„Wir müssen jetzt massiv in die technologische Aufrüstung investieren“

PWP: Herr Professor Wolff, lassen Sie uns erst einmal etwas Grundsätzliches klären. Es heißt, der Clou einer modernen Industriepolitik liege gerade darin, dass man mit ihr keinerlei planwirtschaftliche Feinsteuerung betreibe, sondern den Weg zu den politisch anvisierten großen Zielen weitgehend offen lasse und dem Wettbewerb unterwerfe. Damit sei der alte Konflikt zwischen Markt und Staat beigelegt; von einer Anmaßung von Wissen könne keine Rede sein. Ist das wirklich so? Und wie gut gelingt es der Politik in der Praxis, auf einer Meta-Ebene zu bleiben und sich der Feinsteuerung zu enthalten – man denke nur an das europäische Projekt zur Förderung von Wasserstofftechnologien?
Wolff: Das ist die große und entscheidende Frage, und sie ist extrem schwer gut zu beantworten. Ich glaube, wir kämpfen mehr oder weniger alle damit, was der richtige Ansatz ist. Relativ unkontrovers ist, dass Märkte nicht einfach von selbst funktionieren, sondern Regeln brauchen. Das ist auch keine neue Erkenntnis, sondern schließt an ordnungsökonomisches Denken an. Eine zentrale Bedingung dafür, dass Märkte funktionieren, ist Wettbewerb – und folglich Wettbewerbspolitik. Und gerade auf Märkten, auf denen es starke Skaleneffekte gibt, beispielsweise im Zusammenhang mit der digitalen Netzwerkindustrie, kommt es rasch zu sehr großen Playern, die quasi-dominante Positionen einnehmen. Wenn man da keinerlei Möglichkeiten hat gegenzusteuern, dann funktioniert der Markt nicht. Insofern ist ein staatliches Eingreifen auf jeden Fall notwendig für das gute Funktionieren der Märkte. Weitaus schwieriger ist die Frage, ob und wie der Staat vor dem Hintergrund großer Zukunftsfragen den Markt aktiv in bestimmte Richtungen drängen soll. Das Beispiel, das Sie genannt haben, das europäische Projekt zur Förderung von Wasserstofftechnologien, ist in diesem Zusammenhang in der Tat einschlägig. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, dass diese Festlegung auf Wasserstoff die richtige Wahl ist. Ich habe eher den Eindruck, dass mit diesem Projekt insbesondere aus deutscher Sicht die politische Hoffnung verbunden ist, es könne ein Problem lösen, das nicht so leicht zu lösen ist.
PWP: Welches?
Wolff: Das Problem, die Schwerindustrie im Süden Deutschlands mit genügend Energie zu versorgen, wenn man gleichzeitig nicht bereit ist, die dafür nötigen Stromkabel von der Nordsee und der Ostsee in den Süden zu verlegen. Dann hofft man irgendwie auf die Magie des grünen Wasserstoffs. Nach allem, was ich dazu lese, kann ich mir aber kaum vorstellen, dass das kostengünstig zu schaffen sein wird. Auch wenn ich hier also im konkreten Fall so meine Zweifel habe, meine ich grundsätzlich schon, dass der Staat bei einem großen Thema wie dem Klimawandel die Aufgabe hat, eine Richtung vorzugeben und die makroökonomische, finanzielle und letztlich auch Innovationsgrundlage für die Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaft zu legen.[1] Denn die private Initiative allein reicht nicht aus, selbst bei einem angemessenen CO2-Preis – schon deshalb, weil es für große technologische Innovationen und ihre Verbreitung eines engen Zusammenspiels zwischen der staatlichen Infrastruktur und den vielen Einzelentscheidungen im Privatsektor bedarf. Aber falls es korrekt ist, was uns derzeit die technologischen Studien sagen, nämlich dass die Zukunft doch eher elektrisch ist als wasserstoffbasiert – dann besteht in der Tat die Gefahr, dass man auf die falsche Technologie setzt und Milliardenbeträge vergeudet.
PWP: Was folgt daraus?
Wolff: Daraus folgt, dass das Grundkonzept immer Technologieoffenheit sein sollte, verbunden mit der Gewährleistung guter Wettbewerbsbedingungen. Industriepolitik darf den Wettbewerb nicht hemmen, sie sollte ihn vielmehr fördern, wie mein Kollege Michael Dewatripont schon vor Jahren gezeigt hat.[2] Ein gutes Beispiel dafür ist die Subventionierung der Automobilindustrie in China. Die Chinesen haben ihre Förderung so ausgestaltet, dass der Wettbewerb in der Branche zunahm und nicht etwa abnahm. Jeder Player, der eine staatliche Subvention bekam, war sich darüber im Klaren, dass ihn diese keinesfalls vor der Konkurrenz schützte, weil auch andere Anbieter subventioniert wurden und die Rivalität auf dem Markt infolgedessen noch zunahm. Es ist mithin zu billig, den chinesischen Erfolg in der Automobilindustrie, insbesondere in der E-Mobilität, allein auf das viele Geld zurückzuführen, das der Staat dort hineingesteckt hat. Die Erklärung liegt vielmehr in der klugen Kombination einer sehr umfangreichen Subventionierung mit einem extrem scharfen Wettbewerb, der rasch zu massiven Preiskürzungen geführt hat und auch mit einer Vielzahl von Unternehmensinsolvenzen einherging. Nur die stärksten Anbieter haben überlebt. Entscheidend war, dass man bei der Vergabe von Subventionen nicht von vornherein die Begünstigten festgelegt und dann vor der Konkurrenz geschützt hat. Wenn man mit Subventionen den Wettbewerb reduziert und vielleicht gleichzeitig noch mit Zöllen den ganzen Sektor vor ausländischer Konkurrenz schützt, dann ist das Risiko sehr groß, dass das Ergebnis des politischen Eingreifens am Ende nicht etwa mehr Innovationen und ein höheres Wirtschaftswachstum sein wird, sondern mehr Renten für die begünstigten privaten Unternehmen.
