Zusammenfassung
Industriepolitik verlangt dem Staat nicht nur strategische Ziele, sondern auch organisatorische Umsetzungskraft ab. State capacity, verstanden als Fähigkeit der Verwaltung zur effektiven Implementierung, ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg industriepolitischer Maßnahmen. Aufbauend auf organisationsökonomischen Konzepten argumentieren Philipp Barteska und Florian Englmaier, dass Motivation, klare Verantwortlichkeiten und reduzierte Koordinationskosten die Wirksamkeit des staatlichen Handelns erhöhen können. Ob Industriepolitik erfolgreich ist, wird damit zu einer Frage administrativer Leistungsfähigkeit – und nicht bloß technischer Instrumente.
1 Zwischen Anspruch und Verwirklichung: State capacity als Schlüssel erfolgreicher Industriepolitik
„The nine most terrifying words in the English language are ‚I’m from the government and I’m here to help.‘“ Dieses berühmte Zitat des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan hallt noch immer in vielen Debatten über staatliches Handeln nach. Es spiegelt eine tief verwurzelte Skepsis gegenüber der Effektivität und Effizienz staatlicher Interventionen wider, die zu Beginn der zweiten Amtszeit von Präsident Donald Trump in den Aktivitäten von Elon Musk im neu geschaffenen Department of Government Efficiency (DOGE) gipfelte.
Gleichzeitig sehen wir uns mit epochalen Herausforderungen wie Dekarbonisierung, rasantem technologischem Fortschritt (zum Beispiel künstliche Intelligenz, KI), geopolitischen Risiken und dem Zwang zur raschen Aufrüstung konfrontiert, für deren Bewältigung – so zumindest der sehr breite Konsens – entschiedenes staatliches Handeln zwingend erforderlich ist. Die gegenwärtige Renaissance der Industriepolitik ist im Kontext dieser Herausforderungen zu sehen. Inspiriert von einflussreichen Denkern wie Dani Rodrik, setzt sich die Ansicht durch, dass der Staat eine aktive Rolle in der Gestaltung auch unserer wirtschaftlichen Zukunft spielen muss. In Zeiten solch extremen Wandels ist es deshalb entscheidend zu fragen: Wie können wir sicherstellen, dass der Staat nicht nur die richtigen Ziele verfolgt, sondern auch die administrative Fähigkeit besitzt, sie tatsächlich zu erreichen? Wie schaffen wir es, dass staatliche Eingriffe nicht nur gut gemeint, sondern auch wirksam ausgestaltet sind, damit sie nicht ins Leere laufen, ohne ihre Zielgruppen zu erreichen?
Die spezifische Frage in diesem Beitrag soll nun also auch nicht sein, was der Staat tun soll (dazu gibt es wichtige Argumentationen in den anderen Beiträgen in diesem Sonderheft). Uns interessiert vielmehr, wie er es tun soll, um die anvisierte (Industrie-)Politik effektiv ins Werk zu setzen[1] – und wie man verhindern kann, dass gute industriepolitische Maßnahmen an mangelnder Organisation oder staatlicher Leistungsfähigkeit scheitern. Unsere Kernthese lautet: Die Fähigkeit des Staates, seine Ziele effektiv zu verfolgen, die sogenannte State capacity oder staatliche Leistungsfähigkeit, ist entscheidend für den Erfolg von (Industrie-)Politik, und die organisationsökonomische Forschung kann dabei helfen, diese zu steigern.
Im Folgenden beschreiben wir zunächst, welche Probleme sich bei Gestaltung und Ausführung von Industriepolitik aus der Perspektive der öffentlichen Verwaltung ergeben, insbesondere im Hinblick auf die State capacity. Wir betrachten hier die administrative Kapazität des Staates, also seine Fähigkeit, Programme und Maßnahmen in die Praxis umzusetzen. Wir bauen dabei auf umfangreicher qualitativer Forschung beispielsweise von Evans (1995) auf, der den industriepolitischen Erfolg Südkoreas mit dem Zusammenspiel von institutioneller Autonomie und wirtschaftlicher Einbettung in der Verwaltung erklärt; wir betonen jedoch besonders jene Erkenntnisse, die ein organisationsökonomischer Blickwinkel ermöglicht.
Eng verwandt mit unserem Augenmerk auf State capacity sind die gegenwärtigen Diskussionen bezüglich übermäßiger Bürokratie, gerade in Deutschland, sowie der oft zitierte Wunsch nach Bürokratieabbau. Dieser enge Konnex scheint überraschend, da doch gerade in Deutschland der Blick lange stark von Max Weber (1922/2005) geprägt war, der Bürokratie sehr positiv als durch Rationalität, Effizienz und klare Strukturierung von Zuständigkeiten geprägt sah. Der idealtypische Mix aus Regelgebundenheit, Arbeitsteilung und Spezialisierung betont das enorme Potenzial bürokratischer Regelung: Schutz vor Willkür staatlicher Entscheider, Planungs- und Investitionssicherheit sowie garantierte Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich jedoch mehr und mehr die Überzeugung durchgesetzt, dass ein Übermaß an Bürokratie entstanden ist. Die direkten Bürokratiekosten werden gegenwärtig auf 65 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt, und die geschätzten Kosten durch entgangene Wirtschaftsleistung liegen noch viel höher, bei 146 Milliarden Euro pro Jahr (Falck et al. 2024).[2]
Um die Konzepte State capacity und Bürokratie zusammenzubringen, argumentieren wir, dass man (übermäßige) bürokratische Hürden als Mangel an State capacity interpretieren kann, da sie die administrativen Kosten einer gegebenen Industriepolitik erhöhen und somit einschränken, welche industriepolitischen Maßnahmen möglich sind. Ein gutes (oder vielmehr eben schlechtes) Beispiel sind die Probleme bei der Auszahlung des geplanten Klimageldes, das im Koalitionsvertrag von 2021 als wichtiger Teil der Energiewende angekündigt wurde (SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP 2021). Es sollte einen künftigen Preisanstieg kompensieren und die Akzeptanz des Marktsystems gewährleisten. Weil diese finanzielle Entlastung kurzfristig nicht zu verwirklichen war, fehlte ein wichtiger Aspekt der Reformen, und deren Akzeptanz war untergraben.
Im Koalitionsvertrag von 2025 wird das Ziel des „Investors Staat“ mit „langfristig strategischem Vorgehen“ formuliert und der Rückbau bürokratischer Hürden im Zusammenhang mit Förderregeln prominent erwähnt (CDU, CSU und SPD 2025, S. 8). In unseren Worten wird also das Ziel formuliert, die State capacity bezüglich der Industriepolitik zu erhöhen.[3] Wir hoffen, dass diese sinnvollen Ansätze in die Praxis umgesetzt werden, denn es ist gerade das Zusammenspiel von demokratisch legitimierter industrieller Strategie und deren Verwirklichung durch die Verwaltung, das über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Wir benötigen geeignete Prozesse, Strukturen und Praktiken, aber auch Menschen in der öffentlichen Verwaltung, die motiviert sind und die Möglichkeit haben, etwas zu bewegen. Mehr Vertrauen tut not – nicht nur zu den Bürgern, sondern auch zu den Mitarbeitern in der Verwaltung. Hier spielen Einsichten aus der personalökonomischen Forschung eine wichtige Rolle.
