PWP: Herr Professor Ossa, der amerikanische Präsident Donald Trump hat ein Lieblingswort: Zölle. Gleich in seinen ersten Tagen im Amt hat er eine Flut neuer Zölle angekündigt und viel Unsicherheit gesät. Machen Sie sich Sorgen um den Welthandel und die Globalisierung?
Ossa: Ich kann nicht behaupten, dass ich mir keine Sorgen mache. Aber man muss schon auch sehen, wo wir stehen. Mehr als 80 Prozent des Welthandels laufen unter WTO-Regeln.[1] Mehr als 80 Prozent! Und wir sehen auch noch keine Deglobalisierung. Das Verhältnis des Welthandels zum globalen Bruttosozialprodukt ist zwar seit der Finanzkrise 2008/2009 nicht mehr groß gewachsen, aber es ist ziemlich stabil. Und der internationale Handel mit Dienstleistungen floriert. Im dritten Quartal 2024 lag das Volumen 10 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Der Welthandel ist also noch resilient – noch.
PWP: Noch?
Ossa: Ich glaube schon, dass wir jetzt in einer kritischen Phase sind. Es ist ja kein Naturgesetz, dass es mit der wirtschaftlichen Verflechtung der Welt immer weiter aufwärts gehen muss. Wir haben in der Geschichte gesehen, insbesondere in den dreißiger Jahren, dass sich der Trend zur Globalisierung durchaus wieder umkehren kann.
PWP: Sie verweisen hier auf den amerikanischen Smoot-Hawley Tariff Act von 1930, nicht wahr? Gleich zu Beginn der Weltwirtschaftskrise hob er die Zölle der Vereinigten Staaten auf Rekordniveau an, um die heimische Wirtschaft zu schützen. Woraufhin auch andere Staaten ihre Einfuhrzölle erhöhten, der Welthandel dramatisch einbrach und sich die Weltwirtschaftskrise erst recht verschärfte.
Ossa: Ja. Da sind wir jetzt noch nicht, aber wie es weitergeht, wissen wir nicht. Die nächsten Jahre werden es zeigen.
PWP: Es hängt viel an der Geopolitik.
Ossa: Die Geopolitik ist eindeutig extrem wichtig. Auch wenn wir wie gesagt bisher noch keine Deglobalisierung erleben, sehen wir in den Daten durchaus schon jetzt eine Fragmentierung der Handelsströme in Blöcken. Wie das weitergeht, ist schwer vorherzusagen.
PWP: Gibt es Untersuchungen darüber, wie sich die Handelsströme vor dem Hintergrund geopolitischer Spannungen, beispielsweise vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, verändert haben? Autoritär regierte, antiwestliche Länder wie Russland, China, Iran und Nordkorea sind ja auch ökonomisch stärker zusammengerückt.

Ossa: Wir haben uns das hier in der WTO in einer Studie näher angesehen, indem wir in einem Szenario zwischen Ländern unterschieden haben, die in der UN-Vollversammlung typischerweise mit den Vereinigten Staaten oder aber mit China stimmen.[2] Es hat sich gezeigt, dass sich der Handel innerhalb dieser Blöcke intensiviert und zwischen ihnen abgenommen hat. Was wir hier sehen, ist eine verstärkte Neigung zum „Friendshoring“, also zur Bevorzugung des Handels mit Gleichgesinnten, mit Freunden. Aber in Zeiten, in denen es auch in der Politik eine ungeheure Polarisierung gibt, hat der Handel nur mit Freunden seine Tücken. Wer heute Freund ist, ist es morgen vielleicht nicht mehr. Es gibt inzwischen in den internationalen Beziehungen eine ganz neue, unberechenbare Dynamik.
PWP: Der Welthandel ist aber nicht nur aus geopolitischen Gründen unter Druck. Er scheint an Priorität verloren zu haben. Warum?
Ossa: Es hat sich nach meiner Diagnose in der Öffentlichkeit ein Denken ausgebreitet, nach dem es Politikziele gibt, die wichtiger sind als ökonomische Handelsgewinne, und dass wir diese darum auch wenigstens zum Teil aufgeben müssen. Wenn infolge eines Handelskrieges das Weltsozialprodukt um den Prozentsatz x sinkt, und wenn x nicht gleich riesengroß ist, dann scheinen viele Menschen zu vermuten, dass das gar nicht schlimm sei, sondern sich vielmehr sogar lohne, beispielsweise weil es im Zuge dessen automatisch auch zu weniger Umweltverschmutzung kommt.
PWP: Welche Politikziele werden außer dem Umweltschutz noch in Konflikt mit dem Welthandel gesehen?
Ossa: Vor allem die Bewahrung von Frieden und Sicherheit sowie der Kampf gegen Armut und Ungleichheit. Das sind alles ernst zu nehmende, wichtige Ziele. Aber in diesem Zusammenhang wird der Handel allzu schnell als Teil eines Problems gesehen und nicht auch als Teil einer möglichen Lösung. Man muss sich aber doch immer erst einmal fragen, ob es überhaupt stimmt, dass der Handel Teil des Problems ist. Und wenn es tatsächlich so sein sollte, dass er Teil eines Problems ist, dann muss man sich als nächstes fragen, wie es zu schaffen wäre, dass er auch Teil der Lösung wird. Ich bin sicher, nur mit einer solchen Herangehensweise ist es möglich, eine breite Mehrheit der Bevölkerung vom Nutzen der Globalisierung zu überzeugen. Momentan dringt man in der öffentlichen Debatte mit ökonomischen Argumenten gar nicht so richtig durch.
PWP: Wie wird der Handel zum Verbündeten des Umweltschutzes?
