Abstract
This article provides a fundamental reflection on Islamic military chaplaincy (IMS) in Germany. It explains who can provide this service, how it is structured, and the value it adds, while acknowledging that there are no easy answers. The argument centers on four key questions: 1) The juridical-legal basis of Islamic military chaplaincy; 2) The theological foundation of the new research and working field of IMS; 3) Peace ethics in Islam and its contribution to the German military; and 4) The challenges and future prospects of IMS. Through this multifaceted approach, the article highlights the potential of the emerging field of IMS in Germany.
Zusammenfassung
Der Beitrag geht der Frage nach einer Islamischen Militärseelsorge (IMS) in Deutschland nach, die es so (noch) nicht gibt. Ausgehend von der aktuellen Situation und den institutionellen Rahmenbedingungen der Militärseelsorge sollen Überlegungen angestellt werden, wie sie konzeptionell gestaltet werden könnte, wer sie betreiben sollte und welchen Mehrwert sie bringen würde. Islamische Militärseelsorge in Deutschland wird damit als ein potenzielles Berufsfeld und als Gegenstand praktisch-theologischer Forschung umrissen. Der Beitrag ist gegliedert in: 1. Bestandsaufnahme und juristisch-rechtliche Grundlage der Islamischen Militärseelsorge, 2. Theologische Fundierung und Konzeption des neuen Forschungs- und Berufsfeldes, 3. Friedensethik im Islam und deren Beitrag für die Bundeswehr, 4. Herausforderungen und Perspektiven der Islamischen Militärseelsorge.
1. Gesetzliche Grundlage und Vorüberlegungen
Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte war die sog. Wiederbewaffnung und Gründung der Bundeswehr 1955 keineswegs unumstritten. Ihr ging eine grundlegende Umorientierung des Selbstverständnisses der zukünftigen Soldaten (und Soldatinnen) voraus. Soldat:innen sind demnach Staatsbürger(:innen) in Uniform und sollen die Werte einer liberalen Demokratie verteidigen.[1] Die Militärseelsorge ist von diesem Selbstverständnis der deutschen Bundeswehr wesentlich mitgeprägt. Die rechtliche Grundlage für die Militärseelsorge in der Bundeswehr bilden Artikel 4 des Grundgesetzes und der darauf aufbauende Paragraf 36 des Soldatengesetzes (SG). Beide garantieren das Recht auf freie Religionsausübung und seelsorgliche Betreuung, so heißt es z. B. in § 36 des SG: „Der Soldat hat einen Anspruch auf Seelsorge und ungestörte Religionsausübung. Die Teilnahme am Gottesdienst ist freiwillig.“[2] Die Zentrale Dienstvorschrift für die „Innere Führung“ nimmt das Thema Militärseelsorge in ihrem Programm auf. Dort heißt es: „Alle Soldatinnen und Soldaten haben einen gesetzlichen Anspruch auf Seelsorge und ungestörte Religionsausübung.“[3] Militärseelsorge ist von daher für alle Soldat:innen gesetzlich verankert, auch für Muslim:innen.
In der Praxis wurden bereits erste Schritte auf dieser Grundlage unternommen. Seit 2012 gibt es Bemühungen für die Einführung einer muslimischen Militärseelsorge, jedoch noch ohne eine konkrete Lösung.[4] Schon im Jahr 2000 veröffentlichte das Zentrum Innere Führung ein Arbeitspapier mit dem Titel „Muslime in der Bundeswehr“. Das Erscheinungsjahr des Arbeitspapiers zeigt, wie Elßner zu Recht anmerkt,[5] dass das Interesse an muslimischer Militärseelsorge älter ist und nicht als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 zu verstehen ist. Seit 2007 dürfen Soldat:innen muslimischen Glaubens ihre Religionszugehörigkeit auf ihre Erkennungsmarken in Form der Buchstaben ISL aufprägen lassen. Ebenfalls im Jahr 2007 verabschiedete das Zentrum Innere Führung ein weiteres Arbeitspapier zum selben Thema, diesmal unter dem Titel „Deutsche Staatsbürger muslimischen Glaubens in der Bundeswehr“, das im Jahr 2011 in einer zweiten, überarbeiteten und erweiterten Fassung erschienen ist.[6] Dementsprechend konstatiert Elßner, dass im Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) 2012 ein Bewusstsein und der entsprechende Wille bezüglich einer Islamischen Militärseelsorge (IMS) in der Bundeswehr vorhanden seien.[7] Dieses Arbeitspapier ist, wohlgemerkt, kein Arbeitspapier zur IMS und richtet sich weder an die muslimischen Soldat:innen noch an muslimische Glaubensgemeinschaften. Zielgruppe des Arbeitspapiers sind die Vorgesetzten. Es soll ihnen die religiöse Vielfalt innerhalb der Bundeswehr anschaulich machen und ihnen Hilfe im Umgang mit den Untergebenen bieten. Es hat also wenig mit Seelsorge zu tun, sondern vielmehr mit dem Dienstverhältnis. Nichtsdestotrotz gilt das Dokument als wichtiges Signal für die Öffnung und Wahrnehmung der Vielfalt (in) der Bundeswehr und als elementarer Schritt für weitere Entwicklungen. Das hat auch die Ethnologin Lena Wilk, Leiterin der Zentralen Ansprechstelle für den Umgang mit Vielfalt (ZAVi) in der Bundeswehr, dazu geführt, 2021 eine – ohnehin notwendige – erweiternde Überarbeitung des Arbeitspapiers in Auftrag zu geben. In der neuen Auflage soll die IMS besser bzw. ausreichend abgebildet werden.[8]
2015 wurde am Zentrum Innere Führung eine „Zentrale Ansprechstelle für Soldatinnen und Soldaten anderer Glaubensrichtungen“ (ZASaG) eingerichtet, deren Aufgabe es ist, jenen Soldat:innen, die sich nicht zum evangelischen oder katholischen Glauben bekennen, bei Bedarf seelsorgliche Betreuung zu vermitteln, ihre Vorgesetzten und Führungspersonen zu beraten und Kontakte zu möglichst vielen Ansprechpartner:innen der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu pflegen, um die Kompetenz der ZASaG für die Beratung zu erhöhen.[9] Auch auf der Tagesordnung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) steht das Thema seit einigen Jahren. Auf der DIK 2016 kam etwa zur Sprache, dass die Zahl der Soldat:innen muslimischen Glaubens in der Bundeswehr auf 1.500 geschätzt wird. Thomas Elßner zufolge würde diese Zahl bereits die Berufung muslimischer Militärseelsorger:innen rechtfertigen. Als Grundlage dafür beruft sich Elßner auf den Militärseelsorgevertrag von 1957. Dort heißt es: „Für je eintausendfünfhundert evangelische Soldaten [...] wird ein Militärgeistlicher berufen.“[10] 2016 wurde das Thema sehr intensiv diskutiert. Es fanden diesbezüglich zwei weitere Fachtagungen statt. In Bezug auf eine einzurichtende IMS tagte am 27. April 2016 der 10. Arbeitsausschuss der DIK unter dem Titel „Voraussetzungen für islamische Militärseelsorge“. Die zweite Tagung der DIK im November desselben Jahres fand unter dem umfassenderen Titel „Muslimische Seelsorge in staatlichen Einrichtungen“ statt.[11]
Diese Entwicklungen in den letzten Jahren zeigen Parallelen zu der zivilen muslimischen Seelsorge auf. Einerseits liegen ein großes Interesse und ein deutlicher Bedarf vor, andererseits fehlt es noch an konkreten Maßnahmen der Etablierung. Für die IMS bleibt jedoch zusätzlich die Frage zu klären, wie sich diese Praxis theologisch begründen und konzipieren lässt sowie welchen Mehrwert sie der Bundeswehr versprechen kann.
