Israel / Palästina retten: Kunst und der binationale Staat
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W. J. T. Mitchell
Abstract
Eine Anmerkung zum Titel: Warum sollten wir Israel retten wollen? Palästina ja. Es liegt in Ruinen, belagert und unter militärischer Besatzung, verwüstet durch Armut, Arbeitslosigkeit und systematische Demütigung. Palästinas bloße Existenz als ein Volk, eine Nation und ein Ort hängt an einem seidenen Faden. Die Bedrohung für Israel ist hingegen eine moralische. Das Land ist in Gefahr, seine Seele zu verlieren, all die Ideale zu verraten, auf denen seine Gründung beruht, und selbst endgültig ein Apartheidstaat zu werden. Dieser Beitrag handelt von einer doppelten Rettungsaktion, einer sowohl moralischen als auch materiellen, spirituellen und physischen Rettung. Er ist von jüngsten Arbeiten sogenannter „Rettungs-Künstler“[1] (salvage artists) inspiriert, deren Arbeiten häufig auf der Wiederverwendung von überflüssigen Materialien, Abfall, Müll und Ruinen basieren, ebenso wie auf Projekten, die eine Re-Imagination und Neugestaltung der Gemeinschaft zum Gegenstand haben. Rettungs-Kunst richtet sich häufig auf „das Gemeingut“ (the commons), auf die fragilen öffentlichen Räume der Versammlung und Zusammenkunft, die auch als Bühne für Inszenierungen von staatlicher Gewalt und Widerstand dienen. Sie ist besonders eng mit dokumentarischen, bewegten und nicht bewegten Bildern verbunden, die der Realität in all ihrer Komplexität einen Spiegel vorhalten und geteilte Erinnerungen und Archive bewahren. Mein Interesse gilt Künstlern, die oft aus sehr verschiedenen, sogar gegensätzlichen Beweggründen in diesen gemeinsamen Bemühungen engagiert sind.
Benedict Anderson argumentiert in seinem Klassiker Die Erfindung der Nation (Imagined Communities), dass Nationen durch moderne Medien ermöglicht wurden, in erster Linie durch Massenmedien wie Druckschriften und Zeitungen. Durch sie konnte ein Gefühl von homogener leerer Zeit entstehen (der vom Nachrichtenkreislauf in den Massenmedien geprägte kalendarische, chronologische Fluss) ebenso wie eine Art homogenes leeres Subjekt: der Bürger als eine anonyme, abstrakte Einheit, der dennoch ein Zugehörigkeitsgefühl zu der abstrakten Einheit, die als die Nation bekannt ist, verspürt.[2] Insofern Nationen oder Gemeinschaften erfundene Einheiten sind, entstehen sie jedoch durch Bilder, die über die Massenmedien hinaus in alle Bereiche der Kunst hineinreichen. Mein Ziel hier ist es, Andersons These an einem Fallbeispiel zu testen, das sich seinen Kategorien widersetzt, während es zugleich einen Weg eröffnet, unser Verständnis von Nationalismus und die Möglichkeiten einer Welt jenseits von Nationen neu zu denken und eventuell sogar voranzubringen.
Dieses Beispiel ist selbstverständlich Israel/Palästina oder Palästina/Israel, eine Formulierung, von der ich weiß, dass sie als tendenziös, voreilig oder von manchen sogar als beleidigend aufgefasst werden wird. Trotz jahrzehntelanger Vergeblichkeit wird der Begriff der „Zweistaatenlösung“ des Israel/Palästina-Konflikts allgemein als die einzig „realistische“ Alternative angesehen, während das Konzept einer binationalen oder gar „polynationalen“ und multikulturellen jüdisch/arabisch/christlich/ muslimisch/säkularen Gemeinschaft allgemein als utopische Fantasie abgetan wird. Die Zwei-Staaten-Lösung erscheint jedoch von Jahr zu Jahr mehr als eine Fantasie, eine grausame zudem, insofern sie zu einer falschen Verlockung wird, die wie die Möhre vor der Nase des Esels den unbestimmten „Friedensprozess“ am Laufen hält, selbst wenn diese Verlockung angesichts der Siedlungsexpansion Israels in der Westbank und der zunehmenden Unterdrückung der Palästinenser stetig schwindet. Zählen Sie mich daher zu den Anhängern von Edward Saids Konzept einer „Einstaatenlösung“, in der alle Religionen und ethnischen Gruppen Gleichheit genießen, die allen Bürgern unter einer säkularen Verfassung zukommt.[3] Interessanterweise unterstützten auch Teile der israelischen Rechten eine Einstaatenlösung, aber die Gemeinschaft, die sie sich vorstellen, ist ein jüdischer Staat, aus dem alle Nicht-Juden ausgeschlossen oder zu Bürgern zweiter Klasse degradiert wären, so dass sie im besten Fall dazu ermuntert würden, „Groß-Israel“ in Richtung anderer Länder zu verlassen. Diese „Lösung“ kommt als dunkle Parodie von Saids Vision einer Kombination von Apartheid und ethnischer Säuberung gleich.