Im zweiten Abschnitt dieses Beitrags setzen wir uns näher mit dem Begriff State capacity auseinander und definieren, was genau wir unter staatlicher Leistungsfähigkeit verstehen. Im dritten Abschnitt beleuchten wir die Relevanz von State capacity für die Verwirklichung komplexer politischer Vorhaben anhand einer Studie von Barteska und Lee (2025) über Südkorea. Im vierten Abschnitt beschäftigen wir uns mit den Herausforderungen bei der Umsetzung von Industriepolitik in die Praxis, bevor wir im fünften Abschnitt organisationsökonomische Ansätze zur Stärkung der staatlichen Leistungsfähigkeit erörtern. Im sechsten Abschnitt beleuchten wir, wie Organisation und Ausführung von Industriepolitik forschend begleitet werden können und sollten, und im siebten Abschnitt fassen wir die wichtigsten Erkenntnisse zusammen und ziehen ein Fazit.
2 Was meinen wir mit State capacity?
In internationalen wirtschaftspolitischen Debatten über Industriepolitik taucht zunehmend der Begriff State capacity oder staatliche Leistungsfähigkeit auf. Gemeint ist damit in der Regel die Fähigkeit des Staates, wirtschaftspolitische Maßnahmen wirksam zu gestalten und auszuführen. Die Forschung unterscheidet dabei zwischen Fiskalkapazität (Fähigkeit, Anteil x des Bruttoinlandsprodukts an Steuern einzunehmen), regulatorischer Kapazität (Fähigkeit, klare Regeln zu erlassen und durchzusetzen) und administrativer Kapazität (Fähigkeit, staatliche Programme in die Praxis umzusetzen). In diesem Beitrag liegt unser Fokus auf der letztgenannten Dimension – also der Frage, was Staaten tatsächlich in der Lage sind zu tun, unabhängig von der Frage, was sie sollen, wollen oder rechtlich dürfen.[4]
Komponenten der State capacity
State capacity |
||
Fiskalkapazität Steuern einnehmen |
regulatorische Kapazität Regeln erlassen Regeln durchsetzen |
administrative Kapazität Programme umsetzen Industriepolitik |
Quelle: eigene Darstellung
Ein einfaches Gedankenexperiment kann dies illustrieren: Wenn die Regierung eine Subvention für Unternehmen gewähren möchte, die in eine bestimmte Zukunftstechnologie investieren, dann hängt die Umsetzbarkeit dieser Maßnahme davon ab, ob geeignete und zügig durchführbare Verfahren existieren, um förderbare Unternehmen zu identifizieren, Mittel rechtzeitig bereitzustellen, Mitnahmeeffekte zu minimieren und gleichzeitig die bürokratische Belastung der Unternehmen überschaubar zu halten. Je höher die organisatorischen und personellen Kosten eines solchen Prozesses sind, desto stärker begrenzen sie die Zahl der Programme, die mit den bestehenden finanziellen und personellen Ressourcen überhaupt realisierbar sind. Alternativ muss der Staat den Umfang oder die inhaltliche Ambition einzelner Maßnahmen drosseln, um die Belastung der Verwaltung im Rahmen zu halten.[5]
State capacity ist somit nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern eine praktische Restriktion, die darüber entscheidet, welche industriepolitischen Maßnahmen überhaupt realistisch sind. In westlichen Demokratien – insbesondere in Deutschland – beobachten wir, dass ambitionierte industriepolitische Programme häufig an administrativen Engpässen scheitern. So wurden in den vergangenen Jahren regelmäßig Milliardenbeträge, die für den Ausbau der Infrastruktur in den Staatshaushalt eingestellt worden waren, nicht abgerufen, da die Planungs- und Genehmigungsverfahren nicht hinreichend schnell durchgeführt werden konnten.
Auf einen wichtigen Verteilungsaspekt sei ebenfalls hingewiesen: Neue Programme sind häufig mit zusätzlichem bürokratischen Aufwand verbunden, der insbesondere kleine und mittlere Unternehmen überfordert und abschreckt – obwohl diese oft zentrale Zielgruppen industriepolitischer Maßnahmen sind. Insgesamt lässt sich feststellen: Industriepolitik scheitert in Deutschland häufig weniger an fehlenden Mitteln als an der Fähigkeit des Staates, seine Maßnahmen effizient auszuführen.
Diese Fähigkeit ist natürlich in den seltensten Fällen komplett vom politischen Willen zu trennen. Dieser bleibt deshalb eine wichtige Determinante, wenn es darum geht, (industrie-)politische Ziele erfolgreich zu verwirklichen. Und hier, beim Thema der politischen Motivation von Maßnahmen, ist noch ein kleiner, aber wichtiger Hinweis angebracht: Staatliche Handlungsfähigkeit wirkt nicht automatisch positiv. Sie kann wirtschaftlichen Wandel ermöglichen – oder, in anderen Kontexten, auch zur Unterdrückung genutzt werden. Ein historisches Beispiel hierfür liefert Heldring (2023), der darlegt, dass dieselbe State capacity, die in der Weimarer Republik zum Schutz jüdischer Bürger bestand, im Nationalsozialismus zu deren Verfolgung genutzt wurde. Die Ambivalenz staatlicher Durchsetzungskraft unterstreicht die Bedeutung einer demokratischen Kontrolle auch mit Blick auf wirtschaftspolitische Maßnahmen. In unserem Beitrag fragen wir scharf umrissen, wie demokratisch legitimierte Industriepolitik wirksam gestaltet werden kann und welche Rolle die Organisation der öffentlichen Verwaltung dabei spielt: als Ermöglicher oder als Bremsklotz.
3 Relevanz von State capacity für die Verwirklichung komplexer politischer Vorhaben
Juhász, Lane und Rodrik (2024) definieren State capacity bezogen auf Industriepolitik als die fiskalischen oder administrativen Kosten eines gegebenen industriepolitischen Instruments. Diese Formulierung legt nahe, dass Staaten mit hoher Kapazität mehr oder ambitioniertere industriepolitische Maßnahmen ausführen können – schlicht weil die Kosten der Ausführung geringer sind. Einfach gesprochen, kann sich eine geringere State capacity direkt darin niederschlagen, dass dasselbe staatliche Programm mehr Arbeitsstunden der relevanten Beamten benötigt.[6]
Auch die administrativen Kapazitätsgrenzen sind im Fall geringer State capacity schneller erreicht: Bei gleichbleibender Personaldecke kann die Verwaltung weniger Kredite, Subventionen oder andere Fördermaßnahmen vergeben. Größerer bürokratischer Aufwand und dementsprechend höhere notwendige Subventionen können bei gleichbleibendem Budget nur das Verhalten einer geringeren Anzahl von Firmen beeinflussen. Bürokratischer Aufwand kann für das gleiche Ergebnis höhere Ausgaben erfordern, wenn die Firmen auch dafür entschädigt werden müssen, dass ihre Mitarbeiter Zeit dafür aufwenden, bürokratische Anforderungen zu erfüllen, oder dass Gutachter- und private Beraterkosten anfallen, wenn sie sich um öffentliche Förderung bemühen.[7] Diese theoretisch klare Definition findet auch empirisch Widerhall: Wohlhabende Länder, die in der Regel über vergleichsweise leistungsfähige Verwaltungen verfügen, setzen häufiger Industriepolitik ein als andere Länder (Juhász et al. 2024).
Man kann State capacity auch als Produktivität des staatlichen Systems in der Bereitstellung öffentlicher Leistungen sehen. Wie im Fall privatwirtschaftlich agierender Organisationen (vulgo Firmen), wird die Produktivität vom eingesetzten Kapital und Humankapital bestimmt sowie von der Produktivität dieser beiden Faktoren. Die Produktivität ergibt sich aus der Qualität der angewandten Strukturen und Prozesse, die Kapital und Humankapital im Produktionsprozess organisieren. Im weiteren Verlauf dieses Beitrags erörtern wir vor allem die Rolle des Humankapitals und dessen Organisation.