2. Theologische Grundlegung Islamischer Militärseelsorge
In den letzten Jahren sind viele Ansätze zur theologischen Fundierung Islamischer Seelsorge formuliert worden. Theologisch betrachtet, lässt sich das neue Berufs- und Forschungsfeld der Islamischen Militärseelsorge auch ohne große Mühe begründen. Die Argumente reichen von Koranversen (u. a. die Suren 2:177; 3:159 und 5:2) über prophetische Überlieferungen bis zur Tradition der Waqf-Stiftungen und nicht zuletzt der Praxis der Militärimame. Folgende Überlieferung in Ṣaḥīḥ Muslim z. B. zeigt nicht nur, wie sich Gott mit bedürftigen und vulnerablen Menschen identifiziert, sondern macht auch anschaulich, dass alles getan werden muss, damit der Mensch in Würde lebt:
Am Jüngsten Tag wird Allah sagen: ’O Sohn Adams, Ich war erkrankt und du hast mich nicht besucht.’ Der Mensch wird antworten: ’Wie soll ich Dich besuchen, denn Du bist der Herr der Welten?’ Allah wird sagen: ’Wusstest du nicht von meinem Diener, der erkrankte und den du nicht besuchtest? Wenn doch, Mich hättest Du bei ihm gefunden. Wenn du den von Hunger Getroffenen gespeist hättest, als er dich darum bat, jenes fändest du nun bei Mir. Und als der an Durst Leidende dich um Wasser bat, hast du ihn nicht trinken lassen. Weißt du denn nicht, sonst hättest du das nun bei Mir wiedergefunden! (Ṣaḥīḥ Muslim, Nr. 2569).[12]
Im Koran finden sich keine expliziten Hinweise auf Militärseelsorge oder Seelsorge im Allgemeinen. Versteht man jedoch Seelsorge als einen Oberbegriff für Wohltätigkeit an Menschen in Not, Beistand und (spirituelle) Begleitung in Lebens- und Glaubensfragen, stößt man auf nicht wenige Koranstellen, die eine solche Praxis thematisieren.
Im Birr-Konzept (gottgefälliges Tun), wie es in Sure 2:177 geschildert wird, lassen sich alle wichtigen Komponenten eines Seelsorgeprozesses wiederfinden. Ich habe an anderer Stelle ausführlich gezeigt, wie dieses Konzept einerseits den Glauben als Ausgangspunkt für seelsorgliches Handeln darstellt und wie es anderseits nahelegt, dass der Glaube ohne Relationalität unvollkommen bleibt.[13] Des Weiteren zielt das Birr-Konzept auf die Förderung des Friedens, und zwar eines positiven Friedens, der durch die Verteilung von Ressourcen und durch soziales Engagement geprägt ist.[14] Im Zentrum stehen nicht etwa Rituale, sondern das Handeln an den Menschen und der Einsatz für Werte der Gerechtigkeit, Diversität und Anerkennung von Differenz. Man kann also aus der Perspektive des Birr-Konzepts mit Bernhard Koch sagen: „Eine Verständigung über die wichtigsten Güter und eine Bejahung der berechtigten Ansprüche anderer ist für Frieden unumgänglich.“[15] Darin liegt aus meiner Sicht eine inhaltliche Begründung für die Notwendigkeit muslimischer Seelsorge in der Bundeswehr. Friedrich Lohmann spricht mit Blick auf die seelsorgliche Praxis von einem auch ethisch bedeutsamen „Angebot assistierter Selbstklärung“.[16] In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass religiöse, kulturelle oder ethische Zugehörigkeiten nicht eigens thematisiert werden. Die Gleichheit ist für die Bearbeitung von Differenzen in der Seelsorge von besonderer Bedeutung und unterstreicht einen wichtigen Beitrag der IMS, die auch für interreligiöse Zusammenarbeit offen ist. Dies wird dadurch klar erkennbar, dass dieses Konzept auch anderen Völkern und Religionen zugeschrieben ist, und zwar als Konzept relationaler Beziehung (Juden: Sure 2,44 und Christen: Sure 19,32).[17] „Fragen der Herstellung von (ökonomischer) Gerechtigkeit, der Verantwortung für die Umwelt oder auch der Anerkennung anderer Religionen und Kulturen“[18] als positive Friedensbedingungen lassen sich in dem Konzept wiederfinden. Durch eine Reflexion über das Birr-Konzept kann ein kritisch-normatives „Orientierungswissen [...] [entstehen], das in friedenspolitischen Prozessen auf verschiedenen Ebenen wirksam werden kann“[19].
In der Zivilgesellschaft gibt es zahlreiche Beispiele für karitativ-diakonische Arbeit, an die die Theologie anknüpfen kann: z. B. die waqf-Stiftungen.[20] Zur Begründung der Militärseelsorge werden Militärimame als Vorläufer für IMS herangezogen. An diese Tradition kann aber nicht ungebrochen und unkritisch angeknüpft werden. Die IMS befindet sich noch in der Konsolidierungsphase und strebt an, ein eigenständiges Profil zu entwickeln.
