Riassunto
Questo contributo tratta degli studi danteschi in lingua tedesca nel XIX secolo. Anche se tutta l’Europa riscopre Dante con entusiasmo a partire dal 1800, la Germania può essere considerata, insieme all’Italia, come il paese in cui ha inizio la ricerca scientifica sulla sua opera, sulla sua vita e sulla sua epoca e in cui si gettano le basi per gli studi del XX secolo. Attraverso l’analisi di alcuni studi significativi il saggio cerca di illustrare i principali temi e orientamenti della ricerca dantesca del periodo in lingua tedesca. Le ricerche sul contesto storico di Dante e l’analisi del suo pensiero politico si rivelano temi particolarmente importanti, ai quali vengono dedicati numerosi studi approfonditi.
Dieser Beitrag befasst sich mit der deutschsprachigen Danteforschung des 19. Jahrhunderts, d. h. mit Studien zu Dante, die mit einem wissenschaftlichen Anspruch entstehen und historischen oder interpretativen Zuschnitts sind. Aus diesem Grunde berücksichtige ich in diesem Rahmen also weder die »kreative« Danterezeption in Kunst und Dichtung,[1] noch die Verbreitung der Werke Dantes durch Übersetzungen (ohne damit natürlich die Querverbindungen und gegenseitigen Einflüsse zwischen diesen drei Feldern in Abrede zu stellen; eine Ausweitung der Forschung müsste u. a. gerade diese berücksichtigen). Die Danteforschung im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts verdient eine eigenständige Betrachtung, da sie ein wesentlicher Teil der Entstehung der modernen Dante-Studien ist. Auch wenn ganz Europa ab 1800 von einer Dante-Begeisterung erfasst wird, kann Deutschland neben Italien als das Land angesehen werden, in dem die wissenschaftliche Erforschung seines Werkes, seines Lebens und seiner Epoche ihren Anfang nimmt und die Grundlagen für die Forschung des 20. Jahrhunderts legt. Es handelt sich also in zweifacher Hinsicht um ein Thema von höchstem Interesse: als Teil der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts und als Kapitel der Geschichte der Dante-Studien, dessen Auswirkungen bis heute nachreichen. Dieser Artikel will und kann keine umfassende und systematische Erfassung und Analyse der Dante-Studien dieses Zeitraumes bieten, da die zu berücksichtigenden Publikationen zu zahlreich wären. Ich beschränke mich auf die Präsentation einiger bedeutsamer Veröffentlichungen und den Versuch, einige Tendenzen der deutschsprachigen Danteforschung aufzuzeigen.[2]
Für das 19. Jahrhundert ist die Entdeckung Dantes in der Romantik entscheidend.[3] Dante spielt dort in der Kunstphilosophie und poetologischen Debatte eine zentrale Rolle. Die Romantiker begründen eine tiefe Dante-Verehrung, die mit einer Neufassung des Kanons der grossen Dichter einhergeht: Zusammen mit Cervantes und Shakespeare gilt er nun als Vater der Moderne. Dies verschafft Dante eine unbestrittene Geltung, und seine dichterische Grösse wird nicht mehr – wie es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts häufig der Fall war – in Zweifel gezogen. Ein entscheidender Wandel besteht darin, dass von nun an eine breite und vertiefte Kenntnis seiner Werke, insbesondere der Commedia, Grundlage der Dante-Rezeption wird, während zuvor lange Zeit zumeist nur das Inferno und auch davon häufig nur einzelne Gesänge (Ugolino, Francesca) gelesen und kommentiert wurden. Dante wird Teil des Bildungskanons, aber auch der Gelehrtenkultur, und dies nicht nur unter spezifisch mit italienischer Literatur befassten Lesern und Gelehrten, sondern quer durch alle Disziplinen und Gebiete. So ist das deutsche 19. Jahrhundert reich an Beiträgen zur Danteforschung von Historikern und Theologen, später auch von Soziologen und Kunsthistorikern, aber auch in Werken verschiedenster Disziplinen wird Dante häufig erwähnt oder in unterschiedlichsten Zusammenhängen behandelt, wobei das Gesagte fast immer eine solide Kenntnis des Dichters beweist. Ein bezeichnendes und prominentes Beispiel ist Alexander von Humboldt, der Dante sowohl in seinem Werk Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert als auch in Kosmos behandelt. In den Kritischen Untersuchungen[4] bespricht er die Dantestelle aus Purgatorio I zu den vier Sternen, die man nur vom Berg der Läuterung und mithin nach Dantes Kosmologie von der anderen Seite der Erdkugel aus sehen kann. Amerigo Vespucci zitiert in einem berühmten Brief diese Stelle und setzt somit die Idee in Umlauf, der Humboldt nachgeht, dass diese vier Sterne bei Dante mit dem Südkreuz identisch sein könnten. In Kosmos wird Dante im Rahmen einer Geschichte der Naturbeschreibung in der Dichtung als erster nachantiker Dichter behandelt.[5] Das weitverbreitete Interesse für Dante führt dazu, dass sein Werk, insbesondere die Komödie, aus einer Vielzahl von Perspektiven und mit unterschiedlichen Interessen erforscht wird. Es entspricht also durchaus dem Zeitgeist, dass König Johannes von Sachsen einen Kreis zur Erforschung Dantes um sich versammelte, dem neben Dantespezialisten und Dichtern wie Karl-August Förster und Ludwig Tieck, Gelehrte verschiedenster Gebiete, insbesondere Naturwissenschaftler, angehörten.[6]
