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Wohnungspolitische Soziale Bewegungen

  • Simon Güntner , Gabriele Schmidt and Lisa Vollmer
Published/Copyright: March 21, 2023
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Die Organisation der Wohnraumversorgung in der kapitalistischen Stadt hat immer wieder zu Konflikten geführt. Begründet im Widerspruch zwischen Nutz- und Tauschwert bzw. dem Grundbedürfnis nach sicherem und angemessenem Wohnen und der Profitorientierung von als Ware gehandelten Wohnimmobilien (Harloe 1995, Holm 2011, Güntner 2022) findet die „Wohnungsfrage“ (Engels 1976) immer wieder ihren Ausdruck in für untere und phasenweise auch mittlere Einkommensschichten unbezahlbaren Wohnkosten und schlechten Wohnverhältnissen. Soziale Bewegungen gegen diese Missstände haben auch in Deutschland eine lange Tradition (Vollmer 2021, Mattern 2018). Die wohnungspolitische soziale Bewegung bzw. ihre verschiedenen Teile nahmen dabei verschiedene Formen an. Diese reichen von Aufständen – wie zum Beispiel in den sogenannten Exmittierungskrawallen im 19. Jahrhundert – über Proteste, Mietstreiks und Hausbesetzungen bis hin zur Organisation in Mieter*innenvereinen und Genossenschaften. Wohnungspolitischen sozialen Bewegungen ist es immer wieder gelungen, Einfluss auf (lokal-)staatliche Politik auszuüben, wie sich im Mieter*innenschutz, Sozialen Wohnungsbau oder auch Wohngeld zeigt. Allerdings waren die Erfolge begrenzt und sind in vielen Bereichen verwässert oder abgeschafft.

Gegenwärtig befinden wir uns angesichts dramatischer Wohnungsnot in einer Hochphase wohnungspolitischer Proteste und Initiativen. Die Aktivitäten der lokalen und auch bundesweit aktiven mietenpolitischen Gruppen wurden bereits im Forschungsjournal Soziale Bewegungen vorgestellt (Rink/Vollmer 2019). Die aktuelle Krise der Wohnraumversorgung ist ein Resultat neoliberaler Wohnungspolitik, die auf Privatisierung von öffentlichen Beständen von Boden und Deregulierung von Miet- und Planungsrecht setzt. Auch staatlich vorangetriebene Aufwertungs- und Gentrifizierungsprozesse sowie die Deregulierung der Finanzmärkte haben den Boden bereitet für die Spekulation und profitmaximierende Verwertungsstrategien des nach der Finanzkrise auf deutsche Immobilienmärkte strömenden Finanzkapitals. Neoliberalisierung und Finanzialisierung der Wohnraumversorgung haben das Wohnen für untere und auch mittlere Einkommensschichten in vielen Groß- und Mittelstädten – und auch manch ländlichem Raum – zunehmend unerschwinglich gemacht.

Mit der Zuspitzung dieser Krise haben sich die Fokussierungen und Forderungen der Initiativen verschoben. Dies zeigt sich auch in der wissenschaftlichen Reflexion: Während in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts eine intensive Debatte um Recht auf Stadt-Bewegungen geführt wurde (z. B. Holm 2014, Rinn 2016), konzentriert sich die Bewegungsforschung seither stärker auf das enger gesteckte Thema Wohnen und spricht von Mieter*innenbewegung, Mietenbewegung oder mieten-/wohnungspolitischen Bewegung (Vollmer 2019, Schipper 2017, Stoll 2022).

Dieser Themenschwerpunkt Wohnungspolitische Soziale Bewegungen knüpft hier an und stellt aktuelle Initiativen der wohnungspolitischen sozialen Bewegungen vor. In den Blick kommen sowohl konkrete Lösungsvorschläge für eine alternative Organisation der Wohnraumversorgung als auch konzeptionelle und strategische Fragen nach dem Einfluss sozialer Bewegungen auf die Wohnungspolitik und das konflikthafte bis kooperative Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und dem politisch-administrativen System.

