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Digitale Mittler und literarische Vermittlungen. Clemens J. Setz’ Bot. Gespräch ohne Autor

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Published/Copyright: July 20, 2023
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Abstract

How ›literary mediation‹ is observed from the perspective of literature is discussed in this paper on the basis of Clemens J. Setz’ Bot. Gespräch ohne Autor. It is described here as a network of multiple operations and interconnections that take up excerpts of what has already been published and combine them with something new, and, at the same time, it is made recognizable as a fundamental moment of literature. What is reconstructed here on the basis of and from an exemplum is systematically relevant. The systematic connections that are of interest here, in turn, can only be made plausible by means of the text. This constellation is theoretically indissoluble.

This paper discusses this using both the notion of ›epitext‹ and incorporating the concept of ›mediation‹ unfolded by Bruno Latour. It brings the two together and opens the theoretical territory of ›literary mediation and promotion‹. It follows that mediation is defined as an operation that transforms, that is, not conserves and preserves, transferred into terms of literary mediation: not simply explains and comments, but transforms by inscribing and imprinting itself on what it mediates, is emphasized here. For the understanding of literary mediation, it follows that – instead of being in the service of a literary text conceived as an unchanging entity – it is always modifying and translating it in order to continually bring it forth as something new. While peritexts, however supplementary, constitute compact units, the epitextual perspective brings about their spatial and temporal dispersion. Literature is to be grasped epitextually not as a unity, but as an ensemble or network of different elements, references, and functions that project into a virtually expanded environment of a text. With such a reformulation of the concept of literature, it is stated that epitexts are not attributed to the mediation of literature, but to literature, and that the boundary between these areas is thought to be permeable.

The article examines how a text file becomes a printed text and how this shapes the understanding of ›digital literature‹. This also addresses the problem of big data, which requires distant reading procedures and to which Bot. Gespräch ohne Author reacts in a specific way, by capturing context-independent »word distributions« (Piper 2018, 43) to use them for new connectivities.

The article reveals the shifts between the possibilities of digitization, its literary adaptations, and a literature oriented to the categories of work, author, and book. It is not concerned with replacing texts designed according to traditional criteria with digital surfaces, but rather with pointing out the untranslatability of one system into the other. An untranslatability, however, that can only be demonstrated in the process of translation, the médiation. By taking up concepts of digital culture and incorporating them by quoting, reflecting, and parodying them, the book, consisting of printed paper bound between two covers, allows them to emerge in a disguise as mediators who participate in its shaping. On the one hand, it suggests that there can be no non-digital literature in a digital ecology, even if it ultimately presents itself in paper form; but, on the other hand, it also suggests that an artificial intelligence can only be described as text or code. It can show that and how literature subjects its mediations or the institutional and medial processes linked to literary mediation to (literary) scrutiny and thereby continually negotiates its own literariness. Where mediation meets the concept of literature, it is also challenged as a literary-theoretical category. With the help of the conceptual pair peri- and epitext, which corresponds to the distinction between literature and literary mediation, as well as with the inclusion of Bruno Latour’s concept of the ›médiateur‹, not only the category of the work in the sense of a stable entity distinguishable from its context is questioned, but also – directly related to this – the authorial function as a collectivity of technical operations was traced. A questioning that takes on a particular urgency under the auspices and with the instruments of digitality, bringing to light the traditional concepts of literature as (re)translations, which is exemplified by the transfer of a digital data set into a printed book.

1 Literaturvermittlungen

Wie ›Literaturvermittlung‹ (z. B. Rusch 1998) aus der Perspektive der Literatur beobachtet wird, soll im Folgenden anhand von Clemens J. Setz’ Bot. Gespräch ohne Autor erörtert werden. Als ein Netzwerk multipler Operationen und Vernetzungen, die bereits Publiziertes in Ausschnitten wiederaufnehmen und mit Neuem kombinieren, wird sie entfaltet und zugleich als grundlegendes Moment von Literatur kenntlich gemacht. Was hier anhand und von einem Exemplum ausgehend rekonstruiert wird, ist systematisch relevant. Die interessierenden systematischen Zusammenhänge wiederum können nur am Text plausibilisiert werden. Diese Konstellation ist theoretisch unauflösbar.

Dass Literaturvermittlung Teil des literarischen Textes selbst ist, thematisiert Bot. Gespräch ohne Autor in mehrfacher Hinsicht. Zum einen wird im Vorwort sein making of (Latour 2007, 153) als ein Vermittlungsprozess erzählt, an dem unterschiedliche soziale und technische Akteure kooperieren, die eine wechselseitige Vermittlungsstruktur hervorbringen. Zum anderen schreibt sich der Text einer Gattungstradition ein, dem Autorengespräch, das als epitextuelle Kommentierung und Erläuterung von Werken zum klassischen Repertoire der Literaturvermittlung gehört. So entwirft hier das Vorwort eine Erzählung, in welcher die Entstehung des nachfolgenden Textes als ein an den Möglichkeiten und Mustern der digitalen Welt orientiertes Arrangement geschildert wird, und leitet in das anschließende Interview bzw. Autorengespräch über, in eine epitextuelle Form also, die jedoch aufgrund ihrer besonderen Umsetzung die von einem Autorengespräch erwartete Vermittlungsleistung nicht erfüllt. Anstatt den Autor zu befragen, um mit seiner Unterstützung einen Zugang zu seinen Texten zu verschaffen, werden diese in einer assoziativen Struktur mit den Fragen der Interviewerin zu einem kommunikativen Netz geknüpft, das die erwarteten Zugänge, wenn nicht blockiert, so doch literarisch löst, also aufschiebt. Das Gespräch mit dem Autor, der im Untertitel des Textes seine Abwesenheit proklamiert, wird zum Gespräch mit seinen Texten und mithin selbst zu einem literarischen Text. Literatur und ihre Vermittlungen bilden demnach keine zwei voneinander abgrenzbaren Funktionsbereiche, sondern eine Interdependenz, die sich in fortwährenden Übergängigkeiten manifestiert. Damit aber ist eine grundlegende Beobachtung formuliert. Zwar lässt ein Projekt wie Bot. Gespräch ohne Autor literaturvermittelnde Aspekte als Literatur manifest werden, die Problematik, wonach Vermittlung und literarischer Texte nicht kategorial unterschieden werden können, ist jedoch von konstitutiver Bedeutung.

2 Epitextuelle Zirkulationen und Mittler

Dass Paratexte nicht nur an den Schriftcode gebunden sind, steht bereits bei Genette und ist nach und nach seitens der Literaturwissenschaft in weiterführenden Einzelanalysen auf Bild- und Tonebene entfaltet worden (vgl. Mütherig 2020). Wo indes, und zwar ungeachtet des jeweiligen Medienbezugs, von ›Paratexten‹ die Rede ist, dort sind zumeist ›Peritexte‹ gemeint und damit die Vielfalt derjenigen textuellen Markierungen und Einrichtungen, die dem jeweiligen Werk gleichsam physisch anhaften. In den letzten beiden Kapiteln seiner Schrift führt Genette jedoch eine Differenz zum Peritext, also dem, was er bis dahin typologisiert hat, ein: den Epitext. Mit diesem öffnet er gleichsam kurz vor Schluss eine neue Perspektive auf das Konzept der Paratextualität, insofern diese auch Erscheinungsformen der Rahmungsfunktion einbezieht, die »im freien Raum zirkulier[en], in einem virtuell unbegrenzten physikalischen oder sozialen Raum« (Genette 1992, 328).