Es könnte in der Tat nützlich sein, den Begriff der „Lösung“ einfach vom Konzept des einen Staates zu streichen. Der einzelne, binationale Staat Israel/Palästina sollte am besten nicht als imaginierte, zukünftige „Lösung“ für irgendetwas gedacht werden, sondern als Bezeichnung des tatsächlichen gegenwärtigen Zustandes dieses Landes. Der „Staat“ sollte, in anderen Worten, nicht bloß als ein politisches Regierungsgebilde aufgefasst werden, sondern in seiner allgemeineren Bedeutung als ein Zustand oder eine „Situation“, ein „Stand der Dinge“, wenn man so will (entsprechend der doppelten Bedeutung von state im Englischen, A.d.Ü.). Dies schließt nicht die präzise Bedeutung des politischen Staates aus, die ein faktischer, wenn auch geleugneter Zustand von Israel/Palästina heute ist. Das heißt, der Staat Israel hält alle militärische und ökonomische Macht über die gesamte Region, einschließlich der Westbank und des Gazastreifens (die noch immer unter militärischer Besatzung sind). Daher haben die rechten Parteien in Israel tatsächlich schon ihr Ziel erreicht: das eines einzigen Staates, in dem Palästinensern eine Art „Selbst-Deportation“ nahegelegt wird, so wie sie teilweise auch für illegale Einwanderer in den USA vorgeschlagen wurde.[4]
Ich folge daher Bashir Makhouls Vorschlag, die imaginierte hybride Gemeinschaft einer binationalen Entität, eines Staates, einer Föderation oder Gemeinschaft nicht mit einem Bindestrich (-) zum Ausdruck zu bringen, der eine einzige zusammengesetzte Einheit suggeriert, sondern mit einem Schrägstrich (/), der die Ungleichheit von Reichtum und Macht ebenso anerkennt wie die lange Geschichte von Gewalt, die die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern prägt (Makhoul/ Hon 2013). Eine solche Gemeinschaft könnte uns Anlass geben, Andersons Kategorien umzuformulieren, als „heterogene, überreiche Zeit“ – eine durch signifikante Daten (1948, 1967, 1973, 1978, 1987, 1994-Oslo, 1998-Birzeit) gekennzeichnete Zeit, die nicht „nationale“ Momente wie 1776, 1789, 1812 etc. als gesetzten Konsens hervorhebt, sondern eine Vielzahl zutiefst umstrittener Ereignisse zur Debatte stellt.[5] Das offensichtlich hervorstechendste Ereignis ist 1948. Für Israelis ist es das Jahr der „Unabhängigkeit“ und des Feierns, für Palästinenser hingegen ist es das Jahr der Nakba, der Katastrophe, ein Anlass für Trauer und für melancholische Träume von der Zerstörung Israels. Die qualitative Dimension dieses Datums ist ebenfalls auf beiden Seiten verschieden: Für Israelis ist 1948 geschehen und der Rest ist fortschreitende Geschichte; für Palästinenser geschah und geschieht 1948 noch immer jeden Tag, insofern sie in einem Zustand der Armut, Unterdrückung und permanenten Demütigung unter militärischer Besatzung der Westbank und des Gazastreifens oder als Bürger zweiter Klasse innerhalb des „eigentlichen Israels“ leben – eine Formulierung, die einen zusammenzucken lässt angesichts des unbestimmten Status von Israels nationalen Grenzen und der Entschlossenheit des israelischen Rechts, die Westbank zu annektieren.
In diesem Zusammenhang schien es mir sinnvoll, unsere Aufmerksamkeit auf eine kleine, aber bedeutsame Gegen-Bewegung zu richten, welche sich in einzelnen Akten kreativer Zusammenarbeit zwischen israelischen und palästinensischen Künstlern und Intellektuellen ausmachen lässt. Sie stellen sich Zukunftsszenarien vor, in denen Palästina die nationale Unabhängigkeit und Staatlichkeit erlangt hat oder in denen es (um eine Alternative zu nennen) einen „Ein-Staaten“-Zusammenschluss auf der Grundlage von Gleichheit mit seinem langjährigen Unterdrücker und Enteigner erreicht haben wird. Oder, als eine dritte Alternative, eine Zweistaaten-Lösung, die als Übergang zu einem Staat dient. Da jedoch all diese Alternativen (außer der ersten: dem tatsächlich bestehenden einzelnen Staat mit einer de facto und de jure Apartheid) in der Welt realer Politik in weiter Ferne zu liegen scheinen, werde ich stattdessen die Welt der künstlerischen Transaktionen zwischen israelischen und palästinensischen Künstlern und Akademikern in den Blick nehmen, um zu fragen, was wir aus aktuellen Tendenzen lernen könnten.
Eine Sache ist von Anfang an klarzustellen. Es geht nicht darum, die Überwindung politischer Konflikte durch Kunst und Kultur zu denken. Intellektuelle und künstlerische Zusammenarbeit zwischen israelischen und palästinensischen Kunsthistorikern kann genauso angespannt sein wie die von Politikern, wofür das traurige Zerwürfnis von Kamal Boullata und Gannit Ankori, den Autoren der zwei wichtigsten, kürzlich erschienenen Bücher über palästinensische Kunst, ein Beispiel ist. Ich werde nur kurz auf diese bedauerlicherweise zerbrochene Freundschaft eingehen. Als israelische Kunsthistorikerin wurde Ankori oft von ihren Kollegen davor gewarnt, zu Themen palästinensischer Kunst zu arbeiten, aber sie erhielt Ermutigung und Unterstützung von Boullata, dem Autor der ersten großen Studie über palästinensische Kunst in englischer Sprache (Boullata 2009). Er ist zudem auch selbst ein angesehener Künstler, dessen Arbeit Ankori ein ganzes Kapitel ihres Buches widmet (Ankori 2006). Nachdem ihr Buch erschienen war, begann Boullata jedoch das Gefühl zu haben, dass er von Ankori „kolonisiert“ worden war und ging soweit, sie des Plagiats zu beschuldigen, ohne dass dieser Vorwurf irgendeine Begründung zu haben scheint.[6] Bashir Makhoul und Gordon Hons letztes Buch, The Origins of Palestinian Art, geht mit unparteiischer Sorgfalt auf diesen Streit ein. Es lehrt uns, die Schwierigkeiten nicht zu unterschätzen, auf die Bemühungen der Zusammenarbeit und „Kollaboration“ in einer asymmetrischen Konstellation von radikaler Ungleichheit und gewaltsamer Dominanz treffen. Allein das Wort „Kollaborateur“ wird unter Israelis als ein Begriff rassistischer Geringschätzung verwendet, um die Schwäche der „arabischen Mentalität“ zum Ausdruck zu bringen, während das Wort unter Palästinensern einer Anklage gleichkommt, gleichbedeutend mit Verrat, Hilfestellung und Unterstützung für den Feind.[7] Zusammen mit dem Wort „Normalisierung“ stellt „Kollaboration“ für einige Beobachter eine rote Linie dar, die nicht überschritten werden darf.
Künstler und Akademiker wie Boullata und Ankori haben jedoch eine berüchtigte Tendenz, Grenzen zu ignorieren und, jenseits von Normalisierung, eine gemeinsame Basis für das zu finden, was William Blake „geistigen Krieg“ nannte, einen Kampf der „visionären dramatischen Formen“,[8] der alle Zustände und Leidenschaften der menschlichen Seele darstellt – in anderen Worten, die Künste und die Kultur. Deswegen ist es mir nicht möglich, jedwede Version des Boycott, Divest, Sanction Movement (der Boykott, Desinvestition, Sanktionen (BDS) Bewegung) zu befürworten, die mich daran hindern würde, den Dialog mit einzelnen israelischen Künstlern und Intellektuellen aufrechtzuerhalten. Dies ist ein Ort, wo die Ethik der Freundschaft und des Intellekts deutlich über die Politiken des Nationalismus triumphieren. Andererseits gilt der BDS-Bewegung meine rückhaltlose Unterstützung, insofern sie auf dem Boykott israelischer akademischer und kultureller Institutionen, ganz zu schweigen von der wirtschaftlichen und ökonomischen Zusammenarbeit zwischen den USA und Israel, besteht, und sich unerschütterlich dagegen wehrt, die nackte Brutalität von Israels Besatzung der Westbank und des Gazastreifens unter Feigenblättern zu verbergen.