Ossa: Die meisten Menschen gehen davon aus, dass der Handel schlecht für die Umwelt sein muss – das liegt ja auf der Hand. Wer an Handel denkt, denkt an Transport; wer an Transport denkt, denkt an Transportemissionen; also muss es ja besser sein, wenn man regional konsumiert. Allerdings gibt es nicht nur Transportemissionen, sondern auch Produktionsemissionen. Wenn große Unterschiede zwischen den Produktionsemissionen in verschiedenen Ländern bestehen, kann es ökologisch sinnvoll sein, bestimmte Güter aus dem Ausland zu importieren, selbst wenn das mehr Transportemissionen verursacht. Es gibt eben nicht nur ökonomische, sondern auch ökologische komparative Vorteile. Es gibt ökonomische Handelsgewinne, weil man sich als Land in Sektoren spezialisiert, in denen man relativ produktiv ist, und genauso gibt es ökologische Handelsgewinne, weil man sich in Sektoren spezialisiert, in denen man relativ emissionsarm produziert. Der große Unterschied zwischen den beiden Arten von Handelsgewinnen ist, dass die ökologischen politische Unterstützung brauchen, insbesondere irgendein Instrument, mit dem man Umweltexternalitäten internalisiert.
PWP: Zum Beispiel eine CO2-Steuer.
Ossa: Genau. In einem Artikel, der das meines Erachtens gut veranschaulicht, habe ich gemeinsam mit Kollegen ein quantitatives Handelsmodell kalibriert.[3] Nicht als realistisches Szenario, sondern einfach um zu verstehen, was passiert, sind wir für dieses Modell sogar davon ausgegangen, dass eine globale CO2-Steuer eingeführt wird. Daraufhin gehen natürlich wie erwünscht die Emissionen an Treibhausgas zurück. Spannender ist aber, dass dabei ungefähr ein Drittel des Reduktionseffekts auf die ökologischen Handelsgewinne zurückzuführen ist. Das ist für mich ein Beispiel, wie man Handel und die großen Herausforderungen unserer Zeit differenziert betrachten kann. Ich sage keinesfalls, dass Handel immer gut für die Umwelt sei, schon gar nicht so, wie er im Moment abläuft. Aber der Handel wird zu einem kräftigen Wirkungsverstärker, wenn wir zu einer Klimapolitik kommen, welche die Klimaprobleme in einer ökonomisch vernünftigen Weise löst. Dann ist er Teil der Lösung.
PWP: Und Sie sagen, dass es bald 250 Jahre nach Adam Smiths „Wohlstand der Nationen“ auch mit Blick auf den Kampf gegen Armut und Ungleichheit immer noch nicht klar ist, dass der Handel Teil der Lösung ist?
Ossa: In der öffentlichen wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion kommt man einfach schnell zu der Klage darüber, was Chinas starkes Wirtschaftswachstum mit dem Arbeitsmarkt in den Vereinigten Staaten oder auch in Deutschland gemacht hat. Was dazu geforscht wird, das sind natürlich wichtige Analysen, aus denen man viel lernen kann. Dass wir als Wissenschaftler aber vielfach eine auf die westliche Welt verengte Perspektive haben, sieht man schon daran, dass wir von einem „China-Schock“ sprechen, als wäre Chinas Wirtschaftswachstum etwas vorwiegend Negatives. Dabei gehen die vielen Hunderte von Millionen Menschen vergessen, die in China der Armut entkommen sind – und zwar in einer Weise, in welcher der Handel offenbar eine große Rolle gespielt hat. Zudem hat das Vorbild Chinas vielen Entwicklungsländern Hoffnung gegeben, dass auch sie nicht auf ewig in der Armutsfalle stecken bleiben müssen. Es gibt meines Erachtens viel zu wenig Forschung, die detailliert aufdröselt, was in China genau passiert ist, inwieweit der Handel bei diesem Fortschritt Ursache war und nicht nur Folge, und ob tatsächlich auch andere Länder diesen Weg gehen können.
PWP: Wie wichtig ist denn nun der Handel für die Entwicklung?
Ossa: Was viele Leute offenbar nicht wissen, wenn sie über Armut und Ungleichheit reden, ist, dass wir in den zurückliegenden dreißig Jahren eine unglaubliche Konvergenz zwischen „lower-/middle-income economies“ und „high-income economies“ gesehen haben. Die ärmeren Länder sind viel schneller gewachsen als die reicheren Länder, sodass sich die Pro-Kopf-Einkommen zum ersten Mal seit der Industriellen Revolution angenähert haben. Wir haben das im World Trade Report der WTO im vergangenen Jahr ein Stück weit aufgegriffen, indem wir eine grobe Schätzung angestellt haben, die zeigt, dass etwa ein Drittel dieses Effekts von einer Reduktion der Handelskosten verursacht sein könnte.[4] Ob es nun wirklich genau ein Drittel oder auch nur ein Viertel ist, erscheint mir dabei nicht so wichtig – der Anteil des Handels ist auf jeden Fall erheblich. Das ist wichtig! Er hat zu Verwerfungen geführt, aber er hat auch eine Konvergenz der Pro-Kopf-Einkommen mitermöglicht.
PWP: Hilft er immer?
Ossa: Nein, in manchen Fällen hat der Handel nicht geholfen. Manche Ländern handeln einfach nicht genug, andere wiederum sind zu sehr auf Rohstoffe spezialisiert. Wir sind in unserer Untersuchung zu dem Schluss gelangt, dass Handel allein nicht genug ist, sondern dass es einer Handelspolitik bedarf, die eng mit anderen wichtigen Politikfeldern verknüpft ist. Einem Land, das keine Straßen hat, um die produzierten Güter auf die Weltmärkte zu bringen, helfen keine Handelsabkommen. Es braucht erst einmal Infrastrukturpolitik. Und einem Land, das keine Elektrizität oder keinen Zugang zum Internet hat, helfen Handelsabkommen ebensowenig, am Welthandel mit Dienstleistungen zu partizipieren.
PWP: Sie nannten noch Frieden und Sicherheit als Politikziele, für die manche Leute ökonomische Handelsvorteile aufzugeben bereit sind. Aber ist das nicht wirklich sinnvoll?
Ossa: Was nicht sinnvoll ist, ist ein absolutes Autarkiestreben. Der Krieg macht sich ökonomisch unter anderem im Zusammenhang mit den Lieferketten bemerkbar, die er durcheinanderbringt. Schon die Coronapandemie hatte die Lieferketten gestört und unterbrochen, und es hat sich der Eindruck durchgesetzt, dass wir uns auf das Ausland nicht verlassen können und viel mehr Autarkie brauchen. Aber allein schon wenn man sich ansieht, was in der Zeit der Pandemie geschehen ist, wird klar, dass der Handel nicht nur Teil des Problems war, sondern sehr schnell auch Teil der Lösung. Wer konnte, arbeitete im Homeoffice, und das ging nur, weil wir die Ausrüstung dafür importierten. Wir trugen Masken, und auch die waren größtenteils importiert. Es gab riesige Impfkampagnen, und natürlich hat nicht jedes Land seinen eigenen Impfstoff produziert, sondern es fand Handel statt. Es ist sicher sinnvoll, im Handel mehr zu diversifizieren, aber ohne ihn geht es ganz sicher nicht.