Ein interessantes und wenig bekanntes Beispiel für die vielfältigen Sichtweisen auf Dante findet sich im Werk Joseph Wismayrs (1767–1858). Dieser Pionier der Pädagogik und Sprachdidaktik und Autor einer Grammatik der deutschen Sprache zeigte ein tiefes Interesse für die italienische Literatur. Er gründete und redigierte eine der italienischen Literatur gewidmete Zeitschrift, die Ephemeriden der italienischen Literatur für Deutschland (Salzburg, Mayr, acht Bände erschienen zwischen 1800 und 1805), und veröffentlichte 1818 Biographien von Dante, Petrarca und Boccaccio. Diese waren als erster Teil eines größeren Projekts, das Wismayr nie ausführte, konzipiert: des Pantheon Italiens. Biographien der ausgezeichnetsten Italiener. Es ist bezeichnend, dass die Vitensammlung mit den »Tre corone« eröffnet wird; dies belegt einerseits die Bedeutung der Literatur für das Italienbild in Deutschland; andererseits zeigt dies, dass die drei Dichter bereits als eine Einheit betrachtet wurden, die in einer umfassenden historiographischen Betrachtung bedarf. Für die Darstellung der Ereignisse im Leben des Dichters, die das Dante-Porträt eröffnen, verfolgt Wismayr eine Strategie, die den biographischen Ansatz vieler Dante-Studien des 19. Jahrhunderts prägen wird: Zum einen werden soweit möglich die Werke Dantes als biographische Quelle genutzt, was zu einer starken Berücksichtigung der Vita Nuova führt, deren Erzählung als direkt autobiographisch angesehen wird (und somit die literarische Filterung und Überhöhung durch Dantes Text nicht berücksichtigt wird), zum anderen werden historische Quellen (sowohl direkte Quellen wie die Chronik Dino Compagnis als auch neuere historische Darstellungen) benutzt, um die Umstände und die Ereignisse, in die Dante verwickelt war oder die sein Leben direkt beeinflusst haben, zu rekonstruieren. Sodann stellt Wismayr die Werke Dantes vor und geht auf deren kritische Bewertung ein. Er hat sich nicht gänzlich von der aus dem 18. Jahrhundert stammenden und vom ästhetischen Kanon des Klassizismus inspirierten Verurteilung von Dantes Dichtung als absonderlich und regellos gelöst. Für Wismayr ist die Commedia den Werken Klopstocks und Miltons unterlegen. Bei aller Bewunderung für sein Genie sieht er in Dante den Repräsentanten eines barbarischen Zeitalters, genauer gesagt des noch mühsamen Aufbruchs einer neuen Kultur, die sich langsam aus der mittelalterlichen Barbarei erhebt. Er identifiziert den Beginn dieser – wenn auch unvollkommenen und partiellen – kulturellen Wiedergeburt bezeichnenderweise mit dem Reich Kaiser Friedrichs II. und stellt fest, dass Dante die Früchte dessen erntete, was der schwäbische Kaiser säte. Sein Urteil über die Göttliche Komödie ist zwiespältig:
Schon dieser gedrängte Ueberblick der göttlichen Komödie beweist deutlich genug, daß das Gedicht, als Ganzes, eine poetische Gallerie, eine Reihe von Gemählden verschiedenen Werthes und Inhalts, in einem grotesken Rahmen vereinigt, bildet, und daß es (nach der nicht minder treffenden Vergleichung) einem gothischen Gebäude nicht unähnlich ist, an welchem man die Kühnheit des Planes bey aller seiner Unregelmässigkeit, und die Erhabenheit der Architektur, trotz allen Fehlern [...] bewundert.[7]
Wismayrs Interesse gilt vor allem der Sprache Dantes (und hierin liegt die Originalität dieser von einem Grammatiker und Pädagogen verfassten Schrift). Er feiert Dante als Schöpfer der italienischen Sprache und versucht, diese Schöpfung als das Ergebnis eines fruchtbaren Dialogs mit dem Lateinischen zu begreifen, der sich in zwei Richtungen entfaltet: Nachahmung und Loslösung vom Vorbild. Für Wismayr hat Dante die italienische Sprache weniger erschaffen als vielmehr reformiert, indem er ihr Regeln und eine Stabilität gab, die es ihr ermöglichten, eine der des Lateinischen ebenbürtige Würde zu erlangen:
Dante begann, oder fuhr vielmehr mit Verstand fort, wo der Zufall aufhörte; er fasste Gesetze, die in dem Mechanismus der Sprache selbst lagen, als Grundsätze und Regeln auf. Je weniger sein freythätiger Geist die grammatikalische Form antastete, um so kräftiger konnte er die Diction der Alten in der neuen Sprache erneuern, so weit eine solche Erneuerung möglich war. Durch Klarheit, Bestimmtheit, Würde und Simplicität des Ausdruckes musste er den frostigen und weitschweifigen Wörter Pomp und die seltsamen Floskeln verdrängen, die der barbarische Geschmack überall mit rhetorischer Schönheit verwechselte. Und da die romantisch veränderte Denkart der Welt eine neue Prosa nicht so dringend, wie eine neue Poesie, forderte, so war Nachahmung der Alten für die neueren Prosaisten das sicherste Mittel zur Bildung des Geschmackes. Daher nähert sich Dante’s Prosa sichtbar der klassisch-römischen, während seine Poesie durchaus neu ist.[8]
Die vielleicht von Giusto Fontaninis Eloquenza italiana beeinflusste Sicht von Dante als Begründer der italienischen Sprache im Sinne einer Wiederherstellung der klassischen Eleganz ist höchst originell. Ebenso originell und bedeutsam ist die Art und Weise, wie Wismayr das Verhältnis zwischen Latein und Volkssprache auffasst: Dante gelingt es, der Volkssprache eine neue Würde zu verleihen, nicht indem er die Strukturen und Formen des Lateinischen imitiert, sondern indem er die der Volkssprache eigenen Formen erkennt und ihnen Regelmäßigkeit und Stabilität verleiht. Dante wird, vielleicht zum ersten Mal im deutschen Sprachraum, wieder mit der Antike in Verbindung gesetzt, und zwar nicht mit der archaischen Antike Homers, sondern mit der klassischen Antike. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Wismayrs Interesse für Dantes philosophisch-theoretische Werke: Das Convivio wird für die Eleganz der volkssprachlichen Prosa, aber auch für die Tiefe seiner Gedanken gerühmt. Besondere Aufmerksamkeit wird der Monarchia gewidmet, die als Ausdruck einer ghibellinischen Positionierung betrachtet wird, die eine moderne Auffassung eines von der Autorität der Kirche losgelösten Staates »um Jahrhunderte vorweggenommen« habe.[9]