Zu den Beiträgen

In der Aktuellen Analyse stellen Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Julia Schuler und Elmar Brähler zentrale Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus Studien 2022 (LAS) vor. Diese untersuchen rechtsextreme Einstellungen in Deutschland im Langzeitverlauf. Seit 2002 wird im Zweijahresrhythmus eine repräsentative Stichprobe der deutschen Bevölkerung zu einer Bandbreite politischer Themen befragt. Bekannt wurde die Studienreihe bis 2016 unter dem Namen Leipziger »Mitte«-Studien. Seit 2018 erscheint die Studie unter einem neuen Reihentitel, der eine Fokusverschiebung von der Problemanzeige zur Problemanalyse markiert. Die Studie zeigt auf, wie weit verbreitetet antidemokratische Ressentiments in der Bevölkerung sind und sie rekonstruiert über die Jahre die Entwicklung der psychosozialen Dynamiken, die diesen antidemokratischen Reaktionen zu Grunde liegen. Der Beitrag fasst die zentralen Ergebnisse der diesjährigen Erhebung und die Veränderungen in den letzten 20 Jahren zusammen.

Den Einstieg in den Themenschwerpunkt bereitet Ingrid Breckner, die in ihrem Beitrag Wiederkehrende Wohnungsnot und die Rolle sozialer Bewegungen einen historischen Überblick mit konzeptionellen Überlegungen zur Lösung der aktuellen Wohnungskrise verbindet. Sie argumentiert dafür, Wohnen als soziale Infrastruktur der Daseinsvorsorge zu verstehen und damit der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Wohnraumversorgung einen angemessenen Rahmen zu geben. Sarah Uhlmann schlägt in ihrem Beitrag Urbane Reproduktionskämpfe einen möglichen materialistischen, klassentheoretischen Zugang zu wohnungs- und stadtpolitischen Bewegungen vor.

Den beiden einführenden Aufsätzen folgen vier Beiträge zu Fallbeispielen wohnungspolitischer sozialer Bewegungsakteure in drei Städten. Joscha Metzger stellt in Soziale Bewegungen und Selbstorganisation im Wohnungsbau das Verhältnis von politischen sozialen Bewegungen im Bereich Wohnen und solchen der Selbsthilfe im historischen Wandel am Beispiel Hamburgs vor. Sebastian Schipper zeigt in seinem Beitrag Kommunale Bürgerbegehren und die Wohnungsfrage. Der ‚Mietentscheid‘ in Frankfurt und sein schwieriges Verhältnis zur institutionellen Politik, dass es wohnungspolitischen Initiativen trotz konkreter Lösungsvorschläge für die Krise der Wohnraumversorgung und der Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung angesichts einer tiefen Neoliberalisierung der Staatsapparte nicht ausreichend gelingt, Einfluss auf die institutionelle Politik zu nehmen. Lisa Vollmer knüpft hieran an. In ihrem Beitrag Soziale Bewegungen und der (nicht-)responsive Staat. Das Beispiel Deutsche Wohnen & Co Enteignen greift sie ein altes Konzept der sozialen Bewegungsforschung auf, das der staatlichen Responsivität, und fragt, welchen Wert es für die aktuelle Bewegungsforschung hat.

Um das Verhältnis von staatlichen Institutionen und sozialen Bewegungen geht es auch in Renée Tribbles Beitrag Urbane Praxis und Kunst als Koproduzent*innen von Stadtplanung, in dem die Planbude Hamburg, aus einer stadt- und wohnungspolitischen sozialen Bewegung erwachsen, als Beispiel für einen kooperativen Planungsprozess vorgestellt wird.