PWP: Die WTO, vor dreißig Jahren im Anschluss an das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) gegründet, ist für das Regelwerk des Welthandels zuständig. In letzter Zeit scheint sie aber nicht mehr so richtig voranzukommen.
Ossa: Man darf nicht Stromgrößen mit Bestandsgrößen verwechseln. Als Stromgrößen würde ich hier die neu geschlossenen Abkommen bezeichnen, die Erfolge der einzelnen Ministerkonferenzen. Ich möchte nun zwar nicht behaupten, dass diese derzeit kurz davor stünden, eine neue Uruguay-Runde hervorzubringen. Aber auf den Ministerkonferenzen kommt durchaus immer noch etwas zustande, und das ist durchaus bemerkenswert. Die WTO hat immerhin 166 Mitgliedstaaten, die alle zustimmen müssen, wenn etwas beschlossen werden soll. Schon dass da überhaupt je etwas herauskommt, ist eigentlich unglaublich. Das ist dann nicht immer der große Wurf. Soviel zu den Stromgrößen.
PWP: Und die Bestandsgrößen?
Ossa: Der Bestand dessen, was die WTO als Regelwerk aufgebaut hat, ist immer noch ungeheuer wertvoll. Wie gesagt, mehr als 80 Prozent des Welthandels erfolgen nach wie vor unter dem WTO-Meistbegünstigungsprinzip. Trotz der Freihandelsabkommen, zu denen es seit den neunziger Jahren gekommen ist, trotz der Antidumping-Zölle, trotz der Ausgleichszölle und trotz der außerordentlichen Zölle, die es zwischen China und den Vereinigten Staaten gibt. Die jüngsten neuen Zölle, die Donald Trump jetzt angekündigt hat, sind in der Rechnung noch nicht enthalten, aber sie würden auch keinen großen Unterschied machen. Der Welthandel findet nach wie vor unter WTO-Regeln statt.
PWP: Die WTO ist also nach wie vor relevant?

Ossa: Und wie! Man darf sich nicht einreden lassen, die WTO sei irrelevant. Ich hielte das für sehr gefährlich. Neben Zöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen gibt es Tausende andere Dinge, die durch die WTO geregelt sind, und dieses Regelwerk funktioniert sehr gut. Wir haben es schließlich nicht nur mit Güterhandel zu tun, sondern auch mit Dienstleistungshandel, geregelt im Allgemeinen Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, GATS). Es gibt das WTO-Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (Technical Barriers to Trade Agreement, TBT). Es gibt die wichtigen Regeln für den Schutz geistigen Eigentums, festgehalten im Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights Agreement, TRIPS). Mehr als 20 Prozent aller internationalen Patente werden von amerikanischen Unternehmen angemeldet. Es gibt außerdem viele Regeln, die auf ersten Blick vielleicht etwas langweilig klingen, aber ebenfalls wichtig sind, wie das Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens, in dem sich die Länder darauf geeinigt haben, ab welchem Warenwert man überhaupt Zoll erhebt. Und es gibt das Abkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures, SPS). Und so weiter. Viele Mitgliedstaaten haben großes Interesse daran, dass dieses komplexe Regelwerk beibehalten wird.
PWP: Aber in der Streitschlichtung ist die WTO seit Jahren zahnlos, weil die Amerikaner die Neubesetzung des Berufungsgerichts blockieren.
Ossa: Das stimmt, die zweite Instanz im System der Streitbeilegung funktioniert nicht. Das ist in der Tat ein großes Problem und ein wichtiges Thema. Es bedeutet, dass die WTO-Regeln nicht lückenlos durchzusetzen sind. Aber die erste Instanz funktioniert durchaus weiterhin sehr gut. Und, was noch wichtiger ist: Es hat konstruktive Bemühungen gegeben, einen Ausweg aus der Blockade zu finden. Seit dem Jahr 2020 haben sich mehr und mehr Länder, unter anderem die EU und China, in einem alternativen plurilateralen Streitschlichtungssystem innerhalb der WTO zusammengeschlossen, dem Multi-Party Interim Appeal Arrangement (MPIA). Inzwischen sind es 54 Staaten.
PWP: Ein Club im Club.
Ossa: Das kann man so sagen. Das Thema ist deshalb so wichtig, weil die WTO ein bisschen mit einer Zentralbank vergleichbar ist. In Analogie zur Inflation geht es bei uns nicht nur darum, die Kosten des Handels gering zu halten, sondern auch darum, dass die Erwartungen der Marktteilnehmer über die Handelskosten stabil bleiben. Wenn niemand mehr daran glaubt, dass die Zölle auch in fünf Jahren noch das sind, was man vereinbart hat, dann ist die Glaubwürdigkeit des Systems untergraben. Auch wenn mit den Zöllen dann gar nichts passiert.
PWP: Sie haben vorhin die Freihandelsabkommen erwähnt, die sozusagen in Konkurrenz zum Regelwerk der WTO stehen. In der Wissenschaft wurden regionale, also sogenannte minilaterale oder plurilaterale Handelsabkommen lange teilweise mit Skepsis betrachtet, unter anderem weil sie global handelsumlenkende und damit effizienzmindernde Effekte zeitigen können. Was ist Ihre Sicht?