Wenn man sich auf die Tradition der Militärimame bezieht, dann sind die jeweiligen historischen und politischen Konstellationen unbedingt mitzuberücksichtigen. Die Religion spielte nämlich z. T. durchaus eine unterstützende Rolle in kriegerischen Auseinandersetzungen. Inwiefern Militärimame konkret zur Stärkung der Kriegsmoral beigetragen haben, kann jedoch nur für den jeweiligen Kontext beantwortet werden. Das Unterscheidungsmerkmal unserer Zeit ist, so Georg Picht, dass wir nicht mehr die Wahl zwischen Frieden und Krieg haben, sondern zwischen Frieden und dem „biologische[n] Untergang der Menschheit“[21]. Die Praxis der Militärimame zeigt daher auch relevante Aspekte für die Berufung muslimischer Militärseelsorger:innen auch heute auf. Die Praxis der Militärimame kann als ein wichtiges Zeichen der staatlichen Wertschätzung der Präsenz und des Beitrags muslimischer Soldat:innen gewertet werden. Sie stellt des Weiteren eine Anerkennung des Beitrags der Religion und der Spiritualität für die Persönlichkeitsentwicklung des/der Einzelnen und der Gemeinschaft dar. Die Begleitung der Angehörigen von Soldaten hatte im Islam von Anfang an Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird auf eine Erzählung nicht selten zurückgegriffen. Auf Intervention einer Frau soll der zweite Kalif Umar (gest. 644) den Beurlaubungsplan der Soldaten angepasst haben. Die langen Abwesenheiten der Männer waren nicht vereinbar mit ihren häuslichen Pflichten.[22] In der Militärseelsorge sind unbedingt auch immer kontextsensible Konzepte zur Begleitung von Angehörigen mitzudenken.
3. Friedensethik und Militärseelsorge
Papst Johannes Paul II. bekräftigte 1986 eine Aussage des II. Vatikanischen Konzils. Diese beschreibt die „Soldaten [...] als Diener der Sicherheit und Freiheit der Völker [...], indem sie diese Aufgaben recht erfüllen, tragen sie wahrhaft zur Festigung des Friedens bei.“[23] Die EKD schreibt „den zentralen Aufgaben evangelischer Soldatenseelsorge [...] die Schärfung und Beratung der Gewissen im Sinn der friedensethischen Urteilsbildung der Kirche“[24] zu. Die Zentrale Dienstvorschrift für Innere Führung sieht vor, dass das freiheitlich-demokratische Wertesystem, vor allem Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie, garantiert werden müssen.[25] Diese Werte gelten ebenso als Leitmotive der IMS. Für die IMS bedeutet das, dass sie ihren Beitrag zur Stärkung der Werte einer liberalen Gesellschaft zu definieren hat, und zwar durch kritische Reflexion über die Maßstäbe des friedensfördernden Tuns. Zwar betonen viele islamische Quellen eine integrale Einstimmung zum Frieden unter den Menschen.[26] Der unreflektierte Anspruch, der Islam sei daher eine Religion des Friedens, läuft Gefahr, den Blick für die Realität zu verstellen. Dadurch bleiben wichtige Folgefragen oftmals unbeachtet, wie etwa die „Legitimität militärischer Interventionen im Rahmen einer Responsibility to Protect hinsichtlich ihrer friedensethischen Implikationen“[27]. Somit ist die Frage nach Friedensethik im Islam zentral für den neuen Arbeitgeber/Einsatzort.
Für die Friedensethik sind, so Werkner, v. a. zwei Schwerpunkte wichtig:
[Die] Entwicklung normativer Konzepte und Kriterien zur Begrenzung und Beendigung von Kriegen und militärischen Konflikten und damit in der Frage des Kriegs- und Gewaltverbots [...] [und die Reflexion] über (positive) Friedensbedingungen.[28]
Es mangelt im Islam nicht an Überlieferungen wie Koransuren, prophetische Überlieferungen und Traktate, die zeigen, dass ein epistemologischer Rahmen bereits vorliegt, innerhalb dessen Selbstreflexion und Erziehung zum Frieden stattfinden kann. Wendet man sich dem zeitgenössischen Diskurs zu, sei auf zwei aktuelle Ereignisse hingewiesen, welche die offizielle Position des Islam zu Kriegsführung und Friedensethik im 21. Jahrhundert darstellen mögen. Als erstes nach der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. im Jahr 2006, in der er das arabische Wort ǧihād mit „Heiliger Krieg“ übersetzte. Da die Übersetzung einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Islam und Krieg assoziiert, meldeten sich in der Folge 38 muslimische Gelehrte mit einem offenen Brief, der unter dem Titel „A Common Word“ bekannt geworden ist. Sie negierten jeden Zusammenhang zwischen Krieg und Islam und legten die „Grundprinzipien für Kriegsführung“ aus islamischer Perspektive dar:
– Zivilisten sind keine legitimen Ziele militärischer Aktionen.
– Niemand wird allein aufgrund seiner religiösen Überzeugung angegriffen, sogenannte islamische Eroberungen waren von politischem Charakter.
– Muslime können und sollen friedlich mit ihren Nachbarn zusammenleben.[29]
Als zweites, noch jüngeres Ereignis ist das Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt zu erwähnen. Das von dem Großimam der al-Azhar-Institution Aḥmad al-Tayyeb und Papst Franziskus am 4. Februar 2019 verkündete Dokument möchte die Menschen, vor allem die politischen Entscheidungsträger:innen, für den Klimawandel sensibilisieren und zur Verbreitung einer Kultur der Toleranz und des Friedens animieren:
Wir – die wir an Gott und an die endgültige Begegnung mit ihm und an sein Gericht glauben – verlangen ausgehend von unserer religiösen und moralischen Verantwortung mit diesem Dokument von uns selbst und den leitenden Persönlichkeiten in der Welt, von den Architekten der internationalen Politik und der globalen Wirtschaft, ein ernsthaftes Engagement zur Verbreitung einer Kultur der Toleranz, des Zusammenlebens und des Friedens; ein schnellstmögliches Eingreifen, um das Vergießen von unschuldigem Blut zu stoppen und Kriegen, Konflikten, Umweltzerstörung und dem kulturellen und moralischen Niedergang, den die Welt derzeit erlebt, ein Ende zu setzen.[30]
Die Herausforderung kann jedoch nicht nur darin bestehen, eigene moralische Werte und den militärischen Anspruch in Harmonie zu bringen. Auch die Moral/ Haltung des Gegenübers kann eine Herausforderung sein. So notierte der österreichisch-ungarische Offizier Constantin Schneider in seinen Kriegserinnerungen über den russischen Gegner:
Vom Feind: auch diese letzte Zeit rang er uns Achtung ab. Er handelte immer wie ein Mann. Seine Kriegslisten muß man ihm verzeihen, denn später sah man ein, daß das, was er uns gegenüber voraus hatte, einzig seine Kriegsmoral war. Auch sie ist Moral [...] Sie unterwirft sich rücksichtslos alle Mittel, die zum Siege führen.[31]
Diese zwei dargelegten Äußerungen weisen bewusst nicht nur auf ein großes Friedenpotenzial des Islam hin und legen die Friedenerziehung als Kernbotschaft nahe, sondern sie stellen die dazu notwendige Persönlichkeitsbildung als lebenslangen Erziehungsprozess dar. Angesichts „einer veränderten Weltordnung und neuer Formen der Kriegsführung steht eine islamische Friedensethik vor bislang wenig bedachten Herausforderungen,“[32] merkt Ansorge zu Recht an. Um die Spannung zwischen normativem Text und lebensweltlicher Erfahrung zu lösen, will dieser Schatz erworben, durchgearbeitet und im Handlungsfeld Bundeswehr kontextsensibel eingesetzt werden.
