Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts bezeichnet der Terminus ›Literaturvermittlung‹ zumeist die Vermarktung literarischer Publikationen und verweist auf ein breites Spektrum, das von Verlagsankündigungen und Werbebroschüren über Lesungen, Interviews und Rezensionen bis zu Zweitverwertungen und Adaptionen etwa in Film, Fernsehen oder Comic reicht. Stefan Neuhaus definiert den Begriff Literaturvermittlung als eine ›Umgangsform‹ mit literarischen Texten: »In der weiteren Bedeutung lassen sich unter Literaturvermittlung alle Personen, Institutionen und Prozesse fassen, die mit literarischen Texten umgehen, von der physischen Herstellung von Büchern als Produkt bis zur Diskussion von Deutungen im Literaturunterricht« (Neuhaus 2009, 13). Diese, auf die »berufsbezogene Vermittlung« (ebd.) hin orientierte Definition knüpft den literarischen Text auf das engste an das Produkt »Buch« in seiner Form als Papierbuch und schattet das Feld nicht buchförmiger Literatur ab, zu der etwa Zeitschriften, Beiträge im Radio und im Fernsehen gehören oder auch solche, die in diversen digitalen Formaten und auf mittlerweile veralteten Datenträgern wie Disketten oder Compactdisc veröffentlicht wurde und wird. Auch wenn das gedruckte Buch in der Literatur- und Geisteswissenschaft weiterhin das privilegierte Objekt ist, nimmt es im 21. Jahrhundert häufig jedoch nur mehr eine Position in einem vor allem digital gesteuerten Medienverbund (vgl. Bajohr/Gilbert 2021) ein und ist ein Objekt unter anderen Objekten, das unter der Marke eines Autors oder einer Autorin angeboten wird.
Der in diesem Schwerpunktheft diskutierte Begriff der Literaturvermittlung baut erstens auf der Annahme auf, dass sich der literarische Text nicht ›von selbst‹ oder zumindest nicht ausreichend in der Interaktion einer Leserin oder eines Lesers erschließt und dass ein Surplus erreicht werden kann, insofern weitere Instanzen eingeschaltet werden. Insbesondere im Schulunterricht, im Rahmen der universitären Ausbildung, in Institutionen wie Literaturhäusern oder in der journalistischen Buchkritik ist dieser Ansatz vorherrschend. Zweitens antwortet Literaturvermittlung auf den Bedarf, Literatur sowohl zu aktualisieren, also auch in neue Medienformate zu übersetzen, als auch im Kontext von berufsbezogenen Möglichkeiten nutzbar zu machen. Mitgeführt werden in beiden Zusammenhängen folgenreiche Implikationen, die Grundbegriffe und -operationen der literaturwissenschaftlichen Forschung betreffen. Zu denken ist dabei unter anderem an die Materialität und Medialität von Literatur, an Fragen nach Rezeptions- und Produktionsästhetik oder dem Verhältnis von Verstehen, Vermitteln und Funktionalisieren. Nicht erst aus der Perspektive der neueren medientechnischen Entwicklungen jedoch erscheint die unterstellte Grenzziehung zwischen dem Werk und seiner Vermittlung, zwischen dem literarischen Primat und seiner Kommentierung, Erläuterung, Aktualisierung oder Zweitverwertung problematisch (vgl. Rusch 1998). Insofern nämlich die Vermittlung der Literatur nicht äußerlich, sondern auch schon in ihren Schreibweisen angelegt ist, beschränkt sie sich nicht auf Distribution oder Popularisierung. Ebenso ist die Rezeption von Literatur in Vermittlung nicht auf das bloße Lesen und Verstehen zu reduzieren; ein entscheidender Schritt erfolgt erst in spezifischen Umgangsformen mit Literatur, unter denen das Interpretieren besondere Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft erfahren hat (vgl. Albrecht et al. 2015). Es ist zu vermuten, dass sich Literatur in der aktuellen Situation durch die ›Vermittlungen‹ nicht zuletzt ihren Fortbestand in einer medialen Umgebung sichert, die dem Konzept der versunkenen (vgl. Felski 2008; 2020) oder halluzinierenden Lektüre (vgl. Kittler 1985) von Gedrucktem widerstrebt, zugleich aber auch andere Formen der Rezeption oder, noch allgemeiner formuliert, des Gebrauchs von Literatur ermöglicht (vgl. Christians/Bickenbach/Wegmann 2018). Mit diesen neuen Spielarten entstehen vielfältige Formen einer Partizipation des Publikums, während zahlreiche literarische Texte den neueren medialen Bedingungen Rechnung auch in der Art und Weise tragen, wie sie erzählen, wie sie Fiktionen ausbilden oder wie sie dokumentieren.