Ossa: Diese ewige Diskussion, ob sich regionale Handelsabkommen außerhalb der WTO als „Stumbling blocks“ oder als „Building blocks“, also hemmend oder fördernd, auf die Zollreduktion entlang des Meistbegünstigungsprinzips auswirken,[5] wird heute gar nicht mehr so aktiv geführt. Es gibt inzwischen eben auch etliche plurilaterale Initiativen und Abkommen, die von einer Teilmenge von WTO-Mitgliedstaaten verhandelt wurden und in den WTO-Rahmen eingebettet sind. Da ist sehr viel passiert. Es gibt zum Beispiel das Übereinkommen über die Dienstleistungsregulierung (Services Domestic Regulation, SDR), in dem es um Handelserleichterungen geht. Die beteiligten Staaten haben bereits einen Weg gefunden, dieses Übereinkommen in GATS zu integrieren. Außerdem gibt es das WTO-Abkommen über Investitionserleichterungen (Investment Facilitation for Development, IFD); da haben sich die Beteiligten zwar schon geeinigt, aber es wird noch erörtert, ob und wie man dies in den multilateralen Rahmen einbetten kann. Auch wenn es ein plurilaterales Übereinkommen ist, muss es ja multilateral genehmigt werden. Desweiteren gibt es eine Initiative zu E-Commerce im Rahmen der WTO (Joint Statement Initiative on E-Commerce, JSI), da ist man noch nicht ganz so weit.
PWP: Nehmen wir noch einmal CETA, das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada. Alle Beteiligten sind WTO-Mitglieder. Mit diesem Freihandelsabkommen sind im bilateralen Handel 98 Prozent der Zölle abgeschafft worden. Aber nur da.
Ossa: Zum Grundprinzip der WTO mit dem Prinzip der Meistbegünstigung steht das tatsächlich erst einmal im Widerspruch. Aber gerade für Freihandelsabkommen gibt es Ausnahmen vom Prinzip der Meistbegünstigung, sofern sie die Zölle zwischen den Beteiligten tatsächlich auf null setzen oder zumindest wirklich substanziell reduzieren. Trotzdem bleiben solche Abkommen außerhalb des WTO-Regelwerks und die Partner haben beispielsweise keinen Zugriff auf die Streitschlichtung. Bei den plurilateralen Übereinkommen innerhalb der WTO ist es hingegen so, dass diese mit Unterstützung des WTO-Sekretariats ausgehandelt werden und die Partner sehr wohl die Streitschlichtung nutzen können.
PWP: Zurück zu den Zöllen. Gibt es eigentlich eine ökonomische Ratio hinter der Renaissance, die sie derzeit erleben?
Ossa: Durchaus. Entgegen der spontanen ökonomischen Intuition, dass nur solche Zölle gut sind, die wegfallen, kommt die schon klassische Terms-of-trade-Theorie mit dem Optimal-tariff-Argument zu dem Ergebnis, dass es sich für ein Land finanziell lohnen kann, einen Einfuhrzoll zu erheben. Die Idee ist: wenn ich einen Zoll erhebe, werden für die Konsumenten in meinem Land die betroffenen Güter erst einmal teurer, die wir importieren. Deshalb sinkt die Nachfrage – und wenn das Land so groß ist wie Amerika eben auch die Weltmarktnachfrage – nach diesen Gütern, was den Preis des Gutes dann wieder drückt. Das läuft darauf hinaus, dass das Ausland einen Teil der Kosten des von meinem Land verhängten Zolls trägt. Ich kann mich also auf Kosten des Auslands bereichern. Das ist eine rein unilaterale Logik. Dieses aus der Theorie bekannte Argument hatte ich allerdings in der Praxis noch nie am Werk gesehen – bis jetzt. Jetzt plötzlich fangen die Leute an, darüber zu reden.
PWP: Aber ist die Intuition nicht doch richtig, dass das keine gute Idee ist?
Ossa: Ja, das ist richtig. Denn wenn ein Land so denkt, hat natürlich auch der Rest der Welt einen Grund, so zu denken, und am Ende stehen wir alle schlechter da.
PWP: Also in einer Prisoners‘-Dilemma-Situation.
Ossa: So ist es. Aber genau daraus ergibt sich ein Anreiz, doch miteinander zu reden und sich zu koordinieren. Besser kooperative Zölle als nicht-kooperative. Auch theoretisch ist das gut belegt. Kyle Bagwell und Robert Staiger haben Ende der neunziger Jahre nicht nur einen Modellrahmen zur Beantwortung der Frage geschaffen, warum es überhaupt die WTO gibt, sondern sie konnten sogar zeigen, dass die WTO-Regeln der Reziprozität und der Meistbegünstigung genau das Richtige sind, um negative internationale Externalitäten zu internalisieren, auch wenn man mit den Zöllen nicht auf null kommt.[6] Das ist heute wieder hochaktuell. Mich hatte ihre Arbeit einst nur deswegen nicht ganz überzeugt, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass Politiker eines Tages tatsächlich davon reden würden, die Terms of trade manipulieren zu wollen, mit Einfuhrzöllen, die andere Länder tragen.
PWP: Warum nicht?
Ossa: Weil das in der politischen Praxis eben bisher kaum vorkam. Wobei es ökonomisch Sinn ergibt, denn unmittelbar wohlfahrtsstiftend sind ja billige Importe in mein Land, nicht die Exporte. Das Ziel einer Volkswirtschaft muss sein, möglichst billig einzukaufen und teuer zu verkaufen. Aber nach dieser Logik müsste ich mich auch über Subventionen in anderen Ländern freuen. Und zumindest dies Letztere habe ich einfach bis heute noch nie gehört.
PWP: Weil es nicht immer nur um das Einkaufen, sondern auch um das Verkaufen geht, gerade in Exportnationen. Und da machen ausländische Subventionen mein Land weniger wettbewerbsfähig.
Ossa: Ich habe jedenfalls deshalb seinerzeit eine alternative industriepolitische Theorie auf der Grundlage eines New-Trade-Modells in Anlehnung an Paul Krugman entwickelt, mit unvollständigem Wettbewerb und Produktdifferenzierung.[7] Das Szenario besteht darin, dass die Regierung eines Landes versucht, durch einen Zoll die heimische Industrie zu schützen und ihr Wachstum zu unterstützen. Das Argument ist dasselbe, aber der Mechanismus ist anders.
PWP: Also so etwas wie in Friedrich Lists klassischem Schutzzollargument?
Ossa: Ja, aber eben wieder das Ganze auf Kosten des Auslands.
PWP: Und was ist das Ergebnis?
Ossa: Auch da kommt heraus, dass es sich lohnt, sich zu koordinieren.