3.1. Islamische Friedensethik
Die Militärseelsorge wirft ganz grundsätzlich die Frage nach der Rolle der Religion in Konflikten auf. Es gibt viele Beispiele dafür, wie Religion missbraucht und für autoritäre Begründungen instrumentalisiert wird. Vor diesem Hintergrund ist es auch für Konzepte der Militärseelsorge wichtig, dass sie ihre eigene Position kritisch reflektiert, zugleich aber auch ihren Einfluss gegen Krieg und Zwangsmigration geltend macht. Um zerstörerischen Phänomen entgegenzuwirken, bedarf es auch die Unterstützung der Religionen und der religiösen Gemeinschaften zugunsten einer Friedensethik.
Als Grundlage islamischer Ethik und somit auch Friedensethik wird in der Regel auf Sure 7:199 verwiesen. Dort heißt es: „Übe Nachsicht, gebiete das Rechte/Gute (wörtl. das Gewöhnliche) und wende dich von den Unwissenden ab.“ Der Vers deutet auf das Streben nach moralischen Werten als Merkmal muslimischen Glaubens hin. „Ich bin nur gesandt worden, um den guten moralischen Charakter zu vervollkommnen“, definiert der Prophet Muḥammad seinen Auftrag.[33] In Sure 3:103 setzt sich dieses Ideal „im Streben nach dem moralisch Guten und Richtigen“fort.[34] Die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Verwerflichen wirft die Frage auf, wer diese Kategorien definiert. Das Gebieten des Guten und das Verbieten des Verwerflichen als grundlegende Merkmale der muslimischen Glaubensgemeinschaft Umma im Koran löste bei muslimischen Theolog:innen die Diskussion darüber aus, ob Muslim:innen die „beste Gemeinschaft“ (Sure 3:110) ausmachen, weil oder wenn sie gebieten, was recht ist, und verbieten, was verwerflich ist. Eine genauere Betrachtung der Quellen zeigt jedoch, dass die eine Interpretation die andere nicht ausschließt. Der Koran schließt zudem andere Gemeinschaften nicht aus, zu dieser Gemeinschaft zu gehören, wenn sie entsprechend handeln (Sure 3:113). Das Ideal widerspricht dem Suchen und Streben danach nicht, „sondern verleiht ihm im Gegenzug Spannkraft. Denn es ist unerlässlich, [...] Werte und Verhalten in Übereinstimmung zu bringen.“[35]
Nun lässt sich fragen, wie der Übergang von dieser theoretischen Grundlage der Friedensethik im Islam in die Praxis zu gestalten ist. Lässt sich im Spannungsfeld von Krieg und Frieden eine komplementäre Haltung herausarbeiten? Und welche historisch-praktischen Beispiele mögen uns bei der Beantwortung solcher Fragen Orientierung geben? In dem Versuch, diesen Fragen nachzugehen, möchte ich einen bekannten Text, der dem ersten Kalifen Abū Bakr (gest. 634) zugeschrieben wird, heranziehen. Dieser soll seinem Expeditionsheer nach Syrien zehn ethische Grundsätze für die Kriegsführung mit auf den Weg gegeben haben. Der Text lautet wie folgt:
Ich mache euch zehn Regeln zur Vorschrift, denkt daran! Betrügt nicht und eignet euch keinen Teil der Beute widerrechtlich an. Seid nicht treulos und verstümmelt niemanden. Tötet kein Kind, keinen alten Mann und keine Frau. Entwurzelt und verbrennt keine Palmen, schlagt keine fruchttragenden Bäume. Schlachtet kein Schaf, keine Kuh und kein Kamel, es sei denn, ihr seid hungrig. Ihr werdet auf Menschen treffen, die sich in die Einsiedelei zurückgezogen haben; lasst sie in Ruhe, damit sie ihr Vorhaben ausführen können. Ihr werdet Menschen begegnen, die euch Speisen und verschiedene Nahrungsmittel bringen; nehmt ihr davon, dann sprecht den Namen Gottes über eurem Essen aus. Ihr werdet auf Leute stoßen, die ihre Schädel geschoren haben, so dass nur noch ein Haarkranz übrig ist [Soldaten und Spione]; schlagt sie mit dem Schwert. Geht nun in Gottes Namen, und Gott schütze euch vor Schwert und Pest.[36]
Der Text hält – im deutlichen Widerspruch zur damals gängigen Kriegsmoral – fest, dass unter der feindlichen Bevölkerung Zivilisten, Infrastruktur, Gotteshäuser und Geistliche von direkten Angriffen ausgenommen werden sollen und dass ein Krieg moralisch verwerfliche Haltungen und Handlungen wie Lügen, Betrug, Raub, Vergewaltigung und Mord nicht rechtfertigt. Ob Abū Bakr erkannt hatte, dass auch „der so genannte ‚gerechte Krieg‘ [...] mit dem Risiko von Zerstörungen einher[geht], die über das ausdrückliche Kriegsziel, seinen wohl erwogenen Zweck hinausreichen,“[37] und er daher Vorbeugungsmaßnahmen ergreifen wollte, darüber bleibt zu spekulieren. Nichtsdestotrotz lassen sich in dem ihm zugeschriebenen Text Grundlagen für die Maxime „Si vis pacem para pacem“[38] (Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor) und einen damit verbundenen Perspektivwechsel erkennen. Hier geht es nicht um ein Entweder-oder-Modell (entweder Freund oder der Feind), sondern vielmehr um die Gewaltfreiheit und das Stiften von Frieden. Sure 60:8 untermauert diese Sichtweise und fordert zur Differenzierung zwischen einer kritischen Haltung gegenüber politischem Handeln bzw. einem System und der Not der Menschen auf, auch derjenigen, die diesem nahestehen. Gerechtigkeit und Angemessenheit sind auch bei situativen Herausforderungen leitende Motive. Es liegt daher nahe zu fragen, ob sich aus dem Text eine Art Komplementarität von Gewaltverzicht und militärischer Friedenssicherung[39] rekonstruieren lässt, die dann eine „Gleichzeitigkeit, nicht jedoch [eine] Gleichrangigkeit“[40] ausdrückt. Der Text thematisiert, unter welchen Bedingungen Waffengewalt gerechtfertigt oder gar geboten ist, welche Personen als Feinde gelten dürfen oder nicht und insofern als (il-)legitime Ziele militärischer Gewalt definiert werden usw. Zwar macht der Text keine genauen Angaben dazu, wie etwa Kriegsgefangene zu behandeln sind oder was die Moral eines einfachen Soldaten betrifft, dennoch spricht er Themen an, die nach wie vor aktuell und relevant sind. Antworten auf die genannten Fragen lassen sich ebenso durch intertextuelle Bezüge zu anderen relevanten Quellen rekonstruieren, worauf ich an dieser Stelle nur kurz eingehen kann.