Den Abschluss der Rubrik Themenschwerpunkt bildet ein Interview, das Simon Güntner mit Margit Mayer, Hillary Silver, David Madden und Andrej Holm geführt hat. Darin reflektieren die Interviewten über ihre Begegnungen mit und den Einfluss von Peter Marcuse, einem der zentralen Autoren der städtischen sozialen Bewegungsforschung, der im März 2022 im Alter von 93 Jahren verstorben ist.

In der Rubrik des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) vergleicht Leslie Gauditz ihre Interviewerfahrungen aus zwei Forschungsarbeiten zu verschiedenen Akteursgruppen – den Akteur*innen im Bereich Fluchtaktivismus und den Corona-Maßnahmen-Kritiker*innen – und reflektiert vor diesem Hintergrund Vorannahmen der Bewegungsforschung zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und deren Zugänglichkeit für die Feldforschung.

In der Rubrik Pulsschlag wird der Themenschwerpunkt um zwei Beiträge inhaltlich erweitert. Gabriele Schmidt und Ricarda Pätzold stellen in ihrem Aufsatz Bodenpolitik von unten – ein utopisches Projekt? das Bündnis Bodenwende vor und plädieren für einen dringend gebotenen Paradigmenwechsel in der Bodenpolitik. Sebastian Beck stellt die vom vhw-Bundesverband für Stadtentwicklung und Wohnen e. V. 2019 ins Leben gerufene Stadtmachen Akademie aus Sicht des vhw vor, die zivilgesellschaftlichen Projekten im Bereich Stadtentwicklung eine Plattform für fachliche und strategische Weiterbildung bietet.

Peter-Georg Albrecht präsentiert Ergebnisse einer Untersuchung, die sich der Frage widmet, welche biographischen Ereignisse im Umweltbereich Engagierte zu ihrem ehrenamtlichen Engagement bewogen haben.

Auch die Literatur-Rubrik greift das Schwerpunktthema auf. Selim Banabak und Julia Dorner nehmen drei aktuelle Beiträge zu wohnpolitischen Kämpfen unter die Lupe, die sich aus unterschiedlichen (linken) Perspektiven der Frage der Vergemeinschaftung von Wohnkonzernen widmen. Den Bezugspunkt bilden dabei jeweils die Debatten rund um die Initiative Deutsche Wohnen und Co. Enteignen (DWE) in Berlin, die weit über die deutsche Hauptstadt hinaus Strahlkraft entwickelt haben. In der Gesamtschau liefern die Bände laut den Autor*innen einen vielschichtigen Überblick über politökonomische Grundlagen, die Finanzialisierung von Wohnraum bis hin zu den konkreten Mobilisierungen von DWE. Die interaktiven Dynamiken zwischen Aktivist*innen, ihren Gegner*innen und politischen Institutionen nimmt das Buch Gains and Losses in den Blick, das von Dalilah Shemia-Goeke besprochen wird. Trotz der etwas zu detailreichen Darstellung der sechs Fallstudien aus Nordamerika, Österreich, Hong Kong und Russland empfiehlt sie das Buch insbesondere denen, die mit der interaktionistischen Bewegungstheorie von James Jasper und seinen Kolleg*innen bislang nicht vertraut sind. Schließlich widmet sich Kassandra Hammel einer kürzlich veröffentlichten Online-Ressource und führt in eine digitale Landkarte der Frauenbewegung in Baden-Württemberg ein. Sie bilanziert: „Die baf-Bewegungskarte leistet wichtige und wegbereitende Arbeit im Bereich der Visualisierung und Kartierung feministischer Bewegungen, der kulturellen Bildung und der Identitätsbildung.“

Im ergänzenden, frei zugänglichen Online-Angebot FJSB Plus diskutieren Dieter Rink, Alexander Leistner, Sabine Kühn und Joshua Strang den „Heißen Herbst“ 2022 mit rechter Mobilisierung von Krisenprotesten. Dorothea Elena Schoppek, Clemens Schürmann, Pablo Kriegler und Sarah Stemmler erörtern die Besetzung im Dannenröder Wald und deren Rolle im Transformationskonflikt um die deutsche Verkehrswende. Der Beitrag diskutiert, welche Rolle die Besetzung im Kampf gegen diese Hegemonie spielen kann und welcher strategischen Interventionen es zusätzlich bedarf. Klaus Farin analysiert die Folgen der Räumung von Lützerath für die Grünen.