PWP: Handelskriege bleiben also das, was sie intuitiv sind: ein destruktives Szenario.
Ossa: Auf jeden Fall. Ich habe das vor gut zehn Jahren auch einmal mit Daten durchgespielt, wieder innerhalb eines New-Trade-Modells.[8] In der Simulation eines Handelskriegs würden sich demnach nicht-kooperative Zölle von mehr als 60 Prozent ergeben, und die Wohlfahrtseinbußen wären erheblich. Dass ein solches Szenario einmal mehr sein könnte als eine Simulation, konnte ich mir damals nicht vorstellen. Zölle von 60 Prozent, das erschien einfach vollkommen aus der Luft gegriffen. Und man ging ja davon aus, dass die Welt daraus gelernt hat, was 1930 passiert ist.
PWP: Sie haben sich in ihrer Forschung an der Universität dann nicht mehr groß mit Zöllen befasst.
Ossa: Nein. Ich hielt das ehrlich gesagt für ein Thema der Vergangenheit. In der politischen Diskussion ging es längst um das Niederreißen nicht-tarifärer Handelshemmnisse. Man denke da nur an die vielen Freihandelsabkommen, die auf den Tisch kamen, zum Teil auch unterschrieben wurden und in Kraft getreten sind, beispielsweise CETA. Da hat sich niemand über Zölle beschwert, sondern es ging um nicht-tarifäre Handelshemmnisse und Fragen der „Deep integration“ wie Regulierungszusammenarbeit und Schutz des geistigen Eigentums. Dass Zölle jetzt wieder ein Thema sind, dass sie in aggressiver Weise industriepolitisch eingesetzt werden und dabei im Zuge eines Handelskrieges in ganz neue Höhen klettern – wer hätte das gedacht. Damals war das ein Orchideenthema, dessen Nutzen vielen nicht einleuchtete, aber jetzt ist es von größter Relevanz. Als Forscher habe ich sozusagen Glück gehabt.
PWP: Was können Sie denn nun auf der Grundlage Ihrer Forschung darüber sagen, wie man als betroffenes Land reagieren soll, wenn ein anderes Land unilateral Zölle verhängt?
Ossa: Die wissenschaftlichen Modelle zeigen, dass es immer zwei Gleichgewichte der Handelspolitik gibt, ein kooperatives und ein nicht-kooperatives. Es mag theoretische Fälle geben, in denen das kooperative Gleichgewicht für manche Länder ein bisschen besser ist als das nicht-kooperative, aber ich kenne keine entsprechende quantitative Evidenz. Praktisch gesprochen steht für mich aber außer Frage, dass letztlich alle Länder Interesse an einer kooperativen Handelspolitik haben und von einem Handelskrieg negativ betroffen wären. Man muss also immer zusehen, dass man aus einem Konflikt wieder herauskommt. Unsere Empfehlung in der WTO lautet demnach auch ganz klar, dass man, wenn ein Land unilateral neue Zölle verhängt, erst einmal die Nerven behalten und das Gespräch suchen sollte. Auch wenn der WTO-Streitschlichtungsmechanismus nicht mehr bis zum Ende funktioniert, ist es dennoch wichtig, dass in seiner ersten Stufe immer Konsultationen stattfinden. Wir haben schon in der jüngeren Vergangenheit gesehen, dass dadurch eine Menge Streitigkeiten gelöst werden können. Es ist einfach so: In einem Handelskrieg verlieren alle.
PWP: Was halten Sie denn von einer strategischen Zollpolitik, die zumindest in der Antwort auf handelskriegerische Aggressionen die Abhängigkeiten der Handelspartner ausnutzt? Wenn also ein Land im Import eines Gutes, das es nur schwer oder gar nicht substituieren kann, mit Zöllen gepeinigt wird, und dann darauf reagiert, indem es den Aggressor seinerseits mit Einfuhrzöllen auf Güter bestraft, von denen wiederum er abhängig ist? Ist das grundsätzlich ein sinnvoller Weg im Konfliktfall?
Ossa: Ich würde eine Stufe vorher ansetzen wollen. Wir werfen die fundamentale Idee, dass wirtschaftliche Verflechtung und Interdependenz große Vorteile mit sich bringen, allzu schnell über Bord. Wir müssen uns daran erinnern, dass gerade die europäische Integration ein Projekt gewesen ist, in dem man Länder absichtlich wirtschaftlich voneinander abhängig gemacht hat, damit sie sich nicht weiter militärisch bekriegen – insbesondere die einstigen Todfeinde Deutschland und Frankreich. Und das hat ja auch gut funktioniert. Ich bin gewiss nicht so naiv zu meinen, wir müssten alle nur miteinander Handel treiben, und dann kommt der Weltfrieden schon. Aber Handel schafft schon auch Verbindungen. Und ökonomisch ist klar: Wenn wir nach Autarkie streben, investieren wir automatisch in unsere Schwächen. Es gibt ja einen Grund, warum wir bestimmte Güter importieren. Das bedeutet, wir können vielleicht unabhängig werden, aber das ist dann ziemlich teuer. Es wäre klüger, in die eigenen Stärken statt in die Schwächen zu investieren und auf diese Weise dann auch eine Balance der relativen Abhängigkeiten zwischen den Handelspartnern zu schaffen.

PWP: Zur Verhinderung einer Abhängigkeit von einem einzelnen, womöglich eben nicht friedlichen Handelspartner sind Konzentrationszölle vorgeschlagen worden.[9] Das wäre vielleicht nicht ohne weiteres WTO-konform, aber man könnte sich auf die nationale Sicherheit berufen.