Die Haltung gegenüber Gefangenen wird als fürsorgliche Haltung deklariert. Sure 76:8 spricht demjenigen Lob aus, der den (Kriegs-)Gefangenen speist. Sure 9:6 macht darauf aufmerksam, dass es das Minimum an Kriegsethik ist, den Kriegsgefangenen mit Respekt und Würde zu behandeln und dem Feind Schutz zu gewähren, wenn er z. B. kapituliert/verliert. Vielmehr soll man auf seine Seelenruhe achten und ihm dazu helfen, den Ort zu erreichen, an dem er sich wohlfühlt. Angestrebt ist nämlich nicht nur Gewaltfreiheit und die Beendigung von Konflikten, sondern Stiftung von positivem Frieden. Für Letzteres bietet der Koran unterschiedliche Bestimmungen an. So heißt es in Sure 8:61: „Und wenn sie sich dem Frieden zuneigen, dann neige [auch du] dich ihm zu!“ Sure 2:192 liefert eine theologische Begründung für diese friedvolle Haltung: „Wenn sie jedoch [mit der Aggression] aufhören, so ist Gott barmherzig und bereit zu vergeben.“ Was sich jedoch als Zeichen dafür interpretieren lässt, dass sich jemand dem Frieden zuneigen bzw. mit Aggression aufhören möchte, kann nur kontextuell beantwortet werden und unterliegt – beim Fehlen von konkreten Angaben – eventuell der individuellen Urteilsfindung. In dem bekannten Feldzug nach Mekka nennt Muḥammad dafür praktische Beispiele: „Jene, die Zuflucht suchen, dürfen nicht getötet, den Verletzten darf nicht geschadet werden und wessen Tür geschlossen ist, der ist sicher:“[41]
Die komplementäre Haltung im Spannungsfeld von Krieg und Frieden, deren Kern Vergebung und Gewaltfreiheit ausmachen, lässt sich durch weitere Berichte untermauern. Der Prophet wird auch mit den Worten zitiert: „Seid sanft und vermeidet Gewalt und Kraftausdrücke.“[42] Bei dem erwähnten Feldzug und der Übernahme von Mekka handelte Muḥammad trotz bitterer Erfahrungen mit dem Feind beispielhaft mit Vergebung/Gewaltverzicht und sicherte jedem den Frieden zu, der mit dem Kämpfen aufhörte: „Ich sage, wie mein Bruder Josef einst sagte: ‚An diesem Tage soll es keine Vorwürfe gegen euch geben!‘ So geht, denn ihr seid freie Menschen!“[43] Hiermit legt Muḥammad nicht nur eine beispielhafte Handlung vor, sondern er betont wörtlich, dass die friedenstiftende Haltung eine durchgehende Eigenschaft der monotheistischen Religionen ist, wenn er in seiner Haltung direkten Bezug auf den Propheten Josef nimmt. Ähnliche interreligiöse Erfahrungen, wie man Aggressivität mit Frieden begegnen kann, verkörpert der Koran an weiteren Stellen. Schon zu Beginn der Schöpfung sind solche Vorkommnisse bekannt. Die Erzählung über die Kinder Adams – Kain und Abel – zeigt auf, dass ein friedensethisches Postulat von Beginn an ein gesellschaftliches und religiöses Gebot ist. Der Unterliegende spricht:
„Wenn du deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu töten, so werde ich meine Hand nicht nach dir ausstrecken, um dich zu töten. Ich fürchte Allah, den Herrn der Weltenbewohner“ (Sure 5:28).
Die islamische Tradition kennt auch das Gegenteil, nämlich wenn die Möglichkeit besteht, über den Feind zu triumphieren. Der Koran fordert Muslime auf, die humanitären Rechte der Angehörigen von feindlichen Truppen zu beachten. Ein erfolgreicher Militäreinsatz ist kein Grund dafür, den anderen die eigenen Werte aufzuzwingen, wenn dies für Gerechtigkeit und Frieden unnötig ist. Die theologische Grundlage dafür bieten u. a. Sure 5:8 und 9:6.
Diese und weitere Berichte legen nahe, dass im Islam nicht der ungerechte Krieg der vorislamischen Zeit und des Mittelalters oder der „gerechte Krieg“ der Moderne im Fokus stehen, sondern der gerechte Frieden. In diesem Sinne versteht Ansorge die Rede von der Erlaubnis zum Kriegführen in Sure 22:39 nicht als Aufforderung oder Zustimmung zur Kriegsführung, sondern sie verweist „auf das Ideal einer gewaltfreien Lösung“[44].
