I.
In den wenigen Einlassungen auf Raabes Erzählung Fabian und Sebastian wird stets auf die nur geringe Aufmerksamkeit hingewiesen, die der Text vonseiten der Forschung lange Zeit erfahren hat. Baßler konstatiert noch 2016 im Raabe-Handbuch „[E]s gibt praktisch keine Forschungsliteratur“[1], Henkel nannte ihn schon zwanzig Jahre früher ein „‚Stiefkind‘ der Raabeforschung.“[2] Diesen Befunden ist nach wie vor zuzustimmen, wenngleich Baßler den Text 2023 im Rahmen der neuen, im Wallstein Verlag erscheinenden Werkausgabe neu herausgegeben hat.[3] Neben den beiden genannten Autor:innen widmete Eva Geulen der Erzählung inzwischen einen Essay,[4] und im vom Göttsche und Krobb herausgegebenen Band Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspectives[5] findet Fabian und Sebastian, wie auch in Göttsches Ausführungen über Raabe aus postkolonialer Sicht,[6] an verschiedenen Punkten Erwähnung. Immer wieder zitiert wird dabei Fontanes reservierter Tagebucheintrag vom Jahresende 1881, als seine Frau ihm Raabes Erzählung am geburtstäglichen Krankenbett vorgelesen hatte: „Ganz Raabe; glänzend und geschmacklos, tief und öde.“[7]
Der Text entstand Anfang 1880 und erschien Ende 1881 in zwei Teilen in Westermanns Monatsheften und Anfang 1882, ebenfalls bei Westermann, als Buch. Die Erzählung handelt von den Brüdern Fabian und Sebastian Pelzmann und ihrer Schokoladenfabrik. Der dritte und jüngste Bruder Lorenz ist in den Diensten der holländischen Kolonialverwaltung auf Sumatra ums Leben gekommen. Seine fünfzehnjährige Tochter Konstanze fällt, da die Mutter auch nicht mehr lebt, in die Obhut der beiden verbliebenen ledigen Brüder. Sebastian, der jüngere von beiden, leitet das Geschäft. Fabian, der ältere und weniger geschäftstüchtige, lebt mit seinem Famulus Knövenagel im Hinterhaus und ist für den Entwurf neuer Schokoladenmodelle zuständig, was ihm den Spitznamen „Attrappenonkel“ eingebracht hat. Während der Zeit des Zusammenlebens mit Konstanze, die von Fabian aufgenommen wird und fortan mit Knövenagel und der eilig herbeigeholten Frau Kettner bei ihm im Hinterhaus wohnt, wird Stück für Stück eine weiter zurückliegende Familiengeschichte enthüllt. Lorenz ist nämlich aufgrund eines Konflikts mit Sebastian „mit möglichst intakter bürgerlicher Ehre aus dem Lande“ (BA 15, S. 146)[8] geschafft worden. Dabei ging es um Marianne, die Tochter des Schäfers Thomas Erdener, die als Arbeiterin in der Schokoladenfabrik angestellt war. Sebastian buhlte dereinst erfolgreicher um sie als Lorenz, woraufhin dieser in niederländische Dienste eintrat. Die Beziehung wird allerdings nicht glücklich, im Gegenteil: Marianne sieht sich angesichts ihrer unehelichen Mutterschaft aus Verzweiflung gezwungen, ein mit Sebastian gezeugtes Kind zu ermorden, wird daraufhin zum Tode verurteilt und schließlich zu einer dreißigjährigen Zuchthausstrafe begnadigt, die einige Zeit nach dem Eintreffen Konstanzes endet. Von der alten Schuld wieder eingeholt stirbt Sebastian, wobei ihm Konstanze, die gerade im gleichen Alter ist wie Marianne zur Zeit ihrer Beziehung mit Sebastian, als das tote Kind der beiden erscheint. Weitere wichtige Figuren sind der Hofmedikus Baumsteiger, der als Hausfreund und -arzt für die Brüder Pelzmann fungiert, darüber hinaus als Leibarzt der Prinzessin Gabriele Angelika arbeitet, sowie der Amtmann Rümpler von Schielau, Dienstherr von Thomas Erdener und Freund von Fabian Pelzmann.[9]

Selektives Figurenschema zu Fabian und Sebastian
II.
Konstantia, die schnell zur Konstanze eingedeutschte Nichte der beiden Pelzmann-Brüder, ist der Fixpunkt der wenigen Blicke, die die Forschung bisher auf die Erzählung geworfen hat und ebenso das zentrale Element der kolonialen Bezüglichkeiten in Raabes Text. Die Tochter eines Deutschen und einer „hübschen holländisch-kreolischen Mutter“ (BA 15, S. 56) wird im Text einerseits in den Benennungen, die ihr zukommen, stark mit Alterität korreliert, indem Erzählinstanz und männliche Figuren sie über die Erzählung hinweg etwa unter anderem als „Prinzessin aus dem Mohrenlande“ (ebd., S. 38), „kleine Asiatin“ (ebd., S. 59), „indische[s] Mamsellchen“ (ebd., S. 175), „hübsche[] Halbbarbarin“ (ebd., S. 115) oder „deutsch-holländische[] Lotosblume“ (ebd., S. 175) bezeichnen. Andererseits scheint Konstanze ihrem Aussehen und Auftreten nach nahezu perfekt und völlig unauffällig in die deutsche Gesellschaft des Handlungsorts zu passen. Bis auf ein paar von der Erzählinstanz überbetonte sprachliche Eigenheiten fällt auch an ihren eigenen Äußerungen kein besonders hoher Grad an Fremdheit auf. Die Figur übererfüllt vielmehr bürgerliche Normen und Ansprüche auf spezifische Weise und erscheint damit als in nicht-ethnischer Hinsicht ‚fremd‘, ist sie doch, so Eva Geulen, „auch für Raabes Verhältnisse, zu gut und mitleidig, zu schön, zu hellsichtig, und (für die Tochter einer niederländischen Kreolin) auch zu blond geraten“[10]. Der Text fällt damit aus der Betrachtung exotistisch-kolonialer Reflexionen in Raabes Werk gemeinhin heraus. Entsprechend weist Dirk Göttsche der Erzählung eine Sonderstellung zu, sodass ihre genauere Untersuchung für diesen Aspekt nicht besonders ergiebig zu sein scheint:
