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Digitale Sammlungen – Vision eines Neubeginns

  • Andreas Degkwitz EMAIL logo
Published/Copyright: November 26, 2014

Zusammenfassung

Die Digitalisierung von Informationen und Medien stellt neue Fragen an das Verständnis von Bestandsentwicklung und Sammlungen in wissenschaftlichen Bibliotheken. Ursache dafür ist, dass elektronische Bücher und Zeitschriften im Regelfall als lizenzierte Materialien zur Verfügung stehen und nicht mehr in den Besitz der Bibliotheken übergehen. Zugleich führt die Subskription von Nutzungslizenzen als E‑Book- und E‑Journal-Pakete zu einer starken Vereinheitlichung der Bestandsprofile. Insgesamt werden damit folgende Fragen aufgeworfen: Auf welche Objekte beziehen sich Sammlungsaktivitäten unter digitalen Vorzeichen? Welche Anforderungen ergeben sich daraus für Bibliotheken? Welche Mehrwerte bieten digitale Sammlungen für die Wissenschaft? Dass Bibliotheken dabei ihrer ursprünglichen Rolle mit den Möglichkeiten digitaler Inhalte in besonderer Weise Rechnung tragen können, lässt die Vision eines Neubeginns greifbar werden.

Abstract

The ongoing transformation to digital information and media is combined with a new understanding of collection development and of collections in academic libraries. Due to the running practise electronic books and journals are available as licensed resources, which libraries don’t own. Furthermore the increasing subscriptions of licenses the so called e‑book and e‑journal packages impact significantly on the standardization of library collections. On the whole new questions are rising up: What are the objects, which are part of digital collections? What are the requirements that libraries have to meet in order to provide and to maintain digital collections? What are the benefits of digital collections for researchers and researchers work? Proceedings with digital collections academic libraries have special regard to their original role, which means to collect materials, and they exploit the potential of digital media and tools. From that the claim for a restart of academic libraries is no vision, but comes true.

1 Hintergründe[1]

Die digitalen Medien und die Potenziale des Internets haben wissenschaftliche Bibliotheken als Serviceeinrichtungen wie auch als Gedächtnisinstitutionen vor große Herausforderungen gestellt. Denn das gedruckte Buch als leitendes Paradigma bibliothekarischer Arbeit und institutioneller Tradition wird mehr und mehr von der „digitalen Information“ verdrängt. Als Vermittler aktueller Wissensgüter scheinen die großen Suchmaschinen und die „Social Networks“ die Informations- und Medienangebote der Bibliotheken auf den Datenautobahnen des Internets zu überholen. Dabei sind die Bibliotheken mit einer absehbar rückläufigen Versorgung für gedruckte Literatur konfrontiert, während die Bereitstellung lizenzierter Ressourcen wie E‑Books und E‑Journals kontinuierlich zunimmt. Insgesamt unterliegen Bestandsaufbau und Bestandsprofil einem tiefgreifenden Wandel. Die Veränderungen sind wesentlich durch die Lizenzierungspraxis für digitale Inhaltsressourcen geprägt, mit der die Verlage den Bibliotheken Nutzungs- und Zugriffsrechte einräumen, im Regelfall aber keine Überführung dieser Ressourcen in den Besitz oder in das Eigentum der Bibliotheken erfolgt.[2] Nicht unerwähnt bleiben sollte jedoch, dass wissenschaftliche Bibliotheken mit Hochschulverlagen, Open-Access-Repositorien und Maßnahmen zur Digitalisierung alter und wertvoller Bestände „eigene“ Inhalte generieren und zur Verfügung stellen. Auf jeden Fall spielt der Aspekt des Bestandsaufbaus nicht mehr die Rolle, die er mit analogen, papiergebundenen Medien für die Profilierung von Bibliotheken hatte. Das hat zur Folge, dass die Bibliotheken nur noch sehr eingeschränkt über die lizenzierten Materialien verfügen können: Jede Verarbeitung von E‑Journal-Artikeln oder E‑Book-Kapitel ist entweder mit einer Erweiterung des Lizenzumfangs und zusätzlichen Kosten verbunden oder eben lizenzseitig überhaupt nicht zulässig. Dieser Aspekt ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil das Potenzial digitaler Medien gerade in den zahlreichen Möglichkeiten der Verarbeitung von Inhalten liegt: Data- und Textmining, Dokumentstrukturierung, Interoperabilität, Metadatenanreicherung, Verlinkung etc.