Die Zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts bringen eine Reihe wichtiger Publikationen hervor, in denen sich die Anregungen der Romantiker in verschiedene Richtungen weiterentwickeln. Der Hegel-Schüler Karl Rosenkranz (1805–1879), Autor des bekannten Werkes Ästhetik des Hässlichen und von Biographien Goethes und Hegels, veröffentlicht 1829 die Studie Über den Titurel und Dante’s Komödie.[10] Es handelt sich nicht, wie der Titel vermuten lassen könnte, um eine Untersuchung der beiden Werke, sondern um eine Analyse des Titurel, die nur im Schlusskapitel einen Vergleich mit der Göttlichen Komödie bietet. Rosenkranz erachtet Dantes Werk als ungleich höherstehend, so dass die Gegenüberstellung ihm dazu dient, die Unzulänglichkeiten des seiner Meinung nach überschätzten deutschen Werkes auf inhaltlicher und formaler Ebene herauszuheben. Die Commedia entspricht einer neuen, moderneren Konzeption: Während der Titurel in abstrakter Weise versucht, die Ideale des Rittertums und Christentums zur Anschauung zu bringen, ist sie das Gedicht des Universellen, das die Allegorie durch Geschichte konkretisiert. Für Rosenkranz überschreitet Dante also die Grenzen der mittelalterlichen Weltanschauung und gelangt künstlerisch zu einer Synthese und zu einem unmittelbaren Ausdruck seiner Weltsicht, die dem Autor des deutschen Werkes unzugänglich war. »Die poetische Formierung des Gedankens«[11] und »die lebendige Einheit aller Teile«[12] sind die herausragenden Qualitäten der Commedia. Der tiefe Grund liegt in seiner in Dichtung umgesetzten philosophischen Sicht, die es erlaubt, Einheit und Vielfalt zu realisieren: Die Commedia ist ein »Kreis von Kreisen, in der der Einfachheit seiner Bewegung unendlich viele Unterschiede entfaltend«.[13] Den Aufbau des Dante’schen Jenseitsreiches beschreibt Rosenkranz mit diesen Worten:
Das Eine und Allgemeine, welchem in der Göttlichen Komödie das Viele eingebildet wird, ist die Religion überhaupt. Das Besondere in den drei Stufen des Inferno, des Purgatorio und Paradiso ist das Verhältnis des endlichen Geistes zum unendlichen in seinen drei möglichen Formen: der Entzweiung (Schuld und Verdammnis), der Aufhebung der Entzweiung (Entsühnung der Verschuldung) und der aufgehobenen Entzweiung oder wirklichen Versöhnung beider (Vergessenheit der Schuld durch Eunoe und Lethe).[14]
Diese Anwendung der Hegel’schen Dialektik ist Zeichen einer philosophischen Dantelektüre, die den Aufbau der Göttlichen Komödie und ihre dichterische Ausgestaltung als ein gedankliches und künstlerisches Ganzes begreift. Damit wird nicht nur die Beschränkung auf einzelne Gesänge und Episoden, die damals noch häufig das Danteverständnis prägte, überwunden, sondern auch eine verbreitete (und in jenen Jahren von Friedrich Ludewig Bouterwek vertretene)[15] Sicht aufgegeben, nach der das theologische und gedankliche Gerüst der Komödie ein äusserliches Beiwerk sei und das Wesentliche (und dichterische Gelungene) an der Dichtung Dantes in der Ausgestaltung einzelner Episoden und Figuren liege. Gewürdigt wird hingegen Dantes Kunst, dem Allgemeinen und Abstraktem (seinen Auffassungen vom Jenseits, von Sünde und Tugend usw.) eine konkrete Gestalt zu geben, dessen Schlüssel der Rekurs auf die historische Wirklichkeit und Figuren ist.
In den zwanziger Jahren veröffentlicht auch Karl Witte seine ersten Dantebeiträge, so 1824 den programmatischen Aufsatz über das Missverständnis Dantes. Der polemisch gehaltene Artikel wendet sich gegen jede Form einer zu ›modernen‹ Lektüre Dantes, die das Verständnis seines Werkes versperren, und postuliert die Notwendigkeit, ihn aus seiner Zeit und mithilfe der genauen Rekonstruktion seiner Werke zu verstehen.[16] Zentral ist also das Postulat der Textnähe, die sich in der dreifachen Aktivität der Übersetzung, des Kommentars und der Philologie entfaltet. Ausser Wittes grundlegenden philologischen Forschungen zum volkssprachlichen und lateinischen Werk Dantes (Commedia, Monarchia, Epistole), sei an seine bedeutenden kommentierten Dante-Ausgaben (Commedia und Rime) und seine Zusammenarbeit mit Ludwig Kannegiesser erinnert.[17] Ein weiterer bedeutender Vertreter dieser Studien ist Ludwig Gottfried Blanc, der in Halle den ersten Lehrstuhl für Romanistik in Deutschland bekleidete, und sowohl durch eine Übersetzung der Commedia als auch durch sein Vocabolario Dantesco[18] hervorgetreten ist, das wissenschaftliche Unternehmungen wie die Scartazzinis und die Enciclopedia Dantesca vorwegnimmt.[19]
Eine weitere entscheidende Neuerung, die sich in den zwanziger Jahren anbahnt und für das ganze Jahrhundert bestimmend sein wird, ist die Erforschung Dantes aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft bzw. unter Berücksichtigung des historischen Kontextes. Auch dieser Zugang zu Dante hat seine Wurzeln in der Romantik. Denn, auch wenn heutzutage in der Danterezeption der deutschen Romantik vor allem ihr philosophischer Ansatz gewürdigt wird (von Friedrich Schlegel zu Schelling und Hegel), darf nicht vergessen werden, dass die Romantik – die ja auch die Epoche der Ausformung eines neuen historischen Denkens und der Entdeckung des Mittelalters ist – auch eine historische Sicht auf Dante begründet. Der entscheidende Beitrag in diesem Sinne kommt von August Wilhelm Schlegel. Gegenüber dem spekulativen Ansatz seines Bruders Friedrich, der die Modernität Dantes als ›romantischen‹ Dichter in den Mittelpunkt stellt, versucht August, Dante aus seiner Zeit heraus zu verstehen.[20] Sein bedeutender Aufsatz über Dante von 1791 stellt das Leben des Dichters in den Mittelpunkt. Er geht hier sogar so weit zu sagen, dass eine gute Biographie Dantes »alle sonstige Einleitung« in die Göttliche Komödie überflüssig machen würde.[21] Diese Überzeugung liegt darin begründet, dass die Individualität Dante »sich in ihren feinsten Zügen in sein Werk eingeprägt« habe.[22] Dantes Weltsicht, die sein Werk trägt, entsteht aus seiner Verwicklung in die geschichtlichen Geschehnisse seiner Zeit, die die Göttliche Komödie darstellt und beurteilt. Deswegen gibt Schlegel in seinem Aufsatz auch den geschichtlichen Umständen breiten Raum. Die beherrschenden Themen sind die florentinischen Machtkämpfe, der Konflikt zwischen Papsttum und Kaisertum sowie die kommunale Ordnung. Dante ist ein Genie, das jedoch aus seinen Zeitumständen verstanden werden muss. Die Geschichte ist hierfür entscheidend: Sie bildet nicht einfach den Hintergrund der Göttlichen Komödie, sondern ihre Basis.
