Liebe Leserin, lieber Leser,
vor mehr als einem Jahr hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum russischen Angriff auf die Ukraine den Aufbruch in ein Jahrzehnt der „Zeitenwende“ verkündet. Große Herausforderungen sind zu bewältigen. Deutschland und Europa müssen die eigene Verteidigungsfähigkeit stärken, einer zunehmenden geopolitischen Polarisierung begegnen und nicht zuletzt deshalb auch die Defossilisierung entschieden vorantreiben. Angesichts dessen verblüfft es nicht, dass die europäische Antwort auf die neu zugeschnittene Industriepolitik der Vereinigten Staaten sowie die heimische Wärmewende im Mittelpunkt des wirtschaftspolitischen Diskurses stehen.
Selbst wenn keine neuen Herausforderungen hinzugekommen wären, hätten diejenigen, die sich bereits Ende des vergangenen Jahrzehnts abzeichneten, ausgereicht, um die deutsche Volkswirtschaft an ihre Grenzen zu führen. Dies illustriert Unsere Welt in Zahlen für das Jahr 2019 – den Zeitpunkt unmittelbar vor der Corona-Pandemie. Erstens beeinträchtigt der demografische Wandel das Wirtschaftswachstum und die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Zweitens hat keine fortgeschrittene Volkswirtschaft so sehr die internationale Arbeitsteilung für das Erarbeiten ihrer Wirtschaftsleistung genutzt wie Deutschland. Im Ergebnis dürfte keine andere große Volkswirtschaft gegenüber einer Deglobalisierung verletzlicher sein. Drittens weist die deutsche Volkswirtschaft eine relativ hohe Emissionseffizienz auf, das Reservoir leicht in die Praxis umsetzbarer Maßnahmen der Defossilisierung ist bereits weitgehend ausgeschöpft.
Zwei Beiträge in der Rubrik Aus aktuellem Anlass treiben die Diskussion über die angemessene industrie- und innovationspolitische Strategie für Deutschland und Europa weiter voran. Clemens Fuest und Niklas Potrafke (beide ifo Institut, München) analysieren den Inflation Reduction Act (IRA), der mit erheblichen Subventionen auf die Förderung klimafreundlicher Unternehmen und Technologien in den Vereinigten Staaten zielt. Sie zeigen, dass er auch hierzulande Gewinner und Verlierer erzeugen dürfte. Jedenfalls sollte die europäische Politik die eigenen Stärken entschieden ausspielen, also: die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln verbessern, die CO2-Bepreisung ausbauen und die Förderung von Forschung und Entwicklung vorantreiben. Denn an Fördermitteln für den Klimaschutz mangelt es in Europa keineswegs.
Zu einer sehr ähnlichen Schlussfolgerung gelangen Reint Gropp und Alexander Reifschneider (beide IWH, Halle) in ihrer Analyse der geplanten Subventionen von Produktionsanlagen für Halbleiter im Rahmen des European Chips Act. Geostrategische Argumente für diese Subventionen erweisen sich als vergleichsweise schwach. Eine finanzielle Unterstützung von Forschung und Entwicklung dürfte eher zielführend sein.
Niklas Garnadt, Lukas Nöh, Leonard Salzmann und Claudia Schaffranka (alle SVR, Wiesbaden) schätzen – ebenfalls in der Rubrik Aus aktuellem Anlass – die möglichen Inflationseffekte sowie die fiskalischen Kosten der Gaspreisbremse ab. Sie bieten damit eine wichtige Grundlage für die Finanzplanung des Bundes und geldpolitische Entscheidungen an. Zudem dokumentiert ihr Beitrag die Vorzüge einer sorgfältigen quantitativen Modellierung, die nicht nur die eingesetzten Annahmen plausibel unterfüttert, sondern auch über deren Grenzen offen zu diskutieren ermöglicht.
Das Jahr 2023 ist ein Jahr der Jubiläen: Unsere Chefredakteurin Karen Horn befasst sich in der Rubrik Wissenschaft im Überblick 300 Jahre nach der Geburt Adam Smiths mit neuen Einsichten über den schottischen Ökonomen und Moralphilosophen. Sein zweites Hauptwerk, der „Wealth of Nations“ (1776), ist ein Eckpfeiler der Volkswirtschaftslehre als eigenständige akademische Disziplin. Doch wurde das Smith‘sche Werk in seiner Rezeption bisweilen erheblich verzerrt. Eine interdisziplinäre Gruppe von Smith-Forschern hat reichhaltiges Material erarbeitet, das zu einem differenzierteren Blick verhilft.
Hans Gersbach (ETH Zürich) hat sich in seiner langen Karriere nicht nur als ein überaus erfolgreicher Wanderer zwischen der akademischen Welt und der Wirtschaftspraxis sowie als ungemein produktiver Forscher erwiesen, sondern auch eine herausgehobene Rolle in der wirtschaftspolitischen Beratung gespielt. Im Gespräch mit Karen Horn sprach er über Ordnungspolitik, Bankenkrisen, die Weiterentwicklung des Geldsystems, die Künstliche Intelligenz sowie mögliche Reformen der Demokratie.
Manuel Frondel und seine Koautoren (alle RWI, Essen) erfassen in ihrem Beitrag aus der Forschung die Risiken der langfristigen Energieversorgungssicherheit. Hierzu quantifizieren sie die rohstoffspezifischen Risiken Deutschlands in der Versorgung mit Erdöl, Steinkohle und Erdgas seit Ende der siebziger Jahre sowie das Risiko der Energieversorgung insgesamt und ordnen diese Ergebnisse im Ländervergleich ein. Die massive Zunahme von Energieimporten aus Russland hatte dieses Risiko stark erhöht. Dies spricht für eine Diversifikation der Energieimporte hinsichtlich der Bezugsländer, Energierohstoffe und -technologien.
