Guy Beiner, Forgetful Remembrance. Social Forgetting and Vernacular Historiography of a Rebellion in Ulster. New York, Oxford University Press 2018

Raingard Esser

doi:10.1515/hzhz-2020-1131

Article Open Access

Guy Beiner, Forgetful Remembrance. Social Forgetting and Vernacular Historiography of a Rebellion in Ulster. New York, Oxford University Press 2018

Raingard Esser

Published/Copyright: April 1, 2020

Published by

Become an author with De Gruyter Brill

Author Information Explore this Subject

From the journal Historische Zeitschrift Volume 310 Issue 2

Reviewed Publication:

Guy Beiner, Forgetful Remembrance. Social Forgetting and Vernacular Historiography of a Rebellion in Ulster. 2018 Oxford University Press Oxford, 978-0-19-874935-6, £ 35,–

Eine kurzlebige, gescheiterte Rebellion gegen die britische Herrschaft im Sommer 1789 bietet die Grundlage für die vorliegende, dichte Untersuchung zu sozialem Vergessen in der nordirischen Provinz Ulster. Brandherde des Kampfes für die irische Unabhängigkeit befanden sich sowohl im Süden der Insel, insbesondere im County Wexford, als auch im Norden, in den Provinzen Antrim und Down. Die blutige Episode in der an gewaltsamen Konflikten nicht armen Geschichte Irlands dient dem israelischen Historiker Guy Beiner als Ausgangspunkt für seine auf breiten Quellenstudien basierende Untersuchung zu Praktiken des privaten Erinnerns im Kontext offiziellen Vergessens in einer politisch und kulturell äußerst komplizierten Region.

Während der Süden und Westen Irlands sich relativ deutlich in eine englischstämmige, der Church of Ireland nahestehende und eine katholische und gälische Bevölkerungsgruppe unterscheiden ließ, lagen die Loyalitäten im Nordosten sehr viel komplizierter. Von den antibritischen Rebellen waren ein nicht unbeträchtlicher Teil, und namentlich ihre Anführer, nämlich nicht Katholiken, sondern Presbyterianer mit Wurzeln in Schottland. Der Aufstand im Süden und Westen Irlands wurde sehr schnell von den Katholiken vereinnahmt und gefeiert (wie Beiner in seinem ersten Buch, „Remembering the Year of the French“ von 2007 nachgezeichnet hat). Der „Turn-out“, so die euphemistische Umschreibung der Rebellion im Norden, galt demgegenüber als peinliche Entgleisung einer ansonsten der britischen Regierung gegenüber loyalen protestantischen Bevölkerung, die offiziell totgeschwiegen wurde.

Gegen diese Politik des Vergessens studiert Beiner die private, oft codierte Erinnerung an die Ereignisse im Rahmen einer „vernacular historiography“ (die für ihn, in Anlehnung und Erweiterung einer in der Mediävistik gebräuchlichen Definition alle Formen nichtoffizieller Geschichtserzählungen umfasst). Subtile Mittel der Erinnerung waren etwa Gedichte und Balladen, die sich des Ulster-Scots bedienten, einer Sprache, die in Nordirland von den Presbyterianern gesprochen wurde. Die Beteiligung dieser Gruppe an der Rebellion wurde so angedeutet, ohne sie direkt zu benennen. Chronologisch verfolgt Beiner diese Spur bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts und macht dabei deutlich, wie sich die Konjunkturen des Erinnerns und Vergessens je nach der tagespolitischen Lage in der Provinz und im Verhältnis zu ihren Nachbarn veränderten. Nach dem politisch verordneten Vergessen in den Jahren nach dem Aufstand und besonders nach dem Act of Union von 1800 folgte eine Phase des vorsichtigen öffentlichen Erinnerns im 19. Jahrhundert, bei dem sich auch Nationalisten im Norden an ihren presbyterianischen Vorläufern im 18. Jahrhundert ein Beispiel nehmen konnten. Mit der Verhärtung der Fronten nach der Teilung Irlands 1922 und der ansteigenden Welle der Gewalt seit den 1970er Jahren wurde es dann wiederum unmöglich, an Presbyterianer zu erinnern, die sich für die Loslösung von Großbritannien eingesetzt hatten.

Diese Tour de Force durch mehr als 200 Jahre (nord-)irischer Geschichte im Prisma lokaler Auseinandersetzungen in kleineren Ortschaften in Antrim und Down verlangt viel Sachkenntnis von Lesern, die möglicherweise nicht vertraut sind mit der politischen Bewegung der Fenians oder der Rolle des Oranierordens. Einflüsse von außerhalb der Provinz, aus England oder den Vereinigten Staaten, wo sich irisch-nationalistische Kreise bis zum Karfreitagsabkommen von 1998 aktiv am Nordirlandkonflikt beteiligten, werden in einigen Kapiteln, aber nicht chronologisch durchgängig verfolgt (was das Buch allerdings auch noch umfangreicher und möglicherweise noch komplizierter gemacht hätte). Am Ende hätte sich die Leserin anstelle des breiten Überblicks über andere Praktiken des Vergessens und privaten Erinnerns und deren historiographische Aufarbeitung innerhalb und außerhalb Europas eine konzisere Zusammenfassung des theoretischen und konzeptionellen Gewinns dieser Studie gewünscht, der im Text immer wieder angesprochen wird.

Basierend auf einer hervorragenden Kenntnis der theoretischen Diskussionen im komplexen und teilweise ausufernden Feld der Memory Studies liefert Beiners Studie einen bedeutenden und originellen Beitrag zum Forschungsfeld. Die Weiterentwicklung des Konzeptes der vernakulären Geschichtsschreibung als Methode und der Theorie des sozialen Vergessens als eben nicht nur einer „von oben“ verordneten Amnesie, sondern als Funktion einer Gesellschaft, potentiell zerstörerische Erinnerungen zwar nicht vollständig zu eliminieren, sondern in codierter Form und in privatem Kontext zu bewahren, sind richtungsweisend für weitere Auseinandersetzungen mit dem Thema. Beiners Plädoyer für das Studium der nichtoffiziellen Geschichtserzählungen von Amateurhistorikern, Folkloristen und Familienforschern mit ihrem Fokus auf die Lokalität ist sicherlich besonders relevant für Nordirland, wo offizielle Institutionen über Jahrhunderte wenig Vertrauen genossen haben und vielleicht immer noch nicht genießen, gilt aber auch für andere Konfliktzonen in der Welt.

Published Online: 2020-04-01

Published in Print: 2020-04-01

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Articles in the same Issue

https://doi.org/10.1515/hzhz-2020-1131

Creative Commons

BY 4.0