Ossa: Bevor es relevant wird, ob so ein Vorschlag mit den WTO-Regeln vereinbar ist, muss es erst einmal zu einem Streit kommen, der dann in die Schlichtung geht. Aber die zugrundeliegende Idee, dass man diversifiziert, statt sich abhängig zu machen, ist natürlich grundsätzlich sehr einleuchtend und richtig. Die WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala spricht gern von „Re-globalization“[10] statt von „De-globalization“. Es geht ihr darum, dass man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann. Die eine Fliege ist die Resilienz, indem man diversifiziert, und die andere besteht in der Integration bisher abseits stehender Länder in die Globalisierung. Es könnte gerade für den Westen sinnvoll sein, sich im Handel auch mehr Richtung Afrika zu orientieren. Das ist beispielsweise mit Blick auf die ökologische Transformation interessant. Afrika bietet sich klimatisch dafür an, erneuerbare Energien zu gewinnen. Nun sind diese nicht leicht zu transportieren, das muss aber auch nicht sein: Man müsste nur genau an diesen Standorten energieintensive Güter produzieren. Der Handel würde sich also nicht auf die erneuerbaren Energien selbst beziehen, sondern auf die damit vor Ort in Afrika hergestellten Güter.
PWP: Das wäre aus westlicher Sicht angesichts Chinas Griff nach den Rohstoffen Afrikas wohl auch geopolitisch vorteilhaft.
Ossa: Das Entscheidende ist, dass man nicht vor allem Rohstoffe extrahiert, sondern dass ein Teil der Wertschöpfung vor Ort stattfindet. Das ist wieder ein Beispiel dafür, dass es ohne Handel nicht geht, aber der Handel allein ist nicht genug. Es bedarf schon auch einer entwicklungspolitischen Strategie.
PWP: China ist seit dem Jahr 2001 Mitglied der WTO. Damit waren große Hoffnungen verbunden, auch was die politische Entwicklung in China angeht. Die WTO fällt ihre Beschlüsse einstimmig, was jedem Land Vetomacht verleiht. Wie ist das Verhalten Chinas in der WTO insgesamt zu bewerten?
Ossa: Die Vertreter Chinas sind hier sehr präsent und bringen sich konstruktiv ein; das ist zumindest mein Eindruck. Sie interessieren sich auch sehr ernsthaft für die Forschung, die hier im Haus entsteht, und sind dabei sehr unterstützend. Zwei Themen, die von anderen Ländern im Zusammenhang mit China immer wieder hervorgehoben werden, sind die dortige Industriepolitik und natürlich die Handelsungleichgewichte, wobei letztere nicht nur ein chinesisches, sondern auch ein europäisches Thema sind. Einige der WTO-Mitgliedstaaten argumentieren, dass die Art und Weise, wie die chinesische Wirtschaft funktioniert, nicht hinreichend in unseren Subventionsregeln abgebildet ist.
PWP: Also der chinesische Staatskapitalismus.
Ossa: Das ist genau der Punkt. Die Subventionsregeln seien zu sehr auf marktwirtschaftliche Verhältnisse ausgerichtet, als dass sie auch auf das Verhalten Chinas angemessen einzugehen erlaubten. Aber mein Eindruck ist nicht, dass es da keine Gesprächsbereitschaft gibt. Was ganz allgemein die Handelsungleichgewichte angeht, ist übrigens ein bisschen außenwirtschaftliches Wissen schon ganz hilfreich. Man muss sehen, dass Handelsbilanzüberschüsse oder -defizite letztlich ein makroökonomisches Phänomen sind, das man mit Zöllen gar nicht gut steuern kann. Es gibt direktere Wege. Als Ökonom muss man sich als erstes fragen, ob es denn wirklich problematisch ist, wenn es in der Handelsbilanz eines Landes zu Überschüssen oder Defiziten kommt. Die zweite Frage, die man sich stellen muss, falls man denn im konkreten Fall zu der Überzeugung gelangt ist, dass es problematisch ist, dreht sich um die Art und Weise, wie man die Fehlentwicklung korrigieren kann. Aus wissenschaftlicher Sicht ist ziemlich klar, dass es vor allem internationale makroökonomische Faktoren sind, die den Chinesen zu einem Überschuss im Handel mit den Amerikanern verhelfen: In China wird sehr viel gespart, während es in den Vereinigten Staaten ein großes Haushaltsdefizit der öffentlichen Hand gibt. Mit Zöllen wird man gegen diese Fakten wenig ausrichten.
PWP: Lassen Sie mich abschließend noch fragen: Woran arbeiten Sie gerade?
Ossa: Natürlich machen wir uns hier in der WTO über die aktuelle Entwicklung Gedanken, auch wenn wir das nicht immer nach außen tragen. Ansonsten arbeiten wir gerade viel zu dem Thema Handel und Künstliche Intelligenz (KI), dazu haben wir 2024 auch schon einen Bericht veröffentlicht.[11] Wir versuchen, systematisch zu durchdenken, was die KI für den Handel und damit auch für das Wirtschaftswachstum bedeuten kann, ausgehend von dem aktuellen Befund, dass der Dienstleistungshandel floriert, besonders die digital erbrachten Dienstleistungen. Denn da sehen wir die Zukunft des Handels. Wir beobachten nun nach wie vor, dass viele Menschen ihre beruflichen Aufgaben, sofern das von der Art der Tätigkeit her möglich ist, vollständig per Telearbeit von zuhause aus erledigen – in den Vereinigten Staaten sind es laut einer Untersuchung des Pew Research Center etwa ein Drittel.[12] Alles, was man so von zuhause aus erledigen kann, kann man allerdings auch von ganz woanders machen. Das birgt großes Potenzial für den internationalen Dienstleistungshandel – mit Vor- und Nachteilen. Denn was brauche ich noch einen Mitarbeiter, der neben mir im Büro sitzt; er oder sie könnte genauso gut auch am anderen Ende der Welt sitzen.
PWP: Und was ist nun der Einfluss der KI?
Ossa: Wenn auch noch die KI immer mehr ins Spiel kommt, ist klar, dass sie die Handelskosten extrem reduzieren kann, beispielsweise im Zusammenhang mit allem, was mit Übersetzungen zu tun hat. Sie kann auch helfen, besser mit kulturellen Unterschieden umzugehen. Davon profitieren Menschen mit geringerer Produktivität überproportional. Im internationalen Vergleich kann auf diese Weise das Produktivitätsgefälle ein wenig angepasst werden. Es gibt aber auch Wissenschaftler, die skeptischer sind, zum einen wegen des gegenwärtigen geopolitischen Umfelds: Der grassierende ökonomische Nationalismus, der Protektionismus, könnte sich auch noch auf den Dienstleistungshandel erstrecken.[13] Zum anderen kann es gut sein, dass wir in Zukunft weder einen Mitarbeiter im Nachbarbüro brauchen noch woanders per Telearbeit, weil die KI die entsprechenden Aufgaben automatisch selbst erledigt. Des Weiteren haben wir vor kurzem eine spannende Arbeit zur Handelsfinanzierung abgeschlossen.