Ein Werk lässt sich von seinen Peritexten nicht trennen, ist es doch nur über diese, mithin als ein Bündel peritextueller Mitteilungen und Operationen beschreibbar, ja überhaupt erst wahrnehmbar.[1] Die theoretische Radikalität des Konzepts der Epitexte besteht hingegen darin, dass sie Literatur auch auf Phänomene hin erweitert, die in der Regel ihrem Kontext bzw. ihrer Umwelt zugerechnet werden; dem also, was selbst nicht mehr Literatur ist. Als »Anhängsel des Anhängsels«, so Genette (ebd., 330), deuten Epitexte komplexe Verkettungen an, die auf eine unkontrollierbar werdende Expansion im »virtuell unbegrenzten physikalischen oder sozialen Raum« (ebd.) zusteuern und die Frage danach dringend werden lassen, was alles jenseits des Buchs oder eines anderen Werkkörpers noch zum Werk gehört? Während Peritexte, wie supplementär auch immer, kompakte Einheiten konstituieren, führt die epitextuelle Perspektive ihre räumliche und zeitliche Streuung herbei. Nicht als Einheit, sondern als Ensemble oder Vernetzung unterschiedlicher Elemente, Verweise und Funktionen, die in eine virtuell erweiterte Umwelt (vgl. Sprenger 2014) eines Textes hineinragen, ist Literatur epitextuell zu fassen. Eine solche Reformulierung des Literaturbegriffs kann gleichwohl nur unter der Voraussetzung geleistet werden, dass Epitexte nicht der Literaturvermittlung, sondern der Literatur zugerechnet werden und die Grenze zwischen diesen Bereichen als porös gedacht wird.

Unter »Vermittlungen«, die dem Funktionsbereich der Epitexte zugeordnet werden, versteht Genette Interaktionen zwischen »einem Schriftsteller und irgendeinem Mittelsmann« (Genette 1992, 240) sowie »de[n] selbständige[n] Einsatz der Medien« (ebd.). Auf diese Weise kann neben der Zwischenstellung, die sie einnehmen, auch die operative Eigenleistung der Medien und ›Mittelsmänner‹, etwa Agenten (vgl. Marling 2016; Childress 2017),[2] beobachtbar gemacht werden. Der Epitext diversifiziert das mediale Spektrum der Literatur und löst es von der Integrität eines Trägermediums – das zumindest in einer bestimmten historischen Phase der literarischen Kommunikation mit der Monopolstellung des Buchs einherging. »Der Ort des Epitextes ist« nämlich »anywhere out of the book« (Genette 1992, 328), heißt es dazu.[3] Die Beziehung, die die peritextuell gedachten Texteinheiten mit den räumlich entfernten und im »virtuell unbegrenzten […] Raum« des literarischen Feldes proliferierenden Epitexten knüpfen, wird als ›Vermittlung‹ bzw. im Plural als »Médiations« (Genette 1987, 358) bezeichnet, womit ein weiterer ebenso folgenreicher wie voraussetzungsvoller Begriff ins Spiel kommt. Zwar reserviert Genette ihn für Autor:innen-Gespräche und Interviews (vgl. dazu systematisch Walzer 2020), jedoch weist die ›Vermittlung‹ auf die Möglichkeitsbedingung von Literatur überhaupt hin. Überdies deutet sie auf Bereiche des professionalisierten, von unterschiedlichen Institutionen gesteuerten Funktionsraumes dessen hin, was im deutschsprachigen Raum der ›Literaturvermittlung‹ zugeordnet wird (vgl. u. a. Porombka 2007; Beilein/Stockinger/Winko 2012). Adressiert ist damit zugleich ein Forschungszusammenhang, der auf problematischen konzeptuellen Vorannahmen beruht. Dies insbesondere, weil er der Literatur unterstellt, nicht vermittelt, also vermittlungsfrei beschreib- und fassbar zu sein. Demgegenüber wird der »virtuell unbegrenzte[] Raum«, den die »Vermittlungen« erzeugen, nicht nur außerhalb des Buches, sondern auch außerhalb von Literatur verortet.

2005, knapp 30 Jahre nach der Veröffentlichung von Seuils bzw. Paratexte, erscheint Bruno Latours Reassambling the Social bzw. in deutscher Übersetzung: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, wo die Vermittlung nicht nur als eine grundlegende Operation des Sozialen, sondern auch als eine zentrale theoretische Kategorie reflektiert wird. Im Unterschied zu sogenannten »Zwischengliedern«, die »Bedeutung oder Kraft ohne Transformation transportier[en]« (Latour 2007, 70), sind Mittler oder ›médiateurs‹ gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie »übersetzen, entstellen, modifizieren und transformieren« (ebd.). Nicht die Unterscheidung interessiert hier, denn bei näherer Betrachtung sind auch »Zwischenglieder« letztlich als Effekte von Vermittlungen beschreibbar (ebd.). Dass die Vermittlung als eine Operation definiert wird, die transformiert, also nicht konserviert und bewahrt, in Termini der Literaturvermittlung übertragen: nicht einfach erläutert und kommentiert, sondern verändert, indem sie sich in das einschreibt und einprägt, was sie vermittelt, ist vielmehr hervorzuheben. Für das Verständnis von Literaturvermittlung folgt daraus, dass sie – anstatt im Dienst eines als unveränderliche Einheit gedachten literarischen Textes zu stehen – diesen stets modifiziert und übersetzt, um ihn fortwährend als etwas Neues hervorzubringen.[4]

3 Der Schutzumschlag

Wenn Formen epitextueller Schreibweise literarisch zum Einsatz kommen, wird das Schreiben über Literatur in literarisches Schreiben transformiert. Dass dabei epitextuelle Elemente, die durch räumliche Distanz zum Buch gekennzeichnet sind, wieder ins Buch zurückkehren – man könnte auch sagen: sie werden infolge dieser Rückkehr gleichsam ›entstellt‹ und neu verteilt, hören möglicherweise sogar auf, im engeren Sinn Epitexte zu sein –, deutet auf die Mittler hin, die in diesem Prozess wirken. Aus Epitexten werden Texte, die wiederum ihre eigenen Peri- und Epitexte hervorbringen und dabei die Einheit des Buchs einerseits stabilisieren, andererseits aber auch in Frage stellen.

»Clemens J. Setz, Bot. Gespräch ohne Autor, Suhrkamp« sind die zentralen Informationen auf dem Schutzumschlag des 2018 erschienenen Buchs (vgl. Abb. 1). Jedoch führt die typographische Gestaltung den Nachnamen des Autors in unmittelbare Beziehung zum Haupttitel, weshalb hier die Abgrenzung der Funktionen Autor/Titel aufgehoben erscheint. Trotz unterschiedlicher Farben ist es nämlich die mittige Positionierung sowie die Größenproportion der Buchstaben, die auf dem Schutzumschlag die Angaben »Setz Bot« als eine Einheit in Erscheinung treten lassen. Im »Setz« wird überdies die für digitale Bearbeitungen maßgebliche Kategorie ›Set‹ lesbar gemacht, indem das »z« aus der aus drei Buchstaben bestehenden Symmetrie »Set/Bot« gleichsam herausfällt. So organisiert die typographische Gestaltung die bibliographischen Angaben des Textes in gewisser Weise um. Indem sie sie verschiebt, ihre Lesbarkeit umsteuert und neue Verbindungen herstellt (vgl. dazu u. a. Wehde 2000; Falk/Rahn 2017), nimmt sie die Funktion eines Mittlers ein. Vermittlungen lassen sich demzufolge auch in der peritextuellen Ordnung beschreiben. Die Annahme einer Abgrenzung des »virtuell unbegrenzten Raum[es]« von der materialen Texteinheit, wie sie das Buch konstituiert, wackelt ohnehin, wie am Schutzumschlag greifbar, da aufgrund seiner einfachen Ablösbarkeit nicht mehr eindeutig bestimmt werden kann, ob er noch zum Buch oder schon zu seiner Umgebung bzw. »Außenwelt« (vgl. Detjen 2018) gehört.[5]