Die Bedeutung von State capacity für die Produktivität einer industriepolitischen Maßnahme wird in einer aktuellen Studie von Barteska und Lee (2025) im Kontext von Südkorea besonders deutlich. Südkorea ist ein besonders aufschlussreiches Fallbeispiel für die Analyse des Zusammenhangs von Industriepolitik und wirtschaftlicher Entwicklung. Südkoreas Pro-Kopf-Einkommen ist seit 1962 von 1.100 Euro auf 37.000 Euro gestiegen.[8] Parallel zu diesem enormen Wirtschaftswachstum betrieb der südkoreanische Staat eine sehr aktive Industriepolitik. Die Frage, ob diese Industriepolitik einen wichtigen Grund für Südkoreas Wirtschaftswachstum darstellt, ist unter Ökonomen seit Jahrzehnten umstritten. Lane (2025) zeigt indes in einer aktuellen Studie, dass die Förderung der Schwer- und Chemieindustrie der siebziger Jahre mit Subventionen, Krediten sowie Zollminderungen auf Zwischenprodukte, die in den anvisierten Industrien notwendig waren, nicht nur kurzfristige Effekte auf Produktion und Exportleistung hatte, sondern auch langfristige Verschiebungen der komparativen Vorteile in Richtung der höherwertigen Industrien bewirkte. Diese Entwicklung steht im Einklang mit den klassischen Darstellungen von Amsden (1989), die Südkorea als Paradebeispiel für „spät industrialisierte“ Staaten beschreibt, in denen staatliche Interventionen Industrialisierung und technologischen Aufstieg ermöglichten.[9]
Studien wie diese werfen eine zentrale Frage auf: Wie sehr hängen die Effekte von Industriepolitik von der administrativen Kapazität bei der Ausführung, der Organisation der zuständigen Behörde, kurz: der State capacity ab? Barteska und Lee (2025) liefern systematische empirische Evidenz dafür, dass der Erfolg eines industriepolitischen Programmes stark von State capacity abhängt. Sie analysieren ein groß angelegtes Exportförderungsprogramm, also eine industriepolitische Maßnahme, für die Südkorea eigens eingerichtete Auslandsbüros in 87 Zielländern betrieb, um seinen Unternehmen den Zugang zu ausländischen Märkten zu erleichtern. Diese Büros hatten ein klares Ziel in einem wohldefinierten Verantwortungsbereich: Exporte in das jeweilige Zielland. Die Büroleiter wechselten in einem streng vorgegebenen Turnus alle drei Jahre. Diese institutionelle Struktur erlaubt es den Autoren, bei konstantem Programm und Standort systematisch den Effekt der individuellen Fähigkeit des jeweiligen Büroleiters zu isolieren. Sie quantifizieren so direkt die Bedeutung von individuellen Beamten für die Industriepolitik. Da die unterschiedliche Wirksamkeit der Büroleiter eine unterschiedliche State capacity ausmacht, sind die Ergebnisse auch aufschlussreich für die Bedeutung von State capacity insgesamt.
Das zentrale Ergebnis ist ebenso eindeutig wie ernüchternd: Der positive Effekt der Exportförderung auf südkoreanische Ausfuhren hängt fast vollständig von den Fähigkeiten der zuständigen Beamten ab. Eine größere Fähigkeit des Büroleiters führt zu einer erheblichen Steigerung der Exporte. Dieser Effekt ist so stark, dass er bei niedriger Wirksamkeit des jeweiligen Büroleiters den grundsätzlich sehr positiven Effekt der gesamten Politikmaßnahme zunichtemachen kann. Somit spielt State capacity – konkret die individuelle Wirksamkeit der relevanten Beamten – eine entscheidende Rolle für die Wirksamkeit dieses staatlichen Förderprogramms.
Darüber hinaus lassen sich aus der Studie von Barteska und Lee (2025) weitere organisationsökonomisch relevante Erkenntnisse für das Erreichen einer hohen Staatskapazität ableiten. Die Zuweisung von Verantwortung für einen wohldefinierten Teil einer großen Ergebnisvariable – hier konkret: die koreanischen Exporte in ein bestimmtes Land – an individuelle Büros und Beamte erlaubt wichtige Schlüsse, die wir im Detail in Abschnitt 5 erörtern.
Erstens war die Messung der individuellen Wirkung auf eine zentrale Zielgröße nur durch die klare Verantwortungszuweisung möglich. Diese wurde genutzt, um erfolgreiche Büroleiter zu fördern: Nur wer nicht im unteren Viertel der Exporteffekte lag, erhielt im weiteren Verlauf verantwortungsvollere Posten, was die Effektivität der Industriepolitik abermals steigerte. Zweitens erforderte die geografische Entfernung der Auslandsbüros von der Zentrale zur damaligen Zeit zwangsläufig ein erhöhtes Maß an Autonomie. Eine solche relative Unabhängigkeit ist wichtig für pragmatische Lösungen und Lernfähigkeit – Voraussetzungen, die für erfolgreiche Industriepolitik essenziell sind. Drittens wirkt klare Verantwortung unmittelbar motivierend; für die Büroleiter und ihre Mitarbeitenden wurde der Beitrag ihrer Arbeit sichtbar. Viertens erleichtert eine eindeutige Zuständigkeit die Identifikation und Bearbeitung lösbarer Probleme – jedes Exportförderungsbüro agierte weitgehend eigenständig, weshalb typische Koordinationsprobleme eine geringere Rolle spielten als sonst.
4 Herausforderungen bei der Umsetzung von Industriepolitik
Wie im vorangegangenen Abschnitt argumentiert, ist State capacity – also die Fähigkeit des Staates, industriepolitische Maßnahmen effektiv in die Praxis umzusetzen – eine zentrale Determinante des Erfolgs von Industriepolitik. Doch dieser Begriff bleibt zunächst abstrakt. Um konkrete Handlungsvorschläge zur Stärkung der staatlichen Umsetzungskapazitäten entwickeln zu können, ist es nötig herauszuarbeiten, welche spezifischen Herausforderungen in der Industriepolitik selbst bei wohlartikulierten Zielsetzungen vorliegen.[10] Diese lassen sich in interdependenten Problembereichen systematisieren, die wir im Folgenden abhandeln.
4.1 Erschwerte Erfolgsmessung
Die Ex-post-Evaluation der Effektivität industriepolitischer Maßnahmen stellt eine erhebliche methodische Herausforderung dar. Die kausalen Zusammenhänge zwischen spezifischen Interventionen und beobachteten wirtschaftlichen Ergebnissen zu identifizieren, ist infolge multipler Störfaktoren komplex. Zudem manifestieren sich die positiven oder negativen Effekte industriepolitischer Maßnahmen häufig erst langfristig, was einer zügigen und präzisen Erfolgsmessung hinderlich ist. Dass eine robuste Evidenzbasis fehlt, erschwert das (organisationale) Lernen und kann wiederum in eine ineffiziente Fortführung oder Modifikation der Politik münden.
Im öffentlichen Sektor sind klare, leistungsbasierte Anreizsysteme oft schwer zu verwirklichen. Dieses Problem stellt sich im Kontext von Industriepolitik in besonderer Schärfe, weil hier die Erfolgsmessung oft besonders schwierig ist. Wo belastbare Indikatoren fehlen, ist es schwierig, die Verantwortlichen zu zielgerichtetem Handeln zu motivieren, sei es durch finanzielle Anreize, Beförderungen oder symbolische Anerkennung. In der Folge entstehen entweder gar keine oder verzerrte Anreizstrukturen – mit zwei wichtigen Konsequenzen:
1. Fokussierung auf das Einhalten von Regeln: Wenn Effektivität schwer messbar ist und Erfolg nicht honoriert wird, verlagert sich der Fokus leicht von inhaltlichen Zielen hin zur formalen Einhaltung von Regeln. Im ungünstigsten Fall kann ein Mangel an Anreizstrukturen darüber hinaus dazu führen, dass sich die Beamten vor allem bemühen, ihre eigenen Kompetenzen und Budgets auszuweiten – unabhängig vom tatsächlichen Nutzen für das Gemeinwohl oder das von der Politik definierte Ziel.