Raabes Blick auf den für die europäische Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts so wichtigen Exotismus ist also durchweg kritisch. Eine Ausnahme macht hier allenfalls der Roman Fabian und Sebastian (1882), wo die exotistische Projektion der deutschen Figuren mit der idyllisierenden Kindheitserinnerung der kleinen, im holländischen Indonesien geborenen Konstantia Pelzmann konvergiert, und doch scheint auch das Indonesien dieses Romans kein ungetrübtes Paradies zu sein, wenn es beispielsweise für die kleine Waise keinen Platz hat. Die koloniale Dimension des Sujets, die angesichts der Verbindung aller Figuren durch die Schokoladenfabrik der Familie Pelzmann eigentlich auf der Hand liegt, wird in diesem märchenhaften Roman, der die Wunden bürgerlicher Rücksichtslosigkeit als heilbar darzustellen versucht, zugunsten der Utopie tätiger Mitmenschlichkeit in geradezu erstaunlicher Weise ausgeblendet. Solche Ausblendungen bezeichnen damit aber auch die Grenzen dieser recht sentimentalen Mischung aus Sozialroman und Weihnachtsgeschichte.[11]
In Göttsches Einschätzung fallen zwei Urteile zusammen: Zunächst geht er davon aus, dass der Text kolonial-exotistische Topoi oberflächlich schon reflektiert, dies aber thematisch weder besonders komplex noch raffiniert tut. Dieser Einschätzung kann zunächst angesichts etwa der folgenden Passage beigepflichtet werden, in der die versammelte Tischgesellschaft im Hause Rümpler, wo Konstanze den Sommer verbringt, mit dem Mädchen über ihre indonesische Heimat spricht:
Sie haben allesamt in der letzten Zeit ihre geographischen Schulerinnerungen von neuem aufgefrischt und in populären Zeitschriften und in den Winkeln vergessenen Bilderbüchern und derlei trefflichen Quellen die merkwürdigsten Studien über „Fräulein Konstanzens Insel“ gemacht. Schriftlich wissen sie ganz kurios Bescheid, aber was ist das doch gegen das Wunder, das Fräulein so zwischen sich zu haben und es mündlich darüber ausfragen zu können, wie es in dem und jenem Falle „bei ihr zu Hause“ gehalten wird und zugeht. [BA 15, S. 75]
Wenig später heißt es über die vermuteten Gefahren durch Tiger:
„Ein guter Schweinebraten soll ihm lieber sein, sagt Alexander von Humboldt in seinen Ansichten von seiner Natur“, lacht der Attrappenonkel. „Nun, wie ist es damit, Konstanze? Wie lautet das Bulletin des Hofjungen über euere nächtlichen Raubtiervisiten auf Sumatra?“
„Unsere Schweine sind ihm lieber, als was er auf dem Taubenschlage und im Hühnerhof erwischen könnte, lieber Onkel“, meint das Fräulein, „und Herr Alexander von Humboldt hat da ganz recht. Er kommt gewiß gern auf Besuch, der Tiger, Mijnheer Rümpler, aber eigentlich kümmert sich keiner viel um ihn, und er ist auch nicht lange so schlimm, als wie er in den Büchern steht.“ [ebd.]
Und dann, nach ähnlichen Auskünften über Schlangen, Moskitos und Elefanten:
„Das Rhinozeros ist recht unangenehm und kümmert sich um nichts und wird deshalb auch gern in Gruben gefangen“, benachrichtigt Konstanze Pelzmann eifrig-treuherzig die Tischgesellschaft. „Mijnheer de Major van Brouwers hat mir eins mit allen Jägern gezeichnet, wie es sich in der Falle auf einen spitzen Pfahl gespießt hat, und es ist selbst im Bild schauderhaft anzusehen, und der Onkel Fabian will es in Schokolade nachbilden.“ [ebd., S. 77]
Konstanze fällt bei ihrem Streifzug durch die indonesische Fauna also auf Medien und ‚Wissens‘-Formen zurück, die auch im Kreis der deutschen, an Humboldts Blickregime auf die außereuropäische Welt[12] geschulten Figuren zirkulieren und fällt damit zugleich mit deren phantasmatischem Gehalt zusammen. Die Schokoladenbildhauerei des sogenannten „Attrappenonkels“ wird dabei vom Text neben andere Bildpraktiken gestellt, die auf populäre Weise monströse Nashornjagden konstruieren können, heißen sie nun Zeitschrift oder Bilderbuch oder die Zeichnung von Major van Brouwers.[13] Und hier bedarf Göttsches Einschätzung einer Erweiterung. Sein zweites Urteil nämlich, die mithin augenscheinliche koloniale Dimension des Sujets einer deutschen Süßwarenfabrik blende der Text „in geradezu erstaunlicher Weise“[14] aus, soll im Folgenden thesenhaft und mit anreichernden Beobachtungen neu untersucht werden.