PWP: China ist einfach auch sehr groß…
Wolff: Ja, China hat natürlich den Vorteil eines sehr großen Binnenmarkts, so dass derjenige, der im scharfen heimischen Wettbewerb besteht, damit automatisch auch zu einem global wettbewerbsfähigen und führenden Unternehmen wird. In Europa haben wir dagegen das Problem, dass unser Markt noch immer vergleichsweise stark segmentiert ist. Es bestehen weiterhin in vielen Bereichen Marktbarrieren zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten, vor allem im Zusammenhang mit Dienstleistungen, aber auch in der Industrie. Deshalb plädiere ich stark dafür, den Wettbewerb zu schärfen und ihn in einem europäischen Binnenmarkt zu gewährleisten. Das heißt: tiefere Integration des europäischen Binnenmarkts, kombiniert mit scharfer Wettbewerbspolitik.
PWP: Sehen Sie dafür denn auf europäischer Ebene den Willen und die Kraft?
Wolff: Das ist genau meine Sorge. Im berühmten Draghi-Bericht[3] wird die Integration des Binnenmarkts gefordert, aber das Thema Wettbewerb kann vielleicht missverstanden werden. Die aktuelle Europäische Kommission scheint mir in Sachen Wettbewerbspolitik viel zu schwach zu sein. Aber wir brauchen dringend eine scharfe Wettbewerbspolitik, um die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Unternehmen, die wir fördern, in harter Konkurrenz zueinander stehen und durch diese Rivalität die Chance bekommen, die Besten zu werden. Wenn wir mit der gegenwärtigen doch sehr laxen Wettbewerbspolitik fortfahren, dann fehlt am Ende den Unternehmen in Europa schlicht der Anreiz, sich wirklich anzustrengen. Und dann wird die Subvention zu einem Ruhekissen.
PWP: Besteht dann nicht auch die Gefahr eines unproduktiven Subventionswettlaufs der einzelnen EU-Mitgliedstaaten untereinander?
Wolff: Durchaus – wenn die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene dann auch noch unterschiedlich stark subventionieren, besteht in der Tat die zusätzliche Gefahr von Verzerrungen innerhalb des Binnenmarkts. Also noch einmal: Es kommt darauf an, dass wirklich Wettbewerb herrscht.
PWP: Sie haben die europäische Wettbewerbspolitik gerade als „lax“ bezeichnet – wieso? Wegen des Paradigmenwechsels hin zum „More economic approach“?
Wolff: Ursprünglich war die Wettbewerbspolitik sehr hart, bei nicht hinreichender Marktintegration. Es ist ja immer die Frage, auf welche Grundgesamtheit sich die Wettbewerbspolitik bezieht: auf den nationalen Markt oder den europäischen Markt. Je fragmentierter der europäische Markt ist, desto mehr ist die Intensität des Wettbewerbs auf dem Markt des jeweiligen Mitgliedslandes zu messen, auf dessen Boden er stattfindet. Das europäische Ziel ist natürlich, den Binnenmarkt möglichst tief zu integrieren und dann den Wettbewerb auch nur noch auf europäischer Ebene zu messen. Das ist der richtige Ansatz. Draghi fordert einen integrierten Binnenmarkt, in dem dann der Wettbewerb auf europäischer Ebene gemessen wird. Wir können jetzt aber nicht in der Wettbewerbskontrolle nachlassen mit dem Argument, dass unsere Unternehmen klein sind – ohne wirklich Fortschritte beim Binnenmarkt zu machen. Im Gegenteil, nur wenn der Binnenmarkt integriert ist, kann die Wettbewerbspolitik den europäischen Markt als Bemessungsgrundlage nehmen. Und dann kommt erschwerend die Entwicklung in der Industriepolitik hinzu, dass man bestimmte Branchen meistens ziemlich ad hoc für strategisch erklärt – zum Beispiel die Herstellung von Mikroprozessoren, also Chips. Es ist aus dem, was die EU-Kommission veröffentlicht, nicht zu erkennen, aus welchen Gründen diese Branche strategisch wichtiger sein soll als andere.
PWP: Geht es nicht darum, eine Abhängigkeit von China zu vermeiden, auch vorausschauend, weil man um die Souveränität Taiwans fürchtet, das ebenfalls ein starker Anbieter ist?