Das vorliegende Heft geht davon aus, dass das Kompositum ›Literaturvermittlung‹ keine stabile Einheit ›Literatur‹ voraussetzt, die sodann über ein Netzwerk von Akteuren vermittelt und den Institutionen arrondiert würde. Vielmehr versucht es, von ausgewählten Vermittlungsprozessen her Zugänge zum Literaturbegriff, mithin zur Literaturtheorie zu eröffnen. Es versammelt Beiträge, die sich den Vermittlungsprozessen der Literatur aus der Perspektive nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern auch der Deutschdidaktik, der Theater- und Medienwissenschaft sowie der Kunstgeschichte zuwenden. Die Beiträge gehen zunächst von der Beobachtung aus, dass Literatur sich von den Strategien und Modi ihrer Vermittlung nicht kategorial unterscheiden lässt. Sie arbeiten gegen ein tief verwurzeltes alltägliches Verständnis an, dass Literaturvermittlung durch ihre Beziehung auf eine bereits gegebene, vorliegende Literatur zu definieren sei, und dass es eine klare Rollenverteilung in der Aufbereitung zu Konsum und Rezeption gebe: hier die Vermittelnden, die durch Einsatz dieser und jener Techniken und Medien zur Kenntnis bringen, was in diesem oder jenem Text steht und was das bedeuten könnte, dort das Publikum, dessen Rezeption dadurch erweitert, möglicherweise sogar verbessert oder vervollständigt wird. Jedoch ist nicht vorab zu definieren, was Literaturvermittlung ist, sondern allenfalls zu beschreiben, was sie tut, und wie sie zu einem Modell für Schreibweisen geworden ist, die ihrerseits ein Verständnis von Vermittlung als nachrangiger Tätigkeit infrage stellen.
Unter Bezugnahme auf das Konzept des literarischen Feldes (vgl. Bourdieu 1999; Joch/Wolf 2005) sowie in den Forschungen zum Literaturmarkt und zu Literaturinstitutionen (vgl. Porombka 2007; Amlinger 2021) ist der Bereich der Literaturvermittlung in sozialökonomischer Hinsicht bereits vielfach untersucht worden. Demgegenüber rückt das vorliegende Heft die medientechnischen und infrastrukturellen Zusammenhänge, vor allem aber die damit verknüpften ästhetischen Fragestellungen in den Fokus. Im Folgenden wird Literatur in Vermittlung nicht basierend auf der sozialen Interaktion zwischen Personen behandelt, in der ein vorab vorliegender Gegenstand – die Literatur – potentiellen Leser:innen mit klaren Zwecken von Verstehen über ästhetische Irritation, kritische Konfrontation bis zur Erbauung nahegebracht wird. Vermittlung selbst wird als ein literarisches Phänomen behandelt, das zentral für grundlegende theoretische Problemstellungen wie Poetologie und Werkpolitik ist, das ästhetische Erfahrungen und Affektstrategien formiert. Insofern zielen die Beiträge weniger auf eine essentialistische Bestimmung dessen, was Literaturvermittlung ist, sondern auf eine Beschreibung von Effekten der Vermittlung, und zwar insbesondere von rückwirkenden Effekten auf die literarische Produktion. Insgesamt richtet sich die Perspektive des Heftes weniger auf eine Erneuerung des Begriffs der Literaturvermittlung als vielmehr der Verhältnisbestimmung zwischen Literatur und Vermittlung. Aus der Vielfalt der Vermittlungen heraus ist dabei Literatur zu verstehen.