Zunächst lässt sich an zwei Stellen aus dem ersten Teil der Erzählung zeigen, welche Rolle oberflächlich exotisierende Topoi bei Raumtransformationen spielen, die Konstanzes Eintritt in das Aktionsfeld der Pelzmann-Brüder begleiten und ihre Sicht, bzw. die Außensicht der anderen Figuren auf sie, und damit ein recht schlichtes bipolar-koloniales Text-Paradigma repräsentieren. Das betrifft etwa die Transformation von Fabians Hinterhaus:
„[...] Dich fröstelt noch immer, mein armes Kind; bei euch zu Hause ist es freilich wärmer. Guck nach dem Ofen, Knövenagel! Sieh nach allen Öfen! Das ist hier ja eine wahre Hundekälte!“ rief er, sich den Schweiß von der Stirn trocknend. „Das ist nun die Frau Kettner, mein Liebchen; ist es dir von zu Hause aus angenehmer, so läßt sie sich auch schwarz färben. Vierundzwanzig Grad Zimmerwärme hatte ich doch telegraphisch voraufbestellt [...]“ [ebd., S. 53]
Der Text ruft sehr rasch einige exotisierende Stereotype über Meteorologie und die Bewohner:innen der Tropen ab und liefert damit auf der Oberfläche Argumente für eine Lesart als beiläufig an kolonialistischen Debatten beteiligte Erzählung ohne tiefergehenden strukturellen Bezug. Fabian versucht, sein Haus klimatisch durch Erhöhung der Raumtemperatur auf ein tropisches Maß, medial durch die Betonung großer Distanzen, die durch telegraphische Kommunikation überwunden werden, sowie weiterhin wohntechnisch durch die Besetzung des Hauspersonals mit Schwarzen, in diesem Fall zur Erfüllung des Stereotyps rassistischerweise eigens gefärbten Menschen, an die phantasierten Verhältnisse in der niederländischen Kolonie anzupassen. Er wird dabei von Konstanze nicht korrigiert, die schließlich „wirklich fröstelnd, in allerlei wundervolle Decken und Tücher gehüllt, im Diwan saß“ (ebd., S. 54) und so zusammen mit dem Vorgehen des Onkels zugleich das koloniale Phantasma metonymisch bejaht, das sein Handeln anleitet und das bei ihm Sprache („wahre Hundekälte!“) und Erleben (Schweiß auf der Stirn) auseinanderfallen lässt.
Das zweite Prinzip ließe sich, um einen Begriff von Ralf Simon und seine Beobachtungen zum Alten Proteus zu beleihen, als Art Raabescher Binnenethnologie lesen,[15] wenn Konstanze von der Stadt, wo „versoffenes, unrasiertes Straßenstrolchtum“ sich herumtreibt, aufs Dorf kommt, wo wiederum „frischgewaschene, weiß-hemdärmelige Dorfjugend [...] an jedem Glockenseil [hängt]“ (ebd., S. 60):
Mejuffrouw Konstanze Pelzmann ist zum ersten Besuch in Schielau bei Mijnheer Peter Rümpler, und die Stadt und Firma liegt in der gegenwärtigen schönen Frühsommer-Morgenstunde hinter dem duftigen Wälderkranze des Horizontes in gradeso weiter Ferne von ihr ab wie ihre tropische Geburtsinsel im Indischen Ozean. Wie ein echt deutsch Mägdelein und Stadtfräulein auf Landbesuch, das ein Tigertier höchstens in der Menagerie brüllen hörte, aber sich nimmer auf einem Spaziergange „recht vor ihm in acht zu nehmen hatte“, sitzt das Kind am Bach, hat sämtliche in seinen Bereich fallende Vergißmeinnicht in seinen Schoß gerupft, flicht einen Kranz und träumt hinein in das leise Murmeln des kleinen Wassers durch die deutsche Sonntagmorgenstille, das heißt denkt an gar nichts. [ebd., S. 61]
Konstanze unternimmt in der Stadt/Land-Topographie ihres neuen, noch fremden Refugiums eine Binnenwanderung von der Stadt in den ländlichen Raum Schielau, wo sie beim Amtmann Rümpler und seiner Frau wohnt. Von dieser Sphäre aus wird der ‚deutsche‘ ‚Land‘-Raum schließlich, kurz nach dem oben erwähnten Tischgespräch über Sumatra, als vom städtischen Umfeld ebenso weit entfernt beschrieben wie die tropische Insel. In einer anschließenden zusammenfassenden Reflexion über Konstanzes Ankommen wird wiederum darüber nachgedacht, auf welche Weisen das Mädchen sich ‚Europa‘ erschließt beziehungsweise von den hiesigen Figuren erschlossen bekommt. Die Zugangswege sind dabei, trotz der an sich unvermittelten Anschauung im direkten Kontakt mit der neuen Umgebung, in der erzählten Rekapitulation ähnlich mediatisiert wie bei Niederländisch-Indonesien: So zeigt Fabian Konstanze die Stadt und ihre Bewohner:innen „in einem Guckkasten –, ohne sich viel anders als durch die Augen mit ihnen in Verbindung zu bringen.“ (ebd., S. 61) Der Guckkasten markiert dabei als Metapher das Paradigma optischer Präferenz vor kommunikativer Auseinandersetzung. Er weist damit einerseits auf die Tauglichkeit dieses, für die ‚Tropen‘ bewährten, Verfahrens hin und lockert andererseits den räumlichen Bezug von Fabian, von dem das Modell gewählt und ausgeführt wird. Dessen Integrationsdidaktik folgt nämlich nicht speziell auf Konstanze angepassten Maximen, sondern ist die Weise, Realität zu begreifen, „wie er sie selber sieht und kennt“ (ebd.). Wie stark die Wahrnehmung Konstanzes durch dieses Programm bis auf die Ebene ihrer epistemischen Disposition medial geprägt ist, zeigt sich, wenn sie angesichts des zusammengerupften Vergißmeinnichtbestands, der zu einem Kranz geworden ist (auch hier wird nebenbei ein, wenn auch sehr kleiner, an der individuellen Reichweite des Mädchens vermessener, Raum sondiert, abgeerntet und werden seine Produkte weiter verarbeitet), jubelt:
„Dann ist das das Schönste von allem bei euch, Mijnheer!“ rief das Fräulein, ihren Vergißmeinnichtkranz hochhebend und ihn mit aller Befriedigung beäugelnd. „Es ist so angenehm, die Zeit zu haben, sich auf alles zu besinnen. Da schlägt man die Tage um wie in einem Bilderbuch ein Blatt nach dem andern.“ [ebd., S. 65; Hervorh. im Original]
Dass Konstanze in diesem Punkt offensichtlich bereits über die Kultiviertheitsusancen europäischer Kinder hinausreicht, zeigt Rümplers Kommentar:
Die meisten von der Sorte [hiermit meint er seine eigenen „wilden Rangen“] klappen das Ding von hinten auf, und ehe sie bis vorne durch sind, fliegt die ganze Bescherung zur Freude der lieben Eltern in Fetzen in der Stube herum. Bei euch in euerm Affenlande geht ihr natürlich sittsamer und vernünftiger mit dem Vergnügen in der Welt um? Was? Wie?“ [ebd.]