Fritz Söllner (Ilmenau) kritisiert in seinem Beitrag aus der Forschung die Pläne der EU-Kommission, mittels eines Grenzausgleichssystems die Verlagerung von Treibhausgasemissionen in Drittländer zu verhindern. Anreize zur Verlagerung setzt die Europäische Union durch ihre im Vergleich zu anderen Wirtschaftsregionen stärkeren Anstrengungen, diese Emissionen zurückzuführen. Diesen Anreizen wirkte bislang die teilweise freie Zuteilung von Zertifikaten an hiesige Unternehmen entgegen. Das Vorhaben, diese Zuteilung durch einen CO2-Grenzausgleich zu ersetzen, ist administrativ aufwendig, birgt das Risiko handelsrechtlicher Konflikte und droht vor allem, seine klimapolitischen Ziele zu verfehlen.
Armin Falk (briq, Bonn) hatte seine Johann-Heinrich-von-Thünen-Vorlesung 2022 der sozialen Ungleichheit und Chancengerechtigkeit in Deutschland gewidmet. Zusammen mit Fabian Kosse (Würzburg) und Lasse S. Stötzer (briq, Bonn) stellt er eine Auswahl empirischer Studien vor. Insgesamt zeigt sich, dass Kinder aus sozial schwächeren Verhältnissen in vielfältiger Hinsicht schlechtere Startchancen erfahren. Allerdings legen die Autoren ermutigende Belege dafür vor, dass diese Defizite gegenüber anderen Kindern durch geeignete Interventionen erheblich reduziert werden können.
Mit diesem ersten Heft der Perspektiven der Wirtschaftspolitik, das ich als federführender Herausgeber verantworten durfte, haben sich meine Erwartungen an diese Herausforderung bestätigt. Gleichzeitig kann ich mich bei dieser Arbeit auf ein großartiges und bewährtes Team verlassen. Unser herzlicher Dank gilt an dieser Stelle vor allem unserem Kollegen Justus Haucap. Als langjähriger federführender Herausgeber hat er die Perspektiven souverän und umsichtig geführt und sie in der wirtschaftspolitischen öffentlichen Diskussion fest verankert.
Für meine Amtszeit habe ich mir vorgenommen, die Zeitschrift noch weiter als den Fokalpunkt des wirtschaftspolitischen Diskurses im deutschsprachigen Raum zu entwickeln, ihre Aktualität zu steigern und das inhaltliche Spektrum auszubauen. Mit relevanten Beiträgen möchten wir wirtschaftspolitische Debatten fachlich fundieren. Einen wichtigen Entwicklungsschritt auf diesem Weg gehen wir bereits mit dem Eintritt des Kollegen Martin Quaas (Universität Leipzig) in das Herausgebergremium und dem damit verbundenen Signal einer Verbreiterung des fachlichen Spektrums um Fragen der Nachhaltigkeit, der Biodiversität und des Klimawandels. Die Perspektiven sollen ein zentraler Ort sein, um diese Debatten auszutragen, ohne die angestammten Themenfelder der Zeitschrift zu vernachlässigen.
Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam erfolgreich einschlagen: Wir zählen auf Ihre Einreichungen! Und ich wünsche Ihnen nun erstmals an dieser Stelle eine anregende Lektüre,
Ihr Christoph Schmidt
© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Editorial
- Herausforderungen, neu und alt
- Unsere Welt in Zahlen
- Überaltert, offen, emissionseffizient
- Aus aktuellem Anlass
- Der amerikanische Inflation Reduction Act: Zwischen Klimaschutz und Protektionismus
- Sind Subventionen für Halbleiter zu rechtfertigen?
- Die Wirkung der Gaspreisbremse auf Inflation und fiskalische Kosten: eine Abschätzung
- Wissenschaft im Überblick
- Kampf den Klischees: Die jüngere Adam-Smith-Forschung rollt die Interpretation des schottischen Gelehrten neu auf
- Das Gespräch
- „Rechtlich bindende Selbstverpflichtungen würden die Politiker vorsichtiger machen“
- Beitrag aus der Forschung
- Deutschlands Energieversorgungsrisiko vor Russlands Angriff auf die Ukraine: Ein empirischer Vergleich mit den G7-Staaten
- Die Pläne der EU-Kommission für einen CO₂-Grenzausgleich
- Aus dem Verein für Socialpolitik
- Sozioökonomischer Status, Mentoring und Chancengerechtigkeit
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- Unsere Welt in Zahlen
- Überaltert, offen, emissionseffizient
- Aus aktuellem Anlass
- Der amerikanische Inflation Reduction Act: Zwischen Klimaschutz und Protektionismus
- Sind Subventionen für Halbleiter zu rechtfertigen?
- Die Wirkung der Gaspreisbremse auf Inflation und fiskalische Kosten: eine Abschätzung
- Wissenschaft im Überblick
- Kampf den Klischees: Die jüngere Adam-Smith-Forschung rollt die Interpretation des schottischen Gelehrten neu auf
- Das Gespräch
- „Rechtlich bindende Selbstverpflichtungen würden die Politiker vorsichtiger machen“
- Beitrag aus der Forschung
- Deutschlands Energieversorgungsrisiko vor Russlands Angriff auf die Ukraine: Ein empirischer Vergleich mit den G7-Staaten
- Die Pläne der EU-Kommission für einen CO₂-Grenzausgleich
- Aus dem Verein für Socialpolitik
- Sozioökonomischer Status, Mentoring und Chancengerechtigkeit