Was meinen wir mit künstlerischer oder intellektueller „Kollaboration“? Es scheint mir wichtig, spezifische, konkrete Fälle der Zusammenarbeit, zum Beispiel die geteilte Autorschaft für einen Film wie Five Broken Cameras von Emad Burnat und Guy Davidi, einem palästinensischen und einem israelischen Filmemacher, in einem größeren Zusammenhang von indirektem und nahezu zwangsläufigem Austausch zu sehen. In diesem Sinn ist die interessanteste zeitgenössische Kunst von Israelis und Palästinensern bereits beispielhaft für die binationale „Ein-Staaten“-Situation – und ihr zutiefst kritisch gegenüber. Vor einigen Jahren, als ich zu dem Copro Documentary Film Festival an der Tel Aviv University eingeladen war, bemerkte ich, dass sich mindestens 90 Prozent der israelischen Dokumentarfilme auf die eine oder andere Art mit den Palästinensern beschäftigten. Filme wie Checkpoint, What I Saw in Hebron und For My Children handeln alle auf klarsichtige und kritische Weise von der Besatzung. Mir fallen nur sehr wenige Beispiele interessanter israelischer Kunst ein, die die nationalistischen und ethnokratischen Ideologien des „Jüdischen Staates“ ausdrücken.[9] Das fällt in den Bereich von Kitsch und touristischem Schnickschnack. Seriöse israelische Künstler wie Larry Abramson schildern die Besatzung mit unerschrockener Offenheit, indem sie beispielsweise die Architektur der Siedlungen als fantasmatische suburbane Inseln zeigen, die in einem Meer der Abstraktion schwimmen (Abb. 1). Fotografen wie Miki Kratsman haben die trompe l’oeil-Wandbilder der Gilo-Siedlungsmauern (Abb. 2) als Selbsttäuschung über „befriedete“ Landschaften der Besatzung und vergängliche Spuren beduinischer Landforderungen (Abb. 3) und somit als Objekte einer fotografischen Rettungsaktion dargestellt. Die stetige Zerstörung des traditionellen Palästinas, seiner verschwundenen Archive und die durch Aufforstung verdeckten Dörfer gehen mit unerschütterlichem Widerstand der künstlerischen und akademischen Gegen-Erinnerung einher, die beharrlich versucht zu retten, was durch den zionistischen Nationalismus begraben und vergessen werden sollte. Noit und Dan Gevas Dokumentarfilm What I Saw in Hebron (1999) birgt die überlebenden Erinnerungen an eine Zeit, als Juden und Araber „Milch-Cousins“ waren, die vor der Ankunft europäischer Zionisten und ihrem Bestehen auf Rassentrennung als Nachbarn und Freunde zusammenlebten.

Larry Abramson, Israeli Utopia, 2006

Miki Kratsman, Gilo no.1 (from Panoramas of occupation series), 2001

Miki Kratsman, Bedouin Marker in the Negev Desert Displaced (3), 2010-2011
Unter zeitgenössischen palästinensischen Künstlern finden wir eine ähnlich vorrangige Beschäftigung mit dem israelischen Gegenüber. Wenn ein israelischer Film wie Yoav Shamirs Checkpoint (2003) einen Insiderblick auf die bedrückende räumliche Gewalt der Besatzung aus der privilegierten Perspektive eines israelischen Filmemachers wirft, der sich in diesen Räumen frei bewegen und filmen kann, dann liefert Khaled Jarrar mit Journey 110 (2009) den Kontrapunkt. Der Film dokumentiert die schwerwiegenden Einschränkungen palästinensischer Bewegungsfreiheit, in diesem Fall den 110 Meter langen Durchgangstunnel, der Palästinensern den Weg nach Jerusalem und zurück erlaubt, ohne einen israelischen Checkpoint passieren zu müssen. Jarrar operierte in nahezu totaler Dunkelheit, um die Anstrengung der Palästinenser zu zeigen, das „Licht am Ende des Tunnels“ zu erreichen. Shamir richtet seine Scheinwerfer und sein Tonaufnahmegerät direkt auf die brutale Attitude eines israelischen Grenzschützers, der seinen Rassismus voller Stolz offen zur Schau stellt. Shamir und Jarrar sind selbstverständlich nicht in irgendeiner Art direkter, buchstäblicher Kooperation im herkömmlichen Sinn verbunden. Ihre Arbeit als Filmemacher läuft jedoch auf eine indirekte Form gemeinsamen Arbeitens und gemeinsamer Anliegen hinaus, indem sie die Realitäten der israelischen Besatzung der Westbank bloßstellen.
Die Dokumentation israelischer Grenzen und Checkpoints nimmt eine unerhört komische Wendung in Sharif Wakeds Video Chic Point (2003), in dem es um eine fiktive palästinensische Modenschau geht, mit Outfits, die die Models oberhalb der Taille partiell entblößen, um den Verdacht von Selbstmordsprengwesten zu entkräften. Die schwarze Komödie ist gespickt mit geistreichen Innovationen, wie sich entfaltenden Vorhängen, Jalousien und Rollos, die die Oberkörper gutaussehender junger palästinensischer Models für die Blicke ihrer (implizit vorausgesetzten) israelischen Betrachter freilegen. Wie Bashir Makhoul und Gordon Hon anmerken, „offenbart Wakeds Video den eigenartigen Unterton eines sadomasochistischen Homoerotismus“, der in der „Interaktion zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Männern“ liegt (Makhoul/Hon 2013, 164).