Die auto-exotisierende Umkehr stereotyper Paradigmen von ‚Fremdheit‘ in der Beschreibung der „wilden“ Kinder Rümplers, die das Geschäft der welterschließenden Lektüre weder in der richtigen Richtung noch mit der nötigen Dignität betreiben, treffen auf eine Beschreibung der zeitlichen Aneignungspraktiken in Bezug auf den auf neuartige Weise ‚eigenen‘ Raum durch Konstanze, die sich von denen ‚fremder‘ Räume bei den anderen Figuren nicht wesentlich unterscheiden: Die direkt sichtbare Welt erscheint in ihrer kalendarischen Temporalität (man schlägt die Tage um) ebenso als Bilderbuch wie die ‚exotische‘ Ferne und wird eben darüber oder im zum Guckkasten kadrierten, stillgestellten Ausschnitt visuell wahrgenommen und als Abfolge von Einzelbildern oder -tagen rezipiert. Der geschulte Umgang mit Semiotisierung und Medialität ist also der Schlüssel zur Welt und insbesondere ihrer ‚fremden‘ Gebiete, wie die Beherrschung der entsprechenden Umgangsformen zum Ausweis kultureller, beobachtender Abstandnahme vom ‚Wilden‘ wird, das wiederum den Inhalt und damit ‚Stoff‘ dieser Kulturtechnik darstellt. Seinen Kulminationspunkt findet dieses Verhältnis schließlich in den Skulpturen Fabians, der in seinen berühmten Schöpfungen die Praxis abbildender Repräsentation von ‚Welt‘-Inhalten mit dem Werkstoff ‚Schokolade‘, aus dem die Figuren bestehen, verbindet. Dadurch wird die differenzmarkierende Spannung aus immer schon zeichenhafter Welterfassung und dem ‚tropischen‘ Material, das dieser grundsätzlichen ‚Fremdheit‘ gegenüber allem, was nicht das eigene Ich ist, Ausdruck verleiht, in seinen Werken aufgehoben.
III.
Wie Göttsche richtig anmerkt, werden Exotismus und Kolonialismus in Fabian und Sebastian nicht auf der gesamten Textoberfläche durchgängig kombiniert thematisch. Gleichwohl ist die Erzählung wie nun klar wird sehr wohl durchzogen von Anspielungen an jene „koloniale Dimension des Sujets, die angesichts der Verbindung aller Figuren durch die Schokoladenfabrik der Familie Pelzmann eigentlich auf der Hand liegt“[16]. Darüber hinaus scheint aber eine auto-ethnologische Dimension des Textes bisher gänzlich unberücksichtigt geblieben zu sein. In ihr wird mit Hilfe exotisierender Topoi und deren Verschiebung von der kolonialen Peripherie ins europäische Zentrum der Raum des ‚Eigenen‘ für die Binnendifferenzierung zwischen ‚bürgerlichen‘ Figuren, die ‚zivilisiert‘ sein müssen, und ‚Arbeiter:innen‘ anschlussfähig. Diese Differenz wird schließlich in einem letzten Schritt als Heimsuchung ‚bürgerlicher‘ Wohleingerichtetheit durch die Angriffe proletarischer ‚Dunkelheit‘ funktionalisiert.
Dass Raabe für die, wie Michael Schmidt es beschreibt, „tröstende Funktion der ‚Nähr-Droge‘ Zucker“[17] durchaus sensibel war, ist auch John Pizer bereits vor einigen Jahren aufgefallen. Dass die intrikate Familiengeschichte der Pelzmann-Brüder durch ihr signifikantes Geschäft mit Produkten aus Rohstoffen, die nur in den Kolonien zu haben sind und das Schicksal des jüngsten Bruders Lorenz, der in Niederländisch-Indien die „Faktoreien und Plantagen [...] mit seinen Soldaten gegen die wilden Menschen aus den Bergen beschützen mußte“ (BA 15, S. 137), mit der Geschichte des Überseeimperialismus eng verbunden ist, liegt nahe und ist der Erzählung durchaus bewusst.[18] Pizer zeigt, wie Konstanzes Assimilation in die ‚deutsche‘ Gesellschaft sich in einem ritualisierten Dreischritt aus „a concrete deed on her part, a conventional literary trope, and an intertextual allusion“[19] vollzieht. Dabei geht er auch auf subtile Referenzen ein, etwa was Konstanzes noch aus der Zeit in Indonesien stammende Kenntnis des Märchens von der Frau Holle „aus der Beschreibung in den Büchern, die aus euerm Lande die Schiffe mitbrachten“ (ebd., S. 188) angeht. In Deutschland, wenn das Mädchen den ersten Schnee sieht und die Verwandlung der Landschaft als „so eine ganz andere Welt“ (ebd., S. 188 f.) wahrnimmt, itieriert das Märchen als Geschichte weiblicher Passion und Übernahme von Verantwortung zur Tilgung einer Familienschuld. Diese auf den männlichen Figuren lastende Schuld, an der Sebastian schließlich stirbt, wird erst von Konstanze als kollektive Verantwortung der Pelzmanns als Familie wirklich anerkannt: „Baas Erdener, so müssen Sie mir helfen, daß ich von neuem darüber nachdenken kann, was Ihnen Schlimmeres als der Tod durch unsere Schuld begegnet ist!“ (ebd., S. 186 f.)