Mit der Ausrichtung auf die Vermittlung wird das literarische Feld nicht mehr nur auf die im Zusammenhang mit literaturbetrieblichen Untersuchungen einschlägigen Akteur:innen – Lektor:innen, Kritiker:innen, Autor:innen oder Lehrer:innen – beschränkt, sondern es werden auch die Einsätze und Funktionen medientechnischer und institutioneller Strukturen erfasst. Vermittlungen werden demnach nicht als zielgerichtete, von einem als stabile Einheit gedachten literarischen Werk ausgehende, ein spezifisches Publikum auf einen bestimmten Rezeptionszweck hin adressierende Vorgänge bestimmt, sondern als zum Teil auch unwägbare, eigendeterminierte Prozesse. Im Unterschied zu Ansätzen der Literaturvermittlungs- und Literaturbetriebsforschung, die zumindest implizit eine Differenz zwischen dem literarischen Substrat und seinen ›Vermittlungen‹ unterstellen (vgl. Heinrichs 2006; Plachta 2008; Arnold/Beilein 2009; Neuhaus 2009; Richter 2011; Fetzer 2016), wird hier die Annahme vertreten, dass sich das jeweilige Werk von den literaturbetrieblichen Operationen, die etwa seine Einrichtung, Bewerbung, Kommentierung oder Adaption betreffen (vgl. Childress 2017), nicht kategorial unterscheiden lässt. Das zentrale Interesse besteht dabei darin, das weitverzweigte Feld der gegenwärtig virulenten literarischen Vermittlungen und Vernetzungen (vgl. Beilein/Stockinger/Winko 2012) aus der institutions- und organisationstheoretischen Perspektive in die der Literatur und ihrer poetologischen Selbstreflexion zu transferieren (vgl. Assmann 2014; Theisohn/Weder 2019; Amlinger 2021). Einher geht damit eine Distanznahme gegenüber emphatischen Literaturverständnissen, die Literatur werkförmig und als unerschöpfliche Ressource der Bedeutungsgenerierung denken (vgl. Thomé 2003). Die in diesem Heft versammelten Beiträge heben auf die operativen und medialen Techniken ab, die an der Hervorbringung, Ausbreitung, Transformation, aber auch Bewahrung und Tradierung von Literatur beteiligt sind. Aus der Perspektive des ›Vermittelns‹ werden sie einer neuen Sichtung unterzogen und auf ihre theoretisch-konzeptuellen Implikationen hin geprüft.
Das Heft will zu einer Konturierung des Begriffs der Vermittlung als einem literaturtheoretischen Grundbegriff beitragen: Er eignet sich einerseits in besonderer Weise dafür, Operationen wie das ›Nacherzählen‹, ›Erklären‹, ›Deuten‹, ›Kuratieren‹ oder ›Adaptieren‹ in den Vordergrund zu rücken und auf ihr vermittelndes Potential hin (neu) zu befragen. Damit ist ein Ansatz gewählt, der zwar praxeologische Perspektiven (vgl. Martus/Spoerhase 2022) punktuell einzubeziehen erlaubt, jedoch nicht vorrangig empirisch oder auch quantitativ vorgeht, sondern bei der Analyse von ästhetischen und literaturwissenschaftlichen Objekten ansetzt, um die sie ermöglichenden und von ihnen ausgehenden Verfahren zu beschreiben. Andererseits stellt die Frage nach der literarischen Vermittlung auch jene Grundbegriffe der Literaturtheorie auf die Probe, deren Dignität und konzeptuelle Ausarbeitung historisch erheblich größer und umfangreicher ausfiel. Zu denken ist unter anderem und beispielsweise an das Werk, das vermittelt werden soll oder muss, an die medialen oder institutionellen Instanzen, die diese Notwendigkeit identifizieren und in Gang setzen oder selbst an dieser Vermittlung mitwirken. Daran schließt sich die Frage nach dem Begriff des Autors als dem Vermittler seiner selbst als Autorenpersona und dem seiner Texte ebenso wie die nach dem Text als Basiseinheit von Vermittlung an. In welcher (medialen) Form muss diese Einheit vorliegen, um als vermittlungsfähig zu gelten, und ab welcher Stufe von Vermittlung und Mittelbarkeit gilt Text als Literatur?