Generell ist das Verhältnis von palästinensischer und israelischer Kultur ein Verhältnis agonistischer Symbiose und unterbrochener Transaktionen, in dem sich komplexe, ineinander verstrickte Geschichten in symbolischen Ereignissen, Performances und Arbeiten manifestieren. Selbst der palästinensische Nationaldichter Mahmoud Darwish bekennt sich zu seinem Bilingualismus, wobei er das Hebräische als „Sprache der Liebe“ sieht und gleichzeitig seine palästinensische Identität in eloquentem Arabisch zum Ausdruck bringt (Wasserstein 2012).[10] Edward Saids Würdigung zionistischer Errungenschaften, seine Weigerung, Zionismus auf eine simple rassistische Ideologie zu reduzieren, seine Anerkennung der Realität des Holocaust und seine unerschütterliche Zurückweisung antisemitischer Verleumdungen laufen in seiner bemerkenswerten Einsicht zusammen, dass die Palästinenser als „die Juden der Juden“ gedacht werden können, insbesondere in den Diaspora-Gemeinschaften. Said meinte auch, dass man die verstrickten Geschichten von Israelis und Palästinensern in musikalischer Analogie als kontrapunktuelle Struktur in einer tragischen Symphonie denken kann. Entsprechend ist Saids Bemühen, gemeinsam mit Daniel Barenboim Goethes Konzept des „West-Östlichen Diwans“ wiederzubeleben, wohl das berühmteste Beispiel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit (dennoch wurde auch dieses Projekt erstaunlicherweise Angriffsziel des Boykotts).[11] Und im Gegensatz zur verachteten und destruktiven Kategorie des „Kollaborateurs“ ist diese Zusammenarbeit offen, öffentlich und stolz, erfolgreich nationalistische Vorurteile zu überwinden.
Jean-Luc Godards Film Notre Musique (2004) vermittelt die furchtbare Asymmetrie im Verhältnis Israel/Palästina zum Zeitpunkt der schmerzvollen Geburt dieses Gebildes 1948 mittels der filmischen „Schuss-Gegenschuss“-Technik. Godard beginnt mit einem Vergleich von Fotografien, die jüdische und arabische Identitäten in nationalsozialistischen Stereotypen von „Jude/Muslim“ zeigen, bevor er Fotografien zeigt, die 1948 aufgenommen wurden, als Israelis „ins Wasser gehen, dem gelobten Land entgegen“, und Palästinenser „ins Wasser gehen, ihrem Ertrinken entgegen“. Das Resultat: „Das jüdische Volk wird Fiktion. Das palästinensische Volk wird Dokumentation. Schuss, Gegenschuss.“[12] Godards Assoziation der zwei Völker mit einem filmischen Formalismus des Dialogs und der Intersubjektivität und mit elementaren Filmgenres (Fiktion und Dokumentarfilm) ist womöglich etwas zu säuberlich und symmetrisch. Wie wir bereits gesehen haben, gibt es Dokumentation und Fiktion auf beiden Seiten der trennenden Grenze und nur selten ist die typische filmische Darstellung des Dialogs zwischen Palästinensern und Israelis in Schuss-Gegenschuss-Einstellungen wiedergegeben. Charakteristischer, vor allem in Dokumentationen über die Besatzung, ist die Darstellung von Palästinensern, die mit stummen, teilnahmslosen israelischen Soldaten, die jeden menschlichen Kontakt verweigern und nur über geschriene Befehle und gezückte automatische Waffen kommunizieren, ein Gespräch suchen oder um Gehör bitten. Schuss-Gegenschuss-Einstellungen sind nur dem Regisseur verfügbar, der Kameras auf beiden Seiten des Gesprächs laufen lassen kann, um zwischen der Position des sprechenden/sehenden Subjekts und der Position derer hin und her zu wechseln, die gehört und betrachtet werden.
Avi Moghrabis Film Avenge But One of My Two Eyes (2005) bietet ein sprechendes Beispiel für den Versuch, die Unterhaltung zwischen einem Israeli und einem Palästinenser ins Zentrum eines Filmes zu rücken. Moghrabis Erzählung ist als fortdauerndes Telefongespräch mit einem nicht-sichtbaren palästinensischen Freund in der Westbank gerahmt. Wir sehen den Palästinenser nie, hören durch das Telefon jedoch seine Stimme, die von den jüngsten militärischen Übergriffen Israels in Ramallah berichtet. Zu sehen ist der Regisseur, Moghrabi, wie er bei sich zu Hause in seinem vollgestopften Schnittraum vergeblich versucht, mit seinem Freund Anteil zu nehmen und ihn zu trösten. In diese Szenen ist Nachrichtenmaterial des israelischen Fernsehens zwischengeschnitten, das von den Übergriffen berichtet. Zudem sieht man Moghrabis eigenes filmisches Eindringen in die Westbank, wo er vergeblich versucht, die israelischen Grenzwachen so in Verlegenheit zu bringen, dass sie die Palästinenser ihre Checkpoints passieren lassen. Er dokumentiert andere signifikante Szenen, die nur einem israelischen „Insider“ zugänglich sind, wie das triumphierende Fest einer Siedlergemeinschaft, inklusive rassistischen Beleidigungen gegenüber „den Arabern“. Ein anderes Beispiel ist das ominöse Ritual für Touristen, das auf der Bergspitze von Masada abgehalten wird. Hier erzählen die Guides die Geschichte der alten Israeliten nach, die sich weigerten, vor den Römern zu kapitulieren und sich entschieden, lieber kollektiven Selbstmord zu begehen, als gefangen und versklavt zu werden. Diese Geschichte wird dann prompt als eine Allegorie auf die „Samson-Option“ oder den „Masada-Komplex“ des modernen Israels interpretiert, als die implizite Warnung, dass ein nuklear gerüstetes Israel sich nie erobern lassen würde; eher würde es die Welt mit sich untergehen lassen.
Moghrabis Film ist eine Übung in Bescheidenheit hinsichtlich der Fähigkeit der Kunst und des Künstlers, in die festgefahrene Israel/Palästina-Konstellation einzugreifen. Er stellt jedoch eine interessante Perspektive darauf bereit, wie die Besatzung und der Horror des Siedler-Kolonialismus bloßgestellt werden und ihnen gegenüber Widerstand geleistet wird. Er bietet auch einen ruhigen Moment der Kontemplation, der sich als Rückstoß gegen die geopolitische Allegorie von Masada eignet. Eine junge jüdische Frau stellt das heroische Narrativ infrage, das von Selbstmord statt Kapitulation handelt. Sie betont, dass die Frauen und Kinder von Masada keinen Selbstmord begangen hätten, sondern von ihren Männern ermordet worden seien, und zwar in einem Akt, der im direkten Widerspruch zum jüdischen Recht steht, das sowohl Selbstmord als auch Mord verbietet.