So ist ein Krieg nach traditioneller muslimischer Auffassung nur dann gerechtfertigt, wenn alle friedlichen Mittel zur Konfliktlösung ausgeschöpft sind, er also als „letztes Mittel“ gelten muss. Ferner kann er nur dann als legitim angesehen werden, wenn er aus einem gerechten Grund und mit der rechten Intention geführt wird. [...]. Auch die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist traditionell-islamischem Verständnis zufolge reglementiert.[45]
Möchte man nun diese Ausführungen zusammenfassend in eine heutige Sprache übersetzen, läge es nahe zu sagen, dass die Friedenethik im Islam die vier Ebenen des ‚Gerechten Friedens‘ in den Blick nimmt: Frieden in der Gemeinschaft, Frieden mit der Erde, Frieden in der Wirtschaft und Frieden zwischen den Völkern. Es ist die Aufgabe der IMS, diese Werte in der religiösen, kulturellen und soziopolitischen Vielfalt der Bundeswehr zu verorten.[46]
3.2. Islamische Friedensethik und Innere Führung in der Bundeswehr
Die Zentrale Dienstvorschrift A-2600/1 „Innere Führung“ spricht vom „gewissensgeleiteten Gehorsam“ sowie vom Auftrag, „die Gewissen zu schärfen“. Die Streitkräfte sind kontinuierlich moralischen Dilemmata ausgesetzt. Die Religion erfüllt eine unerlässliche Aufgabe auf dem Gebiet der Moral, der Ethik und des Friedens.[47] Welchen Beitrag möchte die IMS „zur Bewusstseinsbildung hinsichtlich moralischer Dilemmata“[48] und zur „Wahrung und Förderung der Freiheit“ des/der Einzelnen bieten? Diese Frage lässt sich wie folgt beantworten. Allein wenn sie einen geschützten Raum bietet, sich mit moralisch-ethischen Dilemmata auseinanderzusetzen, eröffnet sich für Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit, sich nicht bloß als funktionale Komponente geopolitischer Strategien zu begreifen. Durch das Gespräch hält sie „den Sinn für die Komplexität moralischer Urteilsbildung und damit auch den ‚Anspruch der Gewaltfreiheit‘ innerhalb des Militärs wach – und sie hält den Sinn für die Komplexität des Politischen“[49] unter den Soldat:innen wach. Ich möchte die Frage nach dem Mehrwert exemplarisch an drei Aspekten zeigen: Moralische Entwicklung und Urteilsbildung, interreligiöse Vielfalt und Verbundenheit.
Moralische Entwicklung und Urteilsbildung
Im Rahmen einer kriegerischen Erfahrung dokumentieren die muslimischen Historiker u. a., wie der Prophet Muḥammad auf seine eigene Absicht verzichtete, weil ein Soldat ihn auf die Schwäche seiner Taktik hingewiesen hatte. In der Folge plante der Prophet seine Strategie um und änderte die Positionierung der Armee. Die Umplanung darf nicht nur als taktischer Schritt verstanden werden, sondern als Vermeidung eines möglichen Gefechts. Damit legt sich die hermeneutische Haltung einer Würdigung von Differenz nahe. Muḥammad wäre demnach nicht Oberhaupt, das Arbeit delegiert, sondern eher ein ‚Team-Leiter‘, der nach Frieden sucht. Der Prophet handelt in etwa wie ein ,Künstler‘ und als Soldat besonnen, denn ein
umsichtiger Soldat wendet nicht primär Theorie auf die Wirklichkeit an, sondern zeigt Klugheit in der Wirklichkeit. Er oder sie muss die eigenen Beobachtungen und Einschätzungen als Ausgangspunkt nehmen, um angesichts der Unwägbarkeit von Handlungsmöglichkeiten eine Entscheidung zu treffen.[50]
Die Feststellung von Fred van Iersel im Hinblick auf die christliche Seelsorge lässt sich somit auch auf die Islamische Militärseelsorge beziehen:
Die Suche nach moralischer Wahrheit, welche Militärs in ihrem Verlangen nach Anerkennung zum Ausdruck bringen, wird gerade durch die christliche Ethik ernst genommen und kann ihre Rolle als moralische Akteure prägen. In diesem religiösen Selbstverständnis kann es den Soldatinnen und Soldaten gelingen, sich nicht mehr nur als Variable einer geopolitischen Gleichung zu sehen. Insofern als durch den Glauben die gedankliche Konfrontation mit Dilemmata gefördert wird, kann christlich-geistliche Seelsorge die Charakterbildung in den Streitkräften anregen und fördern und somit einen unerlässlichen Beitrag zur Humanisierung der Kriegführung leisten.[51]
Bernhard Koch zeigt, wie Wertekonflikte in den Streitkräften zu innerer Unruhe führen können.
An die muslimische Militärseelsorge wird die Erwartung gestellt, den Soldatinnen und Soldaten Konzepte zur Bewältigung von Wertekonflikten zu vermitteln. Solche Konflikte ergeben sich beispielsweise aus dem Spannungsfeld zwischen nationaler und internationaler Sicherheit oder zwischen der Sicherheit von Gütern, Werten und Menschen. Welche Strategien gibt es zur konstruktiven Auseinandersetzung mit Mitgefühl?
Seelsorge begleitet die Soldatinnen und Soldaten jedoch weit über den Einsatzzeitraum hinaus. Besonders im Nachhinein beginnen sie, ihren Einsatz zu reflektieren, den Sinn ihres Handelns zu hinterfragen, und laufen dabei Gefahr, Schuldgefühle zu entwickeln. Diese können durch das Scheitern der Mission zusätzlich verstärkt werden. Die bekannte Geschichte von ʿAmmār ibn Yāsser (gest. 657) – er verleugnete unter Folter seinen Glauben; der Prophet zeigte ihm sein Verständnis – schildert nicht nur den Verdacht eines moralisches Mankos, das Versagen im Streben nach dem Gutem und Richtigem und den seelischen Druck, sondern auch die Notwendigkeit von Vergebung und Versöhnung.[52]
Und genau diese Aussicht auf Vergebung hat einen belebenden Effekt, da der Weg der Anerkennung von Schuld und Scham vorgezeigt wird. So wird der Weg hin zur moralischen Entwicklung und Selbstschulung in Form der Charakterbildung wieder geöffnet.[53]
Interreligiöse/interkulturelle Vielfalt
Die Bundeswehr ist ein Spiegel der Gesellschaft. Sie ist gleichsam durchzogen von Pluralität, Genderdiversität und unterschiedlichen Weltanschauungen. In diesem Zusammenhang ist es legitim, nach den Konzepten der IMS für die interkulturelle und interreligiöse Zusammensetzung der Bundeswehr zu fragen, um auch anderen Soldat:innen sicheren Raum zu bieten. Durch die Schaffung einer muslimischen Militärseelsorge entsteht ein Raum der gegenseitigen Bereicherung – und Konkurrenz –, denn es hat für die christliche Seelsorge Reflexion und das Verlernen der eigenen Privilegien zur Folge, was letztendlich die Qualität der Angebote sicherstellen soll.