Abb. 1: Schutzumschlag von Bot. Gespräch ohne Autor
Abb. 1:

Schutzumschlag von Bot. Gespräch ohne Autor

Neben dem – perspektivisch in die Tiefe weisenden – Schriftzug »Bot« befindet sich die Illustration eines auf einem roten Deckchen sitzenden, strickendes Schafes. Es handelt sich um die Reproduktion eines Details aus Leonetto Capiellos Plakat »Le Moutant Tricotant«. Auf die Tiersymbolik nimmt bereits der erste Absatz des Vorwortes Bezug, wenn es heißt: »Der amerikanische Sci-Fi-Schriftsteller Philip K. Dick parodierte in seinem berühmten Roman ›Do Androids Dream of Electrical Sheep?‹, der als ›Blade Runner filmisch adaptiert wurde, den Turing-Test.« (Setz 2018, 7) Das angesprochene elektrische geht hier unmittelbar aus dem auf dem Schutzumschlag abgebildeten strickenden Schaf parodistisch hervor bzw. in dieses über, womit nicht nur Stricken, Programmieren und Schreiben miteinander vernetzt, sondern auch die Wollfäden mit Kabeln und digitalen Netzwerken buchstäblich verknüpft werden. Mit dem angesprochenen Zusammenhang ist zugleich ein Genderbezug aufgerufen (z. B. Abbate 2017, 67), der auch für Bot. Gespräch ohne Autor von Relevanz ist. Wer nämlich den vorliegenden Text ›programmiert‹ hat, ist keineswegs eindeutig und mit dem Verweis auf Clemens J. Setz zu beantworten.

Die eigentümliche Reihe, die der Schutzumschlag entwirft – Autor, Bot, Schaf – und das Vorwort weiterschreibt, wird auf der Titelseite des Buchs (vgl. Abb. 2) fortgesetzt. Eine Herausgeberin erweitert das Tableau der an dem Projekt namentlich Beteiligten: »Clemens J. Setz, BOT. Gespräch ohne Autor. Herausgegeben von Angelika Klammer« (Setz 2018, Titelseite). In gewisser Weise tritt diese Funktionsangabe in Konkurrenz zur Funktion der Autorschaft, die sich ihrerseits in Konkurrenz befindet zur technischen Programmierung durch einen Bot. Ein »Gespräch ohne Autor« kündigt der Untertitel an. Da Angelika Klammer als Lektorin, Übersetzerin, Projektentwicklerin und Jury-Mitglied in renommierten Gremien zur Vergabe von Literaturpreisen und -stipendien als eine der wichtigsten Akteur:innen des österreichischen Literaturbetriebs gilt – und damit eine wichtige Literaturvermittlerin ist –,[6] tritt nicht nur ihre Funktion, sondern auch ihr Name im Sinne einer bestimmten Marke in eine gewisse Konkurrenz zum Namen des Autors.[7]

Im Aufblättern vollziehen die peritextuellen Angaben des Buchs eine Transformation, insofern aus dem typographisch erzeugten »Setz Bot« des Umschlags ein von Angelika Klammer herausgegebenes Buch mit dem Titel »Bot. Gespräch ohne Autor« wird, dem gleichwohl ein Autorname vorangestellt und dessen Entstehung im anschließenden Vorwort erzählt wird. Die Titelseite gehört zwar dem nicht-diegetischen Raum des Textes an, sie ist jedoch zugleich mit der Diegese, die das Vorwort nicht nur einleitet, sondern auch selbst praktiziert,[8] unmittelbar verbunden. Dabei erzählt dieses die Geschichte, die den nachfolgenden Text nicht etwa, was naheliegend wäre, als einen Auszug aus einer Datenbank (vgl. Manovich 2001, 212 ff.), sondern als eine Art Gespräch zu lesen plausibilisiert. Der Schutzumschlag aber entwirft mit eigenen Mitteln eine Geschichte, die das »Setz«-Set auf bzw. über der Titelangabe »Bot« positioniert, in die das strickende Schaf hineinragt, womit neben dem Genderbezug auch der Bereich der manuellen Beteiligung an dem vorliegenden Produkt – im Kontrast zu dem es dominierenden Assoziationsfeld der Robotik – hervorgehoben wird. Dies schlägt sich auch in dem Schriftzug nieder, der händisch ausgeführte Pinselstriche imitiert, gleichwohl aber – womit ein weiterer Aspekt der Vielschichtigkeit dieser Konstellation angedeutet ist – digital hergestellt wurde. Die Titelseite hingegen folgt der Konvention, im Sinne des Urheberrechts sachlich informieren: über Autor, Titel, Herausgeberin und Verlag. Sie erzählt nicht, sondern klärt auf.

Im Vorwort aber wird die auf dem Schutzumschlag nicht genannte und auf der Titelseite gegenüber der Titel- und Autorangabe in deutlich kleinerer Schrift gesetzte Herausgeberin als Initiatorin des vorliegenden Projekts beschrieben. Sie sei diejenige gewesen, die sich an den Ich-Erzähler mit der Anfrage wandte, ob er mit ihr »eine Art Gesprächsband machen wolle« (Setz 2018, 9). Ist sie also die ›Programmiererin‹ hinter Bot? Resoniert im Motiv des strickenden Schafs auf dem Schutzumschlag ihre Bedeutung für den Text? – Die Entstehungsgeschichte und den Anlass zum Thema der Erzählung zu machen heißt, die Voraussetzung der Produktion in das Produkt selbst zu verwandeln.[9] Ursprünglich als Dokumentation eines ›Autoren-Gesprächs‹ geplant, wird das Projekt schließlich mit dem Untertitel »Gespräch ohne Autor« versehen. Auf diese sich selbst widerlegende Emphase der Autordemontage kommt es jedoch weniger an als auf den Umstand, dass sich der Text in mehrfacher Hinsicht verschiebt; dass das, was er sagt, und das, was er performt, nicht immer übereinstimmt; und dass er nicht zuletzt darin die Vermittlung als eine literarische Operation reflektiert.

Abb. 2: Titelseite von Bot. Gespräch ohne Autor
Abb. 2:

Titelseite von Bot. Gespräch ohne Autor

Das als »Gespräch« avisierte Projekt ist, insofern es zwei Gesprächspartner zusammenführt, in zwei Werkkontexte eingebunden. Nicht nur der Autor, auch die Lektorin/Herausgeberin hat eine Gruppe von Publikationen vorzuweisen, in die sich das Vorhaben einordnen lassen muss. »Angelika Klammer hatte schon zuvor mit verschiedenen Dichterinnen und Dichtern«, heißt es dazu weiter, »längere Interviews geführt« (ebd.). Tatsächlich erschien 2014 der von ihr ebenfalls herausgegebene Band Herta Müller, ›Mein Vaterland war ein Apfelkern.‹ Ein Gespräch. Weitere Autor:innen-Gespräche etwa mit Péter Esterházy, Richard Obermayr oder Arnold Stadler sind entweder in Zeitschriften oder als Bestandteil von auch andere Beiträge enthaltenden Veröffentlichungen erschienen. Hinsichtlich der Herausgeberfunktion durch Angelika Klammer lässt sich eine publikatorische Einheit, eine spezifische, wenn auch auf unterschiedliche Publikationsorte verteilte ›Reihe‹ identifizieren. Sie habe Interviews, heißt es hier, ›geführt‹, womit ihre Führungskompetenz angesprochen ist. Sie kennt den Weg, weiß selbst autorlose Texte zu begleiten und zu leiten.