Die 20er und 30er Jahre des 19. Jahrhunderts können als eine Phase des Umbruchs definiert werden, in der sich das Schwergewicht von einer literarisch-ästhetischen Dantelektüre zu einem Danteverständnis im Rahmen der politischen Geschichte verlagert. Die Überzeugung, dass Dantes Werk tief in den Ereignissen und der Gesellschaft seiner Zeitgenossen verwurzelt ist, muss in den weiteren Rahmen der Entwicklung der Geschichtswissenschaft gestellt werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet sich ein neues Konzept der Geschichtsschreibung, das auf Herder und die Romantiker zurückgeht, und die künstlerischen Ausdrucksformen, wie die Literatur, einbezieht: Die Literatur und Kultur allgemein werden als Teil der Geschichte einer Gesellschaft, eines Volkes, einer Epoche betrachtet. Es bildet sich ein Konzept heraus, das später Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance zugrunde liegen wird, das der Kulturwissenschaft.
Der erste Historiker, der sich intensiv mit Dante beschäftigt, ist Friedrich Christoph Schlosser. Der angesehene und einflussreiche Gelehrte veröffentlicht 1824 einen richtungsweisenden Aufsatz zu den Dante-Kommentatoren: Die ›Divina Commedia‹ nach Landino und Vellutello, und 1855 seine gesammelten Dante-Studien in einem Band.[23] Er ist Autor einer Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs: mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung, deren Titel die neue Orientierung der Geschichtswissenschaft anzeigt. Zur Charakterisierung seiner Danteforschungen liegen zwei ausgezeichnete Beiträge vor, auf die ich verweise.[24]
Auch in den Literaturstudien werden die literarischen Werke immer stärker als Teile einer größeren kulturellen und sozialen Wirklichkeit analysiert, so zum Beispiel bei dem Schlosser-Schüler Georg Gottfried Gervinus. Die Literatur wird als Zeugnis der tiefen Bewegungen der Geschichte angesehen, und die grossen Dichter werden zu Repräsentanten ihrer Zeit, deren neueste Tendenzen sie verkörpern. Dies bedingt auch eine Erforschung der historischen Ereignisse und Bedingungen der Schaffenszeit der Autoren. Dieser Ansatz eines vertieften Studiums der Beziehungen der literarischen Werke zur politischen Wirklichkeit zeichnet auch die Dantestudien aus, für die dieser Aspekt schon deshalb eine zentrale Rolle spielt, da die Göttliche Komödie die Geschichte der Zeit Dantes darstellt und beurteilt. Ein erstes Beispiel für die sich herausbildende historische Perspektive auf Dante ist das Werk Bernhard Rudolph Abekens. Der Forscher, der kein Universitätsprofessor, sondern Gymnasiallehrer war, veröffentlichte 1826 seine Beiträge für das Studium der Göttlichen Comödie Dante Alighieri’s,[25] die auch noch heute als ein vielschichtiger und hochinteressanter Beitrag zu Dante gelten können. Obwohl Abeken kein Historiker ist, wählt er einen historischen Zugang zu Dante. Er löst Schlegels Programm gewissermassen ein, indem er den ersten über 120 Seiten langen Teil seines Buches dem Thema »Dantes Zeitalter und sein Leben« (so der Titel) widmet. Das Interesse für die Lebensumstände des Dichters und die seiner Zeit hat zwei tiefere Gründe. Zum einen die Idee, dass das Individuum nur aus seiner Zeit heraus verstanden werden kann, weil seine Individualität durch den historischen Kontext beeinflusst und begünstigt wurde, sich aber auch im Widerstand gegen diesen ausgeformt hat. Dieses Interesse biographisch-historischer Art war in Goethes Winkelmann und sein Jahrhundert in besonders prägnanter Weise formuliert worden.
Es vermischen sich bei Abeken und anderen Autoren der Zeit der Geniekult, der die grosse Künstlerpersönlichkeit darin erkennt, dass sie aus ihrer Zeit herauswächst, sich gegen und über sie hinaus entwickelt, mit der Idee, dass jedes Individuum die eigene Zeit repräsentiert, in ihren tiefsten Tendenzen und in ihrer höchsten Form. Abeken eröffnet sein Kapitel mit einem Goethe-Zitat, das die Beziehung zwischen dem schöpferischen Individuum und seinem Zeitalter erörtert.
Ein jedes Talent, dessen Entwickelung von Zeit und Umständen nicht begünstigt wird, so daß es sich vielmehr erst durch vielfache Hindernisse durcharbeiten, von manchen Irrtümern sich losarbeiten muß, steht unendlich im Nachteil gegen ein gleichzeitiges, welches Gelegenheit findet, sich mit Leichtigkeit auszubilden und, was es vermag, ohne Widerstand auszuüben.[26]
Es wird aus Abekens Ausführungen schnell deutlich, dass Dante zu jenen Künstlern gezählt werden muss, die sich gegen ihre Zeit und gegen Widerstände »ausgebildet« haben. Die schon bei Schlegel angelegte Perspektive eines Dante, der sich inmitten eines noch barbarischen Zeitalters zu einer ganz und gar neuen Grösse erhebt, bleibt bestimmend.