Das Mädchen aus der kolonialen Sphäre reguliert damit ein intrafamiliäres Problem, das im Titel dieses Beitrags etwas lapidar als „Verdauungsstörung“ bezeichnet ist. Tatsächlich erscheint das Arbeitsleben der beiden die Fabrik leitenden Pelzmann-Brüder und vor allem das Sebastians als explizit ‚saures‘ Dasein und die bevorstehende Ankunft Konstanzes als Angriff auf die digestive ‚Lebens‘-Balance: „Und wir sind zu alt dazu, Bruder; und was mich betrifft, so habe ichʼs mir mein Leben durch in unserm Geschäft zu sauer werden lassen, um nicht den Wunsch zu hegen, mir wenigstens den Rest meiner Verdauungskraft im passabeln Zustande zu erhalten.“ (ebd., S. 31). Verdauung als System der Bewältigung und zugleich der Integration ist in der Diegese von Fabian und Sebastian ein Problem der älteren Generation. Jüngeren Menschen wird eine deutlich größere Genuss- und Verzehrkapazität zugesprochen. So heißt es zum Umgang der Kundschaft mit den Produkten der Pelzmannschen Schokoladenfabrik:
Wer dieses alles im ganzen doch zu würdigen vermöchte, wie es im letzten Grunde im einzelnen auch gewürdigt wird, nämlich mit der ganzen, vollen Konsumfähigkeit eines Kindes! Und vor allem auf der Zuckerseite des Wunderhauses, in den Konfektensälen, in der Makronenbäckerei, in dem Zauberreich der Pralinés und Dragées, wo die Fülle des Süßen so überwältigend wirkt, daß der Erwachsene anfängt, beim bloßen Anblick an Magensäure und Sodbrennen zu leiden und, wenn er von etwas reger Phantasie ist, mit dem grimmigsten Magendrücken und dem furchtbarsten Leibweh behaftet, sich an den Begriff „Rhabarber“ wie an einen rettenden Felsen in einem klebrigen Meer von breiigem Zuckerschaum, Fruchtsäften aller Arten und Likören aller Gattungen anzuklammern. [BA 15, S. 24]
Die Süßwarenindustrie und mit ihr die Brüder Pelzmann sind beruflich und personell eng in koloniale Zusammenhänge verstrickt. Mit Hilfe des Kapitals des ältesten Bruders Fabian wird der jüngste Bruder Lorenz in die niederländische Kolonie versetzt. Fabian tritt daraufhin aufgrund seiner relativen Armut als Gesellschafter der Firma hinter den mittleren Bruder Sebastian zurück. Dieser wiederum sticht Lorenz als Liebhaber der von beiden begehrten Marianne Erdener aus, die seinerzeit als Arbeiterin in der Fabrik angestellt ist. Der Raum der Kolonie nimmt also funktionslogisch eine ähnliche Rolle ein wie das Zuchthaus, in das Marianne gesperrt wird, nachdem sie das Kind von sich und Sebastian ertränkt hat. Die Tochter des in die Kolonie verbrachten Bruders, deren Mutter kurz nach ihrer Geburt stirbt, kehrt zu einem Zeitpunkt in die Welt der beiden verbliebenen Pelzmann-Brüder zurück, an dem sie so alt ist, wie Marianne während ihrer Beziehung mit Sebastian. Zusätzlich wird sie von diesem auf dem Sterbebett für sein totes Kind gehalten, kann also als strukturelle Doppelgängerin beider Figuren – der im Zuchthaus sitzenden Ex-Geliebten sowie von deren Kind – gesehen werden und mahnt drittens als Tochter des nach Sumatra verbannten Bruder-Rivalen ebenso nochmals an die geschwisterlichen Konsequenzen der verdrängten Schuld. Das lebende Kind des metaphorisch getöteten Bruders und seiner toten Frau wird zur Erscheinung des toten Kinds der lebenden, aber in der Haft verrückt gewordenen früheren Geliebten. Beide Frauenfiguren, Konstanze und Marianne, stehen als Fünfzehnjährige für einen Bruch, der den moralischen Verfall der Familie Pelzmann einläutet beziehungsweise die zweite reale Kontaktaufnahme der Schokoladenfabrik Pelzmann und Kompanie mit ihrem kolonialen Hintergrund markiert. Familienkrisen werden im Text also durch spezifische Lösungsversuche, die in der räumlichen Entsorgung krisenhafter Akteure bestehen, temporär zugedeckt, und ereilen die Beteiligten erneut, wenn eine Frist abgelaufen ist und die Exklusionsräume die aufbewahrten Figuren wieder freigeben. In der Zwischenzeit sind es die Kinder, die die Herrlichkeiten der Schokoladenfabrik unbeschadet, weil vor allem indirekt, „mit den Augen und der Einbildungskraft“ (ebd., S. 40), verschlingen und an der Schaufensterscheibe des Geschäftes lecken, statt wirklich zu essen, während die Erwachsenen an ihren mentalen Portionen knabbern oder, wie die Prinzessin Gabriele Angelika, regelmäßig vom Hofmedikus wegen ihrer Verdauungsstörungen behandelt werden müssen. Dass ein besonderes Augenmerk dabei auf den immer wieder als „Attrappen“ bezeichneten Kreationen des „Attrappenonkels“ liegt, ist in diesem Zusammenhang wie oben beschrieben aufgrund der in diesen Figuren signifizierten Ambivalenz von ‚kolonialem‘ Stoff und immer schon ins Zeichenhaft-Mediale abgerücktem Weltbezug ebenfalls signifikant.[20]
Mit der Einreise Konstanzes in die noch nie betretene Heimat ihres Vaters zieht schließlich auch das koloniale Phantasma, das bisher in der Schokolade unterhalb der Bewusstseinsgrenze flottieren konnte, als verdrängter Zusammenhang wieder in die deutsche Umgebung ein. Zu Beginn hatte Sebastian noch gewünscht, „diese Kreatur [hiermit meint er Konstanze] wäre geblieben, wo der Pfeffer wächst“, worauf Hofmedikus Baumsteiger korrigiert „Der Kakao, willst du sagen“ (ebd., S. 11) und damit eine Realität anerkennt, die dem Hauptgesellschafter der Süßwarenfabrik zwar indirekt bewusst, aber zugleich nicht real zu sein scheint. Wusste zuvor „von den zwei- bis dreihundert Arbeitern und Arbeiterinnen, die das Haus Pelzmann und Kompanie beschäftigte [...] ein jeder und eine jede, wofür sie in der Welt dawaren“ (ebd., S. 23), geht nun, mit dem Eintreffen Konstanzes, eine Veränderung vor sich, die sich als kolonial-familiäres ‚Verdauungsproblem‘ beschreiben lässt, als Erinnerung aber zuerst dem Mädchen selbst auffällt:
Sie wartet auf den Onkel, der nun bald, wenn nicht wieder etwas dazwischenkommt, zu Tische kommen muß, während das Arbeitervolk von seiner kurzen Freistunde eben zurückkehrt in dichten Gruppen und Scharen von der Fadengasse her durch den Geschäftstorweg und sich, naß und wahrscheinlich auch fröstelnd, über den Hof drängt. Sie weiß es auch von ihrem sonnigen Geburtslande her, aus den Faktoreien und Plantagen, die ihr seliger Vater mit seinen Soldaten gegen die wilden Menschen aus den Bergen beschützen mußte, daß der zahme oder halb gezähmte Mensch sich arg quälen muß, aber – kalt war es doch dort nicht und nicht so grau. Und sie hat ein inniges Mitleid mit diesen Arbeitsleuten ihrer europäischen Verwandten und vorzüglich mit ihresgleichen darunter – obgleich die ganz lustig sind – und mit den ältern Frauen, von denen nur wenige, wenige ein vergnügtes Gesicht machen oder gar in das laute Lachen und Kreischen der Jüngern einstimmen. [BA 15, S. 137 f.]
