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Metall des Todes – F. H. Achermanns Der Schatz des Pfahlbauers als alternative Ursprungserzählung der Schweiz

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Published/Copyright: July 17, 2024
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Zusammenfassung

Seit ihrer Entdeckung in der Schweiz im Winter 1853/1854 spielten die Pfahlbauer eine bedeutende Rolle für das nationale Selbstverständnis des wenige Jahre zuvor entstandenen Staates, indem sie sich als tugendsame und arbeitsame Vorfahren des Schweizer Volkes deuten ließen und so eine einigende Funktion gegen Innen hatten. Der Beitrag besichtigt diesen Mythos der Pfahlbauer als idealisierte Vorfahren. Das Hauptgewicht liegt auf einer Analyse von F. H. Achermanns Der Schatz des Pfahlbauers (1920), um das von wissenschaftlichen Narrativen wie von sozialen und kulturellen Systemen durchzogene Bedeutungsgeflecht des Romans im Hinblick auf National- und Genderdiskurse des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu beleuchten, wobei vergleichend weitere Quellen wie K. Keller-Tarnuzzers Die Inselleute vom Bodensee (1935) oder J. Bührers Theaterstück Die Pfahlbauer (1932) beigezogen werden.

Abstract

Since their discovery in the winter of 1853/1854 the lake dwellers have played an important role for the Swiss federal state founded in 1848. The lake dwellers were reimagined as virtuous and hardworking ancestors of the Swiss people thus developing a unifying function. The analysis proposes a re-reading of this “myth”. The focus will be on F. H. Achermanns prehistoric novel Der Schatz des Pfahlbauers (1920) to highlight the narrative uses of national and gender discourses of the early twentieth century, other works like K. Keller-Tarnuzzer’s Die Inselleute vom Bodensee (1935) or J. Bührer’s play Die Pfahlbauer (1932) are used to broaden this image of the lake dwellers as Swiss ancestors.

1 Auftakt

Prehistoric fiction oder prähistorische Romane gehören ins weite Feld der Fantastik. Sie weisen Verwandtschaft sowohl mit Fantasy- als auch mit Science-Fiction-Romanen auf. Aufgekommen ist dieses Genre in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und kennzeichnet sich durch eine Mischung aus wissenschaftlichen Funden und Imaginationen. Prehistoric fiction entwirft fremde Welten, die mehr über die jeweilige Entstehungszeit als über die imaginierte Vorzeit aussagen.[1]

Unter diesen Vorzeichen möchte ich mich mit der nationalen Erzählung der Pfahlbauer als idealisierte Vorfahren des Schweizer Volkes befassen, wie sie von der Mitte des neunzehnten bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Schweiz in verschiedenen populären Medien – darunter Kalender, Schulmaterial und Jugendbücher – verbreitet wurde.[2] Das Hauptgewicht der Analyse liegt dabei auf einem Jugendroman des katholischen Geistlichen Franz Heinrich Achermann (1881–1946). Er schrieb von 1919 bis 1924 einen mehrbändigen Zyklus prähistorischer „Kultur-Romane“, wie er seinen Beitrag zu dem Genre nannte. Im Folgenden möchte ich am Beispiel seines Romans Der Schatz des Pfahlbauers (1920) einerseits untersuchen, wie sich Vorstellungen einer Schweizer Identität in der prehistoric fiction manifestieren, und andererseits, wie und welche Erzählmotive dabei zwischen Wissenschaft und Populärliteratur zirkulieren.

Um den Roman in seinem Kontext besser einordnen zu können, weist der Artikel einen dreigliedrigen Aufbau aus. Im ersten Teil werde ich in kurzen Zügen auf das Genre prehistoric fiction eingehen und Achermanns Romanzyklus darin verorten. Der zweite Teil zeichnet in konziser Form die Entdeckung der Pfahlbauten im kalten und trockenen Winter 1853/1854 nach und rollt die darauffolgende Um-/Deutung der Pfahlbauer zu Vertretern des Fortschritts und der Zivilisation und besonders im Schweizer Kontext zu idealisierten Vorfahren im Sinne einer nationalen Erzählung auf. Daran schließt sich als dritter Teil die Analyse von Achermanns Roman Der Schatz des Pfahlbauers, um das von wissenschaftlichen Narrativen wie von sozialen und kulturellen Systemen durchzogene Bedeutungsgeflecht des Romans im Hinblick auf damalige schweizerische Selbstverständnis- und Genderdiskurse zu beleuchten. Der Blick auf andere zeitgenössische Quellen wie Karl Keller-Tarnuzzers Die Inselleute vom Bodensee (1935) oder Jacob Bührers Theaterstück Die Pfahlbauer (1932) soll helfen, dieses Bild der Pfahlbauer als idealisierte Vorfahren breiter abzustützen, und aufzeigen, dass damit auch eine Kritik der Schweiz verbunden sein kann.

2 Prehistoric fiction

2.1 Zur Entstehung und Inhalt der prehistoric fiction

Bei prehistoric fiction handelt es sich um fiktive Erzählungen und Romane, die in urgeschichtlichen Zeiten angesetzt sind. Das Genre ist rund 160 Jahre alt. Wie der Literaturwissenschaftler Marc Guillaumie in seiner umfassenden Studie Le roman préhistorique. Essai de définition d’un genre, essai d’histoire d’un mythe (2006) notiert, zielen Visionen der Vorzeit immer auf die Gegenwart ab.[3] Nicht nur weil sie Bezug auf den Wissensstand der Entstehungszeit nehmen, sondern weil sie damals interessierende und drängende Fragen und Themen verhandeln.[4]

Als ein solches Thema kann für die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Debatte um das hohe Alter der Erde und der Menschheit gelten. Dabei erweist sich das Jahr 1859 als wichtig – einerseits wegen des Erscheinens von Charles Darwins (1809–1882) The Origin of Species, andererseits aufgrund der Akzeptanz der prähistorischen Funde von Jacques Boucher de Crèvecoeur de Perthes (1788–1868). Seine Grabung in Abbéville förderte von Menschenhand gefertigte Steinwerkzeuge in der gleichen Erdschicht wie Knochen ausgestorbener Tiere zutage. Diese Entdeckung ließ in gebildeten Kreisen nur den Schluss zu, dass diese gleichzeitig gelebt haben müssen.[5] Aus diesem Grund ist das hohe Alter der Menschheit ein die frühen Beispiele der prehistoric fiction prägendes Thema. Die Mehrzahl der ersten Autoren prähistorischer Romane beteiligte sich aktiv an der Dekonstruktion der biblischen Lehre: Der Mensch begann seine Geschichte nicht im Paradies, sondern entwickelte sich aus eigener Kraft von tierischen Anfängen hin zu Technik und Kultur.[6] Wie Roberta de Felici festhält, fungiert das Genre als eine Erzählung der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse. So werden vielfach bekannte Funde und/oder Fundorte in die Handlung eingebaut.[7] Da es seinen Ausgang in Frankreich nahm, erstaunt es nicht, dass die frühesten Beispiele aus eben diesem Land stammen:

  • Pierre Boitard (1789–1859): Paris avant les hommes. Etudes antédiluviennes (posthum 1861)[8]

  • Adrien Cranile (d. h. Adrien Arcelin, 1838–1904, Mitentdecker der jungpaläolithischen Fundstätte von Solutré): Solutré ou les chasseurs de rennes de la France centrale (1872)[9]

  • David Friedrich Weinland (1829–1915): Rulaman (1878, dieser Titel gilt allgemein als erster prähistorischer Jugendroman)[10]