Der zweite Grund hängt direkt mit Dante zusammen: Dantes tiefe Einbindung in die Geschichte ist deswegen ein zentraler Aspekt der Interpretation seines Werkes, insbesondere der Komödie, weil Dante als der Dichter der Geschichte angesehen wird. Das wesentliche Merkmal seiner Universalität und seiner Modernität ist sein historischer Charakter: Die Geschichte ist der eigentliche Gegenstand und die Wurzel seines Werkes. Dies ist genau der Standpunkt, den Abeken in den folgenden, den ersten Gesängen der Hölle gewidmeten Kapiteln entwickelt. Das erste trägt den Titel »Die Allegorie der Göttlichen Comödie«, soll aber gerade zeigen, dass der erste Gesang, wie die Gesamtanlage der Komödie, nicht allegorisch sind. Abeken diskutiert ausführlich die Epistola a Cangrande della Scala, in der die Leserschaft zu einer Lektüre des Gedichts nach dem vierfachen Schriftsinn angeleitet wird (ohne die Authentizität des Briefes anzuzweifeln). Nach Abekens Lektüre ist das Sujet der Komödie aber nicht das Jenseits, sondern der Mensch in seinem irdischen Leben. Die drei Jenseitsreiche entsprechen Zuständen des irdischen Lebens, und darin besteht die Allegorie der Göttlichen Komödie. Ohne hier erörtern zu können, inwieweit dieses Verständnis der Epistola a Cangrande zutreffend ist, ist es für uns wichtig, festzuhalten, dass Abeken hiermit den Grund für seine Lektüre legt: Die Dichtung Dantes handelt von der Mannigfaltigkeit des irdischen Lebens; die Vielzahl der Figuren und Episoden dient einer Erkundung der menschlichen Wirklichkeit. Die Geschichte ist nicht der Hintergrund der Göttlichen Komödie, sondern ihr Gegenstand. Der Begriff der Mannigfaltigkeit ist zentral und wird von Abeken auch auf literarischer Ebene angewandt. Das methodisch wichtige Kapitel zu Inferno VI geht von einer Bemerkung Pierre-Louis Guingenés aus, der erklärt, dass dieser Gesang gegenüber dem Gesang V und der berührenden und tiefgründigen Francesca-Episode abfällt und künstlerisch nicht überzeugt. Für Abeken hingegen hat jeder Gesang seine Eigenart und seine eigene Berechtigung; der stilistische Bruch zwischen den beiden Gesängen ist durch eine Technik der Variation künstlerisch gerechtfertigt, und jeder der beiden Gesänge drückt einen anderen Aspekt der Wirklichkeit mit anderen Mitteln aus. Abeken hat somit schon die Themen herausgearbeitet, denen sich ein Jahrhundert später Erich Auerbachs Studien widmen werden: das Verhältnis von irdischer Wirklichkeit und Jenseits, die Vielfalt und Mischung der Stilebenen. Er zeigt, wie sich die historische Forschung daraus auszeichnet, dass sie die Werke der Vergangenheit nicht mit den Massstäben der Gegenwart misst, sondern aus ihrer Zeit heraus versteht. Ein wichtiges Element in Abekens Lektüre, die sich bei anderen Forschern wiederfinden wird, ist die Betonung der Bedeutung der antiken Kultur für Dante (auf die Abeken u. a. in der Behandlung des vierten Höllengesanges eingeht). Dies ist ein wichtiger Aspekt, der es erlaubt, Dante von einer rein mittelalterlichen Kultur zu lösen, für die u. a. die Allegorie steht, die als mechanistisches und blutleeres Verfahren angesehen wird. Dante habe, so Abeken, die Allegorie überwunden, und da, wo er sie benutzt, »störe« sie nicht.[27]
Hatten die Romantiker Dante noch mit jenen geschichtlichen Kräften und Institutionen in Verbindung gebracht, die sie als bestimmend für das Mittelalter und seine Weltsicht ansahen: das Rittertum und die Kirche, so wird in der Danteforschung ab den 20er Jahren, dank einer stärkeren Berücksichtigung des politischen Umfeldes und der Ereignisse, die für Dante bestimmend sind, der Dichter als Repräsentant des comune und somit einer urbanen Gesellschaft angesehen. Es bildet sich so ein zweifacher historischer Rahmen: Der Konflikt zwischen Kaisertum und Papsttum bildet den allgemeinen Hintergrund, die Stadt Florenz mit ihren Konflikten und ihren politischen Institutionen den speziellen Kontext. Dabei wird diese mittelalterliche Stadtgesellschaft mit ihrer politischen Teilhabe der Bürger und ihrem Streben nach Unabhängigkeit als Vorform einer modernen, freien und verweltlichten Gesellschaft angesehen. Von grossem Einfluss ist hier der Genfer Historiker Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi, dessen Histoire des républiques italiennes du Moyen âge innerhalb weniger Jahre zweimal ins Deutsche übersetzt wurde.[28] Die Konzentration auf den kommunalen Kontext begünstigt unter den deutschen Wissenschaftlern das Bild eines stark politischen und ›säkularen‹ Dante. Es ist sehr bezeichnend, dass viele Studien des 19. Jahrhunderts unter den Einflüssen, die Dante empfangen hat, Brunetto Latini viel Platz einräumen, während literarischen Vorläufern (wie den Troubadours) oder der religiösen Kultur weniger Gewicht beigemessen wird. Bemerkt sei, dass dieses Interesse für die italienische Kommunalgesellschaft den Grundstein für die großen Studien deutscher Historiker am Ende des 19. Jahrhunderts legte, wie Robert Davidsohns Geschichte von Florenz und Otto Hartwigs Forschungen zu den alten florentinischen Chroniken.[29]