2. Diffuse Verantwortlichkeit: Wenn der Erfolg oder Misserfolg einer industriepolitischen Maßnahme nicht klar einzelnen Organisationseinheiten oder Personen zugeschrieben werden kann, sinkt der Anreiz, sich für deren effektive Ausführung einzusetzen. Klassisches Trittbrettfahrerverhalten innerhalb der Verwaltung kann deren Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, insbesondere wenn jeder Beteiligte vor allem darauf bedacht ist, kein Risiko einzugehen, und sich stattdessen darauf zurückzieht, die Vorschriften formal einzuhalten. Weil eine direkte Verbindung zwischen individuellem oder organisatorischem Erfolg und Belohnung fehlt, weil sie sich darauf fokussieren, Regeln einzuhalten, und weil die Verantwortung diffus ist, neigen öffentliche Bedienstete möglicherweise zu einer geringeren Risikobereitschaft, wenn es darum geht, innovative oder sogar unkonventionelle politische Ansätze ins Werk zu setzen, selbst wenn diese potenziell größere Wirkung versprechen.
4.2 Interne Informations- und Koordinationskosten
Neben der erschwerten oder ganz fehlenden Erfolgsmessung steht die öffentliche Verwaltung vor ähnlichen Herausforderungen wie jede andere Organisation, die komplexe Aufgaben bewältigen muss. Diese lassen sich in zwei Gruppen einteilen.
Koordination und Kommunikation: Komplexe industriepolitische Maßnahmen auszuführen, erfordert die Koordination verschiedener Verwaltungseinheiten mit potenziell unterschiedlichen Zuständigkeiten und Perspektiven. Komplexität kann insbesondere dann entstehen, wenn nach dem politischen Beschluss neuer industriepolitischer Instrumente Widersprüche zu bestehenden Regelungen sichtbar werden, die der Gesetzgeber nicht bedacht hatte. Hohe interne Koordinations- und Kommunikationskosten können zu Ineffizienzen, Verzögerungen und einem Verlust an Kohärenz in der Politik führen.
Informationsasymmetrien innerhalb der Verwaltung: Auch innerhalb derselben staatlichen Institutionen bestehen Informationsasymmetrien. Mitarbeiter auf der operativen Ebene verfügen oft über detailliertere Informationen bezüglich der Bedürfnisse der Unternehmen oder der Herausforderungen in spezifischen Sektoren als die politischen Entscheidungsträger oder die Führungsebene der Verwaltung. Diese Informationsvorsprünge können einerseits zu opportunistischem Verhalten führen, vor allem aber zu ineffizienten Entscheidungen – insbesondere wenn keine geeigneten Mechanismen zur Aggregation und Verarbeitung von Informationen vorhanden sind.
4.3 Externe Informations- und Interaktionskosten
In der Logik des staatlichen Handelns liegt es begründet, dass dieses Handeln nicht l‘art pour l’art ist, sondern sich an Akteure außerhalb des Staatsapparats richtet – insbesondere an Bürger und Unternehmen. Die Interaktion mit diesen externen Stakeholdern bringt eigene Herausforderungen mit sich:
Politischer Einfluss und Klientelismus: Die Gefahr, dass politischer Druck oder die Interessen einer spezifischen Klientel die administrativen Entscheidungen beeinflusst, ist im Kontext der Industriepolitik besonders relevant. Wenn es dazu kommt, kann dies mit einer Verzerrung der Ressourcenallokation und einer Bevorzugung von Unternehmen einhergehen, die zwar ineffizient produzieren, aber über gute politische Verbindungen verfügen. Zugleich kann bereits die Sorge vor dem Anschein von Klientelismus die politischen Entscheidungsträger dazu bringen, Regeln zu erlassen, die mit hohem bürokratischen Aufwand und unsicheren Abläufen verbunden sind. Diese wiederum schrecken vor allem kleine und mittlere Unternehmen von der Nutzung staatlicher Programme ab – und mindern so deren tatsächliches Potenzial erheblich.
Externe Interaktionskosten: Die Interaktion der Verwaltung mit Unternehmen verursacht ebenfalls Transaktionskosten für beide Seiten, zum Beispiel in Antrags-, Genehmigungs- und Kontrollverfahren. Umständliche oder intransparente Prozesse können die Akzeptanz und Effektivität der Politik untergraben und insbesondere innovative Unternehmen von der Teilnahme abschrecken.
Aus organisationsökonomischer Sicht hängt die Wirksamkeit staatlicher Industriepolitik daher nicht nur von klaren und wirtschaftlich gut gewählten Zielen sowie ausreichenden Ressourcen ab. Ebenso wichtig sind eine verlässliche Erfolgsmessung, die Gestaltung geeigneter interner Anreizsysteme, eindeutig zugewiesene Verantwortlichkeiten und nicht zuletzt die Reduktion interner wie externer Transaktionskosten.
5 Organisationsökonomische Ansätze zur Stärkung der staatlichen Leistungsfähigkeit
Die bisherigen Abschnitte haben vor Augen geführt, dass eine mangelnde Umsetzungskapazität ein zentrales Hindernis für eine wirksame Industriepolitik darstellt. In diesem Abschnitt erörtern wir nun organisationsökonomisch fundierte Ansätze zur Stärkung der staatlichen Handlungsfähigkeit in der Verwaltungspraxis.
5.1 Fachwissen durch Erfahrung: lernende Verwaltung ermöglichen
Industriepolitik erfordert die Anwendung von spezifischem, kontextbezogenem Wissen durch die Verwaltung. Dazu ist es zunächst einmal notwendig, Beamte mit hohen Problemlösungsfähigkeiten einzustellen, entweder mit relevantem Bildungshintergrund oder praktischer Erfahrung in wirtschaftsnahen Bereichen. Diese Praxiserfahrung, die sich auch durch Arbeit in der staatlichen Wirtschaftspolitik erwerben lässt, ist essenziell. Welche Firmen zur Förderung geeignet sind, wie die Programme zugeschnitten werden müssen und wo Umsetzungshindernisse entstehen – all das lässt sich nicht rein abstrakt, sondern nur durch Erfahrung und Nähe zur Praxis beurteilen. Wie Hirschman (1958) betont, ist eine solche Problemlösungskompetenz häufig nicht ex ante vorhanden, sondern entsteht erst durch die Auseinandersetzung mit konkreten Herausforderungen. Verwaltung lernt durch Tun – vorausgesetzt, sie wird dazu befähigt.
Eine solche Befähigung setzt voraus, dass die Ziele des staatlichen Handelns klar definiert und dann anschließend überprüfbar gemacht werden. Die systematische Erfassung und Messung von Ergebnissen ermöglicht es, interne Kontrollmechanismen zu stärken – mit dem Ziel, opportunistisches Verhalten zu begrenzen und sicherzustellen, dass die Ausführung industriepolitischer Maßnahmen im Einklang mit übergeordneten Zielen erfolgt. Dabei bedarf es wirksamer und sinnvoller Kontrollmechanismen – und eben nicht solcher, die nur weitere bürokratische Hindernisse errichten („red tape“) oder sich in einem bloßen Abhaken formaler Vorgaben ohne inhaltliche Substanz erschöpfen („box ticking“).