Dass das mit Setz konzipierte Projekt gerade den Autor aus dem Gespräch zu verbannen vorgibt und dies programmatisch im Titel ausstellt, ist als unmittelbare Reaktion auf den Kontext zu werten. »Gespräch ohne Autor« – das gleichwohl einem Autornamen zugeschrieben wird, auf den sogar der »Bot« getauft wird – ordnet sich einerseits in diese Reihe ein. Andererseits aber verweigert es sich ihr auch, indem es ihre Grenzen zu verschieben sucht. Dabei findet die Verschiebung nicht nur aufgrund der behaupteten Leerstelle der Autorfunktion statt, sondern vor allem auch dadurch, dass die Kategorie ›Gespräch‹ zugleich aufgerufen und in Frage gestellt wird. Lässt sich der Text, obwohl er im Untertitel für sich verbucht, ein »Gespräch« zu sein, als Wiedergabe einer »unterredung zweier oder mehrer personen, namentlich in zwangloser unterhaltung« (Grimm 1897, 4164) lesen? Oder erzählt er vielmehr vom (Nicht-)Zustandekommen eines Gesprächs?

Die Überschrift »Bot« wird eng mit dem im ersten Satz des Vorworts genannten Prinzip verknüpft: »Alan Turing formulierte 1950 eine Testsituation, mit der man künstliche Intelligenz messen kann: Der Interviewer kommuniziert schriftlich mit einer Quelle, die entweder ein Computer oder ein anderer Mensch ist.« (Setz 2018, 7) Dieser Einstieg markiert zahlreiche Schnittstellen, die von dem Text ausgehen. Nicht unerheblich ist, dass hier nicht vom »Gespräch«, dessen Semantik an die Vorstellung eines mündlichen Austausches anknüpft,[10] sondern ausdrücklich von einen »Interview« die Rede ist. Das damit adressierte Format geht aus Praktiken der journalistischen Befragung hervor und bildet im Gegensatz zur philosophischen Fundierung des Gesprächs eine publizistische Form der Kommunikation (vgl. Walzer 2020, 211). Es bezeichnet eine Technik der massenmedialen Vermittlung, während dem Gespräch die Vorstellung zugrunde liegt, einen Austausch zwischen zwei oder mehreren Gesprächspartnern zu ermöglichen. Das Interview aber tendiert zu einem asymmetrischen Verhältnis zwischen den Beteiligten. Indem das Vorwort das zunächst annoncierte »Gespräch« kurzerhand in ein »Interview« umdefiniert, nimmt es eine markante Verschiebung vor und leitet so in einen Text ein, der »ohne Autor« auskommt und eine »Testsituation« anordnet.

Während das Vorwort in seiner Funktion, »eine gute Lektüre des Textes zu gewährleisten« (Genette 1992, 191), in diesen ein- und zu ihm hinführt, führt es hier zugleich auch aus ihm heraus, und dies nicht nur, indem es weitgespannte intertextuelle Horizonte öffnet, sondern auch, weil es die Grenzen des Mediums, in dem es veröffentlicht wurde, reflektiert: Als Buch erschienen, ist es nämlich mit dem »virtuell unbegrenzten Raum« verknüpft, der sich »anywhere out of the book« – durchaus auch im Sinne von ›this book‹ –, befindet. Es schreibt sich in die Reihe anderer Autor:innen-Gespräche ein, die als Bücher oder in Zeitschriftenpublikationen erschienen sind. Mit den Konzepten der künstlichen Intelligenz zeigt es überdies auf Erscheinungsformen der Kommunikation hin, die jenseits von Druckmedien und Schrift funktionieren. Das – stets auch unter dem Vorzeichen der Parodie stehende – Programm, dem sich der Text einschreibt, ist ein Test. Ist Bot. Gespräch ohne Autor das Produkt menschlicher Akteure oder einer Maschine? Und lässt sich diese Unterscheidung überhaupt sinnvoll aufrechterhalten? Flankiert wird die Test-Situation von einem dichten Netzwerk auktorialer Verweise. So ist etwa zwischen dem Vorwort und dem Titelblatt ein Motto abgedruckt, das kettenförmig nach John Cages Tagebuch Wittgenstein zitiert: Das Zitat eines Zitats als Motto.[11] Die durch das Vorwort geleistete Hinführung zum Text bedarf der Vermittlung durch Schriftsteller, Herausgeber, Mathematiker oder Musiker und Philosophen, um den Test durchzuführen. Ein ganzes Kollektiv von insbesondere männlichen Namen, das schon »im Vestibül« (ebd., 10) dieses Buchs aufgeboten wird, um den Setz-Bot, das Setz-Set mit Referenzen auszustatten, die das nachfolgende ›Interview‹ begleitend kommentieren.

4 Turing-Test

Das Modell des später sogenannten Turing-Tests hat Alan Turing unter dem Begriff »Imitation Game« als eine Anordnung beschrieben, die von der ursprünglich im Fokus stehenden Ausgangsfrage: »Can machines think?« (Turing 1950, 433) in die Beobachtung des kommunikativen Verhaltens verschoben wird. Ob eine Person dazu in der Lage sei zu erkennen, wer bzw. was, ein Mensch oder ein Computer, antwortet, soll entschieden bzw. eben nicht entschieden werden können.[12] In einem bereits 2014 in der Zeit veröffentlichten Artikel verhandelt Clemens J. Setz – zum Teil wortgleich mit Passagen im Vorwort aus Bot. Gespräch ohne Autor – die mit dieser Fragestellung zusammenhängenden Probleme. Eine Anekdote über einen Roboter, der den Schriftsteller Roboter Philip K. Dick nachbildet, ist hierbei zentral. In der Wiederaufnahme des Textes aber wird nicht nur die Wiederholung, sondern vor allem auch die Transformation deutlich, die das 2018 publizierte Buch gegenüber dem Zeitungsartikel vornimmt. Aus einer grundsätzlich wichtigen Befragung der KI wird in Bot. Gespräch ohne Autor eine rahmende Perspektive, die das eigene Gesprächs-Projekt als einen, wenn auch literarisch transformierten, Turing-Test zu lesen einlädt.[13]

