Wo steht die Labormedizin im Bereich der Hämatologie und der molekularen Diagnostik von Erkrankungen des blutbildenden Systems? Nach dem Update-Artikel mit einzelnen Highlights aktueller Fortschritte im letzten Jahr, ist es uns in dieser Ausgabe durch ein gemeinsames Heft der Fachredaktionen Hämatologie und molekular- und zytogenetische Diagnostik gelungen, namhafte Autoren für Übersichten zu wichtigen Schwerpunkten hämatologischer Erkrankungen zu gewinnen.
Die malignen hämatologischen Erkrankungen sind durch die Molekulargenetik überschaubarer und konkreter geworden, ihre molekularen Grundlagen werden in zunehmender Geschwindigkeit dechiffriert, wobei die Methodik des „Next Generation Sequencing“ (NGS) inzwischen eine führende Rolle einnimmt und den Laboralltag molekulargenetischer Speziallaboratorien erreicht hat. Ausgehend von dem spezifischen Tyrosinkinase-Inhibitor STI 751 und deren Nachfolgern, welche die bcr-abl-kodierte Tyrosinkinase bei chronisch-myeloischer Leukämie gezielt inhibieren und mittlerweile nach Absetzen des Medikamentes als kurativ betrachtet werden können, haben zunehmend auch therapeutische monoklonale Antikörper und zahlreiche weitere Tyrosinkinase-Inhibitoren eine Zulassung zur Therapie von hämatologischen Neoplasien erreicht. Diese neuartigen Krebstherapeutika erfordern jedoch eine präzise molekulargenetische Diagnostik und Verlaufskontrolle, da einerseits viele Substanzen nur bei einer bestimmten genetischen Konstitution wirksam sind, andererseits sich ein ursprünglich klonales Malignom evolutionär weiterentwickelt (siehe Abbildung 1A), d.h. Resistenzen durch erworbene Mutationen im Tumor auftreten können. Aber auch eine palliative Chemotherapie oder gar Eisenchelatoren kommen zum Einsatz und können den Verlauf z.B. bei den myelodysplastischen Syndromen wesentlich verbessern.
Dies verpflichtet den behandelnden Arzt mehr denn je, den Patienten einer korrekten und präzisen Diagnose zuzuführen. Bei einer zunehmenden Zentralisierung der Labordiagnostik im niedergelassenen und Krankenhausbereich kann der Bezug zur Einzelprobe jedoch bisweilen verloren gehen. An dieser Stelle ist eine arbeitstechnisch und finanziell ökonomische Stufendiagnostik gefragt, was beides eine zunehmende Herausforderung darstellt. Der Laborarzt steht an einer entscheidenden Schnittstelle, um aus Tausenden von Proben gerade diejenigen Veränderungen zu erkennen, die eine rasche therapeutische Intervention verlangen. Dazu muss man einerseits die Entitäten und Diagnosen kennen und andererseits die diagnostischen Methoden und deren Aussagekraft.
Bereits der zweite Schritt nach dem Hämatologiegerät führt zum Mikroskop: Es ist eine Gratwanderung falsch negative Befunde zu minimieren ohne dabei durch falsch positive Befunde den Arbeitsplatz der Mikroskopie zu überlasten. Diem und Kollegen haben diese Gratwanderung für uns unternommen und dazu einen neuen Vorschlag unterbreitet. Diese Stufe wiederum entscheidet über eine weitere Kette an abgestuften Spezialuntersuchungen, deren Kosten zwischen 100 und insgesamt fast 10.000 Euro liegen können.