Wolff: Ja, natürlich, aber das Problem ist, dass man unheimlich viel Geld auf den Tisch gelegt hat und das bisherige Ergebnis trotzdem äußerst durchwachsen ist. Es ist ja nicht so, dass wir jetzt in Europa eine blühende Chipindustrie haben. Die ganz großen Hoffnungen lagen auf dem amerikanischen Unternehmen Intel, das High-end-Chips produzieren sollte. Die Bundesregierung war sogar bereit, 10 Milliarden Euro in eine Fabrik in Magdeburg zu investieren, die mehr als 30 Milliarden Euro kosten sollte. Doch selbst so blieb die Profitabilität unklar, sodass Intel einen vorläufigen Rückzieher gemacht hat. Und was das taiwanesische Unternehmen TSMC angeht, so hoffte man, dass sein Ableger ESMC in Dresden eher Mid-tech-Chips produzieren wird; hier trägt der Bund die Hälfte der Kosten. Nur stellt sich schon die kritische Frage, ob wir wirklich eine so große eigene Produktion derartiger Chips in Deutschland brauchen und ob wir diese nicht auch von diversen anderen Anbietern aus aller Welt geliefert bekommen können. Unter dem Stichwort Geopolitik ist jetzt sehr schnell sehr viel Geld locker geworden, ohne dass hinreichend klar ist, dass es sich bei den Ausgaben jeweils um die beste Art und Weise handelt, wie wir unsere strategische Position gegenüber anderen Ländern verbessern können. Um das sagen zu können, bräuchten wir viel eingehendere Analysen über unsere Verwundbarkeiten und neue, mehr strategische Hebel, als wir bisher haben. Deshalb ist das wissenschaftliche Feld der Geoökonomie, das vor dem Hintergrund der geopolitischen Verschiebungen und Konflikte in der Welt gerade einen Aufschwung erlebt, auch so wichtig.
PWP: Deswegen wird die Ausgabe 1/2026 der Perspektiven der Wirtschaftspolitik auch diesem Thema als Sonderheft gewidmet sein. Aber das nur am Rande… Zurück zu den Chips. Das ist doch wieder so ein Fall, wo die Politik eine Aussage über eine angeblich für die Zukunft entscheidende Technologie trifft und die entsprechenden Branchen mit sehr viel Geld füttert – zulasten neuer Technologien, die gerade wegen dieses Eingriffs gar nicht erst entstehen. Unsere Unabhängigkeit von möglicherweise feindlichen Staaten wäre aber doch viel größer, wenn es gelänge, unter dem Druck des Wettbewerbs auf dem Markt spontan ganz neue Technologien zu entwickeln, von denen wir jetzt noch gar nichts wissen und die Chips vielleicht sogar überflüssig machen – statt nur Bekanntem nachzulaufen.
Wolff: Ja, absolut. Darum fordere ich ja eingehendere, belastbare wissenschaftliche Analysen. Nur wenn es wirklich so wäre, dass wir von einem einzigen Anbieter abhängen, der aus geopolitischen Gründen komplett wegfallen könnte, und wenn infolgedessen tragende Säulen unserer Wirtschaft zusammenbrechen würden – ja, gut, dann könnte ich einsehen, dass man auch kurzfristig etwas tun muss. Aber das muss man erst einmal nachweisen, und für die Mid-tech-Chips ist das ja gerade nicht der Fall. Und dann muss die staatliche Subventionierung aber wie gesagt den Wettbewerb stärken, statt dass man vorab die Gewinner bestimmt und ihnen einfach mal 5 oder 10 Milliarden Euro in die Hand drückt. Langfristig kommt es dann darauf an, die Innovationskraft der eigenen Wirtschaft zu stärken. In der Grundlagenforschung, die ja für die noch unbekannten Technologien der Zukunft entscheidend ist, stehen wir in Deutschland und vielen anderen Ländern Europas gar nicht schlecht da. Wir haben sehr gute Hochschulen und Institute, an denen Spitzenforschung betrieben wird. Doch wir schaffen es bisher leider nur sehr begrenzt, das dort geschaffene Wissen in unternehmerische Startups zu transformieren, die dann auch wachsen und auf dem Weltmarkt wirklich Bedeutung erlangen. Da müsste man sehr viel mehr machen.
PWP: Und zwar was?
Wolff: Man müsste sich darum bemühen, dass die Kapitalmärkte endlich Orte werden, an denen sich auch Geld für Risikoinvestitionen in großem Stil auftreiben lässt. Da haben wir tatsächlich derzeit ein Problem. Die wenigen Investoren, die heute solches Risikokapital für Startups bereitstellen, sind in der Regel amerikanische Private-Equity-Fonds oder sogar amerikanische Börsen. Es stehen dann also keine europäischen Financiers dahinter. Das heißt: das Eigentum und ein Teil der Wertschöpfung, die aus solchen Startups dann entsteht, sind in der Hand ausländischer Investoren. Da müssen wir ansetzen, die Kapitalmärkte vertiefen und europäisieren.
PWP: Wir sprachen schon von der Gefahr eines Subventionswettlaufs zwischen den Mitgliedstaaten. Wie sieht es denn mit der Koordination zwischen den nationalen Programmen aus?
Wolff: Das ist nach wie vor nicht so einfach. Lange gab es eine sehr große Divergenz insbesondere zwischen der deutschen und der französischen Sicht auf diese Dinge. Die deutsche Sicht war immer: möglichst wenig Industriepolitik, möglichst viel Wettbewerbspolitik, möglichst keine Steuergelder verwenden. Die französische Sicht war beinahe umgekehrt, in allen drei Punkten. In den vergangenen Jahren haben wir allerdings eine gewisse Konvergenz gesehen. Ich glaube, es ist fair zu sagen, dass sich die deutsche Sicht der französischen stärker angenähert hat. Die Motivation dafür ist nicht so sehr ökonomisch, sondern im Wesentlichen geopolitisch. „Strategische Autonomie“ ist das Stichwort.
PWP: Diese Sorge trieb den früheren Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) schon stark um, der vor allem die Abhängigkeit von China fürchtete.