  • Andrew Lang (1844–1912): The Romance of the First Radical (1880)[11]

  • Rosny aîné (d. h. Joseph Henri Honoré Boex, 1856–1940): Vamireh (1892)[12]

Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lässt sich eine Blüte des prähistorischen Romans feststellen, an der sich auch bekannte Autoren wie Rosny aîné oder H. G. Wells (1866–1946) beteiligten, die bis heute immer wieder neu aufgelegte und gelesene Romanen schrieben. Die Handlung dieser frühen Beispiele ist überwiegend im Paläolithikum angesiedelt und erzählt von einer Menschheit am Beginn ihrer Entwicklung. Als zentrale Themen ziehen sich Kampf, Krieg und generell Konflikte zwischen verschiedenen „Rassen“ durch das Genre. Darin spiegelt sich die kolonialistische Gedankenwelt der Zeit, so dass die frühe prehistoric fiction in der Tendenz als rassistisch und ebenso sexistisch gelten muss.[13]

Erfuhr das Genre im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert eine erste Blüte, die über weite Strecken vom Thema des hohen Alters der Menschheit befeuert wurde, das der Phantasie weiten Spielraum ließ, diese neu gewonnene Vergangenheit mit Leben zu erwecken, lässt sich nach dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ein Abflauen das Interesses an prähistorischen Themen feststellen. Auch einzelne Romane bekannter Autoren wie z. B. The Inheritors (1955) von William Golding (1911–1993) über die Ausrottung der Neandertaler durch den modernen Menschen als Reflexion über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs konnten daran nichts ändern.[14]

In den 1980er Jahren lässt sich eine zweite Konjunktur unter veränderten Vorzeichen ausmachen. Das Genre wird zunehmend geschlechteregalitär, feministisch und ökologisch bewusster, indem es einer Vision einer friedlichen, im Umgang mit der Natur nachhaltigen Vorzeit verpflichtet ist.[15] Eingeläutet wurde diese Entwicklung durch Jean M. Auels (*1936) Earth’s Children-Serie (sechs Bände laufend von 1980 bis 2011). Typischerweise steht darin eine starke Frauenfigur im Zentrum, die in einen Konflikt mit ihrer männlich dominierten Gesellschaft verwickelt wird. Charakteristisch ist darüber hinaus eine starke Betonung einer zentralen Liebesgeschichte – gerne verbunden mit expliziten sexuellen Schilderungen. Solche Romane werden teilweise als prehistoric romance bezeichnet. In diesem Feld betätigen sich eher Autorinnen, und auch die Romane selbst richten sich an eine überwiegend weibliche Leserschaft, oft mit feministischem Touch.[16]

Klassische prehistoric fiction weist in der Anlage der Erzählhandlung Ähnlichkeiten zu Mythen und Märchen auf. Der Held – in aller Regel männlichen Geschlechts – ist jung und stark. Er unternimmt eine Reise und erfährt dabei eine Verwandlung. Seine Kraft und Großzügigkeit sind ebenso Bedingung für das Gelingen des Unternehmens wie die Unterstützung durch Helfer- und Helferinnenfiguren, die er sich im Laufe der Handlung als Verbündete zu sichern weiß.[17] Insbesondere für die frühen Beispiele des Genres ist davon auszugehen, dass eine identifizierende Lektüre möglich und gewollt ist, der Leser (im vorliegenden Fall ist die rein männliche Form gemeint, da Frauen in den frühen Beispielen meist eine untergeordnete Rolle spielen) erkennt sich im Held, der im prähistorischen Roman zugleich der Vorfahre aller Menschen ist.[18]

Nicht nur Strukturelemente von Mythen und Märchen scheinen in der prehistoric fiction auf, sondern auch narrative Topoi der Science-Fiction. Beiden gemeinsam ist etwa, wie sie von den Ursprüngen der Gegenwart und Zukunft (der Menschen) handeln oder vielmehr fantasieren. Während Science-Fiction meistens in der Zukunft spielt und die dadurch gegebenen Möglichkeiten und Gefahren verhandelt, setzt prehistoric fiction in einer weit entfernten Vergangenheit ohne schriftliche Zeugnisse ein. Es geht um die Frage, was war oder was geschehen sein musste, damit die Menschheit heute da ist, wo sie ist.[19]

2.2 Zu Achermann und seinen prähistorischen Kulturromanen

Waren die ersten Bespiele der prehistoric fiction hauptsächlich in der Altsteinzeit angesiedelt und zeigten eine Menschheit am Beginn ihrer Entwicklung, steht in Der Schatz des Pfahlbauers eine andere Epoche der Vorzeit im Vordergrund. Wie Marc Guillaumie vorschlägt, lassen sich je nach dargestellter Periode verschiedene Untergenres des prähistorischen Romans bestimmen:[20]

  • Der roman préhistorique primitif spielt meist unter Vormenschen, es geht um die Frage der Menschwerdung. Diese Form wird oftmals zu parodistischen Zwecken genutzt.

  • Der roman préhistorique sauvage ist in der Regel im Paläolithikum während der Eiszeit angesiedelt. Die vorherrschenden Themen sind die zunehmende Beherrschung des Feuers und die Entwicklung der ersten Techniken

  • Der Zeitraum der Handlung des roman préhistorique barbare ist mehrheitlich das Neolithikum, also nach der Sesshaftwerdung der Menschen. Im Zentrum stehen oft große Anführer oder Fürsten. Verhandelt wird die Entwicklung von Sitten und Normen sowie ihr Zerfall.

Für den vorliegenden Zusammenhang ist besonders der roman préhistorique barbare relevant. Mit dem Schatz des Pfahlbauers, der die Geschicke der Pfahlbaufürsten Helweh und Taran nachzeichnet, liegt ein typischer Vertreter dieser Untergattung vor. Auch wenn Achermanns Pfahlbauer nicht in allen Details dem Bild der tugendsamen Vorfahren entsprechen, schreibt der Roman sich in den nationalen Pfahlbaumythos ein, wie er in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der Schweiz verbreitet war.

Franz Heinrich Achermann verfasste eine ganze Reihe prähistorischer „Kulturromane“, wie er sie selbst bezeichnete, die zeitlich von den ersten Bewohnern der Schweizer Alpen bis zu den Helvetiern reichen.[21] Bei Der Schatz des Pfahlbauers handelt es sich um den dritten Band in der Reihe.

Achermann war in der Zwischenkriegszeit ein vielgelesener Jugendbuchautor. Sein Werk steht in der Tradition populärer Unterhaltungsautoren wie Jules Verne (1828–1905) und Karl May (1842–1912) oder, um ein Schweizer Beispiel zu nennen, John Knittel (1891–1970).[22] So notiert Charles Linsmayer im Historischen Lexikon der Schweiz:

Zwischen 1925 und 1940 war A. der meistgelesene kath. Jugendbuchautor der Schweiz. Er schrieb packend arrangierte hist. Jugendromane (Die Kammerzofe Robespierres 1923) und Stücke für das Jugendtheater (Nidwaldens Verzweiflungskampf 1798 1919). Seine größten Erfolge errang er aber mit seinen sog. prähist. Romanen, die unter bereits von christl. Moralvorstellungen gestreiften Stein- und Eiszeitmenschen spielen (Der Schatz des Pfahlbauers 1918, Die Kannibalen der Eiszeit 1924, Dämonentänzer der Urzeit 1927, Der Totenrufer von Halodin 1928).[23]