Dante wird nicht nur als Repräsentant einer nach Freiheit strebenden Gemeinschaft gesehen, sondern auch als Denker, der eine neue Konzeption der Politik entwickelt hat: Viele Danteforscher des 19. Jahrhunderts befassen sich ausgiebig mit der Monarchia. In dieser habe, so eine weitverbreitete Interpretation, Dante nicht nur die weltliche Regierung von der Herrschaft der Kirche emanzipieren wollen, sondern auch eine Konzeption erschaffen, die imstande war, die Autonomie des Politischen zu theoretisieren. Das Interesse an Dante als politischem Denker überwiegt deutlich jenes am Dante des Convivio, also seiner theoretischen und moralischen Philosophie. So widmet schon Abeken den letzten Teil seiner Studie der Monarchia,[30] und alle folgenden Dantedarstellungen der folgenden Jahrzehnte räumen dem Werk einen grossen Raum ein, bis hin zu dem großen Juristen Hans Kelsen, dessen erste wissenschaftliche Publikation Dantes Staatstheorie gilt.[31] Dante erscheint also aus moderner Perspektive ein Vorläufer der Kämpfe für Freiheit, gegen die Übermacht der Kirche, für die Autonomie des Politischen. Ein schwer einzuschätzender Aspekt, der eigens und in vertiefter Weise erörtert werden müsste, ist hierbei die Frage, inwieweit dieses Interesse an Dantes politischem Denken von der politischen Situation Deutschlands beeinflusst ist, wo naturgemäss die Idee eines einigen Staates, der die Freiheit garantiert und die Teilstaaten vereint und stärkt, aber auch ihre Autonomie schützt, im Vormärz und den Jahrzehnten vor 1870 grossen Anklang finden musste. Es ist aber wichtig festzustellen, dass diese ›Aktualität‹ Dantes nicht zu Verzerrungen der Perspektive führt; die historische Methode, d. h. die Rekonstruktion von Dantes Positionen und Konzepten aus den Bedingungen der Zeit heraus, schützt die Forscher davor, Dante eine ›unmittelbare‹ Modernität zuzuschreiben, oder ihn zum Sprachrohr oder Anwalt zeitgenössischer Anliegen und Positionen zu machen.[32]
Ein Vertreter einer stark historisch-politisch orientierten Dantelektüre ist der Historiker Karl Hegel, ein Sohn des Philosophen. Er ist ein Spezialist der mittelalterlichen Stadtgeschichte und Verfasser der Geschichte der Städteverfassung von Italien seit der Zeit der römischen Herrschaft bis zum Ausgange des 12. Jahrhunderts (1847). Zu Dante veröffentlicht er Dante über Staat und Kirche (1842) und Über den historischen Werth der älteren Dante-Commentare mit einem Anhang zur Dino-Frage (Leipzig 1878). Der Weg, der ihn von der Geschichtswissenschaft zu Dante führt, den er erst in einer politisch-ideengeschichtlichen Sicht und dann auch aus einer mehr literarischen Sicht behandelt, ist bezeichnend für die Danteforschung des 19. Jahrhunderts. Die Schrift Dante über Staat und Kirche strebt eine Rekonstruktion seines politischen Denkens an, das aus einer historisch verankerten Analyse der Schriften des Dichters gewonnen werden kann. So wendet sich Hegel ausdrücklich gegen Gabriele Rossettis esoterische Dante-Interpretation (S. III). Sein Band zeichnet sich dadurch aus, dass er die politischen Positionen und Konzeptionen des Dichters in ihrer Entwicklung und im Zusammenhang mit den Ereignissen seines Lebens rekonstruiert, sich also keineswegs auf die Monarchia beschränkt (die erst am Ende behandelt wird). Er stellt die Bedeutung von Dantes Verbannung für sein politisches Denken heraus. Die Ursachen, Umstände und Folgen von Dantes Exil werden genau rekonstruiert. Er zeigt sodann, dass es verkürzend und unzutreffend ist, zu sagen, dass Dante die Guelfen ›verraten‹ und sich zum Ghibellinen gewandelt habe. Dante hat eine Konzeption der Rolle und Ziele der Politik entwickelt, die eine Antwort aufs Exil darstellt und nicht auf einen ›Seitenwechsel‹ reduziert werden kann. Zu Recht erinnert er daran, dass Dante in der Commedia (so in Paradiso VI) die Guelfen und die Ghibellinen verurteilt, weil sie jeweils ihre eigenen Interessen verfolgen und nicht dem Gemeinwohl dienen. Diese m. E. höchst treffende Darstellung von Dantes politischem Denken beruht auf der seit den Romantikern entwickelten Konzeption der Commedia als eines universellen und konkreten Werkes, das aus der Individualität des Dichters erwächst:
Die ganze innere und äußere Welt des Dichters, seine Zeit und die Vergangenheit, auf welcher sie ruht, ist der Inhalt der göttlichen Komödie. Es wird uns darin eine höchst bedeutende Epoche der Menschheit und eine überaus begabte Nation in der Aufregung aller ihrer Kräfte, mit dem Reichthum ihrer Bildung, in ihren politischen, religiösen und sittlichen Zuständen, auf die lebendigste Weise vergegenwärtigt.[33]
Es sei noch bemerkt, dass diese Verortung von Dantes Denken in seiner Zeit auch mit sich bringt, dass Hegel ausdrücklich bestreitet, dass Dante als Vorläufer Luthers oder der Reformation angesehen werden könne – weder aufgrund seiner harschen Kritik des sittlichen Verfalls der Kirche, noch für seine Trennung der weltlichen und der geistlichen Sphäre.
Hegels letzte Danteveröffentlichung betrifft ein Forschungsfeld, dem sich schon Schlosser zugewandt hatte: die Dante-Kommentare des Mittelalters und der Renaissance. Der Band bietet eine präzise und bestens dokumentierte Übersicht über alle älteren Dante-Kommentare. Es wird insbesondere der Frage nach ihren Quellen nachgegangen. Diese ist methodisch wichtig, da sie die Einsicht birgt, dass wir für die Einschätzung des Wertes dieser Kommentare für unsere Interpretation berücksichtigen müssen, inwieweit sie von anderen Kommentaren abhängen und welches ihre Voraussetzungen und welche die Kenntnisse ihrer Verfasser sind. Es handelt sich also um eine Anwendung der historischen Quellenkritik auf die Dantestudien.