Wolff: Ja, Minister Altmaier hatte im Februar 2019 zu diesem industriepolitischen Komplex auch ein Papier geschrieben.[4] Es war alles andere als überzeugend, und es ist sehr zu Recht deutlich kritisiert worden. Aber wie dem auch sei, es gibt in Europa jetzt zwischen Deutschland und Frankreich mehr Kohärenz. Auch ich habe mich in einem Punkt dieser ordnungspolitisch vielleicht nicht lupenreinen französischen Sicht stark angenähert, und zwar mit Blick auf die Verteidigungsindustrie. Bis vor kurzem war ich eigentlich überzeugt, dass Europa nicht unbedingt eine autonome Rüstungsindustrie braucht, weil wir ja gut auf dem wettbewerblichen Weltmarkt einkaufen können, was wir brauchen: Wir kaufen da, wo es am besten und am billigsten ist. Inzwischen bin ich davon abgekommen.
PWP: Weil zu befürchten ist, dass der amerikanische Präsident Donald Trump Europa militärisch im Regen stehen lässt?
Wolff: Natürlich. Und deshalb müssen wir hier wirklich unsere Abhängigkeit von Importen aus den Vereinigten Staaten im High-tech-Bereich drastisch reduzieren. In aktuellen Studien konnten wir zeigen, dass Europa insgesamt relativ wenig Waffen importiert. Das meiste kaufen wir noch zuhause, das heißt, die Deutschen in Deutschland und die Franzosen in Frankreich. Aber in bestimmten High-tech-Segmenten kaufen wir ausschließlich amerikanisch.
PWP: Nicht weil es dort billiger wäre, sondern weil wir diese Technologie schlicht nicht haben.
Wolff: Genau. Ich denke beispielsweise an so etwas wie HIMARS, das mobile Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystem auf LKW-Basis von Lockheed Martin, oder an die schnellen Risikoanalysen auf Grundlage Künstlicher Intelligenz von Palantir Technologies. Die ganze NATO kauft bei Palantir ein.
PWP: Bei dem vom rechtslibertären Trump-Unterstützer Peter Thiel mitbegründeten Unternehmen, dessen größter Anteilseigner und Chairman er bis heute ist.
Wolff: Hyperschallraketen haben wir auch nicht, oder Marschflugkörper wie die Tomahawks, die von Schiffen oder von Land abgefeuert und bis zu 1500 Meilen weit geschickt werden können – eigentlich keine revolutionäre Technologie – es gibt sie seit den achtziger Jahren, aber wir produzieren sie nicht. Luftabwehr kaufen wir ebenfalls sehr stark in den Vereinigten Staaten. Das war alles in Ordnung in einer Zeit, in der wir das Vertrauen hatten und haben konnten, dass die Amerikaner das in großem Umfang liefern und dass sie im Notfall das Ganze auch noch mit ihren eigenen Truppen kombinieren. Wenn dieses Vertrauen nicht mehr da ist, dann haben wir an dieser Stelle eine erhebliche Verwundbarkeit. Unsere militärische Abhängigkeit kann gnadenlos ausgenutzt werden vom amerikanischen Präsidenten, der als früherer Immobilienmogul ganz genau weiß, wie man solche Situationen und Schwächen für sich nutzen kann.
PWP: Was folgt daraus?
Wolff: Wir müssen jetzt massiv in die technologische Aufrüstung investieren – und damit meine ich nicht nur die mengenmäßige Aufrüstung als solche, sondern vor allem auch die technologische Weiterentwicklung. Wir brauchen europäische Technologie. Es wird eine Übergangsphase geben müssen, in der wir beides brauchen, die amerikanischen Quellen und unsere eigenen. Aber wenn wir nicht jetzt schleunigst damit anfangen, unsere technologische Basis zu stärken, dann werden wir auf immer und ewig davon abhängig sein, was im Weißen Haus entschieden wird. Und damit wäre unsere Souveränität am Ende. Deshalb muss Europa die eigenen Kräfte stärken, und das geht letztlich über den Einkauf. Auch da gilt dann wieder, dass das wettbewerblich geschehen muss. Es geht nicht, dass jeder Mitgliedstaat dann wieder nur bei seinem eigenen nationalen Monopolisten kauft; auch hier brauchen wir idealerweise einen europäischen Binnenmarkt. Es bedarf verschiedener Anbieter, die miteinander im Wettbewerb darum stehen, wer am schnellsten und kostengünstigsten das beste Produkt entwickelt und herstellt.
PWP: Von einem europäischen Binnenmarkt der militärischen Beschaffung sind wir allerdings noch weit entfernt.
Wolff: Das ist leider so. Im Procurement Tracker, den wir mit dem Kieler Institut für Weltwirtschaft aufgebaut haben[5], sieht man ganz klar, dass im jeweiligen Heimatland vor allem Deutschland und Frankreich einkaufen, außerhalb der EU ebenso das Vereinigte Königreich. Und wo sie nicht im Heimatland einkaufen, kaufen sie außerhalb der EU ein, meistens in den Vereinigten Staaten, manchmal auch in Südkorea. Es kommt kaum vor, dass Deutschland in Frankreich einkauft, Frankreich in Großbritannien und so weiter. Das ist schlecht. Denn das bedeutet, dass das jeweilige nationale Monopol allenfalls durch einen amerikanischen Konkurrenten bedroht ist, der dann aber die Bedingungen setzen kann – und wo vor allem jederzeit das Weiße Haus einschreiten kann, wenn es mal wieder einen Sinneswandel des Präsidenten gibt.