Wir möchten zudem betonen, dass eine saubere Messung von Maßnahmen und Ergebnissen die Grundlage für eine qualifizierte Evaluation von Politik ist und dass Forscher:innen hervorragende und wichtige Begleiter in diesen Evaluationsprozessen sein können. Historische Fallstudien zur Industriepolitik, beispielsweise in Ostasien, zu großen öffentlichen Innovationsprogrammen wie den amerikanischen Raumfahrtprogrammen oder zu den Ansätzen des japanischen Ministeriums für Internationalen Handel und Industrie (MITI) – liefern eine Vielzahl von Ideen, wie Industriepolitik erfolgreich sein kann. Doch so reichhaltig diese Studien sind, so schwer ist es oft, aus ihnen klare Kausalbeziehungen abzuleiten: Welche institutionellen Designs oder administrativen Mechanismen haben welche Effekte genau erzeugt? Viele der zugrunde liegenden Argumente sind schlicht nicht testbar oder bleiben auf der Ebene plausibler Narrative.
Auch die Arbeiten von Evans (1995) und Mazzucato (2013, 2022) sind in dieser Hinsicht instruktiv. Sie liefern starke Konzepte wie „Embedded autonomy“ (Evans 1995, dazu mehr in Abschnitt 6) und „missionsorientierter Staat“ (Mazzucato 2013, 2022). Letzteres beschreibt Staaten, die ambitionierte, messbare Ziele setzen, um gesellschaftliche Herausforderungen wie den Klimawandel zu bewältigen. Die Arbeiten lassen jedoch offen, welcher konkreten administrativen Bedingungen es für den Umsetzungserfolg bedarf. Oft fehlen auch empirische Belege. Manche der zugrunde liegenden Argumente sind nicht einmal falsifizierbar, also prinzipiell untestbar. Die moderne wirtschaftswissenschaftliche Forschung hat hier einen entscheidenden Vorteil: Sie kann zentrale Elemente dieser Konzepte isolieren, experimentell variieren und gemeinsam mit Verwaltungen auf ihre Wirksamkeit hin testen.
Eine weitere wichtige Determinante für die Lernfähigkeit von Organisationen ist die Organisationskultur. Insbesondere das Konzept der psychologischen Sicherheit (Edmondson 1999) erfährt in der wissenschaftlichen Literatur zu Management und Führung von Organisationen viel Aufmerksamkeit, insbesondere seit das Project Aristotle von Google[11] darin die zentrale Determinante für Team-Produktivität ausgemacht hat. Von psychologischer Sicherheit spricht man, wenn Individuen sich sicher fühlen, in der Gruppe Fragen, Ideen, Sorgen und Fehler ansprechen zu können, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.
Castro, Englmaier und Guadalupe (2024) zeigen, wie man diese psychologische Sicherheit mit einfachen Maßnahmen verbessern kann. Die Studie, die in Kooperation mit einem global tätigen Pharmaunternehmen durchgeführt wurde, zeigt die zentrale Rolle der mittleren Führungsebene für die Organisationskultur. Eine simple Intervention per E-Mail – Führungskräfte erhielten Hinweise für strukturierte Einzelgespräche – steigerte die psychologische Sicherheit der Mitarbeiter signifikant. Die Studie belegt auch, dass die psychologische Sicherheit positiv mit Team-Performance zusammenhängt und dass Teams, die hier besser abschneiden, eine geringere Personalfluktuation aufweisen und innovativere Ansätze zur Problemlösung verfolgen. Das öffnet das Tor zum großen Thema Management im öffentlichen Sektor.[12]
Zwar wird über das sogenannte neue Steuerungsmodell, die deutsche Version des britischen New public management, schon seit Jahrzehnten in Deutschland diskutiert, es ist jedoch weitgehend gescheitert (Kuhlmann 2024). Englmaier et al. (2022) haben eine groß angelegte Befragung der deutschen Gemeindeverwaltungen durchgeführt und zeigen auf Basis einer repräsentativen Stichprobe von 600 Gemeinden, die etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung abdecken, dass in mehr als zwei Dritteln der Gemeinden keinerlei Ziele definiert sowie kaum Leistungskennzahlen (KPIs) systematisch erfasst und zur Steuerung herangezogen werden. Dabei hat eine Welle der ökonomischen Managementliteratur (vgl. unter anderem Bloom et al. 2014) eindrucksvoll dokumentiert, dass strukturierte Managementmethoden (Ziele formulieren, Kennzahlen erheben, Lernen ermöglichen) die Produktivität von Unternehmen steigern – und dass sich diese auch im öffentlichen Sektor erfolgreich anwenden lassen. Zum Beispiel zeigen Englmaier et al. (2022), dass Gemeinden, die stärker auf Methoden des strukturierten Managements setzen, nach einer ganzen Reihe von Indikatoren erfolgreicher sind als andere, zum Beispiel im Hinblick auf ihre finanzielle Situation, das Steueraufkommen, die Attraktivität für Fachkräfte oder den Breitbandausbau.
5.2 Motivation durch Wirkung: Verantwortung ist Trumpf
Ein wichtiger Aspekt dieser strukturierten Managementmethoden bezieht sich auf ein modernes Personalmanagement und insbesondere darauf, wie man Mitarbeiter motivieren kann. Ein erster Ansatz liegt in der Stärkung leistungsorientierter Anreize. Die Effektivität kann zunehmen, wenn es Mechanismen zur Messung und Bewertung der Leistung von Verwaltungseinheiten und Mitarbeitern im Zusammenhang mit industriepolitischen Zielen gibt und wenn man diese Leistung mit Anreizen (sowohl monetärer als auch nicht-monetärer Natur) verknüpft.[13] Allerdings legen sowohl dienstrechtliche Schranken als auch Kontrahierungs- und Informationsprobleme diesem Ansatz engere Grenzen auf, als dies in vielen privatwirtschaftlichen Kontexten der Fall ist. Wir nehmen dies als gegeben hin und fokussieren uns stärker auf andere, aus ökonomischer Sicht „weichere“ Ansätze zur Mitarbeitermotivation.
Hier liefert wieder die südkoreanische Exportförderung ein instruktives Beispiel: Die Leiter der jeweiligen Auslandsbüros verfügten über klar abgegrenzte Zuständigkeiten – mit sichtbarem Einfluss auf zentrale Zielgrößen wie die Exportvolumina. Diese Konstellation machte den eigenen Beitrag messbar und verstärkte das Gefühl der Mitarbeiter, mit ihrer eigenen Arbeit tatsächlich etwas zu bewirken. Wie Prendergast (2025) argumentiert, sind solche Wahrnehmungen entscheidend für die Motivation in Organisationen mit sozialen Zielen – besonders in Kontexten, in denen finanzielle Anreize nur begrenzt wirken. Dieses Modell lässt sich auch auf den öffentlichen Dienst übertragen.
Politiker und ranghohe Verwaltungsmitarbeitende delegieren allerdings ungern operative Entscheidungskompetenz – aus Sorge vor Kontrollverlust oder politischer Verantwortung. Bandiera et al. (2021) zeigen jedoch, dass der vielzitierte Satz „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ nicht universell gilt. In ihrer Studie im öffentlichen Beschaffungswesen in Pakistan – einem Bereich, in dem man vermuten könnte, dass enge Kontrolle mit geringen Kosten einhergeht – finden sie, dass eine stärkere Delegation von Entscheidungskompetenz zu besseren Ergebnissen führt. Wenn selbst in einem vergleichsweise regelgebundenen Kontext wie dem öffentlichen Beschaffungswesen Spielräume produktiv genutzt werden, dann sollte das umso mehr für Bereiche wie die Industriepolitik gelten, in denen kontextabhängiges Wissen, institutionelles Lernen und kreative Lösungsansätze eine zentrale Rolle spielen.
