowie ein attraktives Feld für Terroristen werden könnte.[135] Dabei hatte Tony Blair sehr viel früher und klarer als die Bush-Administration erkannt, dass ein Feldzug in das vorderasiatische Land die Unvermeidlichkeit, „sich gegenüber dem Irak für eine längere Zeit zu verpflichten“, mit sich bringen würde.[136] Auch deshalb spielte die Notwendigkeit einer durchdachten Nachkriegsplanung in London bereits im Sommer 2002 eine Rolle in den internen Diskussionen, und die Briten wussten auch um die unzulängliche Aufmerksamkeit, die die Amerikaner dieser Frage widmeten.[137] Es gelang Blair jedoch nicht einmal, die USA von einer direkten und tragenden Rolle der UN beim Wiederaufbau des Lands zu überzeugen. Er scheiterte, wie Kelly McHugh betonte, einmal mehr an der UN-kritischen Haltung Cheneys und auch Condoleezza Rices.[138] Auf britischer Seite gab es jedoch ebenfalls eigene, verheerende Versäumnisse: So wurde die Iraq Planning Unit, die zentrale Planungseinheit, die die Neuordnung des Irak in der Nachkriegszeit skizzieren sollte, erst acht Wochen vor Invasionsbeginn ins Leben gerufen.[139] In London vertraute man ohnehin darauf, dass die Amerikaner den Großteil der Besatzungs- und Neuordnungsaufgaben übernehmen würden.[140]

Vor allem aber hatten die Londoner Politiker bis zum Schluss all ihre politische Energie darauf verwandt, die rechtliche und diplomatische Basis für die militärische Intervention zu schaffen, ohne sich viele Gedanken darüber zu machen, was denn nach Beendigung der unmittelbaren Kriegshandlungen kommen würde.[141] Angesichts der Tatsache, dass das Ziel der britischen Irakpolitik bereits seit Jahren in der Herstellung eines stabilen irakischen Staats bestand, von dem keine Bedrohung für die regionale Sicherheit mehr ausgehen sollte, erscheint dieses Versäumnis rückblickend als besonders paradox – und folgenschwer.

V. Fazit

Der interne Kreis um Premierminister Blair hat sich früher als lange angenommen und öffentlich behauptet für den Krieg an der Seite der USA entschieden, nämlich bereits zwischen Ende 2001 und März 2002 – ohne dass intern jemals Alternativen zum Krieg erwogen wurden. Dabei folgten die Briten bis Kriegsausbruch nicht einfach dem Kurs der USA gegenüber dem Irak, sondern entwickelten ein eigenes Konzept und konnten dieses gegenüber den USA auch durchsetzen. So ging der Weg über die Vereinten Nationen auf Tony Blair und seine Berater zurück, und insgesamt fußte die Art und Weise, wie der Irakkrieg von 2003 letztlich diplomatisch in Gang gesetzt wurde, maßgeblich auf einer in London konzipierten und von dort aus forcierten Strategie. Insofern war dieser Krieg kein amerikanischer, sondern stärker als bislang angenommen ein amerikanisch-britischer Krieg. Dies ist die zentrale Erkenntnis im Hinblick auf die relative historische Bedeutung des britischen Wegs in den Krieg.

Der Entschluss zur Kriegsteilnahme war vor allem durch die Überlegung Blairs und seiner Berater motiviert, den bereits seit Anfang 2002 als relativ feststehend wahrgenommenen amerikanischen Kriegskurs als eine in vielerlei Hinsicht günstige Gelegenheit für die eigene Politik zu begreifen: Die anvisierte militärische Intervention sollte zur Verwirklichung von bereits seit längerem erwogenen irakpolitischen Zielen, zur Durchsetzung einer liberal-interventionistischen Politik des Regime Change als Auftakt zu einer demokratischen Neuordnung im Mittleren Osten, zu einer konstruktiven Beeinflussung der Politik der führenden westlichen Macht USA und deren Realisierung auf multilateralem Weg in Form eines UN-Mandats für den geplanten Krieg genutzt werden. Als jedoch die britische Strategie, die von London unterstützte amerikanische Kriegspolitik über den Umweg der Waffeninspektionen zur gemeinsamen Sache der UN zu machen, scheiterte, war der bis dahin unangefochtene Erfolgspolitiker Blair nicht bereit, seine Unterstützung für die USA zu widerrufen, weil er an den Krieg und die sich mit ihm eröffnenden irak- und weltpolitischen Möglichkeiten glaubte, offenbar keinen Gesichtsverlust riskieren wollte und überdies überzeugt war, auch ohne UN-Mandat einen ausreichenden legitimen Grund für das militärische Eingreifen zu haben.