Mit der Untersuchung des ubiquitären Selbstpublizierens widmet sich Dorothea Walzer den Praktiken auktorialer Selbstermächtigung und -inszenierung sowie den vielfältigen Erscheinungsformen der literarischen Öffentlichkeit. Diesen Zusammenhang schärft sie in der Gegenüberstellung einer literarischen Zeitschrift des 18. Jahrhunderts (Wielands Der Teutsche Merkur) mit literarischen Auftritten in den sozialen Medien (Rupi Kaurs ›Instapoetry‹). So kann sie zeigen, in welchem Maße die von den Gatekeepern des jeweils etablierten Verlagswesens unabhängigen Formen der Veröffentlichung auf die Literatur sowie die Modi ihrer Vermittlung zurückwirken. Insbesondere für die digitalen Plattformen rekonstruiert der Beitrag die Komplexität der literaturvermittelnden Verfahren anhand der Interaktionen zwischen einem literarischen Text und den ihn rahmenden bzw. ihm eingefügten Posts. Dass diese auch die Produktion weiterer Texte stimulieren und dabei das Verhältnis zwischen literarischer Arbeit und ihrer Rezeption rekonstellieren, steht im Fokus der Analyse.
Wie demgegenüber ein Autor seine Abwesenheit textuell und narrativ herzustellen versucht, indem er sich in einem vermeintlichen Autorengespräch einerseits unter Bezugnahme auf digitale Verfahren und Konzepte zu ersetzen behauptet, andererseits von den Einsätzen einer Agentin vertreten lässt, um auf diese Weise eine an Formen der Literaturvermittlung orientierte Schreibweise zu erproben, analysiert der Beitrag von Natalie Binczek. Sie geht von Clemens J. Setz’ Text Bot. Gespräch ohne Autor aus und verfolgt nicht nur seine in die KI führenden intertextuellen Verweise als Vorlagen einer parodistischen Selbstkommentierung, die den Status von Literatur an der Schnittstelle zwischen dem gedruckten Buch und einer digitalen Worddatei verhandelt und in produktiver Konkurrenz zu algorithmischen Verfahren denkt, sondern erörtert auch die Möglichkeiten einer netzwerktheoretischen Textanalyse. Dabei bettet sie diese Überlegungen in den Rahmen einer systematischen Reflexion der Literaturvermittlung als fundierende Kategorie der Literatur und als Gegenstand literaturtheoretischer Betrachtung ein.
Die Grundannahme dieses Heftes, die darin besteht, dass Literatur eben nicht außerhalb der Strategien und Modi ihrer Vermittlung denkbar ist, wird an dieser Stelle auch selbstreflexiv gewendet, denn nicht zuletzt ist die Theorie der Vermittlung als wissenschaftliche Literatur einer Vermittlung in spezifischen Strategien und Modi bedürftig. Insofern Texte ihre eigene Vermittlung als Affordanz mitführen, wird das wissenschaftliche Schreiben selbst zum Einsatz im Sprachspiel der Theoriebildung (in der ihrerseits mittels soziologischer Analysen feinere Distinktionen und gröbere Machtverhältnisse mit eigenem Vermittlungsbedarf zu entziffern bleiben). Vor dem Hintergrund dieses Problemhorizonts fragt das Heft nach Literaturvermittlung in ihrer Rückwirkung auf das Schreiben, zu dessen Voraussetzungen und Bedingungen sie zählt: Sie ist im Schreiben anwesend, wirkt in es hinein und ist ein es prägender Faktor.
Dabei stellt sich im Beitrag von Hanna Engelmeier mit Blick auf den »schwierigen Text« zunächst die Frage, ob die Schwierigkeit Ergebnis von Entscheidungen auf Verfasser:innenseite (also beispielsweise die Entscheidung für ein bestimmtes Vokabular, zu dekodierende Referenzen, Verschlüsselungsverfahren oder bestimmte Sujets/Themen) ist oder ob es sich um ein nachträglich einsetzendes Verständnisproblem auf Seite der Rezipierenden handelt. Der Beitrag stellt den oftmals politisch aufgeladenen Vorwurf der Unverständlichkeit von Theorie als eine Standardsituation von konflikthafter Vermittlung vor, die insbesondere solche Theorierichtungen trifft, die sich stilistisch in besonderer Weise literarischer Verfahren oder sich der Schreibweisen und des Vokabulars zeitgenössischen politischen Aktivismus bedienen.