Ein repräsentatives und zentrales Werk der Danteforschung des 19. Jahrhunderts ist Franz Xaver von Wegeles Dante Alighieris Leben und Werke kulturgeschichtlich dargestellt (Jena, 1852, mit zwei Neuauflagen in den Jahren 1865 und 1879). Wegele war ein Schüler Schlossers und Gervinus’ und stark in die Ereignisse um 1848 involviert.[34] Im Vorwort bezeichnet der Autor es als seine Absicht, »Dante aus dem Kreise der bloss ästhetischen oder bewundernden Betrachtungsart heraus in die Nähe historischer Probleme einzuführen« und benennt als ein (wenn auch unzureichendes) Modell die Dantebiographie Cesare Balbos.[35] Wenn auch Wegele als Deutscher natürlich Balbos ganz dem Risorgimento verpflichtete Sicht nicht teilen konnte, ist er von dessen politischen Perspektive beeinflusst, die in dem Leben und Werk des Dichters die Kraft und Fähigkeit preist, sich gegen den moralisch-politischen Verfall seiner Zeit zu stemmen und mit moralischer Unbeugsamkeit Entwürfe für die Zukunft zu entfalten. Sowohl die Ereignisse des Lebens des Dichters wie die Verbannung, als auch die historischen Ereignisse, die in seinem Leben eine zentrale Rolle spielen, werden genauestens rekonstruiert. Der Aufbau von Wegeles Band ist bezeichnend. Alle Werke Dantes, ausser der Commedia, werden in den Kapiteln zu seinem Leben behandelt: Der Autor konstruiert so eine Art Entwicklungsgang des Dichters, der seine Synthese in der Commedia findet. Um so bemerkenswerter ist es, dass der Monarchia am Ende ein eigenes Kapitel gewidmet wird. Das bezeichnenderweise »Dantes Weltpolitik« betitelte Kapitel unterstreicht die universelle und supranationale Dimension an Dantes politischem Entwurf und spricht explizit von Dante als »Kosmopoliten«.[36] Wenn auch dem wissenschaftlichen Ideal der historischen Rekonstruktion verpflichtet, zögert Wegele in der soeben angesprochenen moralisch-politischen Perspektive nicht, seine Bewunderung für Dantes Haltung und seine Ideale auszusprechen: Zu Dantes Kritik an der Kirche, spricht er von dessen Willen, sie auf »ihre Ursprünge zurückführen« und sieht in Dante einen »Zeugen evangelischer Wahrheit«, neben den ein Flacius Illyricus gestellt werden kann.[37]
Die historische Forschung zu Dante entwickelt sich auch auf der Ebene der Auswertung von Dokumenten zur Rekonstruktion seines Lebens und seines kulturellen Kontexts. Der Historiker Paul Scheffer-Boichorst (1840–1902), Mitdirektor der MGH und Professor der Geschichte an der Universität Berlin, ist im Bereich der Italien betreffenden Mediävistik vor allem bekannt, weil er zu beweisen suchte, dass die Chronik Dino Compagnis eine Fälschung sei (sein Opponent war hierbei übrigens Karl Hegel). Er veröffentlicht auch Dantestudien, die in dem Band Aus Dantes Verbannung (Strassburg, Trübner 1882) versammelt sind. Dieser handelt nicht nur von Dantes Exil, sondern untersucht verschiedene biographische und literarische Fragen, die sowohl mit den Exiljahren Dantes als auch mit seiner frühesten Rezeption zu tun haben. So finden sich hier Aufsätze zur biographischen Rekonstruktion insbesondere der letzten Lebensphase in Ravenna, zu Dantes Beziehungen zu Guido da Polenta und zu Cecco d’Ascoli, und zur Datierung der Monarchia. Das besondere Interesse des Verfassers gilt der umstrittenen Authentizität von Dokumenten, wie dem Brief Dantes an Guido da Polenta[38] und dem Brief des Frate Ilaro.[39] In beiden Fällen spricht sich Scheffer dafür aus, die Möglichkeit der Echtheit in Erwägung zu ziehen. Ein langes Kapitel gilt dem Trattatello in laude di Dante Boccaccios. Es bietet einen sorgfältigen Vergleich der beiden Fassungen und eine Analyse der wesentlichen Elemente dieser ältesten Dante-Biographie. Häufig ist jedoch das Interesse des Autors auf Authentizitätsfragen verengt: So bemerkt er, dass der Exkurs über das Wesen der Dichtung im Trattatello an Petrarcas Familiares X,4 angelehnt ist; er beschränkt sich auf die Bemerkung, dass dies nicht gegen eine Autorschaft Boccaccios spricht, und erörtert nicht die Bedeutung dieser Aneignung einer allegorisch ausgerichteten Literaturkonzeption für Boccaccio (und dessen Danteverständnis). Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit des Trattatello als historischer Quelle für die Kenntnis des Lebens Dantes; Scheffer-Boichorst will Boccaccio gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, er fabuliere und sei als Quelle unzuverlässig. Dieser Ansatz führt den Gelehrten dazu, zu bestimmten Fragen weitere Quellen hinzuzuziehen, um die Glaubwürdigkeit von Boccaccios Aussagen zu stärken. Zur Frage der im Trattatello stark betonten Neigung Dantes zur sinnlichen Liebe bringt er, zum Beleg der Plausibilität dieser Behauptung, folgende Dokumente bei: die sogenannte Canzone montanina Dantes (Amor, da che convien pur ch’io mi doglia) und den zugehörigen Brief (Epistola IV) an Moroello Malaspina,[40] einen Passus des Teleutelogio von Bastiano da Gubbio,[41] und ein Cino da Pistoia zugeschriebenes Sonett des 14. Jahrhunderts, Messer Boson, lo vostro Manoello, das gegen Dante (oder vielleicht vielmehr gegen Danteverehrer) gerichtet ist und Dante in die Hölle verdammt sieht, zusammen mit dem jüdischen Dichter Immanuel Romano und Alessio Interminelli.[42] Für den letztgenannten Text ist Scheffer-Boichorsts Argumentation besonders komplex: Daraus, dass Alessio Interminelli im Inferno XVIII, dem Gesang der Kuppler und Schmeichler, zusammen mit einer Figur Terenz’, der Hetäre Thaïs, erwähnt wird, schliesst Scheffer-Boichorst, dass die »lusinghe« des Interminelli erotischer Natur sind, und dass also der Autor des Sonetts mit der Nennung Dantes in seiner Gesellschaft den Dichter der Lüsternheit bezichtigen wollte. Dieser Versuch, aus Quellen verschiedener Art historische Belege für Dantes Hang zur sinnlichen Liebe gewinnen zu wollen, wirft einige methodische Probleme auf. Für alle angeführten Textstellen fällt auf, dass ihr Status und ihre Genrezugehörigkeit nicht diskutiert wird und insbesondere der literarische Aspekt vernachlässigt wird. So wird Dantes canzone als biographisches Zeugnis angesehen, ohne die hier verarbeiteten literarischen Topoi und Traditionen zu berücksichtigen; dass es sich um einen literarischen und mithin zumindest teilweise fiktiven Selbstentwurf handeln könnte, wird nicht erwogen. In diesem Sinne bleibt Scheffer-Boichhorst dem hier von ihm analysierten Boccaccio treu, der im Trattatello in laude di Dante den Anfang der Vita Nuova in eine biographische Erzählung transformiert hatte, weil er Dantes Werk als autobiographisch ansah. Wir könnten hierin ein Zeichen dafür sehen, dass die Quellenauswertung nach den Methoden der Geschichtswissenschaft für die Rekonstruktion des Lebens und der Werke eines Dichters an gewisse Grenzen stösst. Zum Schluss sei allerdings bemerkt, dass diese Lektüre der Vita Nuova die der deutschen Dante-Interpreten seit August Wilhelm Schlegel gewesen war. Und nicht zuletzt kämpft noch die heutige Danteforschung mit den Schwierigkeiten, die sich durch Dokumente und Texte dieser Art ergeben.[43]
© 2022 Johannes Bartuschat, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Schwerpunkt Dante Lesen
- »Inderseelefolgen«: wie August Kopisch die Commedia übersetzt
- Zur deutschen Danteforschung im 19. Jahrhundert
- »Die Welt von Blut und Wunden«: Dantes Kriegsdichtung aus der Perspektive Karl Vosslers und Erich Auerbachs
- Giorgio Pasquali und die Filologia dantesca
- Das Lachen im Himmel
- Weitere Beiträge
- Zum Verhältnis von Staat und Religion bei Dante: Das heikle Beispiel König Sauls
- Pier Damiani zwischen vita eremitica und vita apostolica
- I paradisi di Pier Damiani
- Rezensionen
- Karl Philipp Ellerbrock, Die Poetik des Ungesagten in Dantes Commedia, Paderborn, Brill/Wilhelm Fink Verlag 2021, 450 S.