PWP: Sehen Sie denn, dass sich solche wettbewerblichen Strukturen im europäischen Binnenmarkt herstellen lassen, und das in der gebotenen Geschwindigkeit?
Wolff: Die Schwerfälligkeit Europas in dieser Frage liegt natürlich in den Mitgliedstaaten begründet, und da gibt es jeweils handfeste Eigeninteressen und starre Strukturen. Im Fall Deutschland ist es die Beschaffungsbehörde in Koblenz, die zu reformieren deutsche Verteidigungsminister über Jahrzehnte immer wieder versucht haben – meistens mit vergleichsweise geringem Erfolg. Diese Behörde hat ihre etablierten langwierigen bürokratischen Verfahren und ist zudem sehr eng mit der heimischen Industrie verbandelt.
PWP: Eine solche Verquickung ist nach allem, was man aus hundert Jahren ordnungspolitischen Denkens weiß, immer gefährlich. Dass man das heute gelegentlich vergisst, macht mich auch mit Blick auf das in neueren Ansätzen der Industriepolitik auftauchende Konzept der „Embedded autonomy“ von Peter Evans nervös, das gerade auf Netzwerke zwischen Verwaltung und Unternehmen setzt.[6]
Wolff: Was die Beschaffung von militärischer Ausrüstung angeht, hat der von der Koblenzer Behörde und der Industrie gebildete Komplex jedenfalls normalerweise wenig Interesse, dass irgendjemand an den bestehenden Strukturen rüttelt. Es gibt da eine große Abneigung gegen den Wettbewerb und gegen eine Integration der militärischen Beschaffungsmärkte. Dabei liegt Wettbewerb auf einem europäischen Beschaffungsmarkt eindeutig im Interesse der Steuerzahler, weil er die Preise senkt; vor allem aber dient der Wettbewerb unseren technologischen Kapazitäten und letztlich unserer Sicherheit, weil nur er uns die beste militärische Ausrüstung liefern kann.
PWP: Warum hat es diese Erkenntnis politisch so schwer?
Wolff: Wir haben hierzu im April ein Papier beim informellen Treffen der EU-Finanzminister in Warschau vorgestellt[7], die das sehr interessant fanden. Nur hieß es immer, es sei so schwer, mit den jeweiligen Verteidigungsministern eine Einigung darüber herzustellen. Die Finanzminister sind offenbar kostenbewusster. Für das deutsche Verteidigungsministerium insbesondere ist nach der – meines Erachtens nicht sehr gelungenen – Reform der Schuldenbremse der Anreiz weggefallen, auf das Geld zu achten, Skaleneffekte im Einkauf zu nutzen und vielleicht endlich mehr Wettbewerb ins System zu bringen. Man kann jetzt für alles Schulden aufnehmen und kommt damit in jedem Fall davon, ohne dass sich jemand beschwert.
PWP: Dabei sind die Kosten doch nur ein Argument und vielleicht gar nicht das entscheidende, im Vergleich zur Qualitätsverbesserung durch den Wettbewerb?
Wolff: Ja, und umso mehr brauchen wir die Unterstützung durch eine scharfe europäische Wettbewerbspolitik auch hier. Das ist ein ganz entscheidender Hebel. Allerdings wird das durch Artikel 346 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erschwert, der eine Ausnahmeklausel für den Fall enthält, dass die Mitgliedstaaten wesentliche Sicherheitsinteressen berührt sehen.[8] Das heißt, der Binnenmarkt ist in diesem Bereich einfach nicht verankert.
PWP: Also was tun?
Wolff: Eine Möglichkeit wäre natürlich, diesen Artikel 346 AEUV zu ändern. Eine andere Möglichkeit – und das war unsere Empfehlung – bestünde darin, einen Staatsvertrag abzuschließen, in dem sich europäische Staaten darauf einigen, in diesem Bereich mehr Wettbewerb untereinander zuzulassen.
PWP: Was die Innovationen in der militärischen Technologie angeht, kann Europa derzeit ausgerechnet von der Ukraine, die seit mehr als drei Jahren gegen den russischen Aggressor ankämpfen muss, eine Menge lernen, nicht wahr? Die Ukrainer verfügen ja mittlerweile über Tausende Modelle neuartiger und rasch anzupassender Drohnen.
Wolff: Auf die Ukraine trifft wirklich das alte Sprichwort „Not macht erfinderisch“ zu. Es ist sehr beeindruckend, was dieses Land leistet, auch im Hinblick auf die Entwicklung neuer militärischer Technologien. Das wird meines Erachtens auch die Zukunft sein: Wir werden eng mit der Ukraine zusammenarbeiten. Es gibt schon jetzt viele europäische Unternehmen, auch deutsche, die in der Ukraine aktiv sind und dort Produktionsstandorte aufbauen, einfach weil sie wissen, dass dort aktuell die Innovationen und auch die Skalen geschaffen werden. Im Drohnenbereich ist die Ukraine mittlerweile führend. Es geht dabei nicht nur darum, die beste Drohne zu entwickeln, sondern die beste, die man zu Tausenden und sehr billig produzieren kann. Die Europäer können hier eine Menge von den Ukrainern lernen, und das Entscheidende für uns wird sein, das dort Gelernte dann auch wirklich in die eigenen strategischen Diskurse und in unsere Armeen zu integrieren.
PWP: Konkret?
