«Некоторые пошли дальше меня, и это большая радостъ!» – „Einige sind weiter als ich gekommen, und das ist eine große Freude“, sagte Jurij Derenikovič Apresjan am 2. Februar 2020 bei der Feier zu seinem 90. Geburtstag im Aktovyj zal des Institut russkogo jazyka im. V. V. Vinogradova Rossijskoj Akademii Nauk auf der Volchonka, ebendort, wo er am 16. Mai 2024, vier Tage nach seinem ruhigen Ableben, zum Abschied aufgebahrt war. Als Begründer der Moskauer Semantischen Schule bis zum letzten Tag mit „seiner Portion“ der Wörterbucheinträge zum Aktivnyj slovar’ russkogo jazyka beschäftigt, konnte er sich seiner Wirkung für die jüngere Generation sicher sein. Im internationalen Rahmen wurde er als Erneuerer der Lexikografie durch die Schärfung zentraler Begriffe der lexikalischen Semantik einerseits und sein Konzept der integralen Sprachbeschreibung mit gegenseitiger Abstimmung der lexikalischen und grammatischen Komponenten andererseits bekannt und hat damit einen festen Platz in der scientific community.
Die Quadratur der lexikalischen Semantik
Ju. D. Apresjans Annäherung an die lexikalische Semantik begann mit der Ėksperimental’noe issledovanie semantiki russkogo glagola (1967), führte weiter zur Leksičeskaja semantika. Sinonimičeskie sredstva jazyka (1974 = Izbrannye trudy, t. 1., 1995) und über den Novyj ob”jasnitel’nyj slovar’ sinonimov (NOSS; vyp. 1, 1997; vyp. 2, 2000; vyp. 3, 2003; 2-е izd., 2004) zum Aktivnyj slovar’ russkogo jazyka (AS; tt. 1–5, 2014–2024). War die erste Monografie noch von der Suche nach semantischen Verbklassen des Russischen auf Basis von Eigenschaften der Oberflächenstruktur (syntaktischen Valenzen und lexikalischen Distributionen) geprägt, so führte der ab den späten 1960er Jahren beginnende Einstieg in die von Igor Mel’čuk grundgelegte Theorie linguistischer Modelle vom Typ Bedeutung <=> Text (vgl. Опыт теории лингвистических моделей «Смысл <=> Текст», 1974; erw. Neuauflage 1999) und die Rezeption der Arbeiten von Anna Wierzbicka (in erster Linie Semantic Primitives, 1972) zu einer Umorientierung auf die lexikalische Semantik, zu der die gleichnamige Monografie Leksičeskaja semantika mit dem bezeichnenden Untertitel Sinonimičeskie sredstva jazyka im annus mirabilis 1974 erschien. (Das Erscheinen dieses Buches kam tatsächlich einem kleinen Wunder gleich, denn der Druck wurde auf Intervention des Direktors des Instituts für russische Sprache, Fedot Filin, im Zusammenhang mit der Verweigerung (necelesoobraznost’) der Anstellungsverlängerung Apresjans im Jahr 1972 in letzter Minute gestoppt und der Satz verworfen. Der zweite Anlauf zur Publikation im Jahr 1974 konnte auf Basis eines mit Durschlagpapier hergestellten und bei Apresjan verbliebenen Exemplars der Manuskriptfassung vorgenommen werden.) Wesentliche Impulse erhielt die gemeinsame Arbeit von Apresjan und Mel’čuk durch den Tolkovo-kombinatornyj slovar’ sovremennogo russkogo jazyka (TKS; erarbeitet in den 1970er Jahren und erschienen 1984 als Sonderband des Wiener Slawistischen Almanach in Wien; vgl. zuletzt auch Igor’ Mel’čuk & Tilmann Reuther, Explanatory Combinatorial Dictionary in Encyclopedia of Slavic Languages and Linguistics Online), an dessen konzeptueller Grundlegung beide – gemeinsam mit dem Erfinder der Lexikalischen Funktionen, Alexander Žolkovskij (vgl. A. K. Žolkovskij, I. A. Mel’čuk: O semantičeskom sinteze, 1963) – entscheidende Anteile haben. Im Rahmen des Gesamtmodells Bedeutung <=> Text hat diese Arbeit Apresjans Auffassung von der wechselseitigen Bezogenheit von Lexik und Grammatik für die Integrale Sprachbeschreibung (Izbrannye trudy, t. 2: Integral’noe opisanie jazyka i sistemnaja leksikografija, 1995) geschärft und seine Arbeit an Systemen der automatischen Übersetzung (s. u.) geprägt.