Der Roboter soll so programmiert gewesen sein, dass er auf Anfragen mit Auszügen aus den Romanen und anderen Texten des Autors Philip K. Dick antwortete (vgl. Abb. 3). Er lässt sich daher als eine Art interaktives Hörbuch beschreiben, übersetzt er doch das Werk des Autors in Sound und vermittelt mithin Les- in Hörbares (vgl. Binczek/Epping-Jäger 2014). Entscheidend ist auch, dass er letztlich nicht aufhört, ein Buch zu sein. Das Rede- und Reaktionsverhalten des Androiden geht auf schriftliche Dokumente zurück: »Man sammelte also alle bekannten sprachlichen Äußerungen (Romane, Erzählungen, Aufzeichnungen, Tagebücher, Interviews) des enorm produktiven Autors. Glücklicherweise hatte er zu Lebzeiten Zehntausende Seiten geschrieben.« (Setz 2018, 7) Wie die maschinell erzeugte Stimme klang, nach welchem Interaktionsmuster und gemäß welchem Algorithmus die Antworten des Roboters generiert wurden, wird nicht thematisiert. Stattdessen werden die Reaktionen der Testpersonen beschrieben. Als »Isa«, Philip K. Dicks Tochter, von dem Androiden eine Antwort bekam, »war [sie] schockiert« (ebd.).[14] Als er einem größeren Publikum vorgeführt wurde, reagierte er nach einer Weile nicht mehr auf die Fragen, sondern monologisierte nur noch vor sich hin. Nachdem sein Programmierer den Lautsprecher immer wieder aus- und eingestellt hatte, je nachdem, ob der Roboter befragt wurde oder antworten sollte, »passten Fragen und Antworten auf merkwürdige Weise zusammen« (ebd., 8). Mehr noch: »Keinem Anwesenden fiel der Fehler auf. Die meisten waren der Meinung, vernünftige Dialoge gehört zu haben.« (ebd.) Mit dem Turing-Test soll nicht nur geprüft werden, ob es einen kommunikativ sinnvollen Bezug zwischen den Fragen und Antworten gibt, ob Anschlusskommunikation zwischen Mensch und Maschine stattfindet (vgl. dazu Dotzler 2021). Die Anekdote aber zeigt, dass ein Programmierer die Störung des Androiden mit Hilfe eines einfachen Tricks kompensiert, indem er die Lautsprecher ein- und ausstellt. Was als Turing-Test begann, endet bei der öffentlichen Vorführung als Manipulation.

Abb. 3: Der Schriftsteller Philip K. Dick als Roboter
Abb. 3:

Der Schriftsteller Philip K. Dick als Roboter

Mittels der Formulierung, dass die »Fragen und Antworten auf merkwürdige Weise zusammen[passten]«, wird auch das kreative Potential dieser Kommunikation angedeutet. Wenn die Passung in einer »merkwürdig[en]« Form erfolgt, dann generiert sie Ungewohntes. So verändert dieses Modell die Vorstellung davon, was ein Gespräch, mithin auch ein »Gespräch ohne Autor«, im Unterschied zu traditionellen Annahmen als »unterredung zweier oder mehrer personen, namentlich in zwangloser unterhaltung« sein kann. Der Turing-Test stellt unter Beweis, dass ein Gespräch des ›Autors‹ nicht bedarf, weil »es nur auf die Oberfläche der Kommunikation ankommt« (Setz 2014). Das damit auch für Prozesse literarischen Schreibens und Lesens in Anschlag gebrachte Konzept abstrahiert von psychologischen und philosophischen Vorannahmen, die Kommunikation vor allem als ein menschliches Vermögen auffassen (vgl. Sarner/Sternschulte 2007). Was indes »Oberfläche der Kommunikation« im Einzelnen bedeutet und wie sie beobachtet werden kann, lässt sich als Auftrag an die Lektüre von Bot. Gespräch ohne Autor verstehen.

Obgleich es hier nicht um den Bau eines sprechenden Androiden geht, sondern nur um ein textuelles Arrangement, das als Interview gelesen werden will, bildet das Problem der kommunikativen Interaktion zwischen Mensch und ›Nicht-Mensch‹, also Text, ein zentrales Motiv. Allerdings wird hier die Maschine textuell gedacht. Einerseits kann nämlich mit Blick auf den Philip K. Dick nachgebildeten Roboter festgehalten werden, dass er eine Textmaschine ist, wenn er ausschließlich bereits veröffentlichte Texte des Autors reproduziert. Andererseits soll auch der vorliegende, Clemens J. Setz zugeschriebene Text als ein maschinell hergestelltes Produkt in Erscheinung treten, das – wie der Androide – ›vor sich hin monologisiert‹, weil es einer fehlerhaften Programmierung folgt. Für das Selbstverständnis von Bot. Gespräch ohne Autor ist jedoch auch der Verweis bedeutsam, dass der Androide »Phil« noch im Jahr seiner Fertigstellung »während einer Flugreise zu einer Präsentation bei Google« (Setz 2018, 8) seinen Kopf verloren habe. Dieser »tauchte nie wieder auf« (ebd.). Wenn der Ich-Erzähler gerade in diesem Verlust ein Motiv der Texte Philip K. Dicks zu erkennen meint, weil in ihnen »ständig irgendwelche künstlichen Wesen ein eigenständiges Leben zu erkämpfen versuchen« (ebd., 9), dann wird zum einen dem verloren gegangenen Kopf unterstellt, sich möglicherweise auch verselbständigt und ein Eigenleben entwickelt zu haben, zum anderen die literarische Fiktion als ein Prinzip der nicht fiktiven Welt bestätigt. Weil der Androidenkopf ›untergetaucht‹ ist, weil er nun unsichtbar geworden ist – wie ein social bot, dessen Einsatz in den sozialen Medien prinzipiell überall vermutet werden kann –, deutet das Vorwort von Bot die Möglichkeit seiner Verwandlung in andere Erscheinungs- und Existenzformen an.

Mit Blick auf die fiktiven Szenarien der Werke Philip K. Dicks wird ein ›Eigenleben‹ des Androiden-Kopfes erwogen: Vermittlungen, die zwischen Werk und Leben unterstellt werden und auch in poetologischer Hinsicht verfolgt werden können. Zumal an der »Oberfläche der Kommunikation« ist er als Intertext und motivische Referenz in Bot. Gespräch ohne Autor wiedereingetreten und entwickelt auch hier ein Eigenleben. Damit verweist der Text auf eine mehrfache Transformation, die damit beginnt, dass der Autor Philip K. Dick zum Androiden »Phil« geworden ist, dessen Kopf – in dem die »Software wohnte« (ebd., 8), weshalb er das operative Zentrum dieser künstlichen Intelligenz darstellt – verloren ging und nie wiedergefunden wurde, um möglicherweise in Anlehnung an die Romane des Autors in einer anderen Form an einem anderen Ort doch wieder aufzutauchen, also in den Text Bot. Gespräch ohne Autor einzuwandern; eine Verwandlung von einem Autor zu einer Software, die sich an den Romanen ebendieses Autors orientiert und schließlich am Text eines anderen Autors mitschreibt.

Selbst Teil einer größeren Erzählung, die jedoch keine sein will, dient das Vorwort zugleich auch als ein Instrument literarischer Vermittlung. Literaturvermittlung findet auch innerhalb von Literatur statt. Sie beschreibt folglich keine ausschließlich auf den Kontext und Betrieb beschränkte Operativität. Wie Bot. Gespräch ohne Autor veranschaulicht, kann sie über anekdotische Selbstkommentierung geleistet werden oder indem sie ein dichtes Netzwerk zwischen Medien, Motiven, Textreferenzen und kommunikativen Anschlüssen knüpft. So legt in Bot. Gespräch ohne Autor das Vorwort – in Allianz mit dem Titel – fest, dass der anschließende Text erstens – als »Gespräch« annonciert –, tatsächlich aber als Interview und Turing-Test gelesen werden soll. Keineswegs ist dies in jeder Hinsicht evident. Zweitens legt das Vorwort nahe, dieses Interview nicht als Wiedergabe einer Autorenrede misszuverstehen, sondern als maschinell hergestelltes Produkt. Eine Selbstbeschreibung, die zwar nicht nachprüfbar, für die Lektüre des Textes aber maßgeblich ist. Drittens schließlich legt das Vorwort die Spur, den Folgetext als das Ergebnis einer Schummelei zu lesen, dem manipulativen Ein- und Ausschalten der Mikrophone am Androiden Phil vergleichbar.