Wolff: Es ist schon einigermaßen überraschend, dass die Bundeswehr im Jahre 4 nach dem Februar 2022, der russischen Vollinvasion in die Ukraine, immer noch keine großangelegten Programme für Drohnen hat, geschweige denn entsprechende Trainingsprogramme für Soldaten. Wir müssten doch jetzt Tausende von Soldaten darin ausbilden, wie man solche Drohnen mit Virtual-reality-Brillen fliegen lässt! Wir müssten in großer Zahl 3D-Drucker kaufen und unsere Soldaten darin trainieren, wie man sie benutzt, um die Drohnen schnell zusammenzubasteln. Die Ukrainer machen das gerade sehr dezentral, in riesigen Kapazitäten, direkt an der Front. Soweit ich weiß, werden 70 Prozent der ukrainischen Treffer mit Drohnen erreicht. Wo also, bitte, ist unser großangelegtes Programm dazu in Deutschland oder in Europa?
PWP: Das wüsste ich auch gern.
Wolff: Insofern mache ich mir schon große Sorgen um unsere Sicherheit. Ja, wir werden jetzt aufrüsten, und ja, wir brauchen auch weiter konventionelle Waffen, aber wenn wir jetzt die Modernisierung unserer Militärtechnologie nicht hinbekommen, dann haben wir in ein paar Jahren vielleicht 1000 Panzer herumstehen, ohne fähig zu sein, das neue Gerät mit modernen, kosteneffizienten Drohnen zu kombinieren. Dann haben wir ein echtes Problem. Wenn wir uns ansehen, was die Russen derzeit täglich an Drohnen über der Ukraine ablassen, muss uns angst und bange werden. Schon die Ukraine schafft es nicht, das alles abzufangen. Wenn diese Drohnen Richtung Berlin flögen, könnten wir sie schlicht nicht aufhalten. Schon jetzt gibt es regelmäßige Drohnensichtungen über Militärbasen in Deutschland – ohne dass wir sie stoppen können.[9] Wir haben noch keine angemessenen Gegenmaßnahmen entwickelt. Da gibt es wirklich noch eine Menge zu tun. Und um zum Thema Industriepolitik zurückzukommen: In Deutschland und Europa gibt es inzwischen eine Vielzahl neuer Unternehmen, die Drohnen und andere moderne Waffen entwickeln. Die Frage ist, ob unsere Staaten diese Unternehmen stärken werden durch Einkauf in Europa bei gleichzeitiger Intensivierung des Wettbewerbs in einem stärker integrierten Markt für Rüstungsgüter. Und ob es dadurch führende europäische Unternehmen geben wird wie die amerikanischen Unternehmen Palantir und Anduril.
PWP: Der britische Premierminister Keir Starmer preist die in dieser Lage nötigen und geplanten höheren Rüstungsausgaben als Konjunkturprogramm und hofft mithin auf eine „Verteidigungsdividende“.[10] Kann diese Rechnung aufgehen?
Wolff: Kurzfristig schon. Aus der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur wissen wir hinlänglich, dass es solche keynesianischen Effekte schuldenfinanzierter Aufrüstung gibt. Langfristig ist es vielleicht auf ersten Blick nicht so plausibel, aber Juan Antolin-Diaz und Paolo Surico können in einer neuen, 125 Jahre umspannenden Untersuchung für die Vereinigten Staaten überraschenderweise nachweisen, dass Militärausgaben durchaus große und dauerhafte positive Auswirkungen auf Produktivität und wirtschaftliches Wachstum haben.[11] Das macht doch Mut.
PWP: Was ist die Erklärung dafür? Es wäre ja eigentlich zu befürchten, dass gerade diese Verwendungsrichtung öffentlicher Mittel eher unproduktiv ist.
Wolff: Der Grund ist, dass die Militärausgaben in Amerika die Zusammensetzung der öffentlichen Gesamtausgaben deutlich in Richtung Forschung und Entwicklung verschoben haben. Das wiederum hat Innovationen und private Investitionen auch auf mittlere Sicht befeuert. Wir wiederum haben festgestellt, dass die Vereinigten Staaten für Forschung und Entwicklung im Militärbereich die riesige Summe von fast 150 Milliarden Dollar jährlich ausgeben, wir Europäer hingegen nur etwa 11 Milliarden Dollar; beides Stand 2022/23.[12] Ich folge daraus, dass wir, wenn wir in Europa in Richtung Modernisierung, Forschung und Entwicklung, mehr High-tech-Produktion im Militärbereich gehen, sowohl kurzfristige Konjunktureffekte als auch langfristige Wachstumswirkungen erwarten können. Ein weiterer Effekt hat etwas mit dem verbesserten Humankapital zu tun: Wenn wir in Deutschland etwa 70.000 zusätzliche Soldaten haben wollen, wie gelegentlich aus Berlin zu hören ist, und wenn diese Leute in ihrer Ausbildung nicht nur mit alten Technologien konfrontiert werden, sondern lernen und einüben, wie man beispielsweise 3D-Drucker bedient, wie man diese digital in der Cloud vernetzt und über KI-getriebene Algorithmen steuert, dann bringen sie nach ihrem Militärdienst auch für den zivilen Arbeitsmarkt Kompetenzen mit, über die viele andere noch gar nicht verfügen.

Mit Guntram Wolff sprach Karen Horn. Guntram Wolff wurde von Zacarias Garcia fotografiert, Karen Horn von Johannes Ritter.