Die Beschreibung der Arbeiter:innen erfolgt, durch die Fokalisierung markiert, explizit von außen und in Abgrenzung Konstanzes von jenen einander ähnelnden „halb gezähmte[n]“ Menschen hier und auf Sumatra. Lösungsvorschläge für ihre prekäre Lage beschränken sich auf die humanitäre Rettung der Armen durch den „Attrappenonkel“ (ebd., S. 141), die Konstanze phantasiert („Am liebsten holte er sie wohl alle dann wie mich hierher zu sich herauf.“; ebd., S. 140), oder Knövenagels Idee: „Lieber doch die ganze Bande schwarz färben und sie zu jedem Preise nach dorthin [auf Konstanzes „Meerkatzeninsel“] losschlagen!“ (ebd., S. 141) An Stellen wie dieser wird deutlich, was Susan Buck-Morss aus der Perspektive einer von ihr vorgeschlagenen neuen Universalgeschichte als dialektische Umkehr des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie in Bezug auf die Logik industrieller Produktion beschreibt:
Die Faktoreien stellten einen aktiven Bestandteil imperialer Unternehmungen dar, sie waren oft in Forts untergebracht und auch an Kolonialkriegen beteiligt. Außerdem warfen sie enorme Profite ab, da Vorstellungen eines „gerechten Gewinns“, die es im Zusammenhang mit der traditionellen Produktion im Mutterland zu berücksichtigen galt, für den Fernhandel keine Rolle spielten. Man kann insofern durchaus so weit gehen, die ersten Fabriken in Manchester als eine Ausdehnung des Kolonialsystems zu verstehen, das nun auch auf das Mutterland überzugreifen begann.[21]
Mit Konstanzes Ankunft in Deutschland und dem Ende von Mariannes Haft, wenn also beide Ausschlussräume, die sowohl die Familienschuld als auch die verwandtschaftliche Repräsentation des imperialen Verhängnisses der Familie Pelzmann bisher exterritorial bewahrt hatten, undicht werden, drängen auch beide Formen moralischer Verantwortung, eine globalpolitische implizit und eine individuelle explizit, zurück in den Stammsitz der Firma. Mittels Konstanze und Marianne wird dabei gleichermaßen über ‚Fremdheit‘ nachgedacht. So heißt es zur ersten:
Sie hatte kaum ihre holländisch-indische Mutter gekannt, so bald war dieselbe nach ihrer Geburt gestorben; ihr Leben in der tropischen Wildnis war mit der Ehrensalve, die über dem Grabe ihres Vaters abgefeuert worden war, verklungen wie ein Traum. Sie war aus der Fremde in eine fremde Welt hineingekommen, und ihre erste wirkliche Heimat hatte sie unter den Glocken von Sankt Michel in des Attrappenonkels Traumhaushalt gefunden. [BA 15, S. 146]
Aus europäischer Sicht hat Konstanze bisher in der ‚Fremde‘ gelebt. Ihre Erfahrung, die nachträglich als ‚Traum‘ eingeordnet wird, findet ihre Fortsetzung in der von ihr aus gesehen ‚fremden Welt‘ und im ‚Traumhaushalt‘ des ‚Attrappenonkels‘, wird also wiederum, aus ihrer spezifischen Sicht, mehrfach mit Alterität, Vermitteltheit, Medialität, Liminalität etc. korreliert und ist auf der Textoberfläche zugleich Ausdruck einer weiter oben beschriebenen Gleichzeitigkeit von Kultiviertheit und einem, diesen Wert gerade stützenden, medialisierten Weltbezug. Sie wird dabei aber aus dem Repräsentationssystem des „Attrappenonkels“ explizit ausgenommen. Während eine ‚Attrappe‘ Mariannes als junges Mädchen, kurz vor ihrer verhängnisvollen Beziehung mit Sebastian, nämlich noch extrem erfolgreich war, ist Konstanze „[g]ar nicht zu brauchen in Schokolade und Zucker [...]. Ganz ohne allen Fond für eine von unsern Erfindungen“ (ebd., S. 56). Fabians Übersetzungsarbeit also, die als verdauende Bewältigung von ‚Welt‘ allgemein, aber auch von ‚Schicksal‘ gewertet werden kann – beispielsweise ‚attrappiert‘ er neben der unglücklichen Marianne auch die Käfersammlung eines kürzlich verstorbenen Schulfreunds, dessen kauzige Sammelleidenschaft auffällige Ähnlichkeiten mit Fabians eigenen Schrullen aufweist – verbindet die Coping-Praktiken des Bruders in Bezug auf private Krisen direkt mit den politischen Verstrickungen der Firma, die den Brüdern offenbar nicht bewusst sind, dem Text aber sehr wohl. Bezeichnenderweise erlahmt Fabians Kreativität, die mehrfach oberflächlich mit ‚Künstlertum‘ und dabei auch mit ‚Einsamkeit‘ und ‚Melancholie‘ gekoppelt wurde, erst einmal, als er sich ganz Konstanzes Eingewöhnung widmet und dadurch völlig erfüllt und ungewohnt glücklich wird. Sogar das Weihnachtsgeschäft, in dem die Firma mit den besonderen Kreationen des Attrappenonkels traditionell die Konkurrenz weit hinter sich lässt, steht auf dem Spiel.