Abb. 1: Das Titelbild von Achermanns Der Schatz des Pfahlbauers (1920) zeigt eine keltische Goldschale (Foto: Meret Fehlmann)
Abb. 1:

Das Titelbild von Achermanns Der Schatz des Pfahlbauers (1920) zeigt eine keltische Goldschale (Foto: Meret Fehlmann)

Stilistisch sind seine Romane eher direkt gehalten und voller Spannung. Sprachlich weisen sie auch eine Nähe zur Alltagssprache auf, wie Perrig und Mazenauer formulieren: „[…] er schreibt, wie vielen seiner Leserinnen und Leser der Schnabel gewachsen ist und sie selbst es genau gleich schreiben würden, hätten sie Zeit und Phantasie. Es ist ein unbekümmertes, unkontrolliertes manchmal auch unbedarftes Erzählen.“[24] Der katholische Glaube ist wesentlicher Bestandteil seiner Romane, was ihr Erscheinen im Walter Verlag verdeutlicht, der bei seiner Gründung 1916 stark katholisch orientiert war.[25] Für die Popularität der Achermann’schen prähistorischen Romane spricht auch, dass der Walter Verlag sie zwischen 1978 und 1981 neu herausgegeben hat, wenn auch in sprachlich bearbeiteter Form.[26] Achermann interessierte sich für die Urgeschichte, die er immer wieder als Handlungszeitraum auswählte. Wie Perrig und Mazenauer schreiben, führte ihn seine Begeisterung auch dazu, zwischen 1913 und 1920 Ausgrabungen im Gebiet rund um den Solothurnischen Weißenstein vorzunehmen.[27]

Schweizer Jugendliche in der Zwischenkriegszeit, wenn sie sich für Urgeschichte interessierten, kamen fast zwangsläufig mit Achermanns Schriften in Kontakt, da es außer Weinlands Rulaman aus dem späten neunzehnten Jahrhundert nur wenige deutschsprachige Romane, die in der Vorzeit angesetzt waren, gab.[28] Die Vorrede von Die Jäger vom Thursee (1918) verdeutlicht, dass die Lektüre das Heimatgefühl stärken soll: „Möge die vorliegende Erzählung in Romanform nur den einen Zweck erreichen: die Liebe zur heutigen Heimat zu mehren und das Interesse für deren große Vergangenheit zu vertiefen.“[29]

3 Die Entdeckung der Pfahlbauer und ihre symbolische Aufladung

3.1 Die Pfahlbauer als Schweizer Ursprungserzählung im neunzehnten Jahrhundert

Der Winter 1853/1854 war ausgesprochen kalt und trocken, so dass im Januar 1854 in zahlreichen Schweizer Seen die Wasserpegel gesunken und Pfähle erschienen waren. Ferdinand Keller (1800–1881), der Gründer und Präsident der Zürcher Antiquarischen Gesellschaft, wurde zur Interpretation der Funde beigezogen.[30] Er war überzeugt, dass es sich dabei um die Reste von Dörfern handelte, die auf Plattformen in den Seen standen.[31] Diese von ethnologischen Vergleichen angeleitete Deutung der Vergangenheit wurde vom Publikum begeistert aufgenommen. Zweifel daran kamen in den 1920er Jahren auf.[32]

Die Begeisterung über diese neuen Funde entwickelte sich bald zu einem regelrechten Pfahlbaufieber; Fundstücke wurde zu begehrtem Handels- und Tauschgut, auch Fälschungen zirkulierten, weil neben Museen, Antiquaren und Naturforschern zahlreiche Sammler ihre Kollektionen vergrößern wollten. Dieser aus heutiger Sicht fragwürdige Handel wurde von den Zeitgenossen als Garant für die Dynamik des Forschungsfeldes betrachtet. Da die Nachfrage mehr und mehr stieg, entwickelte sich langsam ein gewisses Unbehagen seitens der Antiquare und Naturforscher, insbesondere nach der Juragewässerkorrektur von 1869 bis 1883, die in einer Senkung des Wasserspiegels um zweieinhalb Meter resultierte und zahlreiche Pfahlbaustätten freilegte. Diese lagen nun frei zugänglich und ungeschützt in der Reichweite aller Passanten. Langsam setzte sich ein Wissen um den Schutz dieses Kulturerbes durch.[33]

Die Pfahlbaufunde überzeugten durch ihren guten Konservierungszustand, sie standen für eine versunkene Welt und zeigten eine Welt des Handwerks, des Alltags und letztlich des Lebens.[34] Eine Deutung der Pfahlbauer als Vertreter einer sesshaften, arbeitsamen, den Fortschritt verkörpernden Gesellschaft ist keine Schweizer Besonderheit, sondern lässt sich im gesamten europäischen Raum für die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nachweisen.[35] Diese Interpretation hängt damit zusammen, dass der anhand der Pfahlbaufunde nachweisbare Wechsel der Materialien von Stein zu Bronze als Zeichen des Fortschritts der menschlichen Entwicklung und zunehmenden Technikbeherrschung gedeutet wurde. Neben Sammlungen von Pfahlbauartefakten florierten auch künstlerische Darstellungen des Lebens in den Pfahlbaudörfern. An dieser Stelle sei auf die Pariser Weltausstellung von 1867 verwiesen, die der Urgeschichte und ihren Funden viel Platz einräumte, wie man in Gabriel de Mortillets (1821–1898) Promenades préhistoriques à l’exposition universelle (1867) nachlesen kann. Diese Schrift des bekannten französischen Prähistorikers legt Zeugnis von der Popularisierung der Pfahlbauer ab. Er schildert nicht nur die ausgestellten Pfahlbaufunde, sondern kommt auf die die Schweizer Funde begleitenden Gemälde der einheimischen Künstler Auguste Bachelin (1830–1890)[36] und Léon Berthoud (1822–1892)[37] zu sprechen:

Ce sont des œuvres d’art, mais ce ne sont pas des études archéologiques. L’imagination artistique l’emporte un peu trop sur la froide réalité. N’importe, ces compositions sont fort intéressantes, et on le grand mérite de vulgariser d’importantes découvertes.[38]

Abb. 2: Mit diesem Tauschhandel zwischen Phöniziern und Pfahlbauern von Rodolphe Auguste Bachelin präsentiert sich die Schweiz an der Pariser Weltausstellung 1867 (Schweizerisches Landesmuseum, LM-30487)
Abb. 2:

Mit diesem Tauschhandel zwischen Phöniziern und Pfahlbauern von Rodolphe Auguste Bachelin präsentiert sich die Schweiz an der Pariser Weltausstellung 1867 (Schweizerisches Landesmuseum, LM-30487)