Zur Person
Guntram Wolff: Makroökonomik, Klima, Verteidigung
Karen Horn

Es ist gar nicht einfach, Kernthemen zu benennen, die Guntram Wolff beschäftigen: Er hat sich mit Geld, Banken und Kapitalmärkten befasst, mit öffentlichen Finanzen, Fiskalpolitik und Regulierung, mit europäischer Integration, Binnenmarkt und Brexit, mit Energie, Klima und grüner Transformation, mit Industriepolitik, Außenhandel und öffentlicher Gesundheit, mit Verteidigung, Sanktionen und Cybersecurity – und das ist nicht alles. Sein Spektrum ist außerordentlich breit, und dabei schaut er auch noch über den Tellerrand seines Fachs hinaus. Denn Wolff sieht die Volkswirtschaftslehre als Sozialwissenschaft, die davon lebt, dass sie mit Nachbardisziplinen interagiert. Ökonomen könnten wichtige Fragen detailliert und methodisch gut analysieren, aber ihre Ergebnisse bedürften der interdisziplinären Einbettung. „Die gesellschaftlichen Zusammenhänge sind immer so komplex, dass man einen breiteren Ansatz braucht, um auf den Kern zu kommen“, sagt er – „und selbst dann ist Bescheidenheit geboten.“
Die Breite der Wolff‘schen Interessen lässt sich bereits in den frühen Tagen seiner akademischen Ausbildung ausmachen. 1974 in Freiburg geboren und in Bochum aufgewachsen, schrieb er sich nach Abitur und Zivildienst für gleich zwei Studiengänge an der Universität Passau ein: für Philosophie – und parallel für Volkswirtschaftslehre. „Mich interessierten die großen Fragen, zum Beispiel was ist Wahrheit, und was ist überhaupt der Sinn des Lebens?“ Gleichzeitig trieben ihn aber auch die Krisen und ökonomischen Umbrüche um, die er beobachtete, allen voran im Kohlebergbau. „Man hat damals mit viel Geld gegen den Strukturwandel ansubventioniert – mit dem Ergebnis, dass viel zu viele auch junge Leute arbeitslos wurden, die man fälschlich in dem Glauben gehalten hatte, sie hätten in dieser Branche noch eine Perspektive.“
Nach der Zwischenprüfung in Philosophie und dem Vordiplom in Volkswirtschaft entschied Wolff, sich ganz der Ökonomie zu widmen – zwei Vollstudiengänge war einer zu viel. Er empfand die Ökonomie zudem als näher am wirklichen Leben und wegen der Empirie auch als methodisch überzeugender. Für ein Studienjahr zog es ihn an die Universität im südfranzösischen Toulouse, wo sich das erst Anfang der neunziger Jahre von Jean-Jacques Laffont und dem späteren Nobelpreisträger Jean Tirole gegründete Institut d’Économie Industrielle auf den Weg zu einer international hoch angesehenen volkswirtschaftlichen Fakultät machte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland ging Wolff an die Universität Bonn, wo er sich in Richtung Makroökonomik orientierte. Bei Manfred J. M. Neumann schrieb Wolff Diplomarbeit, bei Jürgen von Hagen wurde er mit drei Aufsätzen promoviert. Parallel zur Promotion arbeitete er von 2000 bis 2004 als Forschungsassistent am interdisziplinären Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn, ergänzt durch drei Aufenthalte als Gastwissenschaftler in den Vereinigten Staaten, an der University of Pittsburgh.
Nach der Promotion ergatterte Wolff eine Stelle bei der Deutschen Bundesbank in Frankfurt, wo er sich um das Monitoring der öffentlichen Finanzen in Deutschland und in der EU kümmerte; zudem koordinierte er eine Forschungsgruppe zur Fiskalpolitik. Um seiner Frau, die eine Anstellung an der Universität Löwen bekommen hatte, nach Belgien folgen zu können, nutzte er nach vier Jahren die Möglichkeit, sich als Experte an die Europäische Kommission in Brüssel entsenden zu lassen. Damit begann für ihn eine spannende Zeit in der Abteilung „Wirtschaft der Eurozone und Europäische Währungsunion“ der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen: 2008 kam die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ins Rollen, und es folgte die Schuldenkrise der Eurozone mit der Debatte über eine mögliche Umschuldung für Griechenland.