Das Heft öffnet sich in der Folge auch der Frage nach den Darstellungsformen von Literatur, wie sie sich beispielsweise in Kontexten von bildender oder darstellender Kunst finden und, wie in Jörn Etzolds Beitrag, als textuelle Infrastrukturen beschrieben werden. Er fasst die Dramaturgie als eine »Agentur der Vermittlung« auf, deren Praxis sich in der heterogenen Bandbreite zwischen Antrags- bzw. Ausschreibungstexten sowie der Bearbeitung literarischer Klassiker und dem Theater bewegt. Dabei stellt er diese Form darstellender Kunst auch in historischer Perspektive als zentrales Instrumentarium eines umfassenden Vermittlungszusammenhangs von Literatur vor. Dazu gehören nicht zuletzt die Strategien der rezeptiven Formung, wie sie Lessings politische Dramenpoetik mit ihrer affektiven Steuerung in einem Spannungsverhältnis zu souveräner Macht entwirft. Sowohl die ökonomische Aufrechterhaltung der Institution als auch die Fortentwicklung der Theaterpoetik werden in diesem Beitrag als Effekte einer infrastrukturellen, in der Funktion der Dramaturgie gebündelten Dynamik nachvollziehbar gemacht. Mit dem weithin anschlussfähigen Theoriekonzept der Infrastruktur ermöglicht Etzold eine Sicht auf diejenigen Fundierungsstrukturen von Literatur, die auch außerhalb von Texten liegen: in performativen Umsetzungen, die sowohl medientechnisch bedingt als auch an Institutionen gebunden sind.
Die hier angestoßene Diskussion eröffnet auch die Frage, ob es überhaupt ein Außen zum Begriff der Vermittlung geben kann, ob diese Frage für die Literatur spezifisch ist oder sie sich für andere ästhetische Produktionsweisen (vormals: Künste) in vergleichbarer Weise formulieren lässt. Es schließt sich also die Frage an, ob es überhaupt einen kategorialen Unterschied zwischen der Vermittlung eines literarischen Textes und der eines Gemäldes oder auch einer Performance gibt. Zur Diskussion steht, wie die für die Literatur leitende Annahme, dass eine Trennung zwischen dem literarischen Text und seinen Vermittlungen kaum aufrechtzuerhalten ist, und beispielsweise auf Installationen, Gemälde oder Performances anzuwenden sei. Produktiv komplizierend kommt hinzu, dass es alles andere als eindeutig ist, in welchen künstlerischen Bereichen bestimmte Werke einzuordnen seien. Dies demonstriert der Beitrag von Annette Urban. Sie verfolgt den Begriff der Vermittlung in neueren Arbeiten aus der bildenden Kunst. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts sind zahlreiche Allianzen von Literatur und Kunst entstanden, die zwar eine Vielfalt medial-materieller Formen ausbildeten und vielfach pragmatische Textsorten favorisierten, aber der Literatur zumeist fernstanden. Urbans Beitrag verfolgt am Übergang von nicht-digitalen zu digitalen (künstlerischen) Praktiken Aneignung und Gebrauchsweisen literarischer Texte. Er zeigt, wie Pierre Huyghe im Kunsthaus Bregenz einen Wetterraum auf Basis der Wetterangaben aus Edgar Allan Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket inszeniert, um so die (mentale) Reise des Protagonisten atmosphärisch erfahrbar zu machen (und in einem Programmbuch zur Ausstellung zu verarbeiten). Jazmina Figuera erkundet mit ihrer desktopbasiert zu begehenden VR-Arbeit Call Signs den Bereich, an dem Erzählen ins Fabulieren übergeht und an welche archivalischen Optionen die Modi des Erzählens und Fabulierens jeweils appellieren. Dennoch kann man die Zuordnung zum Bereich der Kunst der bei Urban diskutierten Werke als Ergebnis des Anmessens eines Institutionenkriteriums betrachten: Weil diese Werke in Kontexten vorkommen, in denen sie als Kunst gelten, werden Sie auch als solche interpretiert.