In Deutschland haben sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag von 2025 (CDU, CSU und SPD 2025, S. 43) ausdrücklich zu dem Ziel bekannt, den öffentlichen Dienst attraktiver zu machen – beispielsweise mittels flexiblerer Arbeitszeitmodelle, Teilzeitführung und mehr Diversität. Diese Vorschläge zielen vor allem auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Was jedoch fehlt, ist ein Verständnis von Verwaltung als Ort, an dem Menschen wirken wollen, weil sie dort etwas bewegen können. Gerade eine Regierung, die sich auf Missionsorientierung beruft (CDU, CSU und SPD 2025, S. 57), sollte danach streben, für den öffentlichen Dienst Personen anzusprechen und zu gewinnen, die nicht nur Sicherheit, sondern Sinn und Verantwortung suchen.[14] Ein öffentlicher Dienst, der seinen Mitarbeitenden sicht- und spürbar ermöglicht, „einen Unterschied zu machen“, zieht andere und in wichtigen Dimensionen (sozio-ökonomischer Hintergrund, Ausbildung) diversere Talente an, als wenn er sich vor allem über die jeweilige Work-Life-Balance definiert.
5.3 Klare Zuständigkeit: Struktur schafft Handlungsspielraum
Wenn man Motivation durch Wirksamkeit erzielen will, gilt es Verantwortlichkeiten und Eigentumsrechte klar zu definieren: Die Zuweisung eindeutig abgegrenzter Verantwortlichkeiten für spezifische Politikbereiche und -ergebnisse innerhalb der Verwaltung kann die Rechenschaftspflicht stärken und Trittbrettfahrerverhalten eindämmen.
Ein zentrales Hindernis für die effektive Ausführung industriepolitischer Maßnahmen liegt darin, dass Zuständigkeiten entlang klassischer Ressortgrenzen zersplittert sind. Die deutschen Regierungsparteien haben dieses Problem in ihrem Koalitionsvertrag von 2025 ausdrücklich anerkannt und fordern: „Wir werden Silodenken überwinden und das Ressortprinzip in unserer Zusammenarbeit neu interpretieren. Wir arbeiten durch Missionsorientierung in ressortübergreifenden Strategien und Aufgaben und folgen dem ‚Whole of Government-Ansatz‘“ (CDU, CSU und SPD 2025, S. 57). Diese programmatische Aussage markiert einen Fortschritt im politischen Problembewusstsein, der besonders Ideen von Mazzucato (2013) aufgreift. Sie verweist auf groß angelegte staatliche Missionen wie das Manhattan Project, DARPA und das Apollo-Programm, in denen der Staat eine zentrale Rolle als aktiver Akteur einnahm, der langfristige, ambitionierte Ziele setzte, Risiken einging und durch enge Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen sowie koordinierte Zusammenarbeit über Ressortgrenzen hinweg einen tiefgreifenden, transformativen Wandel förderte. Die Ausrichtung weiter Teile des südkoreanischen Staats auf die Erhöhung von Exporten als Mission stellt ein weiteres Beispiel dar, wie das konsequente Ausrichten staatlicher Ressourcen auf ein strategisches Ziel transformative Wirkung entfalten kann.
In der Praxis bleibt jedoch offen, wie diese neue Form der Zusammenarbeit konkret auszugestalten ist und welche institutionellen Strukturen sie tragen sollen. Die Erfahrungen mit der Bündelung von Zuständigkeiten im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) in der vorherigen Legislaturperiode sind in dieser Hinsicht ambivalent: Einerseits schuf das BMWK, indem es Energie- und Industriepolitik zusammenführte, neue Chancen für eine kohärente Steuerung. Andererseits zeigten sich erhebliche Reibungsverluste und Abgrenzungskonflikte gegenüber anderen Ministerien, nicht zuletzt mit Blick auf die Zuständigkeiten für Infrastruktur, Finanzen und Umwelt. Die anschließende Rückabwicklung mag größtenteils politische Gründe haben, aber diese organisatorische Rückkehr zum Status quo unterstreicht, dass sich eine effektive ressortübergreifende Koordination nicht allein auf dem Weg einer formalen Umstrukturierung erreichen lässt.
Klare Verantwortungsbereiche sind auch für die Evaluation staatlicher Maßnahmen wichtig. Der Normalfall dessen, wie staatliche Politik in die Praxis umgesetzt wird, ist durch eine Vielzahl voneinander abhängiger Prozesse und Akteure geprägt: Gesetzgebung, Ressortabstimmung, Mittelbereitstellung, Verwaltungsvollzug auf verschiedenen Ebenen – all dies muss zusammenwirken, damit eine Maßnahme Wirkung entfalten kann. Diese Komplementarität ähnelt einer O-Ring-Produktionsstruktur, bei welcher der Erfolg eines Projekts maßgeblich vom schwächsten Glied abhängt: Versagt ein Teilprozess, so scheitert oft das Ganze.
Vor diesem Hintergrund erscheint das südkoreanische Exportförderungsprogramm, wie es Barteska und Lee (2025) analysieren, als institutionelle Ausnahme mit bemerkenswerten Vorteilen: Die Zielgröße war klar definiert und der Verantwortungsbereich des einzelnen Beamten umfasste alle Maßnahmen zur Unterstützung koreanischer Exporteure im jeweiligen Zielland. Diese Art der Verantwortungszuweisung hat den organisationsökonomischen Vorteil, dass die individuelle Leistung damit kausal identifizierbar war. Dies kann motivierend wirken und erlaubt es, Leistung systematisch zu bewerten und von Erfolgen zu lernen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse ist es nicht nur möglich, erfolgreichen Mitarbeitern wichtigere Aufgaben zuzuweisen, sondern auch deren Best practices als Fallbeispiele für andere zu nutzen. Darüber hinaus reduziert eine klare Verantwortungszuweisung die Transaktionskosten, denen wir uns im Folgenden zuwenden, und erleichtert pragmatische Lösungsansätze im Sinne kleiner, gangbarer Reformschritte (Abschnitt 5.5).
5.4 Von bürokratischer Last zu ergebnisorientierter Politikgestaltung
Wenn Prozesse einfacher und transparenter werden, und wenn Verwaltung und Unternehmen digital interagieren können, dann kann dies die externen Transaktionskosten drosseln und die Akzeptanz von Politik erhöhen. Verwaltungsintern können eine verbesserte Kommunikation und Koordination durch klare Strukturen und Prozesse die Effizienz steigern. Wichtige Schritte auf diesem Weg bestehen darin, die Verwaltung stärker ergebnis- und weniger verfahrensorientiert aufzustellen, eine Kultur des Vertrauens zu den Normadressaten zu pflegen und das Setzen und Ausführen von Normen aufeinander abzustimmen.
Trotz allem verbleibt eine – für die Politik – unbequeme Wahrheit. Vermeintlich harmlose, weil (scheinbar) wenig invasive Verfahrens- und Dokumentationspflichten werden häufig dann als Regulierungsinstrumente gewählt, wenn es den politischen Entscheidungsträgern nicht gelungen ist, sich auf inhaltliche Anforderungen zu verständigen. Hinter der bürokratischen Last steht dann ein ungelöster inhaltlicher Konflikt. Ein Beispiel hierfür ist das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, welches die unternehmerische Verantwortung für die Einhaltung von Menschenrechten in globalen Lieferketten regelt. Es sollte die Spannung zwischen globalen Wirtschaftsinteressen, der Notwendigkeit, wettbewerbsfähig zu bleiben, und der Verantwortung für soziale und ökologische Standards entlang komplexer internationaler Lieferketten auflösen. Eine detaillierte inhaltliche Vorgabe, welche Arbeitsbedingungen und Umweltschutzmaßnahmen in jeder einzelnen Fabrik oder auf jeder Plantage in aller Welt einzuhalten sind, wäre schlichtweg unmöglich zu formulieren und zu kontrollieren. Anstatt inhaltlich ins Detail zu gehen, wurde daher ein Gesetz geschaffen, das den Unternehmen umfangreiche Verfahrens- und Dokumentationspflichten auferlegt, mit denen sie ihre Sorgfaltspflichten erfüllen.