Das wohl stärkste Beispiel für eine filmische Zusammenarbeit in der palästinensischen Filmproduktion der jüngsten Zeit ist Five Broken Cameras (2011), in der Co-Regie von Emad Burnat und Guy Davidi. Die Arbeitsteilung zwischen den beiden Regisseuren ist recht kompliziert und komplex. Burnat, ein Bauer aus der kleinen Stadt Bil’in in der Westbank, die von mehr und mehr auf die Acker- und Weideflächen der Stadt übergreifenden israelischen Siedlungen umgeben ist, kauft zur Geburt seines Sohnes Gibreel eine Videokamera,[13] um zu filmen, wie dieser heranwächst. Das Filmen wird jedoch unweigerlich zu einer politischen Mobilisierung seiner Gemeinde und ihres friedlichen Protestes gegen die sich ausbreitenden Siedlungen. Burnat filmte diese Proteste, inklusive bemerkenswerter Aufnahmen von der brutalen Gewalt der Siedler und Soldaten sowohl gegenüber den Menschen als auch dem Land (seine Aufnahmen von brennenden Olivenbäumen und der Zerstörung der dörflichen Landschaft gehören zu den bewegendsten Szenen des Films). Nach fünf Jahren des Filmens und nach fünf Kameras, die von israelischen Soldaten zertrümmert oder in alle Einzelteile zerschossen wurden, gesellte sich Guy Davidi zu ihm und half, das Filmmaterial zu einer Erzählung zu formen, die durch die zerbrochenen Kameras strukturiert ist und die Burnat vom Kameramann zu einer führenden Figur in seinem eigenen Film werden lässt.
Man kann sofort das Potential für von beiden Seiten vorgebrachte Vorwürfe der „Kollaboration“ und „Ausbeutung“ oder „Aneignung“ sehen. Warum braucht Burnat einen Israeli, der dazukommt und seine Geschichte erzählt? (Davidi ist als „Autor“ und Co-Regisseur des Films aufgelistet.) Wie kann Burnat seine eigene Autorität als subjektiv filmender Augenzeuge bewahren, wenn er zu einer Figur in Davidis Geschichte wird, die zahlreiche Szenen enthält, die Burnat selbst nicht hätte filmen können, sondern nur andere Kameramänner? Die offenkundigste dieser Szenen ist jene, in der Burnat beinahe umkommt, als er mit seinem Lastwagen in die Grenzanlage kracht und die Kameras ihm bis in ein israelisches Krankenhaus, ja sogar bis in den Operationssaal hinein folgen.
Trotz seiner starken Kraft und kinematischen Eleganz ist der Zuschauer unaufhörlich verunsichert, was die Autorschaft und Autorität der Zeugenschaft des Films angeht. Wer filmt beispielsweise, wenn Burnats Frau ihn eindringlich bittet, mit dem Filmen aufzuhören? Steht er hinter der Kamera und benutzt diese wie ein Schutzschild gegen die Proteste seiner Frau, selbst während er diese Proteste aufnimmt? An anderer Stelle äußerte Burnat, dass die Kamera ihm ein Gefühl der Unverwundbarkeit beim Filmen von Gewaltszenen, sogar bei der Ermordung seiner protestierenden Nachbarn verliehen habe, aber er wisse, dass dies eine Illusion ist, wie die zerbrochenen Kameras beweisen. War ein Teil der Szenen inszeniert (zum Beispiel der israelische Operationssaal) oder wurden sie so gefilmt, wie sie passierten? Die elaborierte Produktion des Films, einschließlich der eleganten Betonung der eigenen Medialität durch jene strukturgebenden Momente, in denen die Kamera zerschmettert wird und dennoch die Aufnahme der selben Szene mit einer digitalen Fragmentierung der Bilder fortsetzt, lässt den Film magischer erscheinen als den relativ direkten Dokumentarfilm von Moghrabi. Wie konnte ein so guter Film mit einer billigen Handvideokamera von einem Bauern aus der Westbank gedreht werden? (Es ist deutlich zu bemerken, dass die Kameras im Laufe des Films teurer werden). Trifft dies Godards Kategorie des Dokumentarfilms oder der Fiktion?
Das Gefühl geteilter und womöglich unauflösbarer Autorität/Autorschaft des Films spiegelt die konkreten Umstände des „einen binationalen Staates“ wider, aus denen er hervorgeht. Dies führte sogar zu einem öffentlich sichtbaren Skandal, als die israelische Regierung die Chuzpe hatte, den Film zu einem „nationalen Produkt“ Israels zu erklären, und zwar zusammen mit dem in jenem Jahr für den Academy Award nominierten Dokumentarfilm The Gatekeepers (Dror Moreh, 2012), der eine Reihe von Enthüllungsinterviews mit ehemaligen israelischen Geheimdienstchefs zeigt und ein perfektes Gegengewicht zu Broken Cameras abgab.[14] Der Film Gatekeepers zeigt auf, was viele schon lange wussten, nämlich dass die brutale Besatzung der Westbank und des Gazastreifens, die von der internationalen Rechtsprechung wiederholt als Rechtsbruch verurteilt wurde, jeder vernünftigen Bemühung um Israels Sicherheit absolut zuwider gelaufen ist. Der chauvinistische, militante Nationalismus und Kolonialismus der zionistischen Ideologie haben einzig zu einer höchst gefährlichen Nachbarschaftsbeziehung und einem Respektverlust unter ehemaligen Freunden geführt. Gatekeepers bietet eine Makroperspektive auf diese Situation, für die Broken Cameras ein intimes, zutiefst affektives Bild bereitstellt. In einem wahrlich guten Sinne sind die Filme „kollaborativ“, wenn es um ihre Rezeption geht. Ich kann den Israelis nicht verdenken, dass sie Broken Cameras für sich beanspruchen wollten. Es spricht für guten Geschmack und sogar für eine Art perverser Gastfreundschaft.