Eignet sich Konstanze als Schokoladenattrappe nicht, vermag sie es dafür in der Realität gleich auf doppelte Weise zur imaginativen Stellvertreterin einer anderen zu werden. So erscheint sie nicht nur Sebastian auf dem Sterbebett als Inkarnation des toten Kindes, auch Mariannes Vater, dem Schäfer Thomas Erdener, bietet sie an: „Wenn der liebe Gott es erlaubt und ich länger lebe als du, lieber Baas Erdener, will ich auch zu dir kommen, wenn dir der Herr Hofmedikus nicht mehr helfen kann, und will auch für dein Kind gelten in deiner letzten Stunde!“ (ebd., S. 187)[22] Das an diesem Punkt ihr selbst auf ungeklärte Weise bewusste ‚Wissen‘ Konstanzes um ihre Rolle bei der Realisierung und Tilgung einer unterdrückten familiären Kollektivschuld, ausgedrückt in einer Offerte an Thomas Erdener, in der Stunde seines Todes explizit zeichenhaft für sein Kind zu gelten,[23] geht über in die weiter oben erwähnte Epiphanie der Figur über das Märchen von Frau Holle, als es für Konstanze das erste Mal im Leben zu schneien beginnt.[24]
IV.
Als der Schnee fällt scheint Konstanze, zuvor noch in ihrer Rolle der potenziellen Stellvertreterin von Thomas Erdeners Kind, geradezu verzückt. Hatte sie eben noch durch ihr Angebot an den Schäfer eine unterschwellige Wahrheit der Erzählung expliziert, indem sie ja als Tochter der abgeschobenen Ex-Geliebten von Erdeners Tochter strukturell die Position von dessen totem und damit für semiotische Substitution zugänglichem Enkelkind einnimmt, phantasiert sie nun angesichts des weißen Niederschlags eine verwandelte, „ganz andere Welt“ (BA 15, 189), in der „dann auch alle Gräber mit allem andern Dunkeln unter der weißen Decke wie eines liegen.“ (ebd.) ‚Dunkelheit‘, über den Gang der Erzählung hinweg immer wieder beiläufig mit ‚Fremdheit‘ korreliert, etwa über die mehrfach erwähnte Möglichkeit, Personen durch Schwarzfärbung an die Verhältnisse in den Kolonien anzupassen, und strukturell über die Schokolade und die aus ihr geformten ‚Attrappen‘ kolonial semantisiert, wird nun also auch zur Referenz für die problematische Vergangenheit der Familie Pelzmann. Das ist plausibel, weil hierbei die individuelle Familiengeschichte und ihre politische Verstrickung auch paradigmatisch zusammenfallen. Gegen Ende des Textes wird diese Kopplung eine letzte Erweiterung erfahren, wenn auch die Welt der Arbeiter:innen als ‚dunkel‘, grau bis schwarz, beschrieben wird und die mit ihr verknüpften konkreten Räume damit implizit als Sphären des ‚Fremden‘ im Raum des ‚Eigenen‘ gekennzeichnet werden. Um dies zu erreichen, setzt der Text beide Bereiche auch wechselseitig zueinander in Beziehung. So wird die durch ihre langjährige Zuchthausstrafe stark gezeichnete Marianne bei ihrer Haftentlassung wie folgt beschrieben:
Kurzverschnittenes, greises Haar unter einer grauen Haube – ein zu schnellem Atemholen geöffneter, lippenloser Mund – Augen gleich denen eines durch die Peitsche gebändigten wilden Tieres und – ein Lächeln um den zahnlosen Mund und in den scheuen Augen – ein Lachen des Hasses, des Triumphes und der Angst. [ebd., S. 155]
Die ehemalige, jetzt greisgraue Arbeiterin der Pelzmannschen Schokoladenfabrik erscheint als gebändigtes Tier ähnlich dem zuvor erwähnten „zahmen oder halb gezähmte[n] Mensch“ aus Konstanzes Überlegungen zu den Arbeitskräften hier und in Übersee. Über ihre, Konstanzes, Wahrnehmung der Arbeitswelt in Fabrik und Stadt geht im weiteren Verlauf, nach der Beschreibung Mariannes durch die Erzählinstanz, die ‚koloniale‘ Perspektive weiter auf die ‚deutschen‘ Verhältnisse über:
Jedesmal, wenn sie den Blick aus des Onkel Fabians warmem, buntem Reiche hinausgeschickt hatte, mußte sie sich dichter zusammenkauern. Am liebsten außerhalb ihres eigenen Stübchens hielt sie sich in Abwesenheit ihres treuen, alten Beschützers in den Fabrikräumen auf und fand daselbst einen gewissen phantastischen Trost an all den bunten Farben und Figuren, die hier nach des Attrappenonkels genialen Erfindungen tausendfach entstanden und in ununterbrochener Folge in jene öde, regennasse, graue europäische Welt hinausgingen. [ebd., S. 172]
Für Konstanze wird diese Bewegung hin zu den Dingen der Arbeitswelt explizit als Reaktion auf ihr Heimweh gerahmt, dem sie sich durch Kontakt mit den Produktionsräumen in der Fabrik, dem der indonesischen Faktorei wohl ähnlichsten Ort hierzulande, zu erwehren versucht. Dadurch wird bereits auf der Ebene reaktiven Figurenhandelns eine implizite Annäherung zwischen ‚Kolonie‘ und ‚Produktionssphäre‘ vorgezeichnet. Der urbane Teil ihrer europäischen Umgebung und nicht nur die Produktionsräume erscheinen Konstanze im Folgenden immer grauer. Schielau, der ländliche Raum, wird dagegen zugleich zur indifferent bleibenden, positiv besetzten Kontrastfolie. Spätestens seit Mariannes Entlassung aus dem Zuchthaus, nach der ihr Vater mit ihr vom Land unter ärmlichsten Bedingungen in ein leerstehendes Fabrikgebäude in der Stadt zieht, wird die Sphäre der Arbeit auch aus der Perspektive der Erzählinstanz in einen ‚dunklen‘ Bereich verwandelt, insbesondere, wenn es sich um ihre gescheiterten Brachen handelt:
Obgleich eine Vorstadt der Residenz, gehörte Sankt Georgen nicht zu den jüngsten Teilen derselben. Es war das eigentliche Quartier der Fabriken und hohen Schornsteine und jedenfalls das der schwärzesten, feurigsten, qualmendsten und lärmvollsten Menschenarbeit. Aber in dem Lärm und Gewirr gab es stets einige tote Punkte, nämlich da, wo irgendein großes Etablissement zu Schaden gekommen und eine Firma nicht nur ihre Tätigkeit, sondern auch ihre Zahlungen hatte einstellen müssen. Zu einem solchen momentan erloschen, wüste, still und öde liegenden Fabrikkrater führte der schwere Weg des Onkels Fabian und endete zuerst auf einem dunkeln, schwarzen Hofe, wo schwarzes Gras kümmerlich sich zwischen den Pflastersteinen durchdrängte. Mit allerhand Schmiedearbeit mußte dieses bankerotte Wesen zu tun gehabt haben, als es noch lebendig war. Aber die Herdfeuer in den Werkstätten rund um den Hof waren schon seit einigen Jahren erloschen. Nur einige rostige Eisenstangen lehnten noch an einer Wand, und einige ebenso verrostete Zahnräder lagen in einer Ecke, überwuchert von den Nesseln und dem gespenstischen Grase. [ebd., S. 164 f.]