PWP: Worum geht es da?
Ossa: Im Zentrum steht die Abhängigkeit des Güterhandels von der Verfügbarkeit von Krediten.[14] Der Güterhandel ist ein ausgesprochen kapitalintensives Business. Die gehandelten Güter befinden sich oftmals tagelang, wenn nicht wochenlang auf dem Meer. Das muss erst einmal finanziert werden. Gerade Entwicklungsländer leiden unter großen Lücken in der Handelsfinanzierung, was sich de facto als höhere Handelskosten auswirkt. Interessanterweise ist das zum Teil eine ungewollte Konsequenz aus der Regulierung nach der Finanzkrise. Die Banken vergeben nicht mehr so gern Kredite an Länder, in denen die Kreditwürdigkeit nicht sehr hoch ist – und das, obwohl es sich hier um ein sehr sicheres Geschäft handelt, weil die transportierten Güter als Sicherheit dienen können und die Ausfallquoten sehr gering sind. Das zeigt, dass es einen Hebel gibt, den man betätigen kann, um etwas zu bewegen.
PWP: Auf der WTO-Website habe ich auch eine neue Studie zur Regulierung des internationalen Datenflusses entdeckt.
Ossa: Ja, die haben wir gerade abgeschlossen und veröffentlicht.[15] Auch bei diesem Thema bewegen wir uns in einem Spannungsfeld. Auf der einen Seite verursacht jede Regulierung Kosten, auch Handelskosten, also sollte man es nicht übertreiben. Auf der anderen Seite braucht man aber auch eine vernünftige Regulierung, um das notwendige Vertrauen zur digitalen Wirtschaft überhaupt erst einmal entstehen zu lassen: Wenn zum Beispiel meine persönlichen Daten nicht geschützt sind, bin ich nicht bereit, meine Kreditkartennummer online preiszugeben. Wir haben durchgerechnet, was es bedeuten würde, wenn der internationale Datenfluss ganz abbräche: Das globale Bruttosozialprodukt würde um 4,5 Prozent sinken. Wenn man aber vollständig auf Regulierung verzichtete, würde es ebenfalls sinken, und zwar um etwa 1 Prozent, wobei reiche Staaten am stärksten betroffen wären. Wenn man indes eine gute Balance hinbekäme, an die sich alle Länder halten, könnte das globale Bruttosozialprodukt um 1,77 Prozent wachsen, wobei die ärmeren Staaten am meisten profitierten.

Mit Ralph Ossa sprach Karen Horn. Ralph Ossa wurde von Christian Bonzon fotografiert, Karen Horn von Johannes Ritter.
Zur Person
Ralph Ossa: Wirtschaftsgeographie, Außenhandel, Entwicklung
Karen Horn
Es ist ein kalter, grauer Tag, es nieselt, der Blick aus den Fenstern von Ralph Ossas Eckzimmer gibt wenig von der grandiosen Lage des Centre William Rappard direkt am Ufer des Genfer Sees preis. Doch auch das Innenleben des kolossalen Gebäudes, in den zwanziger Jahren im Stil des Art Déco als Sitz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) errichtet und seit 1995 Sitz der dem Sekretariat des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) nachfolgenden Welthandelsorganisation (WTO), bietet viel Erbauliches für das Auge. Ralph Ossa, seit Anfang des Jahres 2023 Chefökonom und Leiter der Economic Research and Statistics Division der WTO, freut sich noch immer intensiv daran.
Überhaupt ist der zugängliche deutsche Wissenschaftler, der die WTO-Generalsekretärin Ngozi Okonjo-Iweala berät, hier ganz in seinem Element: Schon in seiner Doktorarbeit an der London School of Economics (LSE) befasste er sich mit dem Welthandel und der WTO, mit dem dritten Aufsatz seiner kumulativen Dissertation gewann er 2009 den gerade ins Leben gerufenen WTO Essay Award for Young Economists, und seither dreht sich seine ganze Forschung um den Welthandel. Die Universität Zürich, wo er seit 2017 lehrt und seit 2019 die Kühne-Stiftungsprofessur für Internationalen Handel innehat, hat ihn für die – unbestimmte – Dauer seiner Tätigkeit bei der WTO freigestellt; ein Seminar bietet er trotzdem weiterhin an. Der besondere Reiz des Postens des WTO-Chefökonomen liegt für ihn weniger im damit verbundenen Diplomatenstatus und steuerfreien Salär als vielmehr darin, die Wissenschaft aus dem universitären Elfenbeinturm zu holen und ihr in der Praxis Wirksamkeit zu verleihen.
Seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass er sich über Fragen, die ihm wichtig sind, Gedanken macht – das war seit seiner Jugend Ossas Traum. „Ich wollte schon immer Professor werden“, sagt er. Dieses Ziel verfolgte er zielstrebig und wohlorganisiert. Geboren 1978 in Göttingen und aufgewachsen als Kind einer politisch interessierten Lehrerfamilie in Kassel, zeigte sich schon in der Schulzeit sein mathematisches Talent. Es verband sich, wie häufig zu beobachten, mit musikalischer Begabung: Ossa spielt Cello. „Ein Musikinstrument zu lernen, ist für Heranwachsende eine wichtige Erfahrung. Man lernt beharrlich zu sein und sich nicht von sofortigen Erfolgen abhängig zu machen“, sagt er.

Nach dem Abitur leistete Ossa Zivildienst. Für die Zeit danach liebäugelte er mit der Idee, Physik zu studieren, empfand aber letztlich die naturwissenschaftlichen Fragen doch als weniger spannend als die sozialwissenschaftlichen. Und wer sich für Politik interessiere, erklärt er, der merke in der Regel schnell, dass es dabei immer auch um wirtschaftliche Aspekte geht – beispielsweise um Armut, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Inflation. Dass das Studium der Ökonomie für ihn das Richtige sein würde, war ihm klar, als er erfuhr, dass man auch diese Fragen mit mathematischen Methoden bearbeiten kann. Ossa bewarb sich um einen der begehrten Studienplätze an der 1982 gegründeten privaten Universität Witten/Herdecke, wurde angenommen und blieb zwei Jahre im Ruhrgebiet.