Das Dokumentarische und die damit einhergehende Rhetorik des Wahrheitsberichts, des Realismus und des Festhaltens historischer Tatsachen findet sich zweifellos nicht (wie Godard behauptet) ausschließlich auf der Seite der Palästinenser. Die besten zeitgenössischen Dokumentarfilme handeln von dem einen Staat Israel/ Palästina und gehen entweder aus direkter oder indirekter Zusammenarbeit hervor, manchmal sind sie auch durch Dritte vermittelt. Frankreichs finanzielle Unterstützung war für den Film Five Broken Cameras entscheidend. Die Intervention des historisch erzählenden Comic-Künstlers Joe Sacco, ein in Malta geborener Amerikaner, öffnet das Archiv der Erinnerung und Dokumentation der israelischen Besatzung von Gaza (Palestine, 2001 und Footnotes in Gaza, 2010). Kürzlich richteten Rasha Salti und Kristine Khouris in Barcelona eine Ausstellung aus, um die Überreste der historischen Internationalen Ausstellung in Solidarität mit Palästina zu bergen, die 1978 in Beirut zusammengestellt worden war (und anschließend durch einen israelischen Bombenangriff 1982 zerstört wurde). Sie bringt uns in eine Zeit zurück, als die Palästinafrage eng mit den Befreiungsbewegungen in Südafrika und Chile verbunden war und die Unterstützung von Künstlern aus der ganzen Welt erfuhr. Die „planetarischen“ Ambitionen des winzigen, umkämpften Palästina finden sich in einer äußerst komischen TV-Werbung für die National Bank of Palestine bestätigt, die die erste palästinensische Mondladung zeigt. Die Astronautin wird von einem zehnjährigen Mädchen gespielt, das die Nationalflagge auf dem Mond aufstellt und dann für eine Umarmung zu ihren Eltern läuft, die sich unter das Kamerateam gemischt haben.[15]
Die schiere Chuzpe dieser imaginären Geschichtsschreibung charakterisiert auch eine von Ariella Azoulay in Civil Alliance, Palestine, 47-48 inszenierte ernüchternde andere Version der Geschichte. Azoulay hat die Haganah Archive[16] durchkämmt, um Hinweise auf lokale Friedensbemühungen in der Zeit der Nakba zu finden. Versuche palästinensischer Führer, die sich abzeichnende Gewalt abzuwenden, werden in den offiziellen Geschichtsschreibungen regelmäßig als schlicht verachtenswerte „Kollaboration“ eines besiegten und erniedrigten Volkes abgetan, die keine weitere Erwähnung verdient.[17] Das zionistische Narrativ von 1948 stellt die Palästinenser dar, wie sie in arabische Nachbarstaaten flüchten oder sich angreifenden Armeen anschließen. Azoulay versammelt eine bilinguale Gruppe von Arabern und Juden um eine Karte des historischen Palästina und nimmt auf, wie diese die in den Hagana-Archiven vorliegenden Aufzeichnungen über Versuche „ziviler Bündnisse“ in einhundert übers Land verstreuten Dörfern laut vorlesen. Jeder dieser Versuche wird durch ein weißes Plättchen auf der Karte dargestellt, um den Ort der lokalen Friedensverhandlungen zu markieren. Am Ende des Films ist die gesamte Karte mit weißen Plättchen bedeckt (Abb. 4).

Ariella Azoulay, still from Civil Alliance,47-48, 2012
Der Dokumentarfilm ist jedoch nicht das einzige Genre, das den einen Staat Israel/Palästina vereint. Godard assoziierte „Fiktion“ mit Israel, wobei er zweifellos an die zionistischen Träume vom jüdischen Staat dachte, der von fremden Elementen gesäubert ist. Fiktive Utopien und diesen entgegengesetzte Fantasien von einer bewaffneten Eroberung und Zerstörung des jüdischen Staats durchziehen jedoch weiterhin die Zukunftsvisionen anderer Akteure im Nahen Osten, vor allem die von ISIS und dem Iran. Hingegen ist die Vorstellung, „ins Meer geworfen zu werden“ (eine verblüffende Umkehrung von Godards Foto der Landung 1948) eine, die von den Israelis geteilt wird. Wie Avi Moghrabis Film zeigt, nährt diese Vorstellung paranoide Szenarien von einer „existentiellen Bedrohung“ ebenso wie das Masada/ Samson-Syndrom.
Die womöglich bemerkenswerteste künstlerische Fantasie von einem binationalen Staat, in dem Juden und Araber in Frieden nebeneinander leben, ist eine Performance-Arbeit, die von dem palästinensischen Künstler Shuruq Harb konzipiert, jedoch nie aufgeführt wurde. Harb schlägt eine landesweite Aktion der Massenkonversion vor, die von einem entsprechend qualifizierten israelischen Rabbi vollzogen wird. Darin würden alle Palästinenser gleichzeitig zum Judentum übertreten und dann sofort das Recht einfordern, in ihr eigenes Land zurückzukehren. Der Projektvorschlag ist unter anderem deswegen so brillant, weil er auf eine Weise konzipiert ist, die Schriftgläubige, Nationalisten, religiöse Dogmatiker und Rassisten auf allen Seiten in Empörung versetzt. Wie viele der interessantesten minimalistischen und konzeptuellen Projekte der westlichen Kunsttradition muss die Performance lediglich als Idee existieren, um einen kleinen Anstoß für die Imagination einer Nation, oder besser eines binationalen jüdischen Staats, zu geben, in dem ehemals muslimische und christliche Palästinenser als Brüder und Schwestern gemeinsam lebten.[18]
Eine bescheidenere (aber tatsächlich realisierte) performative Fantasie wurde von dem palästinensischen Künstler Khaled Jarrar in Form des ersten und einzig existierenden palästinensischen Pass-Stempels entwickelt (ich habe einen in meinem eigenen Pass). Was das Material und die Technik angeht, besteht dieses winzige Bild aus einem kleinem Gummistempel, der eine Friedenstaube mit dem Olivenzweig darstellt, die von dem Schriftzug „Staat Palästina“ in Englisch und Arabisch umrandet sind (Abb. 5). Diese Bestätigung eines im Werden begriffenen Nationalismus ist natürlich eine skurrile Abkehr von der tatsächlichen Gegebenheit eines einzigen jüdischen Staats, in dem Palästina lediglich in embryonaler Form existiert, im Kampf darum, geboren zu werden. Für Diaspora-Palästinenser, die zu Besuch in ihr Heimatland zurückkehren, spielt der Stempel eine besonders bittere performative Rolle. Jarrar hat seine Begegnungen mit palästinensischen Familien gefilmt, die am Busbahnhof in Ramallah ankommen und denen er angeboten hat, ihre Pässe zu stempeln. In einem besonders witzigen Video löst das Angebot des Stempelns bei einer Familie (Vater, Mutter und der Sohn im Teenager-Alter) sofort Streit aus. Die Mutter weigert sich und warnt ihren Mann, dass die Israelis ihnen Ärger machen werden, wenn sie diesen Stempel in ihren Pässen sehen. Der Mann ist sich nicht sicher, aber sein Sohn reicht Jarrar sofort seinen Pass zum Stempeln. Dann drängt er seinen Vater, es ihm gleichzutun, als eine Demonstration ihres geteilten männlichen Stolzes. Natürlich kann der Vater dem absolut nicht widerstehen und seiner Frau trotzend übergibt auch er seinen Pass.