Die Passage beschreibt einen Extremraum der Arbeit, die Vorstadt Sankt Georgen, als ‚schwarzen‘ Bereich, in den „tote Punkte“ eingestreut sind. Zugleich handelt es sich um ein Gebiet, das offensichtlich als exterritorialer Raum geplant und damit besonders ist, weil es dem anscheinend geltenden Konzept von ‚Vorstadt‘ temporal widerspricht: Sankt Georgen ist, anders als andere Gemeinden, schon lange Vorstadt und hat damit, vom Text nur impliziert, einen Pionierstatus als Kolonie der Arbeit inne. Angedeutet wird also eine Tradition der räumlichen Auslagerung von Produktionsprozessen aus dem urbanen Zentrum in die Peripherie, heiße sie nun Vorstadt oder Indonesien. Das zur Abwertung ausgebildete Paradigma ‚dunkel/schwarz‘ geht im Lauf der Erzählung von der Beschreibung nicht-europäischer Menschen und Schokoladenprodukte sowie Menschen aus Schokolade auf Arbeiter:innen und schließlich die Arbeit und ihre Orte selbst über, die, wie in der Passage zu lesen, zusätzlich mit einer Nähe zum ‚Tod‘ versehen werden. Dies trifft schließlich auf europäische und außereuropäische Räume gleichermaßen zu. Damit schiebt sich das Merkmals-Set zur Kategorisierung von ‚Fremdheit‘ ins Zentrum des ‚Eigenen‘ und macht hier Verstrickungen der industriellen Schokoladenproduktion mit dem Kolonialismus implizit, nicht auf der Textoberfläche, wohl aber auf der Ebene der Erzählverfahren und der textinternen Semantik sichtbar. Dies geschieht sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene, wenn der Wahnsinn Mariannes, der ehemaligen Fabrikarbeiterin und Geliebten des Firmenchefs, als bestialischer Auftritt einer merkwürdigen, von der Erzählinstanz beobachteten, ‚wilden‘ Kreatur modelliert wird und die Figur ihr Ende in den ‚toten‘ Bezirken der ‚schwarzen‘ Arbeitswelt findet. Verdeutlicht wird dieser Zusammenhang mit Konstanze über eine Figur, in der die verdrängte Schuld verkörpert wiederkehrt und über die semantische Leerstellen personaler, räumlicher und medialer Art substituierend besetzt werden können. Vor allem signifiziert sie aber als Hybridfigur aus dem kolonialen Raum den immer schon medialisierten Weltbezug und das unter den ‚deutschen‘ Figuren als ‚normal‘ und ‚zivilisiert‘ anerkannte System von Substitution und Repräsentation als auch hier geltend aber pathologisch anfällig und ‚verdauungsgestört‘. Am Ende soll der ‚weiße‘ Schnee das ‚Dunkle‘ und die Gräber zudecken, so wie das Leben auf dem Land in Schielau die Erfahrungen in der Stadt vergessen machen soll. Auffälligerweise sind es die männlichen Nebenfiguren Baumsteiger, Rümpler und Knövenagel, denen neben Konstanze die letzten ausführlicheren Blicke der Erzählung gebühren. Vor allem letzter wird dabei noch zum zweifachen Signifikanten für hier aus den Tiefenstrukturen der Erzählung rekonstruierte Textprobleme: So wird für Knövenagel angemerkt, dass er, auf der Treppe vor Thomas Erdeners Sterbezimmer mit dessen Hund zusammen sitzend, „alles angehört und sich zum erstenmal in seinem Leben nicht mit in die Unterhaltung gemischt [hatte], obgleich sie diesmal ausnahmsweise Angelegenheiten betraf, in die er persönlich ziemlich tief, und zwar von Anfang an, mit verwickelt war.“ (ebd., S. 190) An dieser Stelle ist schon nicht mehr recht entscheidbar, wie weit die „Angelegenheiten“, von denen hier die Rede ist, und das Verstricktsein in sie reichen. Und auf sein schließlich gemurmeltes „Herr, ich wollte, es schneite bergehoch! Hund, jetzt keinen Muck mehr!“ heißt es vonseiten der Erzählinstanz nurmehr resignierend: „aber zweifelhaft bleibt es, wen er eigentlich mit seinem letzten Worte in diesem Buche meinte – sich oder seinen Treppengefährten. Auch das geht wohl in einem hin.“ (ebd.) Sein die Semantik von ‚Vergessen‘ und ‚Weltverwandlung‘ intensivierender Wunsch nach bergehohem Schnee fällt zusammen mit der Preisgabe der (dem Text nie besonders wichtigen) Unterscheidung zwischen ‚Realität‘ und ‚Erzählung‘[25] und menschlichem und nicht-menschlichem Subjekt durch die Erzählinstanz. Jenes „das geht wohl in einem hin“ lässt sich demnach auch nicht nur als Verschmelzung der Adressaten von Knövenagels Aussage deuten, sondern auch als Übergriff auf den generalisierenden Einen verstehen und als Auftrag zur Fortsetzung der Reflexion im Sprecher/Autor/Leser-Ich.
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