Ein weiteres Merkmal der Beschaffung von Zugängen zu digitalen Monografien und Zeitschriften privatwirtschaftlicher Verlage ist der Modus der Bündelung von Nutzungslizenzen zu sog. Paketen. Dies führt zu einer starken Vereinheitlichung der zugänglichen Ressourcenangebote und nicht mehr zu einer Differenzierung oder Profilierung der Bibliotheken im Sinne bestandsorientierter Alleinstellungsmerkmale. Indem sich die mittlerweile stark standardisierten Akquisitionsmodelle für Zugriffslizenzen auch auf die gedruckten Bücher und Zeitschriften übertragen und die im besten Fall (von Jahr zu Jahr) gleich bleibenden Budgets wenig Beschaffungsspielräume zulassen, stellt der Bestandsaufbau mehr und mehr einen „Mainstream“ der Literatur- und Informationsversorgung dar, der wissenschaftliche Bibliotheken verstärkt als „verlängerter Arm“ der Wissenschaftsverlage erscheinen lässt. Zugleich tritt der Bestandsaufbau bzw. die auf dieser Grundlage entstehende Sammlung gedruckter Materialien zugunsten der Vermittlung lizenzierter Ressourcenzugriffe in den Hintergrund. Dabei steht vollkommen außer Frage, dass die Vermittlung von Inhalten und Medien zu den Aufgaben wissenschaftlicher Bibliotheken gehört. Doch Bibliotheken auf ein solches Selbstverständnis zu reduzieren, greift zu kurz und übersieht die Bedeutung des „Sammelns“ und der „Sammlung“ für Bibliotheken in ihrer Funktion als Gedächtnisinstitutionen. Denn Gedächtniseinrichtungen sammeln und archivieren und haben darüber hinaus die Verantwortung, die Wiederauffindbarkeit und die Wiederverwendbarkeit (Reusability) ihrer Sammlungsgegenstände sicherzustellen. Dabei stellt sich als wichtige Frage, wie dieser Anspruch im digitalen Paradigma realisiert werden kann.

Die Unterschiede zwischen analogen und digitalen Medien sind fundamental und nicht nur akzidentiell.[3] Digitale Medien bieten nicht nur eine deutlich bessere Verfügbarkeit, die einen gleichsam orts- und zeitunabhängigen Zugriff ermöglicht, sondern umfassen gänzlich neue Möglichkeiten der Aggregation, der Präsentation und der Verarbeitung von Inhalten. Darüber hinaus sind digitale Medien „datenbasiert“ und erfordern für die bibliothekarische Arbeit neue Methoden und Verfahren, die sich von den herkömmlichen Abläufen und Prozessen zur Bearbeitung analoger Medien wesentlich unterscheiden. Denn die Informationslogistik digitaler Inhalte ist nicht mehr am Modell gedruckter Texte orientiert, sondern auf binär codierte Daten und Datenformate ausgerichtet. Dass in diesem Kontext analoge Materialien z. B. mit Hilfe von PDF emuliert und digital nachgebildet werden, ändert an diesem Sachverhalt nichts, wenngleich sich dadurch der Eindruck vermittelt, noch immer bzw. weiterhin mit „Büchern“ zu arbeiten. Doch gehen die Potenziale digitaler Medien weit über die Möglichkeiten von PDF hinaus, so dass an die bibliothekarische Arbeit neue Anforderungen gestellt werden wie beispielsweise Datenmanagement, Dokumentstrukturierung, Formatkonversionen, WEB-Services etc. Die veränderte Informationslogistik hat allerdings nicht zur Folge, dass sich der Auftrag der Bibliotheken grundsätzlich geändert oder gar erübrigt hat. Die Aufgabe, Inhalte und Wissensgüter zu sammeln, langfristig aufzubewahren und im Sinne von Reusability für die weitere Nutzung auf Dauer zur Verfügung zu stellen, erweist sich weiterhin als unerlässlich, setzt allerdings andere, organisatorische und technische Verfahren zu ihrer Bewältigung voraus.