Myelodysplastischen Syndrome und myeloproliferative Erkrankungen sind zwei schwierige Kapitel für einen Nicht-Hämatologen. Die WHO-Klassifikation 2002, 2008 und ihre kurz bevorstehende Neuauflage bzw. die ihr zugrunde liegenden Originalarbeiten haben diese Krankheiten demaskiert und molekulare Analysen haben dabei geholfen. Die Autoren Germing und Haferlach bzw. Kvasnicka und Grieshammer sind an dieser Klassifikation beteiligt bzw. haben durch ihr Spezialwissen wesentliche Beiträge auf diesen Gebieten geleistet. Die Überlappung der Entitäten bis hin zu akuten myeloischen Leukämien macht die Diagnosestellung im Einzelfall manchmal nicht einfach, wie die überlappenden Kreise in Abbildung 1B–E veranschaulichen, was einen integrativen Ansatz verschiedener Labormethoden und klinischer Befunde erfordert. Der Beitrag zu den akuten und chronischen lymphatischen Neoplasien konnte nicht termingerecht fertiggestellt werden und wird in einem der nächsten Hefte nachgereicht.

Wichtige Entitäten hämatologischer Neoplasien.
Theoretisch handelt es sich um getrennte Erkrankungen aber praktisch gibt es eine Verwandtschaft und auch Übergangsformen bzw. Überlappungsbereiche. (A) Klonale Stammzellerkrankungen. (B) Minimale Überlappung der lymphatischen (B-, T-) und myeloischen Leukämien. (C) Überlappung der MDS-Formen. (D) Überlappung der MPN. (E) Immunologische Überlappung bei ALL/B-NHL. 5q-, 5q- Syndrom; ALL, akute lymphatische Leukämie(n) (Oberbegriff); ProB-ALL, common ALL, prä-B-ALL, akute lymphatische Leukämien der B-Zell-Reihe (immunologische Klassifikation); AML, Akute myeloische Leukämie; B-NHL, Non-Hodgkin-Lymphome der B-Zellreihe (Oberbegriff); B-PLL, Prolymphozytenleukämie der B-Zellreihe; CLL, Chronische Lymphatische Leukämie; CML, Chronische myeloische Leukämie (bcr-abl1-Translokation=t(9;22)); CMMoL, Chronische myelomonozytäre Leukämie; DLBCL, diffus-großzelliges B-Zell-Lymphom; ET, Essentielle Thrombozythämie; HCL, Haarzellen-Leukäme (hairy cell leukemia); HCLv, Haarzellen-Leukämie-Variante; LPL, lymphoplasmozytoides Lymphom (früher Immunozytom, M. Waldenström); MALT, Mukosa-assoziiertes lymphatisches Gewebe; MBL, monoklonale B-Zell-Lymphozytose; MCL, Mantelzell-Lymphom (mantle cell lymphoma); MDS, Myelodysplastisches Syndrom; MM, plasmazelluläres Myelom (früher multiples Myelom, Plasmozytom, M. Kahler); MPN, Myeloproliferative Neoplasien; MTX, Methotrexat; MZL, Marginalzonen-Lymphom; PMF, Primäre Myelofibrose (früher Idiopathische Myelofibrose, Osteomyelofibrose); PPBL, Persistente polyklonale B-Zell-Lymphozytose; PV, Polyzythämia vera; RAEB, Refraktäre Anämie mit Exzess von Blasten; RARS, Refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten; RARS-T, RARS mit Thrombozytose; RCMD, Refranktäre Zytopenie mit multilineärer Dysplasie; SLL, small lymphocytic lymphoma (primär nodale Form der CLL); SLVL, splenisches Marginalzonen-Lymphom (splenic lymphoma with villous lymphocytes).
Hinrichsen, Subklewe et al. haben in Fortführung der Übersichtsarbeit von 2009 (J lab Med 33(5):271–281) eine aktualisierte tabellarische Zusammenfassung von Biomarkern geliefert, die heute in der hämatoonkologischen Diagnostik zum Einsatz kommen. Da gerade die molekulargenetischen Analysen, die untersuchten Gene, deren Bezeichnungen und Krankheitsassoziationen für den Nicht-Experten schwer verständlich sind, ist diese Übersichtstabelle sowohl für den Diagnostiker als auch für den Kliniker sehr hilfreich.
Hastka zeigt am Beispiel der Anämien, der häufigsten pathologischen Veränderung des Blutbildes, wie wichtig es ist, klinische Information und Alter in den Entscheidungsbaum einfließen zu lassen im Licht ihrer jahrzehntelangen Erfahrung auf diesem Gebiet.