Anhand des »Vorwortes« lässt sich verdeutlichen, dass die am Buchkörper gezogene Grenze zwischen dessen Innen- und Außenraum nicht geeignet ist, um auf ihr die Unterscheidung von Peri- und Epitext zu fundieren. Nicht »out of the book«, sondern innerhalb des Buchs kann durch das Vorwort etwa eine literaturvermittelnde Funktion, eine ›médiation‹ ausgelöst werden, wenn Reflexionen und Verhandlungen über den Text, dessen Bestandteil es ist, stattfinden.

5 Die Textdatei

Die Genese von Bot. Gespräch ohne Autor wird im Vorwort als Gemeinschaftsprojekt von Setz und Angelika Klammer, wie das Personalpronomen »wir« anzeigt,[15] beschrieben: »Schließlich kamen wir auf eine Idee.« (Ebd., 10) Vorausgegangen ist dieser ein Interview-Fehlversuch. Denn »nachdem wir uns dann getroffen hatten, erwies es sich, dass mit meinen transkribierten Antworten wenig anzufangen war« (Ebd.). Bemerkenswert ist, dass die Begründung für das Misslingen des Gesprächs der Schilderung korrespondiert, mit welcher das kommunikative Verhalten des Androiden »Phil« charakterisiert wird. »Die Unterhaltungen mit Phil waren allerdings nicht immer einfach. Oft laberte er stundenlang vor sich hin.« (Ebd., 8) In Analogie dazu heißt es über die aus der Sicht des Ich-Erzählers missratenen Antworten auf die Fragen der Interviewerin: »Stellen Sie sich vor, jemand redet einfach irgendwas, seitenlang. Genau so.« (Ebd., 9 f.) In beiden Fällen handelt es sich um eine monologische Dynamik, die sich von der Orientierung an einem Gegenüber gelöst hat. Dieses Abdriften einer dialogisch strukturierten Kommunikation wird hier anhand von Oberflächenmerkmalen bestimmt, die die Quantität der Kommunikationsanteile betreffen. Indem der Ich-Erzähler seinen Fehlversuch als ein »seitenlang[es]« ›Gerede‹ schildert, schafft er eine unmittelbare Beziehung zum »stundenlang« ›labernden‹ Androiden. Die gemeinsam mit der Herausgeberin gefasste »Idee« entscheidet auch über einen Medienwechsel von der Mündlichkeit des »Gerede[s]« in die Schrift, obgleich das Adjektiv »seitenlang« bereits auf das Trägermedium der Transkription hindeutet: schriftlich übersetztes, transformiertes Gerede. »Ob wir uns nicht, anstatt meine mündlichen Aussagen mühsam zusammenzuklauben und aufzubereiten, aus meinen Journalen bedienen könnten?« (Ebd. 10) Nicht der Autor, sondern seine Texte sollen befragt und die Vermittlung, die die Transkription leistet (vgl. Jäger/Stanitzek 2002; Jäger 2010),[16] somit umgangen werden. Die direkte Befragung der Texte sorgt auf der einen Seite dafür, dass eine Vermittlung übersprungen wird. Die Stimme des Autors als Vermittler wird für das Interview nicht gebraucht. Auf der anderen Seite aber bewirkt diese Anordnung andere Vermittlungen. Zwar orientiert sie sich insofern am Modell des Turing-Tests, als hier die Interviewerin einen Text adressiert, dem der Status einer intelligenten Maschine zukommt. Zugleich aber wird auch eine markante Asymmetrie gegenüber dem Androiden »Phil« erkennbar, da dieser umgekehrt Schrift in eine Mündlichkeit übersetzte, die ihn zu einem sprechenden Interaktionspartner machte.

»Diese Journale sind in einer elendslangen Worddatei gesammelt, die so etwas wie eine ausgelagerte Seele bildet. […] Angelika Klammer versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, anstatt des verstockt dahinplaudernden Autors einfach diese Datei zu befragen und auf deren Antworten wiederum Gegenfragen zu formulieren und so weiter, als wäre das Worddokument ein lebender Gesprächspartner. Sie stellte also ihre vorbereiteten Fragen und suchte in der Datei nach Antworten.« (Setz 2018, 10)

Die mit dem »stundenlang[en]« Gelabere und »seitenlang[em]« ›Gerede‹ eröffnete Reihe quantitativer Bestimmung von Kommunikation wird hier von einer »elendslangen Worddatei« ergänzt. Obwohl Bot. Gespräch ohne Autor nur knapp 170 Seiten umfasst und damit ein eher schmales Buch ist, wird durch die Komposita »stundenlang« und »seitenlang« auf eine überbordende, beinahe »virtuell unbegrenzte[]« Textmenge verwiesen, die in der Kennzeichnung »elendslang[]« gipfelt und vom vorliegenden Buch gerade nicht abgebildet wird. Das als »Gespräch« betitelte Textergebnis beruht demnach auf Vermittlungsprozessen, die über Kondensation und Selektion »virtuell unbegrenzt[e]« Datenmengen in ein überschaubares Korpus transformieren. Während die Komposita »stundenlang« und »seitenlang« in einem Zusammenhang verwendet werden, in dem Disproportionen auf der »Oberfläche der Kommunikation« angezeigt, in dem also Missverhältnisse in der Verteilung der Redeanteile festgestellt werden sollen, deutet die »elendslange[] Worddatei« auf ein anderes Problem hin, nämlich die Schwierigkeit, große Datenmengen auszuwerten. Big data (vgl. u. a. Bode 2017; Piper/Manalad 2020; Weitin 2021, 35 ff.) erfordern distant reading-Verfahren (vgl. u. a. Moretti 2017; Weitin 2017; Flanders/Jannidis 2019; Underwood 2019), auf die Bot. Gespräch ohne Autor in spezifischer Weise reagiert. Auf die Fragen der Interviewerin werden die Antworten digital – mittels einer Computeranwendung – aus Setz’ Texten ausgewählt. Es ist der Computer – so zumindest das hier ins Spiel gebrachte Narrativ –, der die – »auf merkwürdige Weise« passenden – Textstellen findet. In dem im Vorwort mehrfach angesprochenen, auf die Kollektivität des Projekts abhebenden »wir« müssen daher der Datensatz und der Computer mitgedacht werden.

Die ›Journale‹ liegen als Worddatei vor, womit eine basale Bestimmung des Konzepts ›digitale Literatur‹ gegeben ist. Insofern heutzutage alle zur Veröffentlichung bestimmten Texte als digitale Dateien bearbeitet werden, ist Digitalität auf dieser Stufe literarischer Produktion eine conditio sine qua non. Anzunehmen ist auch, dass die Texte in der Regel nicht erst nachträglich digitalisiert, sondern bereits am Computer geschrieben werden, also digital entstehen. In diesem Sinne kann Literatur immer nur digital sein. Digitale Literatur ist der Normalfall und Digitalisierung die operative Grundlage bei der Produktion von Büchern. Die (Rück)Übersetzung in bedrucktes Papier stellt dabei eine eigentümliche Transformation – eine Vermittlung – dar, die zwar auf Erwartungen und Usancen des Literaturbetriebs reagiert und kulturell bedingte Kontinuitäten erzeugt,[17] deren Produkte jedoch nur noch als hybride Artefakte (vgl. Engelmeier 2019) in »digitalen Ökosysteme[n]« (Goldsmith 2017, 211; Schulze 2020) beschrieben werden können.[18]