Mehmet Alpbek analysiert in seinem Beitrag die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Kontaktbeschränkungen auf die Arbeit der Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland-FÖTED. Matthias Diermeier, Armin Mertens und Judith Niehues analysieren in ihrem Beitrag Außerhalb der Echokammer die Kommunikation auf der Plattform Twitter während des Bundestagswahlkampfes 2021. Ulrich Frey widmet sich in seinem Beitrag den aktuellen. friedensethischen Diskussionen in den evangelischen Kirchen zur Ukraine-Problematik.

Simon Güntner (Wien), Gabriele Schmidt (Berlin), Lisa Vollmer (Weimar)

Literatur

Engels, Friedrich 1976: Zur Wohnungsfrage. In: Karl Marx/Friedrich Engels (Hg.), Werke. Bd. 18. Dietz, 209–287.Search in Google Scholar

Güntner, Simon 2022: Precarious Housing. In: Baikady, Rajendra/Sajid, S.M./Przeperski, Jaroslaw Nadesan, Varoshini/Islam, M.Rezaul/Gao, Jianguo (Hg.): The Palgrave Handbook of Global Social Problems. Palgrave Macmillan. https://doi.org/10.1007/978-3-030-68127-2_174-110.1007/978-3-030-68127-2_174-1Search in Google Scholar

Harloe, Michael 1995: The people’s home? Social rented housing in Europe & America. Blackwell.10.1002/9780470712825Search in Google Scholar

Holm, Andrej 2011: Wohnung als Ware. Zur Ökonomie und Politik der Wohnungsversorgung. In: Widersprüche 31, 9–22.Search in Google Scholar

Holm, Andrej 2014: Das Recht auf die Stadt in umkämpften Räumen. Zur gesellschaftlichen Reichweite lokaler Proteste. In: Gestring, Norbert/Ruhne, Renate/Wehrheim, Jan (Hg.): Stadt und soziale Bewegungen. Springer VS, 43–62.10.1007/978-3-658-01398-1_3Search in Google Scholar

Mattern, Philipp (Hg.) 2018: Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – das Beispiel Berlin. Bertz + Fischer.Search in Google Scholar

Rink, Dieter/Vollmer, Lisa 2019: „Mietenwahnsinn stoppen!“. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 32/3, 337–349.10.1515/fjsb-2019-0041Search in Google Scholar

Rinn, Moritz 2016: Konflikte um die Stadt für alle. Das Machtfeld der Stadtentwicklungspolitik in Hamburg. Westfälisches Dampfboot.Search in Google Scholar

Schipper, Sebastian 2017: Wohnraum dem Markt entziehen? Wohnungspolitik und städtische soziale Bewegungen in Frankfurt und Tel Aviv. Springer VS.10.1007/978-3-658-17993-9Search in Google Scholar

Stoll, Niklas 2022: Vergesellschaftung als Transformationsstrategie. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 52/209, 631–648.10.32387/prokla.v52i209.2024Search in Google Scholar

Vollmer, Lisa 2019: Mieter_innenbewegungen in Berlin und New York. Die Formierung politischer Kollektivität. Springer.10.1007/978-3-658-24016-5Search in Google Scholar

Vollmer, Lisa 2021: Wohnen und soziale Bewegungen. In: Eckardt, Frank/Meier, Sabine (Hg.): Handbuch Wohnsoziologie. Springer Fachmedien Wiesbaden, 175–191.10.1007/978-3-658-24724-9_3Search in Google Scholar

Published Online: 2023-03-21
Published in Print: 2023-03-28

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 28.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/fjsb-2023-0001/html
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