Mortillet beendet seine Ausführungen über die präsentierten Schweizer Pfahlbaufunden nicht ohne den Hinweis, dass die künstlerischen Bilder in den breiten Schichten mehr Propaganda für die Pfahlbauten machen als die gelehrten Abhandlungen von Ferdinand Keller. Bachelins Idealbild der Pfahlbauer belegt, dass sich die Pfahlbauer bzw. die Verweise auf sie im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zu einer Art Exportschlager der Schweiz entwickelten.[39] Dass die Pfahlbauer einen Siegeszug als Vorfahren der Schweizer Bevölkerung antreten konnten, hängt mit dem Moment ihrer Entdeckung zusammen. Die späten 1840er und frühen 1850er Jahre waren für den 1848 gegründeten Schweizer Bundesstaat eine politisch turbulente Zeit. Erinnert sei in dem Zusammenhang an den Sonderbundkrieg von 1847, ein von konfessionellen und politischen (liberal versus konservativ) Unterschieden angeheizter Bürgerkrieg. Außerdem war die Schweiz in den 1850er Jahren in ihrem Verständnis die einzige Demokratie auf europäischem Boden.[40] In diesem Klima wurden die Pfahlbauer als neue idealisierte Vorfahren des Schweizer Volkes in einer neuen, national integrativen Ursprungserzählung politisch instrumentalisiert. Diese Entwicklung verläuft parallel zu ähnlichen Tendenzen, die sich im gesamteuropäischen Raum seit dem späten achtzehnten Jahrhundert manifestieren. Der Rückbezug auf historisch überlieferte Kulturen und Stämme wie die Griechen, Römer, Kelten und Germanen etc. dient dazu, eine Herkunft und Kontinuität zu postulieren, wobei die Verweise auf diese „mythischen“ Kulturen und Vorfahren sich immer wieder mit neuem Sinn und veränderten Bedeutungen aufladen lassen.[41]

Auffällig an der Schweizer Pfahlbaubegeisterung ist, dass ethnische, kulturelle, sprachliche und konfessionelle Unterschiede durch eine gemeinsame Herkunft aus einer fast schon als primordial zu bezeichnenden Vorgeschichte aufgehoben sind. Zu den dabei evozierten Werten gehörten Tugend, Schlichtheit und Fleiß, die man aus den Funden, die von sesshafter Lebensweise und handwerklichem Geschick sprechen, herauszulesen meinte.[42] So boten sich die Pfahlbauer als Vorbild für eine Schweiz an, deren gemeinsame Geschichte bis in die entfernteste Vergangenheit zurückreicht. Das Wissen, dass das eigene Land seit Jahrtausenden besiedelt sei, sollte den Nationalstolz stärken.[43] Die Pfahlbauer wurden zu einem Vorbild inneren Zusammenhalts, da sich in den archäologischen Funden auch eine vermeintlich egalitäre, geschlossene Gesellschaft zeigte. Überspitzt gesagt: Fortschritt ist nur möglich dank harter, unablässiger Arbeit, dabei muss man den Tugenden treu bleiben, die Neutralität pflegen und Fremdes in Schranken halten, so die zeitgenössische Deutung.

Abb. 3: Mit diesem wachsamen Pfahlbauer (1886) fügt sich Albert Anker, einer der populärsten Maler der Schweiz, in den Pfahlbaumythos ein (Albert Anker: Der Pfahlbauer.1886. Kunstmuseum Winterthur: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/66/Anker_Pfahlbauer.jpg, CC0-Lizenz, 3. August 2023)
Abb. 3:

Mit diesem wachsamen Pfahlbauer (1886) fügt sich Albert Anker, einer der populärsten Maler der Schweiz, in den Pfahlbaumythos ein (Albert Anker: Der Pfahlbauer.1886. Kunstmuseum Winterthur: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/66/Anker_Pfahlbauer.jpg, CC0-Lizenz, 3. August 2023)

Die Lebensform auf Plattformen in den Seen zeigt die Dörfer als Inseln der Ruhe und des Friedens. Somit handelt es sich um eine Perpetuierung des Sonderfalles Schweiz in eine mythische Dimensionen annehmende Vergangenheit hinein. Die Schweiz wird als Leuchtturm der Freiheit, des Friedens und des Fortschritts und letztlich als Modell für die ganze Welt gefeiert.[44]

Mit den Pfahlbauern liegt auch ein Beispiel für die historischen Mythen nach Lévi-Strauß vor, wie er sie in La pensée sauvage (1962) präsentiert, verstanden als eine Erzählung über die Vergangenheit, die sich im Laufe der Zeit verändert und den jeweils vorherrschenden Sehnsüchten und Bedürfnissen anpassen lässt.[45] Auf die Pfahlbauer bezogen kann von „bricolages identitaires“[46] gesprochen werden. Damit ist eine Nähe zur Gebrauchsgeschichte, wie sie Guy Marchal in seiner gleichnamigen Studie (2006) in Bezug auf den Mythos der alten Eidgenossen erarbeitet hat, gegeben. Damit bezeichnet er einen besonderen Umgang mit Geschichte, der diese wie einen Gebrauchsgegenstand nutzt, um ihr immer neue Bedeutungen einzuschreiben.[47] Es besteht weiter eine Nähe zum Prozess, den Terence Ranger und Eric Hobsbawm als invention of tradition bezeichnen. Also das Erfinden und Konstruieren von Traditionen, die über eine postulierte Kontinuität zur Vergangenheit verfügen, um die eigene Existenzberechtigung mit einem weit zurückreichenden Stammbaum zu stärken. Als Hochphase der Etablierung von erfundenen, neuen Traditionen bestimmen Hobsbawm und Ranger die Zeit von 1870 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.[48]

Gängiges Mittel zur Verbreitung des Bildes einer idealisierten Schweizer Vergangenheit waren ab den 1860er Jahren Volkskalender.[49] In den 1880er Jahren wurden zudem die Schulen mit der Einführung der sogenannten Vaterlandskunde zu wichtigen Vermittlungsinstanzen dieses Bildes. Die Vaterlandskunde sollte ein schweizerisches Selbstverständnis fördern. Mittel dazu waren Schul- und Lesebücher sowie Schulwandbilder, so überrascht es nicht, dass sich die Pfahlbauer zu regelrechten Lieblingen in der oberen Primarstufe entwickelten.[50] Das Beispiel der Pfahlbauer zeigt, wie diese ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts instrumentalisiert wurden, um ein Verständnis einer gemeinsamen Vorgeschichte und Abstammung zu festigen und um den Nationalstolz zu stärken.

3.2 Der Pfahlbaumythos im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung

Die Idee einer Kontinuität der demokratischen Friedensinsel Schweiz wurde noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert instrumentalisiert, ab den 1930er Jahren dann im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung, die schweizerische Werte gegen faschistische und nationalsozialistische Bedrohungen von außen stärken wollte.[51] Charakteristisch für die Geistige Landesverteidigung war die Betonung der schweizerischen Einheit trotz ihrer Vielfalt der Sprachregionen. Sie strebte eine Überwindung des Klassenbewusstseins an. Der Begriff selbst wurde mit verschiedenen Inhalten befüllt, da die Geistige Landesverteidigung neben nationalen und konservativen, auch von liberalen und zeitweise linken Kreisen mitgetragen wurde.[52]

Auch im Rahmen dieser integrativen Erzählungen der Geistigen Landesverteidigung konnten die imaginierten Pfahlbauer verwendet werden. So machte sich Karl Keller-Tarnuzzer (1891–1973), ab 1923 Kantonsarchäologe von Thurgau und ein Vertreter der Geistigen Landesverteidigung, in verschiedenen Schriften für eine Abstammung des Schweizer Volkes von den Pfahlbauern stark wie hier im Appenzeller Kalender:

Es stimmt schon, dass unser Volk die Pfahlbauer liebt. Es hat auch alle Ursache dazu! Denn unzweifelhaft fließt heute noch Blut von ihrem Blut in unsern Adern […]. Das Schweizer Blut ist eine besondere Mischung, und daran sind sicher die Pfahlbauer auch ein wenig Schuld.[53]

Mit der Abstammung von den Pfahlbauern ist gemäß Keller-Tarnuzzer die Schweiz nicht durch Sprach- oder Kulturraum bestimmt, sondern kann sich auf eine solchen Unterscheidungen vorausgehende, wesentlich ältere Abstammung berufen. War im neunzehnten Jahrhundert mit dem Bezug auf die Pfahlbauer vor allem noch eine Festigung und Stärkung gegen Dissens im Inneren gemeint, sorgte die ideologische Aufladung des Pfahlbaumythos im zwanzigsten Jahrhundert zunehmend für Abgrenzungsprozesse gegen außen.