Die drei von Apresjan redigierten richtungsweisenden Sammelbände (Jazykovaja kartina mira i sistemnaja leksikografija, 2006; Teoretičeskie problemy russkogo sintaksisa. Vzaimodejstvie grammatiki i slovarja, 2010 und Prospekt aktivnogo slovarja russkogo jazyka, 2010) spiegeln den Weg zur integralen Sprachbeschreibung wider. Im Wesentlichen war es eine Gruppe von 13 Personen des Sektor teoretičeskoj semantiki, die sich ab 1990 wöchentlich für mehrere Stunden im Zimmer 7 des Instituts für die russische Sprache zusammenfand und die Synonymreihen des NOSS und die Wörterbuchartikel des AS diskutierte. (Dazu hatte jedes Mitglied der Gruppe Ausarbeitungen zu machen, diese Ausarbeitungen an die Gruppe auszuschicken und Gruppenmitglieder als „Opponenten“ für Kritik und Verbesserungsvorschläge zu nominieren; bei den Arbeitssitzungen wurde laufend Protokoll geführt, um Diskussionspunkte und Vorschläge für die weitere Arbeit bis zur Endredaktion der betreffenden Synonymreihen bzw. Wörterbuchartikel festzuhalten). Zentral bei dieser Arbeit sind das Lexem (leksema), d. h. das Wort in einer explizit festgehaltenen Bedeutung, die Begriffe des lexikografischen Typs (leksikografičeskij tip) und des lexikografischen Portraits (leksikografičeskij portret), die Ausrichtung auf den aktiven Sprachgebrauch, das sprachlich verankerte sog. naive Weltbild (naivnaja kartina mira) der Sprache, und insgesamt die Grundsätze der Systemischen Lexikografie (sistemnaja leksikografija) und der integralen Sprachbeschreibung (integral’noe opisanie jazyka) in ihrer Gesamtbetrachtung von Lexik und Grammatik.
Englisch-russische Lexikografie und automatische Übersetzung
Ju. D. Apresjans erster akademischer Abschluss war das Diplom aus „Englischer Sprache“ an der Moskauer Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen im Jahr 1953, es folgte die Aspirantur an derselben Hochschule und 1958 die Verteidigung der Doktoratsschrift Frazeologičeskie sinonimy v sovremennom anglijskom jazyke. Dem folgte eine Beschäftigung mit dem Englischen über mehrere Jahrzehnte, und zwar zum einen mit der englisch-russischen Lexikografie und zum anderen mit der englisch-russischen automatischen Übersetzung.
Der Beitrag zur zweisprachigen englisch-russischen Lexikografie bestand zunächst in der Mitarbeit in der Redaktion des zweibändigen Bol’šoj anglo-russkij slovar’ (1972), dann durch den selbständigen Sammelband Anglo-russkij sinonimičeskij slovar’ (1979) und schließlich durch die Mitherausgabe des Novyj bol’šoj anglo-russkij slovar’ (tt. 1–2, 1993; t. 3, 1994). Die Arbeit im Bereich der englisch-russischen automatischen Übersetzung erfolgte durch das Übersetzungssystem ĖTAP-2, dokumentiert in den Sammelbänden Lingvističeskoe obespečenie sistemy ĖTAP-2 (1989) und Lingvističeskij processor dlja složnych informacionnych sistem (1992). Dieses Übersetzungssystem ist in seinem Analyse- und Syntheseteil ähnlich den Komponenten und Repräsentationsebenen des Modells Bedeutung <=> Text aufgebaut und diente der Gruppe um Ju. D. Apresjan auch als Feld (poligon) für die praktische Überprüfung theoretischer, rein linguistischer Fragestellungen durch ein formal strenges Sprachmodell. Für die Ausarbeitung dieses „Polygons linguistischer Experimente“ waren zwei Teams von über einem Dutzend Mitarbeiter:innen Ju. D. Apresjans zuständig, zunächst am Institut Inform-Ėlektro (1972–1985) und dann am Institut problem peredači informacii (IPPI, ab 1985) – ein sprachwissenschaftliches Team unter der Leitung von I. M. Boguslavskij und L. L. Iomdin und ein Programmierer:innenteam unter der Leitung von L. Cinman, vereint im Rahmen des Laboratoriums für Computerlinguistik (Laboratorija komp’juternoj lingvistiki IPPI RAN). (Das chronologisch erste System ETAP-1 war ein nur rudimentär entwickeltes System der französisch-russischen automatischen Übersetzung).
Internationale Erfolge und kontinuierliches Seminar in Moskau
Den ersten internationalen Erfolg errang Ju. D. Apresjan in frühen Jahren mit seinem Buch Idei i metody sovremennoj strukturnoj lingvistiki. Kratkij očerk, erschienen 1966 und danach wiederholt neu aufgelegt sowie in zahlreiche Sprachen (darunter auch Deutsch) übersetzt. Ein zweiter entscheidender Schritt in die internationale Linguistik war das auf Einladung der Oxford University Press verfasste Werk Systematic Lexicography (2000).
Jüngst war Apresjan als Autor von Handbuchbeiträgen international präsent (Active Dictionary und Moscow School in Encyclopedia of Slavic Languages and Linguistics Online).