In diesem Zusammenhang rückt der Begriff der Informationsinfrastruktur in den Blickpunkt, deren Wandel die Transformation vom analogen zum digitalen Paradigma geradezu leitmotivisch charakterisiert.[4] In den Empfehlungen der Kommission Zukunft der Informationsinfrastruktur (2011) und des Wissenschaftsrates (2012) zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland[5] werden vor allem folgende Themen der Infrastrukturentwicklung benannt: Digitalisierung des kulturellen Erbes, Forschungsdatenmanagement, Informationskompetenz, Lizenzierung von e‑Ressourcen, Open-Access-Publizieren und virtuelle Forschungsumgebungen. Möglicherweise soll mit dem Begriff der Informationsinfrastruktur das Zusammenwirken mehrerer Akteure und Partner benannt werden, die Auf- und Ausbau der für notwendig erachteten Infrastrukturen realisieren sollen. Allerdings birgt der Begriff auch eine gewisse Unbestimmtheit, die der Verantwortung von Gedächtniseinrichtungen jedenfalls nicht ausdrücklich Rechnung trägt. Mit anderen Worten: Für die Sammlung und Archivierung von Inhalten sind – unabhängig von analogen oder digitalen Medien – Bibliotheken verantwortlich. In diesen Zusammenhang gehört auch die Verpflichtung, die Wiederverwendbarkeit der gesammelten und archivierten Inhalte sowie grundsätzlich auch die Inhalte lizenzierter Ressourcen dauerhaft zu gewährleisten. Hinzu kommt, dass der Terminus „Informationsinfrastruktur“ viel stärker die Rolle von Diensten und Services adressiert und deshalb die Bedeutung der Inhalte in den Hintergrund treten kann. Dabei sind es nicht die technischen Potenziale innovativer Dienste, sondern vorrangig die Inhalte, die in Verbindung mit innovativen Diensten eine nachhaltige Literatur- und Informationsversorgung garantieren.

2 Was kennzeichnet Sammlungen?

Angesichts der skizzierten Praxis des aktuellen Bestandsaufbaus kommt der Beantwortung dieser Frage besondere Bedeutung zu. So sind folgende Kriterien für Sammlungen leitend:

(1) Sammlungen haben definierte Profile, die entweder durch Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft oder durch thematische Schwerpunkte unterschiedlichster Ausrichtung – oft mit einer zeitlichen Perspektive – vorgegeben sind. Darüber hinaus sind viele Sammlungen als material- oder auch sprachspezifische Sammlungen definiert wie Handschriften, alte Drucke, Flugschriften, Bildbestände, Nachlässe, Kinderbücher oder eben Asiatica, Hebraica, Orientalia usw.

(2) Sammlungen befinden sich im Regelfall im Besitz oder sind Eigentum der Bibliotheken, die Sammlungen betreuen. Oft sind Sammlungen Anlass und Auslöser für die Gründung von Bibliotheken gewesen und von daher oft zufällig entstanden. Viele – vor allem bekannte, wertvolle – Sammlungen sind aus den sog. Schatzkammern von Fürsten- und Königshäusern hervorgegangen. Doch das ist nur eine von vielen Provenienzen von Sammlungen, die wie ihre Bestände auch ihre „Schicksale“ haben.

(3) Sammlungen werden fachlich betreut und aktiv weiterentwickelt. Dazu gehört der weitere Ausbau der Sammlungen, der häufig neben den unmittelbar sammlungsrelevanten Inhalten auch weiterführende – durchaus auch interdisziplinäre – Literatur sowie Informationsmaterialien umfasst. Weiterhin gehören zur Betreuung von Sammlungen die formale und sachliche Erschließung sowie die systematische Strukturierung der Sammlungsbestände und deren langfristige Archivierung.

Für den wissenschaftlichen Kontext erweisen sich Sammlungen als Abbilder, Abdrücke oder Spuren von Forschungsaktivitäten und Forschungsvorhaben mit – und das zeichnen Sammlungen vielfach aus – historischen Perspektiven, die Kontexte und Zusammenhänge herstellen und verdeutlichen. Daraus ergibt sich ein „record of human knowledge“, der in seiner Diversität und Vielschichtigkeit präsent und nutzbar ist. Sammlungen sind deshalb für historisch arbeitende Fachdisziplinen eine ganz wesentliche Arbeitsgrundlage. Dabei müssen die Profile der jeweils genutzten Sammlungen nicht immer unmittelbar mit den Fragestellungen der Forschungsvorhaben übereinstimmen. Insofern sind Sammlungsinhalte vielfach nicht unmittelbar an aktuellem Bedarf oder konkreter Nachfrage orientiert. Vielmehr bieten Sammlungen die Möglichkeit von Zufallsfunden oder von „Serendipity“ – und „Serendipity“ prägt wissenschaftliches Arbeiten auch.