Während ältere Ansätze auf Begriffe wie Multi- oder Intermedialität fokussieren (vgl. Berg 2022), zeigen die Beiträge des Heftes, auf welche Weise die Auseinandersetzung mit der Literaturvermittlung die Grundbegriffe der literaturwissenschaftlichen Forschung in Bewegung versetzen kann. Das gilt im Beitrag von Stefan Rieger, der die bei Urban angesprochene Diskussion zur Mobilität aufgreift und auf die Basisoperation des Lesens abbildet. Rieger diskutiert Rezeptionsweisen literarischer Texte unter medialen Bedingungen der Lektüre an Bildschirmen, insbesondere Touchscreens, und fragt nach Strategien multisensorischer Literaturvermittlung. Er setzt mit dem Befund ein, dass das Buch weiterhin die dominante Gebrauchsform der Literatur ist und verfolgt zum einen die These, die Literaturvermittlung bleibe auf eine Systemstelle Buch bezogen, die zuallererst im Bereich der auf eine Ersetzung und Ablösung des gedruckten Buchs zielenden Medien und Techniken zu beobachten ist. Zum anderen fragt er nach der Geschichte der Systemstelle Buch, die ihrerseits in dem Aufschreibesystem 1800 und darin vor allem in literarischen Texten präfiguriert wurde. Ausgehend von der Genealogie der Systemstelle Buch nimmt der Beitrag schließlich die Literaturvermittlung unter den technischen Bedingungen von Augmentierung und Virtualisierung in den Blick, um eine Ökonomie der Wahrnehmung beim Lesen und insbesondere die Aspekte des Taktilen und Haptischen zu diskutieren. Die Adaption der Wahrnehmung an die neuen medientechnischen Bedingungen findet ihren Niederschlag in neuen Rezeptionsweisen der Literatur, die nicht zuletzt zur Immersion des Lesenden anreizen.
Literaturvermittlung ist bereits auf der Ebene von Um-, Neu- und Fortschreibungen, etwa in Form theatraler oder filmischer Adaptionen (vgl. Hutcheon 2006; Elliott 2020), als Literatur zu beschreiben. In diesen vielfältigen Erscheinungsweisen erweitert sie nicht nur ihren Wirkungsgrad, sondern fordert auch dazu heraus, das herrschende Verständnis davon, was Literatur ist, zur Diskussion zu stellen. Zwar lösen die Übertragungen in andere Formate und Medien vielfach auch Merkmale und Kennzeichen der Ausgangstexte, mithin der literarischen Vorlagen auf, und es ist zu prüfen, welchen Status ein Text in seiner Funktion als Vorlage und Ausgangsreferenz für ein Theaterstück, einen Fernsehmehrteiler oder eine Oper innehat. Jedoch wird seine literarische Bedeutung durch solche intermedialen und -institutionellen Remediationen (Bolter/Grusin 2000), die sich unentwegt zwischen Entgrenzungen und neuen Grenzziehungen bewegen, auch gefestigt.
Armin Schäfer geht in seinem Beitrag der Stellung des Nacherzählens im Gefüge literaturwissenschaftlicher Begriffe nach. Die literaturtheoretische Bezugnahme auf das Nacherzählen wurde hauptsächlich durch eine Unterscheidung von Nacherzählung und Inhaltsangabe als zwei Textsorten geprägt. Weder spielte das Nacherzählen in der Narratologie eine Rolle, noch löste die Nacherzählung weitergehende Fragen für die Texttheorie aus. Und auch das Interesse der Literaturdidaktik am Nacherzählen blieb zumeist auf die Pragmatik einer Gebrauchsform beschränkt. Eine Literaturtheorie hingegen, die ihr Augenmerk auf vermittelnde Operationen legt, kann die Nacherzählung nicht auf eine Bestimmung als Textsorte und das Nacherzählen als eine Erzählweise beschränken, sondern muss auf ein Ensemble von Praktiken und Gebrauchsweisen blicken. Die Diskussion ausgewählter Beispiele, die von Thomas Bernhard/Peter Handke, Wilhelm Termeer/Herman Melville sowie Clemens J. Setz stammen, kann zeigen: Das Nacherzählen erlaubt sowohl eine Integration, Aneignung oder Verschmelzung von Erzählstimmen als auch eine neue Verknüpfung von discours und histoire. Insofern eine histoire wiederholt wird, wird immer auch ein eigener narrativer (und medialer) discours geführt. Trotzdem ist das Nacherzählen lange Zeit geringgeschätzt und nicht als eigenständige Leistung anerkannt worden.