Mit dem in Zusammenarbeit mit Erna Páll entstanden Verbwörterbuch Russkij glagol – vengerskij glagol. Upravlenie i sočetaemost’, tt. 1–2, Budapest 1982) leistete Apresjan im Übrigen einen Beitrag zur zweisprachigen russisch-ungarischen Lexikografie.
Zum internationalen Ruf Apresjans trug über Jahrzehnte auch das von ihm geleitete wöchentliche Seminar Teoretičeskaja semantika bei, das ein wesentlicher Bestandteil des linguistischen Lebens in Moskau war und zu dem regelmäßig internationale Gäste eingeladen wurden.
Disziplin – Zusammenhalt – Respekt – Haltung
Disziplin war ein Anspruch, den Ju. D. Apresjan in erster Linie an sich selbst stellte – er hatte einen durchgeplanten Tagesablauf, begab sich dazu unter der Woche täglich (!) an seine Arbeitsplätze und erledigte sein tägliches Arbeitspensum konzentriert und konsequent. Nur so war die produktive eigene wissenschaftliche Arbeit und die eigenhändige Redaktion der lexikografischen Bände, der Sammelbände und der eigenen Publikationen zu schaffen – ganz zu schweigen von der administrativen Arbeit als Gruppenleiter und als Redaktionsmitglied mehrerer linguistischer Zeitschriften (Voprosy jazykoznanija ab 1989; Russkij jazyk v naučnom osveščenii ab 2000). Mit großer Disziplin sorgte Apresjan auch für seine Gesundheit – er konnte bis ins hohe Alter problemlos bis zu zehn Klimmzüge ausführen, war ein guter Skilangläufer und Alpinwanderer, und musste bei all dem eine strenge magenschonende Diät einhalten.
Seine Ansprüche an Disziplin, die er auch von Anderen erwartete, waren gepaart mit drei Werten, die er lebte: zum einen die Pflege des Zusammenhalts von Menschen in seinem Umfeld, zum anderen Respekt, den er den Leistungen Anderer zollte, und schließlich ein hoher Anspruch an moralisches Handeln, um das er sich selbst vorbildhaft bemühte. Diese Gemeinschaft, dieser Respekt und diese Haltung wurden im Gegenzug auch ihm entgegengebracht und gemeinsam mit ihm gepflegt.
Haltung war für Jurij Derenikovič Apresjan bis zuletzt auch eine öffentlich vertretene Sache. Er gehörte zu den Unterzeichner:innen des Protestbriefs, der noch am 24. Februar 2022 gegen den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine veröffentlicht wurde. Als Mitglied der Akademie der Wissenschaften, zu dem er, spät aber doch, im Jahr 1992 gewählt worden war, trat er im Jahr 2013 als ‚Einzelprotestierender‘ (odinokij piketčik) gegen den politischen Einfluss auf die Akademie auf und gehörte ab dem Jahr 2017 zu den Mitgliedern des Klubs des 1. Juni, der mehrere Petitionen zum Erhalt der selbstständigen Strukturen der Akademie der Wissenschaften initiierte.
Familie und Freundschaft
Ju. D. Apresjan war zweimal verheiratet, das erste Mal nur kurz, das zweite Mal fast sechs Jahrzehnte mit Marina Jakovlevna Glovinskaja (1936–2022), Sprachwissenschaftlerin wie er selbst. Die beiden Kinder Dmitrij (Mitja) und Valentina (Ljusha) wuchsen bei den Eltern in Moskau auf und leben heute in den Vereinigten Staaten – der Sohn schon seit 1994 und die Tochter seit 2023, nach dem Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine.
Freundschaft war für Ju. D. Apresjan etwas sehr Privates, darüber sprach er wenig, wie viele integre Menschen, deren Jugend in die Stalinzeit reicht und die in der Brežnev-Zeit zum weiteren Kreis der Dissident:innen und ihrer Sympathisant:innen gehörten. Nachdrücklich hat er mir nur von seiner Freundschaft mit Konstantin Babickij erzählt, der als Demonstrant auf dem Roten Platz gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings ab dem Jahr 1968 in der Verbannung in der Republik Komi leben musste und dem Ju. D. Apresjan dort jährlich bei anstrengenden Haus- und Gartenarbeiten half. Aus eigener Beobachtung kann ich die ganz enge Freundschaft mit I. A. Mel’čuk und dessen Frau L. N. Iordanskaja bezeugen, mit denen er auch nach deren Emigration nach Montréal im Jahr 1978 auf das Engste verbunden blieb.
Persönlich konnte ich mich über Jahrzehnte als Freund Jurij Derenikovič Apresjans und seiner Familie fühlen, und als Mitherausgeber der Zeitschrift Wiener Slawistischen Almanach und seiner Sonderbände konnte ich ab 1979 (zwei Artikel und die Monografie) (Tipy informacii dlja poverchnostno-semantičeskogo komponenta modeli Smysl <=> Tekst) einen Beitrag zur Präsenz der Arbeiten Apresjans im internationalen Rahmen leisten.
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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