Das Insistieren auf die Einbeziehung der UN und der Verweis auf völkerrechtliche Grundsätze war der spezifische Beitrag Großbritanniens zur Vorkriegspolitik der Kriegsbefürworter, der sich auch aus den historischen außenpolitischen Prinzipien des Lands ergab, die die britische Politik markant von der unilateralen Machtpolitik der USA unterschieden und zumindest gewisse, temporäre Widersprüche in der special relationship erkennen ließen. Die Briten benötigten Monate, um die USA von dem Weg über die UN zu überzeugen. Umso bemerkenswerter ist die leichtfertige Bereitschaft von Parlament und Regierung in London, sich in der Frage des Irakkriegs 2003 über genau diese Leitlinien hinwegzusetzen und letztlich doch den völkerrechtswidrigen Kurs der USA zu akzeptieren und nachzuvollziehen.

Die nun freigegebenen Unterlagen zeigen in aller Deutlichkeit, dass Blair das Parlament und die nationale wie internationale Öffentlichkeit sowohl in Bezug auf die vermeintlichen irakischen Massenvernichtungswaffen als auch hinsichtlich der Motive der Regierung und den Weg zum Kriegsentschluss täuschte. Zwar spielte die prinzipielle Besorgnis hinsichtlich Saddams vermeintlicher Waffenprogramme durchaus – im Gegensatz zu einer heute weit verbreiteten Überzeugung – eine Rolle bei den Beweggründen für das Eingreifen im Irak; in erster Linie handelte es sich bei diesem Argument jedoch um einen Vorwand und ein Instrument der Täuschung. Auf der Grundlage eines vor der Öffentlichkeit und dem Großteil von Kabinett und Parlament abgeschirmten Entscheidungsprozesses, der paradigmatisch für das personalisierte System Blair steht, gelang es dem Premierminister, diejenige Politik durchzusetzen, auf die er sich mit Präsident Bush früh geeinigt hatte. Die Untersuchung widerlegt endgültig das von Blair und seinen Beratern vorgetragene Narrativ und korrigiert auch die Ergebnisse des Chilcot Reports. Sie wirft am Beispiel der britischen Irakpolitik ein frappierendes Licht auf die unreflektierte Affinität westlicher Politiker zum Konzept des Regime Change Anfang des 21. Jahrhunderts, die sich über völkerrechtliche Normen ebenso bedenkenlos hinwegsetzte wie über das Fehlen durchdachter Neuordnungspläne nach vollzogenem Regimewechsel. Da sowohl dieses politische Projekt als auch der britische Weg in den Irakkrieg maßgeblich von Tony Blair geprägt wurden, ist dieser Beitrag darüber hinaus ein Plädoyer, die Bedeutung von Personen auch in der Geschichte des frühen 21. Jahrhunderts mit seinen zum Teil neuartig komplexen Machtstrukturen hoch einzuschätzen. Nicht zuletzt deshalb ist abschließend festzuhalten: Aufgrund der signifikanten, ja wegbereitenden Rolle, die die britische Regierung und insbesondere Tony Blair persönlich im Vorfeld des Irakkriegs spielten, kommt ihnen eine nicht unerhebliche Mitverantwortung für die desaströsen Folgen des Kriegs zu.

Published Online: 2021-07-01
Published in Print: 2021-06-25

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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