Khaled Jarrar, Palestinian Passport Stamp. 2012
Auch Maler haben auf beiden Seiten der israelisch/palästinensischen Trennungslinie das Bild eines binationalen Staates heraufbeschworen. Der Fall von Asim Abu Shaqra, einem der begabtesten jungen israelisch-palästinensischen Maler in den späten 1980er Jahren, der Zeit der „Kinder-Intifada“, lohnt eine Betrachtung. Abu Shaqra malte eine ganze Serie von Bildern, die die Sabra-Pflanze zeigen, ein bekanntes und beliebtes Symbol für israelische Ansprüche, „im Lande geboren“ und daher tief in der Erde des Heiligen Landes verwurzelt zu sein (Abb. 6). Diese Bilder wurden schnell zu gefragten und wertvollen Objekten unter israelischen Kunstsammlern. Allerdings wurde ein kleines, verstörendes Detail in die Kompositionen geschmuggelt: Die Sabra Pflanzen sind nicht, wie einheimische Pflanzen, in der Erde verwurzelt dargestellt, sondern in Blumentöpfen wachsend, als wären sie bewegliche Zimmerpflanzen, die transportiert und verpflanzt werden können. Die bekannte Bedeutung des Symbols ist durch seine Bearbeitung in Abu Shaqras Kompositionen subtil unterlaufen.

Asim Abu Shaqra, Sabra Plant, oil on canvas, c. 1987.Courtesy of the Chelouche Gallery for Contemporary Art of Tel Aviv.
Für Palästinenser ist die Sabra-Pflanze natürlich viel weniger symbolisch aufgeladen. Sie ist eine landwirtschaftliche Nutzpflanze, die eine ausgezeichnete Hecke abgibt, um Obstgärten vor Tieren zu schützen. Sie ist auch eine von beiden Seiten genutzte Delikatesse, die ohne weiteres von palästinensischen Händlern zu israelischen Käufern wandert und berühmt dafür ist, „außen stachelig und innen süß“ zu sein, wie es ein Sprichwort für die Israelis selbst besagt. Aus der Sicht des einen Staates Israel/Palästina ist die Sabra-Pflanze das, was Emile Durkheim ein „Totem“ nannte, ein Objekt aus der Natur, das von einem Stamm oder einer Gemeinschaft als Symbol angeeignet wird, in diesem Fall von einer tief gespaltenen Gemeinschaft, die sich wie in einer Familienfehde geriert.
Mit Blick auf israelische Künstler möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Arbeit von Larry Abramson lenken, einem Gründungsmitglied von Artists without Walls und Schöpfer eines bemerkenswerten Bildes, das ich an anderer Stelle als „binationale Allegorie“ besprochen habe.[19] Abramsons Komposition Elyakim Chalachim (Abb. 7) von 1990 ruft eine hybride Bildlichkeit ins Leben, die so perfekt ist, dass sie idealerweise in eine solche Allegorie eingehen müsste.

Larry Abramson, Elyakim Chalakim I, oil on canvas, 1999. Private collection.
Es ist offensichtlich eine Synthese, aber nicht im Sinne einer modernen Kollage, sondern eher eine Kollision von disparaten stilistischen Elementen, die so wirken, als seien sie gezwungen, in einer einzigen Figur nebeneinander zu leben. Diese Figur ist recht buchstäblich ein Rettungsunternehmen, so wie sie Elemente moderner Malerei als Patchwork zusammenwürfelt (Malewitschs Schwarzes Quadrat, ein virtuoses Aufgreifen von Referenzen auf Farbfeldmalerei und Action Painting, eine ausgeschnittene Mondsichel und ein Netz abstrakter Pinselstriche, die an De Koonings späte Arbeiten erinnern). Gleichzeitig bedeutet der Name dieser zusammengesetzten Figur im Hebräischen wörtlich Elyakim (Gott wird wieder auferstehen) Chalakim (Teile, Stücke), als wäre die Figur eine Art Frankenstein-Monster oder Golem aus zusammengesammelten Teilen, die zu einer unstimmigen Einheit zusammengeflickt wurden. Abramson selbst hat dieses Bild ein Portrait „des großen Künstlers der Zukunft“ genannt, er weiß allerdings sehr wohl, dass der Name des Bildes auch mit „The Garbage Pail Kids“ (Abb. 8) in Verbindung gebracht wird: eine Figur aus einem Sammelkartenspiel für Kinder, die buchstäblich aus Müll zusammengesetzt ist. Wenn wir die einzelnen Elemente der Figur hinsichtlich nationaler Identität lesen, dann ist sie ein Russe (Malewitsch), ein Europäer oder Amerikaner (die expressionistischen Pinselstriche) und ein Araber, mit dem sichelförmigen Krummsäbel, der unter dem suprematistischen Brustharnisch baumelt. Elyakim Chalakim ist, kurzum, eine binationale Allegorie, eine Ansammlung von modernen und traditionellen bildlichen Elementen und eine Synthese von arabischen und jüdischen Zeichen. Das Netz von Pinselstrichen im „Kopf“ der Figur stellt wahrscheinlich die „Rose von Jericho“ dar, die häufig als ein Emblem für Israels Vermögen begriffen wird, „die Wüste erblühen zu lassen“, die aber von Arabern auch mit der Hand des Propheten Mohammed assoziiert wird, als ein Symbol der „magischen Kräfte der ‚hamsa’, der Handfläche, die Verheerungen böser Geister abwehrt“ (Manor-Friedman 2004, xiii).

Elyakim Chalakim, from Hebrew version of “The Garbage Pail Kids” (circa 1989), Children’s trading card.