Es eröffnen sich also zum einen Spielräume hinsichtlich der Art und Weise, wie die responsiven Prozesse gestaltet werden. Zum anderen erfährt das Gegenüber stets Nivellierungen, indem nur im Rückgriff auf bestimmte Identifizierungen geantwortet werden kann.[54]
Folgerichtig kann Seelsorge auch wichtige Akzente der Prävention setzen, über den Islam, aber auch über Antisemitismus aufklären und damit Vorurteilen und Rassismus entgegenwirken.
Interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen erhöhen die Handlungs- und Verhaltenssicherheit und sichern die Akzeptanz von Minderheiten in der Bundeswehr. Dazu gehört z. B. die Kenntnis über die interkulturelle Diversität und Genderdiversität unserer Bundeswehr. Diese Kompetenz bekommt eine neue Dimension, wenn die Angehörigen von Soldat:innen als Zielgruppe der IMS hinzukommen – zumindest etwa bei Besinnungstagen und Werkwochen.[55] Hier geht es gleichwohl um bestimmte Werte, Lebensformen und soziale Autoritäten.[56] Es wird schnell klar, dass es z. B. bei Fragen von Leid und Leidbewältigung nicht nur um Konzepte der Leiddeutung und -verarbeitung geht, sondern um eine Leidkultur, die zu würdigen ist.
Die Anerkennungstheorien stellen die Frage nach dem spezifisch Theologischen der Islamischen Sozialethik. Als minimale Bestimmung von Anerkennungsethiken kann festgehalten werden, dass als „Grundlage stets eine reziproke Wertschätzung der anderen Person oder Gruppe in dem, was sie ist, d. h. ihrer persönlichen oder kulturellen Identität“[57]gilt.
Gemeinsam ist allen Typen von Anerkennungstheorien, dass a) Intersubjektivität die Basis von Subjektivierung sowie Identitätsbildung darstellt, dass b) Anerkennung als Schlüssel zu einer gelingenden Selbstbeziehung gilt, dass c) Anerkennung als eine dem kognitiven Zugang zur Welt vorgängige Haltung angesehen wird und dass d) die Konfrontation mit dem Anderen eine ethische Initialzündung ist.[58]
Hierfür kann die „Theologie des Zusammenlebens“[59] die Innere Führung um weitere Perspektiven bereichern. Eine nähere Betrachtung des Konzeptes der „schönen“, hoffnungsstarken Geduldim Islam[60] möge hier eine weitreichende Grundlage zur Stärkung der Resilienz ermöglichen, und zwar durchaus in Kommunikation mit relevanten Konzepten in den anderen Religionen und Weltanschauungen sowie mit weiteren Betreuungsangeboten in den Einrichtungen.
Verbundenheit
Menschliche Verbundenheit und gegenseitige Hilfe sind lebensnotwendig sowohl im Krieg als auch in Friedenszeiten; dies gilt auch für die Bundeswehr. Durch das Konzept der Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) bzw. Freundschaft im Islam können die Verbundenheit und der Zusammenhalt gestärkt werden. Der muslimische Philosoph und Theologie al-Ġazālī (gest. 1111) vergleicht eine Verbundenheit/ Freundschaft mit einem Ehevertrag. Dieser räumt jedem Partner, jeder Partnerin Rechte und Pflichten ein und soll dem Menschen helfen, eigene Interessen und eigenes Ego in den Hintergrund zu stellen. Insgesamt nennt der Autor acht Bereiche, darunter körperliche und kollegiale/gesellschaftliche Unterstützung sowie Beratung und herzliche Anteilnahme (gute Wünsche); auch Aufrichtigkeit, Erfüllung von Verpflichtungen und Verzicht auf Überforderungen.[61] Für die Bundeswehr besonders interessant ist dabei, dass das Konzept der Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) „vor psychologischer Abstoßungskraft zwischen den Menschen untereinander und vor einem abgrenzenden sozialen System schützen“[62] möchte, eine Grundvoraussetzung für die menschliche Verbundenheit. Diese Dimensionen enthalten ein anspruchsvolles Potential bezüglich der Anforderungen an die muslimische Militärseelsorge in der Bundeswehr. Eine Erwartung an die IMS ist demnach, vor diesem Hintergrund eine wegweisende Rolle zu übernehmen, indem sie sich nicht nur bemüht, die erwähnten Dimensionen in den lebenskundlichen Unterricht und in den Diskurs innerhalb der Bundeswehr einzubringen, sondern dadurch den Diskurs bereichert, einen Paradigmenwechsel anstößt und auf die moralische Ausbildung der Streitkräfte einwirkt.
4. Herausforderungen und Perspektiven
Ich habe anderenorts drei Fragestellungen hervorgehoben, die für die Etablierung und Professionalisierung Islamischer Seelsorge zu beantworten sind, damit diese sich als Forschungs- und Berufsfeld etablieren und als solches wahrgenommen werden kann.[63] Dort versuchte ich darzulegen, dass die Reduzierung der Herausforderungen bei der Professionalisierung der Islamischen Seelsorge auf Fragen der Träger:innenschaft und theologischen Fundierung zu dem Fehlschluss führen kann, die neue Disziplin verfüge bereits über ausgereifte Konzepte für eine plurale Gesellschaft. Im Falle der IMS muss zudem überprüft werden, welche Modelle mit dem Wesen der Bundeswehr kompatibel sind. Die IMS bringt viel Potenzial mit sich und kann die Friedensethik und den Zusammenhalt in den Streitkräften um weitere immanente Werte bereichern. Die oben erwähnten sind lediglich als Bruchteil davon zu betrachten.
Doch dafür und davor muss sich die IMS mit gewissen wissenschaftlichen wie rechtlich-praktischen Fragen auseinandersetzen. Dem begrenzten Rahmen dieses Beitrags geschuldet, kann darauf hier nicht ausführlich eingegangen werden; dies soll jedoch in Zukunft erfolgen. Diese Fragen bleiben jedoch zentral für eine praktisch-theologische Seelsorgelehre muslimischer Prägung:
– Schweigepflicht
– Texthermeneutik
– Repräsentationsfrage
Für die IMS ist ein dauerhaftes Beklagen mangelnder Anerkennung langfristig wenig zielführend. Stattdessen sollte sie den Fokus auf Lösungsansätze legen und die genannten Themen aktiv angehen. In einem interdisziplinären Prozess gilt es, offene Fragen zu diskutieren und Modelle zu entwickeln, die den Prinzipien und Strukturen der Bundeswehr entsprechen. Ein anspruchsvoller, aber vielversprechender Weg.