Aus ökonomischer Sicht ist der Zielkonflikt zwischen geringen Bürokratiekosten einerseits und der Vermeidung von Mitnahmeeffekten oder der Abbildung relevanter Anwendungsbedingungen („contingencies“) andererseits eindeutig. In der politischen Praxis und juristischen Ausgestaltung von Verfahren wird dieser Tradeoff jedoch häufig ausgeblendet, sei es aus Bequemlichkeit, aus Angst vor Kontrollverlust oder schlicht aus Gewohnheit. Unser zentraler Vorschlag ist daher, diese Zielkonflikte systematisch sichtbar und es damit schwerer zu machen, sie politisch zu ignorieren. Ein praktikabler Mechanismus könnten automatische Bearbeitungsfristen sein, beispielsweise in Form eines „stillen Genehmigungsmechanismus“: Wenn ein Antrag nach Ablauf einer bestimmten Frist nicht bearbeitet worden ist, gilt er als genehmigt. Solche Zeitlimits sollten nicht als Druckmittel gegen die Verwaltung verstanden werden, sondern als Realitätscheck aus Sicht der Zielgruppe: Wenn ein Verfahren länger als beispielsweise sechs Monate dauert, kann dies für viele Unternehmen erhebliche Kosten bedeuten und dazu führen, dass sie sich gar nicht erst bewerben. Systematisch eingeführt, würden solche automatischen Bearbeitungsfristen die impliziten Kosten regulatorischer Komplexität offenlegen – für die Verwaltung ebenso wie für die politisch Verantwortlichen und die juristischen Gestalter. Sie könnten damit zu einem bewussteren und schlankeren Regelungsdesign beitragen.
Es könnte außerdem hilfreich sein, die deutsche Verwaltung stärker in die Wirtschaft einzubetten oder die bestehende Einbettung durch einen Dialog mit den Unternehmen besser zu nutzen, in dem maßnahmen- und branchenspezifisch sinnvolle Fristen definiert werden – Fristen, die letztlich über die Umsetzbarkeit der Programme entscheiden. Die gemeinsame Definition solcher Fristen hätte einen weiteren Vorteil: Sie würde offenlegen, welche industriepolitischen Maßnahmen so komplex sind, dass Verwaltung und Firmen sich nicht auf praktikable Fristen einigen können. In solchen Fällen wäre es möglicherweise die bessere Option, auf das Instrument zu verzichten.
5.5 Kleine konkrete Lösungen statt großer Rhetorik: was wirklich funktioniert
Ein Hindernis für Reformen im Verwaltungsbereich ist oft nicht das Fehlen von Ideen, sondern die Vorstellung, dass echte Veränderung nur als umfassender Systemwandel gelingen kann. Gerade in der politischen Debatte dominiert häufig das „Ganz-oder-gar-nicht“-Prinzip: entweder vollständige Neuaufstellung – oder Stillstand. Dieses Prinzip führt dazu, dass viele potenziell wirkungsvolle Verbesserungen gar nicht erst angegangen werden, weil sie zu klein erscheinen oder nicht „alles lösen“. Dabei wird übersehen, dass Veränderung auch im Kleinen möglich ist, insbesondere dort, wo konkrete Umsetzungsprobleme bestehen und lokale Handlungsspielräume existieren oder geschaffen werden können. Gerade in komplexen Systemen können kleine Maßnahmen wirksamer sein als ambitioniertere Reformpläne, die dann in politischen und administrativen Abstimmungsprozessen steckenbleiben.
Diese Einsicht bestätigt sich auch empirisch: Fornasari et al. (2023) zeigen, dass Interventionen, die auf kleine konkrete Lösungen zielen, deutlich erfolgreicher sein können als Lösungsansätze, die einen Systemwandel herbeiführen sollen. In einem groß angelegten Trainingsprogramm für Verwaltungsmitarbeitende fanden sie heraus, dass Schulungen auf individueller Ebene – die einzelne Beamte darin trainierten, Probleme in konkrete, handhabbare Teilschritte zu zerlegen und diese proaktiv mit Kolleginnen und Kollegen zu besprechen – deutlich wirkungsvoller waren als Trainings auf Abteilungsebene, bei denen ganze Einheiten gemeinsam geschult wurden.
Diese Ergebnisse widersprechen nicht nur theoretischen Annahmen, sondern auch dem, was man gemeinhin erwarten würde. Viele klassische Ansätze zum Wandel in Organisationen, beispielsweise das Konzept kultureller Kipppunkte, gehen davon aus, dass ein größerer Anteil geschulter Personen zu stärkeren Effekten führt oder sogar Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt ein positiver Effekt eintritt. Doch im Fall der Trainings für ganze Abteilungen zeigte sich das Gegenteil. Der Grund: Die kollektiven Interventionen führten häufig zu ambitionierten, das ganze System erfassenden Lösungsvorschlägen, deren Anwendung jedoch nicht in der Hand der Beteiligten lag. Solche Ansätze sind besonders fehleranfällig, weil sie Charakteristika von O-Ring-Produktionsfunktionen aufweisen: Sie erfordern das reibungslose Zusammenspiel vieler anderer Organisationseinheiten, Ministerien oder Ebenen – und scheitern mit hoher Wahrscheinlichkeit, sobald ein Glied der Kette nicht mitzieht. Zudem verringern sie das Gefühl individueller Verantwortung: „Wir warten ja noch auf Ministerium X.“ Schließlich sind systemorientierte Lösungen auch deshalb anspruchsvoll, weil sie erheblichen Koordinationsaufwand erzeugen – was nicht nur Zeit kostet, sondern auch politisches Kapital der Beteiligten in Anspruch nimmt.[15]
Im Gegensatz dazu führten die individuell angelegten Trainings zu realistischen, umsetzbaren Initiativen, die innerhalb des eigenen Handlungsspielraums der geschulten Personen lagen, mit klarer Verantwortlichkeit und höherer Erfolgschance. Für die Industriepolitik bedeutet das: Statt auf große Strukturreformen zu hoffen, die das ganze System transformieren, sollte man verantwortliche Personen vor Ort mit realen Umsetzungsspielräumen und lösungsorientierten Impulsen ausstatten. Ein solcher Ansatz ist nicht nur effektiver, sondern auch deutlich robuster gegenüber institutioneller Komplexität.
6 Mit Forschung begleiten
Wenn die Industriepolitik mehr sein soll als ein Wunschzettel ambitionierter Ziele, dann muss sie auch organisatorisch zu verwirklichen sein. Die Herausforderungen, die wir skizziert haben, deuten darauf hin, dass Fragen der praktischen Ausführung der Industriepolitik – und damit der Organisation staatlichen Handelns – im Zentrum künftiger Forschung stehen sollten. Ein Beispiel für einen solchen Forschungsansatz ist das Projekt „Beamten-Firmen-Beziehungen und der Erfolg von Arbeitsmarktpolitik“, in dem Barteska, Sen und Wu (o. J.) die Rolle persönlicher Interaktion zwischen Verwaltung und Unternehmen für die Wirksamkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen untersuchen.[16] Der zugrunde liegende Gedanke ist einfach: Gute Politik braucht nicht nur Mittel und Ziele, sondern auch geeignete Mechanismen, um relevante Informationen aus der Wirtschaft zu erfassen – und um Vertrauen aufzubauen. Dieses Prinzip lässt sich ohne Weiteres auf viele Facetten industriepolitischer Maßnahmen übertragen.