Weil die Beharrungskraft eines traditionellen Verständnisses von Literaturvermittlung selbst erklärungsbedürftig ist, sind weitere Forschungen erforderlich, die insbesondere über die Literaturvermittlung in den Schulen, die nach wie vor grundlegend für ein allgemeines Literaturverständnis ist, Auskunft geben können. Sebastian Susteck untersucht in seinem Beitrag die Textsorte der sogenannten ›Lektürehilfen‹. Es handelt sich um Erläuterungen zu literarischen Werken in Heftform – und neuerdings auch in digitaler Form –, die in publizistischen Reihen wie zum Beispiel ›Königs Erläuterungen‹ veröffentlicht werden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bieten Lektürehilfen nicht nur Informationen zu literarischen Werken an, sondern bringen eine bestimmte Weise des Redens über Literatur hervor. Der Beitrag zeichnet die Herkunft dieser Redeweise nach, die weder den Lektürehilfen selbst noch der universitären Philologie des 19. Jahrhunderts entstammt. Vielmehr führt sie in die ›freie Geselligkeit‹ literarischer Salons des frühen 19. Jahrhunderts zurück. Institutionell sind Lektürehilfen an das höhere Schulwesen gebunden, jedoch weniger Teil von Unterricht als begleitendes, zum eigentlichen Unterricht in loser und oft unklarer Beziehung stehendes Schrifttum. Der Beitrag zeigt, wie die Literaturvermittlung der Lektürehilfen selbst eine Literatur erzeugt, deren entscheidendes Merkmal der Rekurs auf die Hochwertigkeit der zu vermittelnden Literatur ist. Die Lektürehilfen stoßen so zwar auf historische Verschiebungen in der Kanonbildung sowie auf eine Änderung des Blicks auf Literatur, bemerkenswert gleichförmig bleibt dabei jedoch ein Grundkonzept, das sich an Werk, Autor:in oder Epoche orientiert. Lektürehilfen machen Literatur im emphatischen Sinne oder als kanonische Akzeptanz fassbar. Sie betreiben eine Popularisierung von Exklusivität, indem sie einen besonderen Wert der literarischen Texte behaupten. Dabei zielen sie auf eine Didaktisierung des Anspruchsvollen, die leichte Zugänglichkeit verspricht, ohne wesentliche Aspekte des seit dem 19. Jahrhundert in Lektürehilfen konstituierten Literaturbegriffs aufgeben zu wollen.
Vor dem Hintergrund der hier versammelten Beiträge kann der Begriff Literaturvermittlung neu justiert werden. Die Aufsätze zeigen, dass eine Fokussierung auf Akteur:innen oder Institutionen der Literaturvermittlung nicht ausreichend ist, insofern die für die Literaturvermittlung zentralen Operationen zunächst und vor allem auf der Textebene zu beobachten sind. Der Literaturbegriff, den die Beiträge jeweils nachzeichnen, bleibt auch in den Vermittlungen variabel und kann sich von populärer Lyrik über anscheinend opake Theorie oder gut bekannte Texte des sogenannten literarischen Höhenkamms auf alle möglichen Gattungen und Textsorten beziehen, die in diversen Medien vorliegen. Die Operationen der Vermittlung nähern sich in den Beispielen hingegen vielfach denen einer Übersetzung an. Es sind sowohl Transfers von Bedeutungen adressiert als auch Übertragungen in unterschiedliche Medien oder Textsorten, die eine Pluralisierung der verwendeten literarischen Mittel erlauben, wie es beispielsweise in den Nacherzählungen der Fall ist. Außerdem lassen sich Verfahren beobachten, die denen der Selbstübersetzung ähneln (vgl. Willer/Keller 2020). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Autor wie Clemens J. Setz ein Spiel mit Referenzen betreibt, die sich zu wesentlichen Teilen aus seinem eigenen Werk speisen, das in einer Iteration fortgeschrieben wird.
Vermittlungsvorgänge zeigen sich überall dort, wo Literatur überhaupt stattfindet. Die Ubiquität des Phänomens weist nicht nur auf die Herausforderung hin, wie in einer Beschreibung der jeweiligen Vermittlung zu möglichst großer Akkuratesse zu gelangen ist, sondern komplementär auch auf die Schwierigkeiten, die Grenzen des Vermittlungskonzepts zu bestimmen. Wenn die Frage aufgeworfen wird, was denn nun keine Literaturvermittlung sei, wenn all die Operationen und Prozesse, die in den folgenden Beiträgen diskutiert werden, zur Literaturvermittlung gehören, ist eine wesentliche Einsicht gewonnen: Sie gilt der Feststellung, dass es tatsächlich keine Literatur gibt, die nicht in Vermittlung ist und eine besondere Aufmerksamkeit der Literaturtheorie verdient, weil Vermittlung als die andauernd stattfindende Grundoperation der Literatur allzu leicht unter der Wahrnehmungsschwelle bleibt.
Literatur
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