Die Mathematikkenntnisse, die er an der Freien Waldorfschule Kassel mitbekommen hatte, erwiesen sich zunächst als unterdurchschnittlich, aber die hohe Geschwindigkeit des Mathematikunterrichts an der Universität ebnete die Anfangsunterschiede rasch ein. Trotzdem war Ossa in Witten nicht zufrieden: „Es ist eine sehr gute Universität, aber es war genau die falsche für mich“, musste er bald feststellen. Für seinen Geschmack war das Wittener Ökonomiestudium zu betriebswirtschaftlich ausgerichtet. Er absolvierte aber noch das Vordiplom und wagte dann den großen Sprung: Er ging nach London, an die LSE, und erwarb dort im Jahr 2003 seinen Master. Es waren Jahre intensiven Büffelns in einem „stark verschulten und äußerst kompetitiven Umfeld“, wie er sagt. Abende im Pub waren nicht drin. Selbst das Musizieren im Universitätsorchester stellte er ein – „das Orchester war furchtbar schlecht, denn kaum jemand hatte Zeit zum Üben“.
Dass sich Ossa in seiner akademischen Ausbildung auf außenwirtschaftliche Fragen spezialisiert hat, war nach eigenem Bekunden schlicht dem Zufall geschuldet. „Es gibt so viele interessante Themen in der Volkswirtschaftslehre, es hätte gut auch etwas anderes werden können“, sagt er. Wichtig war und ist ihm in der Wissenschaft nur, dass das Thema relevant ist. Doch es traf sich, dass Anthony Venables einer seiner Lehrer an der LSE war. Neben dem späteren Nobelpreisträger Paul Krugman ist Venables ein Pionier der New Economic Geography, eines Ansatzes, der sich in der Erklärung raumwirtschaftlicher Muster auf zunehmende Skalenerträge fokussiert. Diesen neuen Ansatz, der aus der New Trade Theory hervorgegangen war, fand Ossa spannend. Er nahm eine Promotion bei Venables in Angriff.
Als Venables die LSE verließ, übernahm Stephen Redding die Rolle des Doktorvaters für Ossa. Als sich dann wiederum Redding zu einem Forschungsaufenthalt an die Princeton University verabschiedete, wohin er seinen Doktoranden nicht mitnehmen konnte, entschied sich dieser zu einem halbjährigen Aufenthalt als Visiting Fellow an der Harvard University. Dort schloss der Doktorandenkurs des katalanischen Handelstheoretikers und Makroökonomen Pol Antràs, damals selber erst seit kurzer Zeit promoviert, Ossas schmerzlich empfundene Lücken auf dem Gebiet der Außenwirtschaftstheorie.
Zurück in London, vollendete Ossa nach vier Jahren seine aus drei Aufsätzen bestehende kumulative Dissertation. In dem nach eigener Einschätzung wichtigsten Aufsatz, der ihm auch den WTO Award einbrachte und später aus dem Stand im Journal of Political Economy – einem Top-Five-Journal – veröffentlicht wurde,[16] entwickelte Ossa eine New-Trade-Theorie der GATT/WTO-Verhandlungen, aufbauend auf Arbeiten von Krugman[17] sowie Kyle Bagwell und Robert W. Staiger[18]. Mit der klassischen ricardianischen Außenhandelstheorie, fand er, konnte man schlecht erklären, weshalb es überhaupt eines regelsetzenden Clubs wie der WTO bedarf und worüber die Mitgliedstaaten dort verhandeln, wenn doch klar ist, dass am besten alle Zölle abzuschaffen sind. Mit seinem Modell kam Ossa zu dem Ergebnis, dass sich Verhandlungen lohnen und sich moderate nichtkooperative Zölle ergeben.[19]
Nach der Promotion im Jahr 2007 folgte Ossa seinem Doktorvater Redding als Postdoctoral Research Associate nach Princeton. Ein Jahr später öffneten sich die Türen der University of Chicago für ihn; er blieb dort acht Jahre zunächst als Assistant Professor und anschließend als Associate Professor. Im Jahr 2017 zog es ihn dann zurück nach Europa: Er bekam einen Ruf an die Universität Zürich, zunächst als UBS Professor of Economics of Globalization and Emerging Markets. Schon nach einem Jahr erhielt er dort einen Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats von mehr als 1,4 Millionen Euro für sein Projekt „Deep Integration Assessments“. Darin hat er sich mit seinen Koautoren vertieft jenen Themen der weltwirtschaftlichen Verflechtung gewidmet, die nach dem fortgesetzten massiven Abbau von Zöllen in den Vordergrund der Diskussion gerückt waren: Investorenschutz, regulatorische Zusammenarbeit, Schutz der geistigen Eigentums.[20] „Ich habe mich lange nicht mehr mit Zöllen befasst“, sagt Ossa. „Ich hielt das für ein Thema der Vergangenheit.“ Die dramatisch zugespitzte geopolitische Lage der Welt hat nun auch ihn eingeholt. Für die WTO und die Globalisierung brechen schwierige Zeiten an.
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- Wirtschaftswissenschaftliche Exzellenz
- Aus Wissenschaft und Verein
- „In einem Handelskrieg verlieren alle“
- Wie groß ist der wirtschaftspolitische Konsens unter Ökonominnen und Ökonomen in Deutschland? Evidenz aus 74.000 Antworten im Ökonomenpanel
- Digital, nachhaltig, drittmittelstark: Die Ausschreibungen von VWL-Professuren in Deutschland
- ECONtribute: Markets & Public Policy: Agenda und ausgewählte Forschungsschwerpunkte
- Beiträge aus der Forschung zur Wirtschaftspolitik
- Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung – die Rolle der Eigentumsrechte
- Ist Blut dicker als Wasser? Wie die Familie den sozialen Aufstieg beeinflusst
- Helfen Ernährungstipps und Informationen über die Klimawirkungen des Fleischkonsums, diesen zu verringern? Experimentelle Evidenz für Deutschland
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