Die konzeptionelle Grundlage dafür stammt von Evans (1995). Er erklärt den industriepolitischen Erfolg der südkoreanischen Verwaltung im Bereich der technologischen Entwicklung mit dem Zusammenspiel von institutioneller Autonomie und tiefer Einbettung in wirtschaftliche Strukturen – ein Prinzip, das er wie erwähnt als Embedded autonomy bezeichnet. Diese institutionelle Konstellation habe es der Verwaltung ermöglicht, Industriepolitik deutlich informierter und wirksamer zu gestalten als beispielsweise in Indien oder Brasilien. Evans argumentiert, dass gerade diese institutionelle Organisation des Beamtentums wesentlich zum Erfolg Südkoreas in der Industriepolitik zur Förderung der Informationstechnologie beitrug.
In ihrer laufenden Forschung prüfen Barteska, Sen und Wu im Rahmen eines groß angelegten Feldexperiments in Äthiopien, ob und wie persönliche Interaktion zwischen lokalen Beamten und Unternehmen – also eine Form von Einbettung – die Effektivität wirtschaftspolitischer Maßnahmen erhöht. Diese Forschung ist nicht nur theoretisch anschlussfähig an Evans (1995) und Mazzucato (2013, 2022), sondern auch praktisch umsetzbar, mit direkten Effekten, da sie konkrete institutionelle Hebel identifiziert und somit helfen kann, die Praxis der Industriepolitik evidenzbasiert weiterzuentwickeln.
In Deutschland wäre es wünschenswert, dass die ehrgeizigen industriepolitischen und -strategischen Vorhaben des jüngsten Koalitionsvertrags ebenfalls von der Forschung begleitet würden, gerade auch mit organisationsökonomischem Schwerpunkt. Eine solche Begleitung kann mit der frühen Identifizierung potenzieller Probleme in der Ausführung helfen. Es gibt eine junge, aber hochqualitative Tradition der Forschung in diesem Bereich, vor allem motiviert durch Fragen der Entwicklungsökonomik, die dokumentiert, dass sie wichtige Beiträge zu Design und Auswahl industriepolitischer Maßnahmen leisten kann. Insbesondere im deutschsprachigen Raum und in der EU gibt es hier noch Luft nach oben. Dabei wäre es besonders wünschenswert, systematisch zu untersuchen, welche institutionellen Designs, Organisationsformen und Anreizsysteme Industriepolitik wirksam machen – und welche nicht. Solche Forschung kann nur im engen Dialog mit der Verwaltung gelingen. Für Mitarbeiter in Ministerien auf Bundes- und Landesebene ergibt sich daraus ebenfalls eine Chance: die Gelegenheit, durch ihre Kooperation mit der empirischen Forschung zur lernenden und evidenzbasierten Politikgestaltung beizutragen.
7 Fazit: Staatliche Organisation entscheidet über den Erfolg von Industriepolitik
Die Industriepolitik hat in den vergangenen Jahren eine Renaissance erlebt, und dies aus gutem Grund. Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen, die aktives staatliches Handeln erfordern. Der Klimawandel und die zunehmenden schweren geopolitischen Verwerfungen sind hier nur zwei Beispiele. Angesichts der Vielzahl an Aufgaben geht es nicht mehr nur darum, was der Staat tun soll, sondern auch darum, wie er es am besten macht. Hierbei rückt die organisationsökonomische Perspektive immer stärker in den Vordergrund, wenn es darum geht, den Staat leistungsfähiger zu machen.
Ein wichtiges Themenfeld, das in der öffentlichen Diskussion oft eine zentrale Rolle spielt, haben wir hier bislang ausgeklammert: KI. Sie bietet zwar erhebliche Potenziale zur Effizienzsteigerung, ihre Anwendung ist jedoch kein Allheilmittel zur Lösung aller bürokratischen Probleme. Ein wesentlicher Punkt hier ist die inhärente Komplexität von Bürokratie. Der überwiegende Teil der Belastung der Unternehmen durch Bürokratie entsteht nicht beim Ausfüllen von Formularen oder beim Abhaken von Checklisten, sondern bei der mühsamen Entscheidung, welche Antworten auf welche Fragen man rechtssicher geben kann. Das kann auch die Digitalisierung den Betroffenen nicht abnehmen. KI kann zwar bei der Bearbeitung von Formularen oder bei der Automatisierung von Standardprozessen helfen; die komplexe juristische Entscheidungsfindung erfordert jedoch auf absehbare Zeit weiterhin menschliche Expertise. Digitalisierung und KI werden trotzdem den Umgang mit der staatlichen Verwaltung in Zukunft maßgeblich bestimmen. Aber auch hier gilt, dass die Geschwindigkeit, mit der die KI das staatliche Handeln in Zukunft unterstützt, inzwischen weniger von der verfügbaren Technologie abhängt als von der organisatorischen Anpassungsfähigkeit des Staatsapparats.
Ein wichtiger Kritikpunkt gegen den Einsatz von KI in der Verwaltung ist der Verweis auf Fehler, die sie bei Entscheidungen verursacht und die dann mit entsprechend höherem Aufwand auf dem Weg über juristische Klagen geklärt werden müssen.[17] Diesem Argument liegt unterschwellig die Vorstellung zugrunde, dass im Status quo, bei menschlichen langsamen Entscheidungen mit hohem bürokratischem Aufwand, keine oder zumindest viel weniger Fehler auftreten. Die hohe Belastung der Gerichte mit Verwaltungsklagen im Status quo zieht dies zumindest in Zweifel. Die Anwendung von KI wird sich mit steigender Modellreife zu komplexeren Einzelfallentscheidungen hin ausweiten. Dies bestätigt die Dringlichkeit organisatorischer Reformen. Wir halten eine „kooperative ergebnisorientierte Bürokratie“ für notwendig. Dies beinhaltet eine engere Zusammenarbeit zwischen Gesetzgebung und Verwaltungspraxis, eine neue Fehlerkultur und eine stärkere Betonung von Verantwortungsbewusstsein – Aspekte, die über den reinen Einsatz von Technologie hinausgehen.
Abschließend lässt sich aus unserer Sicht festhalten: Die Frage, wie der Staat seine Aufgaben wahrnimmt, ist genauso wichtig wie die Frage, welche Aufgaben er übernehmen soll. Eine organisationsökonomische Herangehensweise, die erlaubt, die internen Abläufe und Anreizstrukturen der Verwaltung in den Blick zu nehmen, ist unerlässlich, um den Staat leistungsfähiger zu machen und die Herausforderungen unserer Zeit erfolgreich zu bewältigen. Forschung in enger Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen kann wesentlich dazu beitragen, praxisnahe Lösungen zu entwickeln, Verwaltungsprozesse zu verbessern und letztlich die Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen im Sinne des Gemeinwohls zu erhöhen.
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Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- Industriepolitik im Umbruch: Neue Herausforderungen und Perspektiven für Europa und Deutschland
- Beiträge aus der Forschung zur Wirtschaftspolitik
- Pro-kompetitive Industriepolitik für eine erfolgreiche Transformation der Wirtschaft
- Industriepolitik in Europa
- Prinzipien für eine europäische Industrie- und Handelspolitik für das geoökonomische Zeitalter
- Aus Wissenschaft und Verein
- „Wir müssen jetzt massiv in die technologische Aufrüstung investieren“
- Beiträge aus der Forschung zur Wirtschaftspolitik
- Ist eine missionsorientierte Innovationspolitik die bessere Industriepolitik?
- Wettbewerbspolitik und Industriepolitik unter einem Hut
- Im Dickicht der Wasserstoffförderung: wie komplexe Instrumente den Markthochlauf prägen
- Industriepolitik verlangt dem Staat viel ab: Ein organisationsökonomischer Blick auf die Bedeutung von State capacity für industriepolitische Maßnahmen
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- Beiträge aus der Forschung zur Wirtschaftspolitik
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- Industriepolitik verlangt dem Staat viel ab: Ein organisationsökonomischer Blick auf die Bedeutung von State capacity für industriepolitische Maßnahmen