Im Bild »eine[r] ausgelagerte[n] Seele«, mit dem die Datei verglichen wird, klingt eine grundlegende Deplatzierung, vielleicht sogar Entstellung, an. Datenverarbeitenden Zugriffen unterzogen, kann ein Text in unterschiedliche Elemente zerlegt, er kann defiguriert und nach verschiedenen Gesichtspunkten zu zahlreichen neuen Texten wieder rekombiniert werden (vgl. Heilmann 2012). Aus einem auktorialen Artefakt wird ein ›Textset‹, aus dem man sich bedienen kann. So scannt die Interviewerin die Datei auf bestimmte Begriffe hin, nimmt Passagen heraus, die sie als Antworten auf Fragen arrangiert. Während zuerst ein von Setz verfasster Text in eine ›Worddatei‹ und damit in einen Datensatz transformiert wird, wird dieser dann wieder von Angelika Klammer zu einem Text umgearbeitet, der die äußere Form eines Gesprächs, zumindest aber einer Frage/Antwort-Dynamik annimmt. Die ausgewählten Textpassagen werden dabei unabhängig von der diarischen Logik des Journals vernetzt und mithin umprogrammiert. Da im Anschluss an die als Antworten figurierenden Passagen die jeweilige ursprüngliche Journal-Datierung in Klammern angehängt ist, wird nicht nur die Herkunft der Texte kenntlich und ihre neue Kombinatorik sichtbar gemacht, sondern auch das Spannungsverhältnis zwischen dem Datum als ›Indexikalität‹ und den nur im Plural denkbaren digitalen Daten, die von der ›Indexikalität‹ im Sinne eines irreduzibel einzigartigen Ereignisses abstrahieren (vgl. Rieger 2020).

Wenn ›Journal-‹Einträge in Interviewantworten umgewidmet werden, bekommen sie – zumindest formal – eine dialogische Oberfläche. In dieser Anordnung werden sie als Aussagen lesbar gemacht, die von den Fragen der Interviewerin erst veranlasst worden sind. Darüber, dass die Antworten bereits formuliert worden waren, wenn auch nicht als Antworten, bevor sie von den Fragen in die Form eines Gesprächs gebracht worden sind, klärt das Vorwort auf. Dissimuliert wird dadurch der Eindruck, der Text bilde ein Gespräch oder ein Interview ab. Zum angewandten Verfahren heißt es dabei, »die Treffer [wurden] durch eine simple Volltextsuche bestimmter zentraler Wörter innerhalb der formulierten Frage oder auch sinnverwandter Begriffe erzielt« (Setz 2018, 10). Ein denkbar einfacher Einsatz des Computers, dessen Mitwirkung möglicherweise entbehrlich wäre. Auch ein menschlicher Leser kann Texte auf bestimmte Suchwörter und -zeichen hin prüfen. Der Computer aber optimiert, beschleunigt und standardisiert dieses Verfahren, mit dem kontextunabhängige »word distributions« (Piper 2018, 43) erfasst werden können, um sie für neue Konnektivitäten zu nutzen.

6 Die Oberfläche der Kommunikation

Mit dem Untertitel markiert der Text nicht nur die Problematik seiner Urheberschaft, sondern vor allem auch die strukturellen Ambivalenzen, die zwischen ›Gespräch‹, Absenz des ›Autors‹ und dem Einsatz künstlicher Intelligenz in unterschiedlichen Erscheinungsformen – als Androiden wie »Phil« oder unsichtbar wirkende Codes, also Bots (vgl. Engelmeier 2022) – schwingen. Zudem weckt der Haupttitel Erwartungen an einen offensiven Einsatz digitaler Technologien, wie sie etwa in einer von social media geprägten Literatur zur Anwendung kommen (vgl. dazu z. B. Penke 2019; Penke 2021; Gaderer 2022)[19] oder auf algorithmisch erzeugten digitalen Textoberflächen zur Sichtbarkeit gelangen und im Sinne von ›Netzliteratur‹ (Simanowski 2002; Heibach 2003; Schäfer 2013; Lange/Zapf 2019) fassbar sind. Stattdessen wird hier das ›Bot‹- mit dem ›Werk‹-Konzept kurzgeschlossen, wenn es im vorletzten Satz des Vorwortes und damit an einer durchaus hervorgehobenen Stelle heißt: »Der Autor selbst fehlt und wird durch sein Werk ersetzt.« (Setz 2018, 11) Als ließe sich die Autor- von der Werkfunktion lösen. Die gewählte Formulierung in der dritten Person Singular markiert indes eine Distanzierung, die der Ich-Erzähler gegenüber dem ›Autor‹ einnimmt. Nicht der Ich-Erzähler, eine Art Android, sondern der Autor wird demnach ersetzt. Und zwar »[d]urch eine Art Clemens-Setz-Bot« (ebd.), womit eine Verschiebung der auktorialen Bestimmung stattfindet: eine Transformation vom Ich-Erzähler-Autor zur Bot-Autorschaft, die schließlich sogar den Namen des Autors adaptiert. Der behaupteten Auslöschung des Autors korrespondiert also eine Autorisierung des Bots.

Dass der »Autor selbst fehlt« (ebd.), ist zumindest im Zusammenhang mit textbasierter Kommunikation die Regel. Gleichwohl weist seine Durchstreichung im Kontext eines als ›Gespräch‹ gekennzeichneten Projekts eine andere Dimension auf. Zur Dramaturgie auch eines schriftlich reproduzierten ›Gesprächs‹ gehört es nämlich, Texte als Rede eines Autors bzw. einer Autorin auszuflaggen und nachvollziehbar zu machen. Ein gedrucktes Gespräch gilt als Abbild eines mündlich basierten Austausches zwischen zwei Kommunikationspartnern.[20] Es bindet den Text an eine/n Sprecher:in, womit es dem Modell der/s Androiden – also einer Textmaschine in einem humanoiden Körper – folgt.

Obschon die »Oberfläche der Kommunikation«, die Bot. Gespräch ohne Autor strukturiert, fast vollständig nach dem für ein Interview konstitutiven Frage/Antwort-Schema gebaut ist, lässt die Lektüre eine inhaltlich nur lose, zum Teil überhaupt keine Beziehung zwischen beiden Teilen erkennen. Das formal inszenierte Frage/Antwort-Schema tritt somit als bloße »Oberfläche der Kommunikation« zutage. Dabei werden weder die Fragen noch die Antworten namentlich der Herausgeberin oder dem Autor zugeschrieben oder überhaupt personalisiert. Das ›Gespräch‹ ist in 5 Einheiten unterteilt, die mit der Zeitangabe »Tag« überschrieben werden, als sollte damit eine Entstehung des Textes von »Tag 1« bis »Tag 5« dokumentiert werden.[21] Eine genaue Datierung fehlt jedoch. Gleichzeitig sind die Antworten mit Datierungen versehen, die wiederum auf die ursprünglichen Journaleinträge hindeuten. Sie sind nicht chronologisch geordnet und legen somit eine von den ›fünf Tagen‹ unabhängige zeitliche Struktur offen. Auf »(Anfang Dezember 2016)« (ebd., 13) folgt »(6. März 2013)« (ebd., 14) und darauf »(Dezember 2016)« (ebd., 15), dann »(September 2017)« (ebd., 16) und »(August 2013)« (ebd.). Markiert wird damit nicht nur die Herkunft dieser Textpassagen aus früheren Einträgen und Veröffentlichungen des Autors Setz, sondern auch die Ungleichzeitigkeit, die zwischen der Rahmenstruktur – fünf Tage – und den gestreuten zeitlichen Verweisen im verwendeten Textmaterial besteht. Eine im Text archivierte Schichtung unterschiedlicher Zeithorizonte und Bearbeitungsebenen.