Nachdem die Konjunktur der Pfahlbauer als Motiv nationalpolitischen Erzählens ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts abflaute, wurden sie im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert unter anderen Vorzeichen zögerlich reaktiviert.[54] Die Expo.02, die sechste Landesausstellung der Schweiz, feierte auf Plattformen (sogenannten Arteplages) im Neuenburger-, Bieler- und Murtensee das Bild einer diversen, weltoffenen Schweiz. Ebenfalls eröffnet wurde für diesen Anlass das bis heute bestehende Hôtel Palafitte. Arteplages wie Hotel beziehen sich wenigstens in der architektonischen Formsprache auf den Pfahlbaumythos.[55] Seit 2011 zählen die Pfahlbauten zum UNESCO-Weltkulturerbe, wobei nicht mehr der Sonderfall Schweiz betont wird, sondern der paneuropäische Charakter der für den gesamten Alpenbogen charakteristischen Fundstätten.[56]

4 F. H. Achermanns Der Schatz des Pfahlbauers

4.1 Achermanns Der Schatz des Pfahlbauers als prähistorischer Roman

An dieser Stelle möchte ich nun auf das konkrete Beispiel von Achermanns Roman eingehen. Der Schatz des Pfahlbauers (1920) handelt von den verfeindeten Stämmen der Taraner und Helwehner, benannt nach dem jeweiligen Fürsten, die geblendet von der Sucht nach Gold ihre Gemeinschaften und ihr eigenes Glück aufs Spiel setzen.

Der Roman steigt mit der Verschwörungsszene dreier südländischer Schmuckhändler ein, die an das Gold von Taran und Helweh gelangen wollen unter Ausnutzung der Feindschaft der beiden. Zugleich planen sie mörderische Intrigen untereinander, um sich an dem zu erwartenden Reichtum gütlich zu halten, denn die Kunde des Goldreichtums der beiden Fürsten hat die Runde gemacht. Insbesondere der Grieche Panides ist unermüdlich im Schmieden von Ränken und Erfinden von Lügen. Angestiftet von Panides überfällt Taran mit seinen Kriegern die Helwehner, einzig Warwin, Helwehs Sohn gelingt die Flucht. Dem sterbenden Bronzegießer Huhur verspricht Warwin, Rache zu üben. Nachdem er Withura, die Tochter des Anführers des als moralisch überlegen dargestellten Stammes der Thuracher, vor der Schmach der Gefangenschaft befreit hat, begegnet ihm in deren Dorf Huhur, der ihn von der aufkeimenden Liebe zu Withura warnt und an sein Versprechen der Rache erinnert. Panides ist es in der Zwischenzeit gelungen, auch Taran um sein Gold zu bringen, bevor ihn wiederum Warwin um den Goldschatz erleichtert, um seine Rache mit dem Kauf von Tarans Frau Giurda und Kindern voranzutreiben. Als Taran an den Geschichten Panides zu zweifeln beginnt, blendet ihn dieser im Kampf. Die Thuracher finden den verwundeten Taran und nehmen den Schmuckhändler gefangen, um ihn seiner Rache zuzuführen. Giurda nimmt sich des erblindeten Tarans an. Panides gelingt die Flucht und findet in der Auseinandersetzung mit Huhur den Tod. Withura versenkt den Goldschatz, der so viel Unglück über die Stämme von Helweh und Taran gebracht hat, im See, bevor er weitere Opfer fordert.

Der Fokus der Analyse des Romans liegt auf der Verarbeitung des Mythos der Pfahlbauer als idealisierte Vorfahren. Beginnen möchte ich mit dem Motiv der Sicherheit bietenden Siedlung der Pfahlbauer auf den Seen und der damit verbundenen Vorstellung der von Fremden gebrachten Bedrohung von außen, weil damit ein zentrales Element des Pfahlbaudiskurses in der Schweiz evoziert wird. Danach folgen Überlegungen zu den im Roman enthaltenen Vorstellungen von Gender, wie sie sich in den beiden zentralen Frauenfiguren – Giurda und Withura – zeigen. Insbesondere im Falle der Mutter und Fürstin Giurda findet eine Festschreibung traditioneller Vorstellungen statt, die Weiblichkeit mit Passivität und Leiden gleichsetzt.[57] Können die beiden Frauengestalten als Gewissen der Geschichte verstanden werden, fungiert der alte Metallgießer Huhur als Warner, der das von der Goldsucht ausgelöste Unglück kommen sieht. Zum Schluss der Analyse gehe ich auf das im Roman sehr früh eingeführte Motiv des Metalls und seiner verderbenden Wirkung ein.

4.2 Das Pfahlbaudorf – eine Friedensinsel

In idyllischem Tonfall wird in Achermanns Jugendroman immer wieder der Reiz der Pfahldörfer besungen: „Der wonnige Thursee mit seinen heimeligen Pfahlhütten liegt zu ihren Füssen.“[58] Die Siedlungen der unterschiedlichen Pfahlbaustämme werden als „heimelig“[59] und sauber geschildert. Oft spiegelt sich in diesen Beschreibungen, die die Dörfer in die Natur eingebettet zeigen, der Blick der heimkehrenden Jäger und Krieger: „Vor ihnen im See liegt das schmucke Pfahlbaudorf, durch eine Brücke mit dem Lande verbunden.“[60] Teilweise fallen diese Schilderungen mit dem Blick der Fremden zusammen. So lässt sich einerseits der Charme der inselartigen Dörfer auf den Seen erkennen, andererseits verdeutlicht sich in dieser Darstellung die Bedrohung durch das Außen, weil die Siedlungen durch Brücken und gar Palisaden abgetrennt von der sie umgebenden Natur erscheinen. Brücken und Palisaden markieren die Grenze und den Übergang vom gesicherten Reich der Pfahlbürger zum wilden, gefährlichen Außenbereich.

Karl Keller-Tarnuzzer (1891–1973), ein Vertreter der Geistigen Landesverteidigung, machte sich für eine Abstammung der Schweizer Bevölkerung von den Pfahlbaukulturen stark. In seinem mehrfach aufgelegten Jugendroman Die Inselleute vom Bodensee (1936) ist die Siedlung von „großen Palisaden“[61] gesichert, die der erste mächtige Häuptling der Gemeinschaft errichten ließ: „Unter seiner Führung wurden die ersten Hütten gebaut und zum Schutz gegen Feinde und gegen das Wasser die Palisade um die ganze Insel errichtet.“[62]