Fazit
Die Berufung Islamischer Militärseelsorger:innen basiert auf dem im Grundgesetz verankerten Recht auf Religionsfreiheit und dem Prinzip der Gleichbehandlung aller Religionen. Sie füllt sich inhaltlich aus der Tradition des Islam und gilt als ein wichtiges Zeichen für Anerkennung und Wertschätzung von ihrer Präsenz und dem Beitrag muslimischer Soldat:innen in der Bundeswehr. Neben der Repräsentationsfrage muss sie aber in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft ihren Beitrag zur Friedensethik und Persönlichkeitsbildung und -entwicklung definieren, Konzepte und Instrumente dafür herausarbeiten, Wege aus Gewalt und Schuld zu finden und Versöhnungsprozesse zu gestalten. Hierfür muss die Möglichkeit für eine Zusammenarbeit mit zuständigen Forschungsstätten und Arbeitskreisen wie dem Zentrum Innere Führung und der Christlichen Militärseelsorge eröffnet werden.
Die IMS hat auf der anderen Seite die Fragen der Pluralität und Hybridität von Normen und Lebensformen zu beantworten. Ständige Veränderungen und Spannungen in den internationalen Beziehungen, globale Aufgaben, wie Reaktionen auf den Klimawandel oder große Migrationsbewegungen, setzen die Argumente und Antworten, die sich im Ernstfall mit dem Bezug auf den Islam als Synonym für Frieden begnügen, unter Druck. Ohne einen Beitrag von der IMS bei der Beantwortung jener Fragen der sozialen, ethischen, politischen und geschlechtlichen Diversität unserer Gesellschaft laufen die IMS und muslimische (Militär-)Seelsorger:innen Gefahr, sich zu einem Sammelwerk von Regeln bzw. zu bloßen „Ritualbeauftragten“[64] herabzusetzen. Daher stellt sich für die IMS die Frage nach Textzugangsweisen und dem Umgang mit der Vielzahl der im Laufe der Jahrhunderte entstandenen und teilweise miteinander konkurrierenden Auslegungen. Eine mögliche Antwort bietet hier die praxisorientierte Hermeneutik.
Demnach verspricht die Einrichtung der IMS nicht nur eine Bereicherung für die Bundeswehr und die plurale Gesellschaft zu sein, sondern kann auch die Islamische (Praktische) Theologie im europäischen Kontext als ein Forschungsfeld anregen.
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- International Report
- Islamic Religious Education and Practical Theology: Disciplinary Profiles and Key Research Areas in the German-Speaking Context
- Research Articles
- A Variety of Critical Connections: Qualitative Empirical Research in Flanders, Belgium on the Experiences of lgbtq+ Persons in the Roman Catholic Church
- Queer Theology on Social Media: A Reflection on Queer Pastoral Influencers on Instagram
- Your Story: Exploring the Faith Journeys of Young Australians
- Border Thinking in the Training of Imams and Muslim Caregivers
- Islamische Militärseelsorge in Deutschland zwischen Kriegs- und Friedensethik
- German “Kirchentheorie”: Theory of Church between doctrinal Ecclesiology and Social Sciences
- Pastoral Assembling: Expanding the Notion of Pastoral Imagination
- Book Reviews
- James Emery White, Hybrid Church: Rethinking the Church for a Post-Christian Digital Age, Grand Rapids (Zondervan Reflective) 2023, 230 pp., ISBN 978-0-310-14297-3, $13.66
- Jones, Jeffrey D., and Fredrickson, David. Being Church in a Liminal Time: Remembering, Letting Go, Resurrecting, Blue Ridge Summit (Rowman & Littlefield Publishers, Incorporated, 2023), 128 pp., ISBN 9781538174500, £16.99, (pb) $22 USD
- Amy Panton, Soul Care for Self-Injury: Theological Reflection and Spiritual Care Strategies, Toronto (Mad and Crip Theology Press) 2024, 269 pp., ISBN 978-1-0689061-0-7, $40.00 CA.
- Munther Isaac, Christ in the Rubble. Faith, Bible, and the Genocide in Gaza, Grand Rapids (Wm. B. Eerdmans Publishing Co.) 2025, 279 pp., ISBN 978–0802885548, $24.99
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
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- Editorial
- International Report
- Islamic Religious Education and Practical Theology: Disciplinary Profiles and Key Research Areas in the German-Speaking Context
- Research Articles
- A Variety of Critical Connections: Qualitative Empirical Research in Flanders, Belgium on the Experiences of lgbtq+ Persons in the Roman Catholic Church
- Queer Theology on Social Media: A Reflection on Queer Pastoral Influencers on Instagram
- Your Story: Exploring the Faith Journeys of Young Australians
- Border Thinking in the Training of Imams and Muslim Caregivers
- Islamische Militärseelsorge in Deutschland zwischen Kriegs- und Friedensethik
- German “Kirchentheorie”: Theory of Church between doctrinal Ecclesiology and Social Sciences
- Pastoral Assembling: Expanding the Notion of Pastoral Imagination
- Book Reviews
- James Emery White, Hybrid Church: Rethinking the Church for a Post-Christian Digital Age, Grand Rapids (Zondervan Reflective) 2023, 230 pp., ISBN 978-0-310-14297-3, $13.66
- Jones, Jeffrey D., and Fredrickson, David. Being Church in a Liminal Time: Remembering, Letting Go, Resurrecting, Blue Ridge Summit (Rowman & Littlefield Publishers, Incorporated, 2023), 128 pp., ISBN 9781538174500, £16.99, (pb) $22 USD
- Amy Panton, Soul Care for Self-Injury: Theological Reflection and Spiritual Care Strategies, Toronto (Mad and Crip Theology Press) 2024, 269 pp., ISBN 978-1-0689061-0-7, $40.00 CA.
- Munther Isaac, Christ in the Rubble. Faith, Bible, and the Genocide in Gaza, Grand Rapids (Wm. B. Eerdmans Publishing Co.) 2025, 279 pp., ISBN 978–0802885548, $24.99