Ich möchte mit Gedanken über ein Kunstgenre enden, das nicht in Godards binäre Unterscheidung von Dokumentation und Fiktion passt und das 1978 sicherlich nicht denkbar war. Es handelt sich um die relativ neue Entwicklung, die „Kunst als soziale Praxis“ genannt wird. Dieses Phänomen, das schwerlich als ein Genre, eine Form oder einfach nur eine Praxis bezeichnet werden kann, hat sich in den USA schnell verbreitet, vor allem in städtischen Gegenden wie meiner Heimatstadt Chicago. Dort habe ich mit einem afro-amerikanischen Künstler namens Theaster Gates in einem Programm zusammengearbeitet, das sich „Kunst und öffentliches Leben“ nennt. Dieses Programm, das gemeinsam von der Universität von Chicago und privaten Stiftungen gefördert wird, arbeitet daran, die unterversorgten Gemeinden im Süden Chicagos zu retten – einer Gegend, die von Soziologen als „verschandelt“ und verarmt bezeichnet wird, in der es nur relativ wenige Sozialeinrichtungen gibt und kaum Zugang zur Grundversorgung durch ordentliche Lebensmittelgeschäfte. (Weite Gegenden von Chicago lassen sich als sogenannte „food deserts“ (Nahrungsmittelwüsten) bezeichnen, in denen es nichts gibt außer winzigen Läden, die Junk Food und Lebensmittel minderer Qualität anbieten.)
Kunst als soziale Praxis ist zu einer kontroversen Formation in der Kunstwelt geworden, die von allen Seiten von selbsternannten „radikalen“ Kritikern bemängelt wird, die in ihr nichts anderes als Sozialarbeit sehen, die als Kunst daherkommt. Schlimmer noch, diese Bewegung der sozialen Praxis vermeidet tendenziell die routinierte anti-kapitalistische Rhetorik, die einer Kunstwelt so leicht über die Lippen geht, die vom Überschuss des neoliberalen Kapitalismus lebt. Kunst als soziale Praxis hat keine Angst zuzugeben, dass sie mit Stiftungen, Banken, Immobilienmaklern und Stadtentwicklern zusammenarbeiten muss, und dass sie das bekannte Risiko der „Gentrifizierung“ eingeht, wobei ehemals arme Viertel zum Ziel für Immobilienspekulation werden und die Verbesserungen in der Umgebung die Enteignung der Bewohner vorantreiben, die sich die höheren Mieten nicht leisten können. Ein wichtiger Aspekt der „Kunst(fertigkeit)“, die zu dieser Praxis gehört, ist es folglich (darauf insistiert Theaster Gates), einen Weg zu finden, das Viertel auf eine Art und Weise zu verschönern, die auf die bestehenden Ressourcen setzt, ohne sich der Gentrifizierung auszuliefern. Kurzum, es ist eine höchst selbstkritische und sich selbst bewusste Praxis der Umgestaltung, Erneuerung und Rettung, nicht der Revolution. Es ist eine Praxis der „radikalen Freigiebigkeit“ und der „direkten Aktion“, kein Errichten von Mauern zwischen Freunden und Feinden.
Das womöglich bekannteste Beispiel dieser Praxis in Israel/Palästina ist das Projekt, das als „Decolonizing Architecture“ bekannt ist und in dessen Rahmen Alessandro Petti, Sandi Hilal und Eyal Weizman zusammenarbeiten. Die Webseite beschreibt das Projekt
als eine Einladung, ein dringliches architektonisches und politisches Gedankenexperiment zu unternehmen und die heutigen Kämpfe für Gerechtigkeit und Gleichheit nicht allein aus der historischen Perspektive der Revolution zu überdenken, sondern auch aus der Perspektive eines fortwährenden Kampfes um Dekolonisierung. Infolgedessen gilt es weiterhin, das Problem der politischen Subjektivität nicht vom Blickpunkt einer westlichen Konzeption des freien Bürgers, sondern eher vom Blickpunkt des vertriebenen und staatenlosen Flüchtlings her neu zu denken. Man wird hier keine Beschreibungen von Volksaufständen, vom bewaffneten Widerstand oder politischen Verhandlungen finden, auch wenn diese natürlich ein integraler und notweniger Teil jeder radikalen politischen Transformation sind. Stattdessen präsentieren die Autoren eine Reihe von provokanten Projekten, die versuchen, sich den „Morgen nach der Revolution“ vorzustellen.
Diese Projekte beinhalten den Versuch, einen öffentlichen Raum oder einen Raum des Gemeinsamen (a „space of the commons“) zu schaffen, was auf Arabisch „Al-Masha“ genannt wird. Ich nahm 2013 an einem Workshop zu Al-Masha teil, der während des Symposiums zum Andenken an Edward Said im Haus der Kulturen der Welt in Berlin stattfand. Mit Bewunderung hörte ich zu, als Sandi Hilal das Projekt vehement gegenüber dem Vorwurf verteidigte, dass es a) westliche Konzepte der Öffentlichkeit nach Palästina importieren würde und b) eine Art von Reformismus und „Normalisierung“ (als Begriff beinahe so belastet wie „Kollaboration“) sei, insofern es anstrebt, das tägliche Leben in den Flüchtlingslagern zu verbessern. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, was ich von dieser Art Anschuldigungen halte. Sie sind Überbleibsel eines militanten revolutionären Nationalismus, der in diesem Moment der Geschichte nicht einfach nur unbrauchbar ist, sondern auch allzu wirksam jegliche Neigungen in Richtung eines gewaltsamen Extremismus verstärkt. Kunst hat in unserer heutigen Zeit eine neue Berufung, die weder Trotzki noch Adorno sich hätten vorstellen können: Sie ist dazu da, die Welt, ein Stadtviertel, einen Acker, ein Land, einen Kontinent und einen Planeten Schritt für Schritt neu zu gestalten. Was wäre ein besserer Ort, damit anzufangen, als Israel/Palästina?
Literatur
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© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- Editorial
- Introduction: From Comparative Arts to Interart Studies
- I. Frictions
- Israel / Palästina retten: Kunst und der binationale Staat
- I. Frictions
- Rematerialisation
- I. Frictions
- Is Brazil a Postcolonial Country?
- I. Frictions
- Myth-Science and the Fictioning of Reality
- II. Fictions
- Speculation and the End of Fiction
- II. Fictions
- “All Data is Credit Data”
- II. Fictions
- Yet Unborn Realities
- II. Fictions
- Deception and Fiction as Forms of World-making in Contemporary Art
- III. F(r)ictions
- Existentielle Dringlichkeit
- III. F(r)ictions
- Between Nostalgia and History in the US South: Fictions of the Black Waiter on Film
- III. F(r)ictions
- It’s (Still) About Time
- III. F(r)ictions
- Images of the Human Being
- III. F(r)ictions
- Autorinnen und Autoren
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