Die Siedlungsweise auf dem See soll Sicherheit bieten vor Menschen und Natur. Dass es vor allem der kriegerische Charakter der Menschen ist, der nach einer Sicherheit gewährenden Bauweise auf den Seen verlangt, verbalisiert die widerständige Majola in Jakob Bührers (1882–1975) Theaterstück Die Pfahlbauer (1932): „Wir müssten irgendwo wohnen, wo man auf allen Seiten geschützt wäre und ringsum sähe, wie in einem Schiffe!“[63] Anders als die mündliche Überlieferung des Stammes, die zu berichten weiß, dass die ersten Siedler zum Schutz vor den Drachen auf den See geflohen sind, erzählt Majola, wie die Unfähigkeit der Menschen friedlich zusammenzuleben und der ständige Krieg die Ursachen für die Lebensweise auf dem Wasser seien. Bei Bührer hat sich eine Verschlechterung der Darstellung der Pfahlbauer und der von ihnen vertretenen Werte vollzogen. Das Bild der sittsamen und tugendhaften Pfahlbauer als idealisierte Vorfahren blieb im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert nicht ohne Widerspruch.[64] Bührers Pfahlbauer wohnen nicht mehr zufrieden im „schmucken Dorf“ wie bei Achermann, sondern hausen in einem „schmutzige[n], enge[n] Pfahlbaudorf“.[65] Der linksgerichteten Autor Bührer[66] bedient sich der Pfahlbauer, um der damaligen Schweizer Gesellschaft ihre Engstirnigkeit entgegenzuhalten, womit eine der Verwendungsweisen der prehistoric fiction als Spiegel ihrer jeweiligen Entstehungszeit nochmals deutlich wird,

4.3 Die Kehrseite – Abwehr und Abwertung alles Fremden

Nicht nur ist die Bedrohung von außen dem Diskurs um die Pfahlbauer auf ihren sicheren Plattformen inhärent, auch Achermanns Roman beginnt mit einer solchen Szene: „Auf dem Wurzelwerke eines Urwaldriesen, auf paradiesischer Anhöhe, kauern zwei Halunken. Ihre Waffen sind von minoischer Schönheit.“[67]

Auffallend ist, dass hier mit einer klaren Dichotomie gearbeitet wird, indem die Vertreter der frühen Hochkulturen der Phönizier, Griechen und Etrusker als „Halunken“ und damit als fremde Bedrohungen präsentiert werden. Etrusker wie Phönizier werden als hässlich dargestellt. Achermann beschreibt die „kühn geschwungene Habichtsnase“[68] des Phöniziers und entwirft für den Etrusker ein „Bild eines Dämonen der grausamsten Sinnlichkeit“.[69] Alles Griechische – seien es die minoischen Waffen oder der durchgängig als attraktiver Mann beschriebene Panides – wird als schön und kultiviert, aber letztlich Verderben bringend beschrieben. Dies dient der Abwertung alles Fremden, damit wird ein anderer Ursprungsmythos der westlichen Kultur entworfen. Wenn innerhalb des Diskurses der Pfahlbauer als Vorfahren des Schweizer Volkes diese als die erste organisierte und sesshafte Gesellschaft gefeiert werden, nimmt in einer solchen Lesart die menschliche Zivilisation ihren Ausgang an den Ufern der Schweizer Seen.[70] Das antike Griechenland oder das Zweistromland, wo die Landwirtschaft im fruchtbaren Halbmond entdeckt wurde, sind nicht mehr der Ausgangspunkt der Zivilisation. Das mag die äußerst negative Darstellung der Vertreter überlieferter früher Hochkulturen in Achermanns Roman erklären.

Edward Said hat in seiner Studie Orientalismus (1978) herausgearbeitet, dass das vom Westen entworfene Bild des Orients diesen resp. seine Vertreter als grausam und gewalttätig, als sinnlich und lüstern zeigt. In einer solchen Vorstellung wird der Orient als das Andere des Okzidents imaginiert. Es handelt sich dabei um ein Konstrukt, das hauptsächlich im europäischen Westen Verwendung findet, um sich seiner eigenen Identität zu vergewissern.[71] Einer solchen Darstellung des aus dem Osten und Süden gekommenen Fremden als Gefahr ist auch Achermann verpflichtet, wenn er die drei Schmuckhändler als permanent in mörderische Intrigen untereinander verwickelt zeigt. Die Darstellung des Anderen als lüstern und sexuell unersättlich wird nicht nur in der Beschreibung des einen Schmuckhändlers bedient, sondern auch in der Gestalt Panides, der der tugendsamen Giurda nachstellt und Taran von der Untreue seiner Frau überzeugen kann.

Dass es um Selbstvergewisserung geht, die in der Vorstellung der vom Fremden/den Fremden bedrohten Pfahlbauer zum Ausdruck kommt, zeigt sich durchwegs an der Darstellung der Protagonisten in Achermanns Roman. So dient das Adjektiv bieder zur positiven Hervorhebung der Pfahlbauer; Taran trägt einen Ausdruck „biederer Ehrlichkeit“[72] im Gesicht und der Stamm der Thuracher wird als „grossmütig und bieder“[73] charakterisiert, während der Grieche Panides elegant, raffiniert und letztlich mörderisch ist.[74] Eine Kombination, der die als stattliche Erscheinungen dargestellten und in Felle gehüllten Pfahlbaufürsten wenig entgegenzusetzen haben.

Auffallend ist, dass die Pfahlbaumänner meist als „fellbedeckt“[75] geschildert werden, während ihre weiblichen Gegenüber stets in weiße, wallende Leinenkleidung gehüllt sind.

Abb. 4: Die Pfahlbauerin (1873) von Albert Anker verkörpert die Vorstellung der Vollendung des Frauenlebens in der Mutterschaft (Anker, Albert: Die Pfahlbauerin. 1873. Musée de Beaux-Arts, La Chaux-de-Fonds: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/98/Anker_Pfahlbauerin.jpg, CC0-Lizenz, 3. August 2023)
Abb. 4:

Die Pfahlbauerin (1873) von Albert Anker verkörpert die Vorstellung der Vollendung des Frauenlebens in der Mutterschaft (Anker, Albert: Die Pfahlbauerin. 1873. Musée de Beaux-Arts, La Chaux-de-Fonds: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/98/Anker_Pfahlbauerin.jpg, CC0-Lizenz, 3. August 2023)

Eine solche vestimentäre Geschlechterdichotomie begegnet auch auf den Bildern. Bachelins Pfahlbauer tragen Fellkleidung, während die Frauen in Kleidern aus gewobenem Stoff dargestellt werden, die aber an Eleganz von den farbenprächtig gewandeten südländischen Männern überstrahlt werden. Ankers wachsamer Pfahlbauer trägt zusätzlich einen Fellumhang, der wohl vom domestizierten Schaf stammt, während sein weibliches Pendant ganz in Stoff gehüllt mit einem Baby im Schoss in der Sicherheit bietenden Siedlung die Sublimierung der Frau in ihrer Rolle als Mutter verkörpert.

4.4 Männer und Frauen der Vorzeit – Genderzuschreibungen

An Kinder und Jugendliche gerichtete Geschichten dienen zur Verfestigung „gesellschaftliche[r] Rollenmuster und Wertvorstellungen“.[76] Dies zeigt sich deutlich in der Darstellung von Giurda, der treuen Frau Tarans. Die fürsorgliche, sich für ihren Mann aufopfernde, nie aufbegehrende Giurda, wird als ideale Frau präsentiert, deren edles Frauenwesen auch durch Unglück nicht antastbar ist, was im Ausruf: „[…] eine Fürstin der Urzeit, eine Fürstin des Schmerzes, ein – Weib!“[77] gipfelt. Insgesamt wird ein konservatives Bild von Weiblichkeit erschaffen.