Dass der Autor trotz seiner im Untertitel vorgenommenen Streichung dennoch im Text in Form von Spuren, Sedimenten und anderen indexikalischen Bruchstücken wiederaufzutauchen hofft, dass er es für möglich hält, dort ein zersplittertes Eigenleben zu entwickeln, spricht der letzte Satz des Vorwortes aus. Er werde nämlich ersetzt durch »eine Art Clemens-Setz-Bot, bestehend aus den kombinierbaren Journaleinträgen, in deren rudimentärer K.-I. Maschine er [der Autor, N.B.] vielleicht noch irgendwo eingenistet lebt« (ebd., 11). Hier die Begriffe »Bot« und »K.-I.-Maschine« anzuführen und den gesamten Text unter das Paradigma »Turing-Test« zu stellen, befremdet. Bot. Gespräch ohne Autor ist weit von Konzepten und Poetiken entfernt, die digitale Literatur als ein hochtechnisches, algorithmisch determiniertes Verfahren auf Bildschirm-Interfaces ausstellen. Vielmehr setzt der Text auf Transformationsprozesse – ›médiations‹ –, die die Verschiebungen zwischen den Möglichkeiten der Digitalisierung, ihren literarischen Adaptionen und einer an den Kategorien Werk, Autor und Buch orientierten Literatur offenlegen. Es geht gerade nicht um eine Ersetzung von nach traditionellen Kriterien gestalteten Texten durch digitale Oberflächen, sondern um das Aufzeigen der Unübersetzbarkeiten des einen in das andere System. Einer Unübersetzbarkeit, die allerdings nur im Prozess der Übersetzung, der ›médiation‹, nachgewiesen werden kann. Indem das aus bedrucktem, zwischen zwei Buchdeckeln gebundenen Papier bestehende Buch Konzepte der digitalen Kultur aufnimmt, sie zitiert, reflektiert und parodiert und indem es sie sich zum Teil aneignet und zuschreibt, lässt es sie in einer ›Verstellung‹ als Mittler zutage treten, die an seiner Gestaltung mitwirken. Einerseits deutet es deshalb darauf hin, dass es in einer digitalen Ökologie keine nicht-digitale Literatur geben kann, selbst wenn sie sich letztlich in Papierform präsentiert; andererseits aber deutet er auch darauf hin, dass eine künstliche Intelligenz nur als Text – oder Code – beschreibbar ist.

Bot. Gespräch ohne Autor ist formal bzw. an seiner ›Oberfläche‹ weitgehend als Frage/Antwort-Dynamik strukturiert. Dass zwischen der jeweiligen Frage und der vermeintlichen Antwort markante Diskonnektivitäten zutage treten, die kein stringent aufeinander abgestimmtes Gespräch ermöglichen, gehört zur Anordnung des Textes. Unentschieden bleibt der Turing-Test: Es kann nicht letztgültig entschieden werden, ob die KI, die hier aus Worddateien einen Text zusammengesetzt und mit den Fragen verknüpft haben soll, ihre Kommunikationsfähigkeit unter Beweis stellt oder gerade nicht. Trotz der zahlreichen Fehlverbindungen zwischen Frage und Antwort lassen sich auch über einzelne Wörter ausgelöste Bedeutungsverknüpfungen erkennen. Ein kommunikativer Anschluss liegt vor. Vor allem aber lässt sich erkennen, dass die Antworten auch neue Fragen hervorrufen. Die Kommunikation findet hier statt, indem nicht nur die Fragen, sondern auch die Antworten als Mittler, als Vermittler fungieren, da sie weitere Fragen hervorrufen. Die dadurch erzeugte Produktivität der Fragestellungen – mitnichten sind die Fragen ausschließlich vor der Begegnung mit der Textdatei bereits formuliert gewesen – ist literarisch bedeutsam:

Nachdem der Text in dem Setz bzw. Setz-Bot zugteilten Part auf Robert Shields »Tagebuch« eingegangen ist: »In 94 Kartons lagert sein Werk, das längste Tagebuch aller Zeiten, heute in der Washington State University archiviert, ca. 37,5 Millionen Wörter« (ebd., 38), folgt eine der Interviewerin zugeschriebene Feststellung, die dieses Projekt mit Wikipedia zu vergleichen nahelegt: »Sie wären sicher einverstanden damit, Wikipedia ein monströses Erzählprojekt zu nennen, mit Absätzen voller Poesie.« (Ebd., 39) Nicht nur wird hier die bereits im Zusammenhang mit der »elendslangen Worddatei« virulent gewordene Problematik der Quantitäten wieder aufgegriffen und so zu einem der vom Vorwort über den anschließenden Text verlaufenden roten Fäden geknüpft, sondern auch die Frage nach einer Poetik aufgeworfen, die, da sie nicht grundsätzlich zwischen Information und Fiktion, zwischen Enzyklopädie und Erzählung, zwischen Autor und Bot unterscheiden muss, auch ein Interview nicht ausschließlich als einen Epitext, sondern als ein »Erzählprojekt […], mit Absätzen voller Poesie« zu beschreiben ermöglicht (ebd., 39). Es ist vielleicht kein Zufall, dass an dieser Stelle der Teil des Textes, in dem üblicherweise die Fragen gestellt werden, im Modus einer konstativen Äußerung formuliert ist, weshalb er sich formal unmittelbar mit dem Teil des Textes verbindet, der den Antworten vorbehalten ist. So gehen die Fragen und Antworten ineinander über und lassen die Grenzen zwischen den beiden Interviewfunktionen, zumindest an dieser Stelle, verschwimmen. Dabei findet nicht ein Gespräch über die Texte Setz’ statt, sondern mit ihnen: Ein Beitrag zur Literaturvermittlung als Literatur.

Mit Bot. Gespräch ohne Autor konnte ein breites Spektrum theoretischer Reflexion aufgemacht werden, welches grundsätzliche Problemstellungen adressiert und nicht nur eine Neuausrichtung des als ›Literaturvermittlung‹ bezeichneten Forschungsfeldes, sondern auch den Literaturbegriff in den Zusammenhang differenter Vermittlungen einzutragen ermöglicht. Aufgezeigt werden konnte, dass und wie Literatur ihre Vermittlungen bzw. die mit der Literaturvermittlung verknüpften institutionellen und medialen Prozesse einer (literarischen) Betrachtung unterzieht und dabei fortwährend ihre eigene Literarizität verhandelt. Wo die Vermittlung auf den Literaturbegriff trifft, dort wird sie als literaturtheoretische Kategorie herausgefordert. Mit Hilfe des Begriffspaars Peri- und Epitext, der der Unterscheidung zwischen Literatur und Literaturvermittlung korrespondiert, sowie unter Einbezug von Bruno Latours Konzept des ›Mittlers‹ wurde nicht nur die Kategorie des Werks im Sinne einer stabilen, von seinem Kontext unterscheidbaren Einheit in Frage gestellt, sondern auch – damit unmittelbar zusammenhängend – die Autorfunktion als eine Kollektivität technischer Operationen nachvollzogen. Eine Infragestellung, die unter dem Vorzeichen und mit den Instrumenten der Digitalität eine besondere Dringlichkeit erfährt und die tradierten Konzepte der Literatur als (Rück-)Übersetzungen, wie an der Übertragung eines digitalen Datensatzes in ein gedrucktes Buch veranschaulicht, zum Vorschein kommen lässt.

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Published Online: 2023-07-20
Published in Print: 2023-07-18

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 14.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/jlt-2023-2003/html
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