- Claudia Jacobi, Mythopoétiques dantesques – une étude intermédiale sur la France, l’Espagne et l’Italie (1766–1897), Strasbourg, Éditions de linguistique et de philologie 2021 (Travaux de Littératures Romanes – Poétique et littérature moderne), 417 S.
- Andrea Renker, Streit um Vergil. Eine poetologische Lektüre der Eklogen Giovanni del Virgilios und Dante Alighieris, Stuttgart, Steiner 2021 (Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne; 8), 348 S.
- Thomas Klinkert, La modernità di Dante. Prospettive semiotiche sulla Commedia, Ravenna, Longo editore 2021 (Memoria del Tempo; 71), 226 S.
- Franziska Meier, Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche Komödie. Biographie eines Jahrtausendwerks, München, C. H. Beck 2021, 214 S.
- Cornelia Klettke (ed.), Dante e Botticelli. Atti del Convegno internazionale di Potsdam (29.–31.10.2018), Firenze, Cesati 2021 (Dante visualizzato; 4), 405 pp.
- Marco Grimaldi, Filologia dantesca. Un’introduzione, Roma, Carocci 2021 (Collana Studi Superiori), 176 S.
- William Franke, Dante’s Paradiso and the Theological Origins of Modern Thought: Toward a Speculative Philosophy of Self-Reflection, New York, Routledge 2021, 364 pp.
- Manuele Gragnolati/Francesca Southerden, Possibilities of Lyric: Reading Petrarch in Dialogue. With an Epilogue by Antonella Anedda Angioy, Berlin, ICI Berlin Press 2020.
- Judith Kasper, Andrea Renker und Fabien Vitali (Hrsg.), Dante Alighieri. 1 Sonett – 30 Übersetzungen, Wien/Berlin, Turia+Kant 2021, 154 S.
- Sibylle Lewitscharoff, Warum Dante? Mit Illustrationen und Collagen von Sibylle Lewitscharoff, Berlin, Insel Verlag 2021 (Insel-Bücherei; Nr. 1503), 103 S.
- Bibliographie
- Deutsche Dante-Bibliographie 2021
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Schwerpunkt Dante Lesen
- »Inderseelefolgen«: wie August Kopisch die Commedia übersetzt
- Zur deutschen Danteforschung im 19. Jahrhundert
- »Die Welt von Blut und Wunden«: Dantes Kriegsdichtung aus der Perspektive Karl Vosslers und Erich Auerbachs
- Giorgio Pasquali und die Filologia dantesca
- Das Lachen im Himmel
- Weitere Beiträge
- Zum Verhältnis von Staat und Religion bei Dante: Das heikle Beispiel König Sauls
- Pier Damiani zwischen vita eremitica und vita apostolica
- I paradisi di Pier Damiani
- Rezensionen
- Karl Philipp Ellerbrock, Die Poetik des Ungesagten in Dantes Commedia, Paderborn, Brill/Wilhelm Fink Verlag 2021, 450 S.
- Claudia Jacobi, Mythopoétiques dantesques – une étude intermédiale sur la France, l’Espagne et l’Italie (1766–1897), Strasbourg, Éditions de linguistique et de philologie 2021 (Travaux de Littératures Romanes – Poétique et littérature moderne), 417 S.
- Andrea Renker, Streit um Vergil. Eine poetologische Lektüre der Eklogen Giovanni del Virgilios und Dante Alighieris, Stuttgart, Steiner 2021 (Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne; 8), 348 S.
- Thomas Klinkert, La modernità di Dante. Prospettive semiotiche sulla Commedia, Ravenna, Longo editore 2021 (Memoria del Tempo; 71), 226 S.
- Franziska Meier, Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche Komödie. Biographie eines Jahrtausendwerks, München, C. H. Beck 2021, 214 S.
- Cornelia Klettke (ed.), Dante e Botticelli. Atti del Convegno internazionale di Potsdam (29.–31.10.2018), Firenze, Cesati 2021 (Dante visualizzato; 4), 405 pp.
- Marco Grimaldi, Filologia dantesca. Un’introduzione, Roma, Carocci 2021 (Collana Studi Superiori), 176 S.
- William Franke, Dante’s Paradiso and the Theological Origins of Modern Thought: Toward a Speculative Philosophy of Self-Reflection, New York, Routledge 2021, 364 pp.
- Manuele Gragnolati/Francesca Southerden, Possibilities of Lyric: Reading Petrarch in Dialogue. With an Epilogue by Antonella Anedda Angioy, Berlin, ICI Berlin Press 2020.
- Judith Kasper, Andrea Renker und Fabien Vitali (Hrsg.), Dante Alighieri. 1 Sonett – 30 Übersetzungen, Wien/Berlin, Turia+Kant 2021, 154 S.
- Sibylle Lewitscharoff, Warum Dante? Mit Illustrationen und Collagen von Sibylle Lewitscharoff, Berlin, Insel Verlag 2021 (Insel-Bücherei; Nr. 1503), 103 S.
- Bibliographie
- Deutsche Dante-Bibliographie 2021