Über das Familienleben von Taran, Giurda und den Kindern schreibt Achermann: „Sie schmiegen sich an ihn wie Epheu an die Urwaldtanne.“[78] Efeu steht für enge menschliche Beziehungen und dient als immergrünes Gewächs als Symbol für Beständigkeit, er ist aber auf die Kraft und Stabilität des Baumes angewiesen.[79] Den immergrünen Charakter teilen Efeu und Tanne, die auch für Beständigkeit stehen kann.[80] Achermann folgt mit dieser Darstellungsweise einer klassischen Geschlechtsrollenzuteilung, die Männlichkeit mit Stärke und Weiblichkeit mit Schwäche verbindet. Das zeigt sich auch darin, dass sie über die Macht, die das Gold über ihren Mann hat, sinniert, ihr aber die Kraft fehlt, etwas dagegen zu unternehmen:

Ich liebte den Goldschmuck sehr, als ich noch ein Mädchen war. Taran hat mir diese Gehänge geschenkt – Oh, wie war ich glücklich im Geheimen. Heute verfluche ich das Gold! Es macht die Menschen schlecht. Taran ist ganz anders geworden, seitdem er an das Gold denkt! Es liebt es fast mehr als mich![81]

Etwas freier präsentiert sich Withura, die Fürstentochter der Thuracher, die ebenfalls das Gold und die von ihm geweckten Begehrlichkeiten fürchtet. Anders als Giurda – das Modell leidender und sinnierender Weiblichkeit – versenkt sie tatkräftig den Schatz im See:

Wie das prunkt und lockt! Zwei Stämme hat der gleißende Dämon beinahe vernichtet! – Was wird er noch anrichten, wenn ich nicht – Ich habe die flackernden Augen Warwins gesehen, und auch mein Vater hat verlangend darnach geblickt! Mir scheint, dass sie schon in seinem Banne stehen – Ich will sie davon erlösen! Fort mit dem Plunder![82]

Aktives Handeln bricht den Fluch des Goldes. Rettung und Ausweg bieten die jugendliche Unverbrauchtheit der nachfolgenden Generation sowie die edlen, von der Goldsucht nicht zu korrumpierenden Frauengestalten der verschiedenen Pfahlbaustämme. Dieser Befund deckt sich mit Guillaumies Beobachtung, dass sich in im Neolithikum angesiedelter prehistoric fiction eher starke Frauenfiguren und schwächere Männer finden.[83] Das Handeln von Withura zeigt sie als starke Figur, die sich aktiv für ihre Belange einsetzt. Selbst Giurda, als Beispiel der leidenden und duldenden Weiblichkeit eingeführt, ist stark und die Stütze ihres von der Gier nach Gold geblendeten Mannes. Alle Männer im Roman werden als schwach und verführbar durch das Gold gezeigt.

4.5 Metall – von der Verführbarkeit der Menschen und der Schweizer (Pfahlbauer)

Die Verarbeitung von Metallen und die handwerkliche Herstellung wertvoller Waffen und Schmuck als Kennzeichen der zunehmenden Beherrschung der Technik und artistischen Perfektionierung werden im Laufe des Romans mehrfach thematisiert. Der Romananfang mit der Verschwörung der Schmuckhändler weist nicht nur auf das Thema der Bedrohung durch die Fremden, sondern rückt auch die Wichtigkeit des Metalls ins Zentrum: „‚Metall des Lebens – Gold, Lydon – Gold!‘ – ‚Metall des Todes!‘ Flüstert Panides ganz leise.“[84] Metall steht wahlweise für das Leben oder den Tod.

Beim Bronzegießen berichtet Huhur aus der Überlieferung des Stammes, wie Schahatan, der Fürst der Unterwelt, die ersten Menschen Hawah und Hadaman mit Gold verführte und sie darüber das friedliche Zusammenleben vergessen haben. Schahatans Ausruf: „Sie werden aber opfern ihre Weiber und Kinder; sie werden opfern ihr Glück und die Arbeit ihrer Hände; sie werden opfern die Wahrheit und die Zufriedenheit und die Reinheit und die Liebe!“,[85] nimmt die Handlung der Geschichte vorweg. Die Namen von Hawah und Hadaman wie Inhalt dieser Sage innerhalb der Romanhandlung weisen Nähe zur biblischen Geschichte des Sündenfalls auf. Zusätzlich vertieft wird das christliche Weltbild durch den Stamm der Thuracher, die ihre moralische Überlegenheit ihrem proto-christlichen Märtyrer Thuro[86] verdanken, wie dieses Gespräch zwischen Warwin und Withura offenlegt:

„Nur der Rache darf ich leben!“ – „Ist die Liebe nicht heiliger als die Rache? – einer unserer Ahnen, Thuro mit Namen, hat uns gelehrt, dass ein höchster Gott über alle Götter herrsche; dieser Gott ist der Allerschaffer, der Gott der Liebe! Schahatan aber ist der Gott der Rache und des Hasses – aber der Gott der Liebe ist mächtiger.“[87]

Achermanns prähistorische „Kulturromane“ „vermitteln die Idee einer helvetischen Urbevölkerung und verbinden diese mit christlicher Pädagogik“,[88] wie Eva Tobler notiert.

Die Überlieferung der Thuracher macht deutlich, dass wer seine Gewissheiten auf falsche Werte setzt, sich dem Hass verschreibt, „denn diese verzehren sich selbst“.[89] Eine moralische Lektion, die an den beiden Pfahlbaufürsten Helweh und Taran exemplarisch aufgezeigt wird. Während die Sucht nach Gold in den Stämmen der Helwehner und Taraner um sich greift, respektive Taran und Helweh verzehrt, schließt Huhur seine Erzählung mit einer Warnung vor dem Gold: „So kam das Metall des Todes unter die Menschen, das Gold – lasst uns Bronze gießen!“[90] Aktives Handwerk soll die Macht des Goldes brechen. Taran und Helweh lassen sich vom Gold – dem „Metall des Todes“[91] – verführen. Treibende Kräfte dieser Entwicklung sind die südländischen Schmuckhändler, die das Gold gar als „Metall des Lebens“[92] verstehen. Gold wird mit Prunkentfaltung und damit in einer symbolischen Aufladung mit Todsünden wie Eitelkeit, Gier und Mord verbunden, während die Bronze als „Metall des Lebens“[93] auf der Jagd und auf dem Acker das Überleben sichern soll. Wer auf Gold als Metall des Lebens gesetzt hat, ist am Ende des Romans tot oder gestraft, wer dem Reiz des Goldes widerstanden und stetig auf die Bronze als „Metall des Lebens“ vertraut hat, lebt – mit Ausnahme von Huhur.

Seit etwa 1900 gilt die Schweiz als wichtiger Finanzplatz. Die Schweiz war kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Pro-Kopf-Vergleich der weltweit größte Investor. Dieser Entwicklung, die sich nach dem Ersten Weltkrieg rasant fortsetzte, wurde auch innerhalb der Schweiz mit Kritik begegnet.[94] So gesehen können Achermanns an der Goldsucht erkrankte Pfahlbaufürsten als Spiegelbild und Kritik an der Entwicklung der Schweiz zu einem großen Finanzplatz gelesen werden. In der prehistoric fiction finden sich – wie auch sonst in Mythen und Literatur – oft Reflexionen über die Bedeutung der Entdeckung der Metalle, die meist in einem zwiespältigen Licht gesehen werden, weil sie die Leute zu Hochmut verführen sollen. Eine so gehaltene Szene findet sich in Karl Keller-Tarnuzzers Jugendroman Die Inselleute vom Bodensee (Erstausgabe 1935):

Da wurden die Menschen unzufrieden mit ihren Behausungen. Sie fieberten danach, das kostbare Metall, den gelben Stein, wie sie es nannten, zu erwerben. Stolz steckten sie ihre Beile in die Gürtel, und trugen große Nadeln in den Gewändern, und die Frauen prahlten mit breiten Armbändern und zierten und spreizten sich. Es war ein richtiger Hochmut über die Menschen gekommen. Ihre Pfahlbauhütten, in denen sie so ruhig und sicher gewohnt hatten, wurden ihnen zu eng.[95]