„Wir waren am Puls der Zeit“, erinnert sich Wolff. „Wir haben schon Ende 2008 in einem Bericht an den Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der EU-Mitgliedstaaten vor den Ungleichgewichten in der Eurozone gewarnt.“ Er war maßgeblich an der Entwicklung des Scoreboards beteiligt, auf dem der Frühwarnmechanismus der „Macroeconomic Imbalance Procedure“ fußt, der als Bestandteil des „Sixpacks“ zur Bekämpfung von Ungleichgewichten in der Eurozone Ende 2011 in Kraft trat. Das Scoreboard umfasst unter anderem die Leistungsbilanzsalden, die realen effektiven Wechselkurse, private Kreditbestände und Kreditflüsse sowie Immobilienpreise. Im Nachgang kam es zu einer intensiven Debatte darüber, ob die Indikatoren im Scoreboard hinreichend gut ausgewählt waren, ob sich die Schwellenwerte empirisch robust herleiten lassen, und ob das System nicht auch falschen Alarm auslösen könnte. Wolff wundert das nicht: „Wir mussten das damals in Windeseile zusammenschustern – es war ein Anfang.“
Nach drei Jahren lief seine Entsendung an die EU-Kommission aus, und Wolff bewarb sich bei dem im Jahr 2005 gegründeten europäischen Thinktank „Bruegel“ als Fellow. Der Name ist eigentlich ein Sigel, das für „Brussels European and Global Economic Laboratory“ steht. An der Trägerschaft sind etliche europäische Regierungen sowie mehrere in Europa tätige Unternehmen und Finanzinstitutionen beteiligt. Als Wolff 2011 hinzustieß und rasch zum Stellvertreter des französischen Direktors Jean Pisani-Ferry avancierte, befand sich der Thinktank noch in der Startup-Phase, mit einem Team von etwa 30 Personen und einem Budget von 4 Millionen Euro. Nach zwei Jahren folgte Wolff, der inzwischen auch Mitglied im französischen Sachverständigenrat (Conseil d’Analyse Économique) war, Pisani-Ferry als Direktor nach. Er baute den Thinktank weiter aus, finanziell, personell und thematisch: „In den vergangenen 15 Jahren gab es alle zwei Jahre Krisen. In einem Institut, das sich nah an der Politikberatung bewegt, muss man sich immer wieder auch mit den neuen großen Themen beschäftigen.“ Solche Themen waren zum Beispiel der Umgang mit dem Vereinigten Königreich nach dem Ausscheiden aus der EU, die ökonomische Bewältigung der Corona-Pandemie und die Energiekrise als Kollateralschaden des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Die neuen geopolitischen Bedingungen spielten auch eine Rolle, als Wolff im Sommer 2022 den hauseigenen Statuten gemäß nach 9 Jahren an der Spitze von Bruegel ausschied und ein Angebot zur Leitung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin annahm. Dem Wiener Institut für höhere Studien (IHS) gab er dafür einen Korb. In der Bundeshauptstadt rückte für ihn das Thema Industriepolitik in den Vordergrund – sowohl in Verbindung mit der „Zeitenwende“ und der nunmehr dringlichen Aufrüstung als auch mit Blick auf die als Risiko erkannte Abhängigkeit von China. In dieser Zeit hielt Wolff zudem als Honorarprofessor an der Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt Seminare zu den ökonomischen Aspekten des Klimawandels und der europäischen Integration. Im Frühjahr 2024 verließ er die DGAP schon wieder, ging für vier Monate als Gastforscher ans Institut für Weltwirtschaft in Kiel und kehrte dann nach Brüssel zurück. Dort hat er seither einen Stiftungslehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Sustainable Finance, an der Freien Universität Brüssel inne, wo er auch schon zuvor Lehraufträge wahrgenommen hatte.
Außerdem ist er als Senior Fellow wieder bei Bruegel tätig, und es ergab sich für ihn die Gelegenheit, eine Kooperation mit dem Institut für Weltwirtschaft aufzubauen, das seit 2023 in seinem „Ukraine Support Tracker“[13] detailliert erfasst, in welchem Umfang und auf welche Weise das Ausland das von Russland angegriffene Land militärisch, finanziell und humanitär unterstützt. Als Erweiterung dieser geoökonomischen Arbeit produzieren und analysieren sie nunmehr gemeinsam den „Kiel Military Procurement Tracker“[14] genannten Datensatz, der Orientierung über die Fortschritte Europas in Aufrüstung und Verteidigungsfähigkeit gibt – denn „increased deterrence capabilities are critical to prevent war.“[15] Der aktuelle Befund ist indes ausgesprochen ernüchternd.
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- Industriepolitik im Umbruch: Neue Herausforderungen und Perspektiven für Europa und Deutschland
- Beiträge aus der Forschung zur Wirtschaftspolitik
- Pro-kompetitive Industriepolitik für eine erfolgreiche Transformation der Wirtschaft
- Industriepolitik in Europa
- Prinzipien für eine europäische Industrie- und Handelspolitik für das geoökonomische Zeitalter
- Aus Wissenschaft und Verein
- „Wir müssen jetzt massiv in die technologische Aufrüstung investieren“
- Beiträge aus der Forschung zur Wirtschaftspolitik
- Ist eine missionsorientierte Innovationspolitik die bessere Industriepolitik?
- Wettbewerbspolitik und Industriepolitik unter einem Hut
- Im Dickicht der Wasserstoffförderung: wie komplexe Instrumente den Markthochlauf prägen
- Industriepolitik verlangt dem Staat viel ab: Ein organisationsökonomischer Blick auf die Bedeutung von State capacity für industriepolitische Maßnahmen
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- Industriepolitik im Umbruch: Neue Herausforderungen und Perspektiven für Europa und Deutschland
- Beiträge aus der Forschung zur Wirtschaftspolitik
- Pro-kompetitive Industriepolitik für eine erfolgreiche Transformation der Wirtschaft
- Industriepolitik in Europa
- Prinzipien für eine europäische Industrie- und Handelspolitik für das geoökonomische Zeitalter
- Aus Wissenschaft und Verein
- „Wir müssen jetzt massiv in die technologische Aufrüstung investieren“
- Beiträge aus der Forschung zur Wirtschaftspolitik
- Ist eine missionsorientierte Innovationspolitik die bessere Industriepolitik?
- Wettbewerbspolitik und Industriepolitik unter einem Hut
- Im Dickicht der Wasserstoffförderung: wie komplexe Instrumente den Markthochlauf prägen
- Industriepolitik verlangt dem Staat viel ab: Ein organisationsökonomischer Blick auf die Bedeutung von State capacity für industriepolitische Maßnahmen