Auch wenn in Deutschland die Hämoglobinopathien zu den seltenen Erkrankungen gehören, so zählen Sie doch zum Formenkreis der hämatologischen Erkrankungen und werden aufgrund von Zuwanderung und Globalisierung auch in unseren Breiten inzwischen häufiger beobachtet. Zur gibt in seinem Artikel einen hervorragenden Überblick über die pathophysiologischen Aspekte der Hämoglobinopathien. Seine Ausführungen zum aktuellen Stand der Diagnostik, die neben der Hb-Elektrophorese auch diffizile molekulargenetische Tests erfordert, werden ergänzt durch den Beitrag von Tepedino und Busse.
Bangol und Hauck runden das Potpourri der hämatologischen Diagnostik mit ihrem Beitrag über primäre Immundefekte ab. Auch hier handelt es sich um seltene Erkrankungen, die aber als massiv unterdiagnostiziert gelten. Erkrankungen der immunkompetenten Zellen können eine Vielzahl von mehr oder weniger charakteristischen Symptomen auslösen, wodurch deren klinische Einordnung erheblich erschwert wird. Auch hier setzt man viel Hoffnung in die molekulargenetische Diagnostik, die anhand der aktuellen Leitlinien dargestellt wird.
Das Beispiel der hämatologischen Diagnostik zeigt wie wichtig interdisziplinäre Ansätze nicht nur auf klinischer Seite, sondern gerade auch im diagnostischen Labor sind, in dem Kliniker, Labormediziner, Humangenetiker, Pathologen, Naturwissenschaftler und spezialisierte medizintechnische Fachkräfte Hand in Hand arbeiten, um einen integrierten Befundbericht zu erstellen. Die Integration und synoptische Interpretation von Einzelbefunden ist nicht nur eine zentrale Herausforderung für die hämatologische Diagnostik, sondern auch für andere Bereiche der Spezialdiagnostik essentiell und erreicht das Format eines Gutachtens. Es wäre wünschenswert, wenn die Akkreditierungsrichtlinien für das medizinische Labor künftig diesem Aspekt noch mehr Aufmerksamkeit schenken würden.
Mannheim und Martinsried im August 2015
©2015 by De Gruyter
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- Aktuelle Diagnostik in der Hämatologie
- Hämatologie/Hematology
- Stufendiagnostik zur Abklärung von krankhaften Veränderungen der Leukozyten
- Rationale Anämieabklärung
- Diagnostik von myelodysplastischen Syndromen (MDS) und akuten myeloischen Leukämien (AML)
- Differenzialdiagnose BCR-ABL1-negativer myeloproliferativer Neoplasien
- Hämoglobinvarianten – Pathomechanismus, Symptome und Diagnostik
- Molekulargenetische und zytogenetische Diagnostik/Molecular-Genetic and Cytogenetic Diagnostics
- An update of novel identified cytogenetic and molecular biomarkers in the laboratory diagnosis of hematological neoplasia
- Stufendiagnostik der Hämoglobinopathien
- Rational laboratory diagnostics of primary immunodeficiency disorders
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- Aktuelle Diagnostik in der Hämatologie
- Hämatologie/Hematology
- Stufendiagnostik zur Abklärung von krankhaften Veränderungen der Leukozyten
- Rationale Anämieabklärung
- Diagnostik von myelodysplastischen Syndromen (MDS) und akuten myeloischen Leukämien (AML)
- Differenzialdiagnose BCR-ABL1-negativer myeloproliferativer Neoplasien
- Hämoglobinvarianten – Pathomechanismus, Symptome und Diagnostik
- Molekulargenetische und zytogenetische Diagnostik/Molecular-Genetic and Cytogenetic Diagnostics
- An update of novel identified cytogenetic and molecular biomarkers in the laboratory diagnosis of hematological neoplasia
- Stufendiagnostik der Hämoglobinopathien
- Rational laboratory diagnostics of primary immunodeficiency disorders