Auch hier geht die Verblendung durch das Metall so weit, dass die Pfahlbautugenden symbolisiert in der inselartigen Siedlungsweise aufgegeben werden – zum Verderben der betreffenden Dörfer. Bei Keller-Tarnuzzer ist mit dem „gelben Stein“ zwar die Bronze gemeint, die bei Achermann als „Metall des Lebens“[96] eine positive Einschätzung erfährt anders als das Gold, das als „Metall des Todes“[97] Verderben bringt. Letztlich weist auch die Bronze mit der Verbindung zu Jagd und Krieg todbringende Züge auf, die Achermanns Roman aber nicht betont. Mit einer solchen Deutung wird der seit der Antike verbreitete Topos des Goldes als janusköpfig und von korrumpierender Wirkung aufgegriffen.[98] Tarans Sucht nach Gold geht so weit, dass er seine Frau und seine Söhne verkauft und eine fast schon als industrialisiert zu bezeichnende Goldgewinnung organisiert: „Stumm und mit verbissenen Zähnen ziehen sie aus, um für ihren Herrn zu fronen, und Taran eröffnet in den Schluchten des Butzenbaches einen eigentlichen Fabrikbetrieb mit Tag- und Nachtschicht, mit Stundenablösung und Arbeitskontrolle.“[99] Der Goldgewinn ist klein, sein Stamm ist wegen der Goldsucht krank und schlecht auf den Winter vorbereitet. In dieser Schilderung drückt sich Achermanns konservative Haltung gegenüber der Moderne aus.[100] Eine Lesart des Romans als eine Kritik an der Entwicklung der Schweiz zu einem der wichtigsten Finanzmärkte scheint naheliegend. Auch wenn Der Schatz des Pfahlbauers dem Pfahlbaumythos der tugendhaften, arbeitsamen Vorfahren huldigt, weil die Menschen „glücklich [sind], weil die Arbeit ihr Vergnügen ist“[101], findet sich darin eine Kritik der Gier.

An dieser Stelle möchte ich noch die Frage nach dem Wesen des Schatzes des Pfahlbauers aufgreifen: Es kann damit der Goldschatz der Fürsten gemeint sein, der die Begehrlichkeit verschiedenster Personen weckt. Für Withura ist die Frage nach dem Wesen des Schatzes ebenfalls geklärt: „Der Goldschatz des Pfahlbauers ist die Treue!“[102] Womit sie sich des Bildes der tugendsamen, ehrlichen Pfahlbauer bedient. Da sie die einzige Romanfigur ist, die sich nie vom Gold versuchen lässt, passt Warwins Antwort auf die Frage nach dem Schatz. Er sieht Withura – seine künftige Frau – als „Schatz vom Thurachersee“.[103]

Auch Helweh, der andere Pfahlbaufürst, lernt im Lauf der Romanhandlung, und zwar in der Gefangenschaft, seine Hoffnung nicht mehr auf das Gold zu setzen, sondern auf seinen Sohn Warwin: „Solange Warwin frei lebt, ist die Sonne der Helwehner noch nicht untergegangen.“[104] Bei ihm ist es also die Freiheit, die im Pfahlbaumythos in der Vorstellung der Friedensinsel ebenfalls enthalten ist, die ihm als höchstes Gut der Pfahlbauer gilt. Warwin ist die Sonne oder der Schatz seines Stammes, dank des resoluten Einschreitens Withuras, die ihn und die anderen Pfahlbauer auf unzeremoniöse Weise von der Verlockung durch das Gold befreit, wird Warwin wohl seiner Rolle als Hoffnung seines Stammes gerecht werden können.

Taran am Ende des Romans durch seine Gier nach Gold tatsächlich blind geworden, verlässt sich auf seinen „Goldschatz“ Giurda, die sein Auge sein will und ihm zum Ausklang des Romans mit der Schönheit der „Berge Cheluetiens“,[105] die in der Abendsonne wie Gold strahlen, tröstet. Mit dem Lob der Schönheit der cheluetischen, respektive helvetischen Berge wird auf die Alpen verwiesen, eines der zentralen Elemente des schweizerischen Selbst- und Fremdbildes.

5 Zum Abschluss

Das in der Schweiz in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ausgebrochene Pfahlbaufieber steht in engem Zusammenhang mit zeitgleichen Entwicklungen im gesamteuropäischen Raum, die in der Etablierung neuer Vorfahren kulminierten. Das Besondere an den Pfahlbauern ist ihr Alter, das schriftlichen Aufzeichnungen vorausgeht. Der 1848 gegründete schweizerische Bundesstaat war anfangs von starken innenpolitischen Spannungen geprägt, deren konfessionelle und soziale Prägung in einer als ursprünglich verstandenen Gegenwelt der Pfahlbauer als idealisierte Vorfahren aufgehoben wurde. Die Begeisterung für die Pfahlbauer schlug sich auch in der belletristischen Literatur nieder.

Das Interesse an der Urzeit war geweckt durch die langsame Auflösung der biblischen Chronologie, was ab den 1860er Jahren die Entstehung eines neuen literarischen Genres ermöglichte: prehistoric fiction. Dieses weist Nähe zu Fantastik wie Science-Fiction auf. Dieses Genre nimmt zur jeweiligen Entstehungszeit aktuelle Debatten auf. War zu Beginn im neunzehnten Jahrhundert das hohe Alter der Menschheit das prägende Thema des Genres, wurden zunehmend andere archäologische Epochen aufgegriffen, um der Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten.

F. H. Achermanns Der Schatz des Pfahlbauers schreibt sich in den Diskurs der Pfahlbauer als idealisierte Vorfahren ein. Der Roman folgt über weite Strecken diesem Bild der arbeits- und tugendsamen Vorfahren. Eine Abweichung dieses positiven Bildes findet sich in der grassierenden Goldsucht, diese untergräbt die Tugenden des einfachen, von tätiger Arbeit und Handwerk geprägten Lebens auf den sichern Insel der Pfahlbaugemeinschaft. Ausgehend davon, dass prähistorisches Erzählen immer auf die Gegenwart der Entstehungszeit abzielt, lässt sich aus dieser Konstellation eine Kritik des katholischen Geistlichen an der zunehmenden Entwicklung der Schweiz zu einem der wichtigsten Finanzplätze der Welt ablesen. Der konservative Charakter, den Achermann mit den Pfahlbauern verbindet, spiegelt sich auch in der Ausgestaltung der Männer- und Frauenrollen wider. Männer sind tätig, aber der Verführung durch das Gold ausgeliefert, Frauen passiv, für das physische wie psychische Wohl ihrer (zukünftigen) Gatten und Gemeinschaften zuständig. Eine solche Rollenteilung wurde in der Schweiz bis weit über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts als gegeben und einziges gangbares Modell des Zusammenlebens der Geschlechter verstanden.

Kann der Diskurs um die Pfahlbauer von der Mitte des neunzehnten bis etwa in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts als wirkmächtig für die Selbstvergewisserung gegen Innen und Außen gelten, hat er seither seine Wirkmacht verloren. Ein Bezug auf die Pfahlbauer findet im einundzwanzigsten Jahrhundert kaum mehr statt, und wenn dann unter dem Zeichen des Verbindenden als paneuropäischer Gedanke.

Online erschienen: 2024-07-17
Erschienen im Druck: 2024-07-10

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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