Sammlungen von analogen, papiergebundenen Materialien verfügen nicht über die Möglichkeiten der Aggregation und Vernetzung, die für digitale Inhalte kennzeichnend sind. Für das wissenschaftliche Arbeiten bieten analoge Sammlungen deshalb weder die Zugänglichkeit noch die Nachnutzbarkeit, die das Potenzial digitaler Medien grundsätzlich umfasst. Insofern können digitale Sammlungen absehbar mehr Inhalte aggregieren und zugleich mehr Möglichkeiten der Bearbeitung und der Nachnutzung von Inhalten bieten als dies bei analogen Sammlungen möglich und vorstellbar ist.

3 Welche Mehrwerte haben digitale Sammlungen?

Digitale Sammlungen umfassen elektronische Medien in ihrem ganzen Spektrum (Audios, Bilder, Digitalisate, Forschungsdaten, Videos etc.) und mit ihrem vollständigen Potenzial der Verarbeitung. Welche spezifischen Merkmale kennzeichnen digitale Sammlungen gegenüber Sammlungen analoger Medien? Ausgangspunkt zur Klärung dieser Frage sind die Besonderheiten, die digitale Publikationen als „Enhanced Publications“ charakterisieren. „Enhanced Publications“ sind digitale Publikationen, die für die veröffentlichte Präsentation von Forschungsergebnissen oder für die publizierte Wiedergabe von Inhalten nicht auf Texte und dem dafür vielfach genutzten PDF-Format beschränkt bleiben, sondern mit denen die multimedialen Potenziale digitaler Medien so weit wie möglich ausgeschöpft und für die Ergebnisveröffentlichung genutzt werden.[6] Dabei geht es um folgende Eigenschaften[7]:

(1) „Enhanced Publications“ sind angereichert oder „enriched“ und umfassen oder verlinken damit in beliebigem Umfang Bilder, Fotos, Audios, Videos, digitalisierte Texte, Forschungsdaten, Animationen, Simulationen etc. Die Möglichkeit, unterschiedliche Medien und Medienformate in elektronischer Form in Publikationen zu integrieren, ist bei digitalen Publikationen deutlich größer als bei Druckwerken und stellt insofern ein Spezifikum von „Enhanced Publications“ dar. Unter dem hier erörterten Sammlungsaspekt ist dies von großer Bedeutung. Denn in einer Sammlung von „Enhanced Publications“ können mit einzelnen Veröffentlichungen weit mehr „items“ oder – besser gesagt – „Daten“ in die Sammlungen eingebracht werden als dies bei analogen Sammlungen möglich ist. Das Aggregationspotenzial von Daten, Inhalten, Objekten wird in digitalen Sammlungen dadurch enorm gesteigert.

(2) „Enhanced Publications“ sind „social“. Die Möglichkeiten, Inhalte zu annotieren und zu kommentieren, sind mit „Lesespuren“ auch in analogen Medien gegeben. Doch dass solche „Lesespuren“ interaktiv erfolgen, auf verschiedenen Levels veröffentlicht werden können und grundsätzlich auf Dauer verfügbar sind, ist gegenüber bisherigen Formen der Kommentierung von Dokumenten anders und neu. Zugleich geht das Potenzial digitaler Interaktivität weit darüber hinaus, wenn die dafür verfügbaren Werkzeuge des WEB 2.0 genutzt werden. Interaktive Komponenten in digitale Sammlungen zu integrieren, eröffnet vollkommen neue Möglichkeiten der wissenschaftlichen Kommunikation, aber auch der Aufwertung von Sammlungen, die analoge Sammlungen nicht bieten können.

(3) „Enhanced Publications“ sind „processible“, und diese Eigenschaft bietet ebenfalls große Mehrwerte, die sich für digitale Sammlungen weit über herkömmliche Analyseverfahren hinaus ausschöpfen und nutzen lassen. Denn im Unterschied zu analogen Medien lassen sich digitale Medien maschinell verarbeiten; das bedeutet, dass „Enhanced Publications“ einschließlich ihrer Komponenten (Bilder, (Retro‑)Digitalisate, Forschungsdaten etc.) mit Methoden des Data- und Text-Minings analysiert, ausgewertet und durchsucht werden können.

(4) „Enhanced Publications“ sind „linkable“, was für digitale Sammlungen von großem Vorteil ist. Konnten die Bestände analoger Sammlungen maximal über ihre elektronischen Metadaten miteinander in Beziehung gesetzt werden, so eröffnen digitale Sammlungen die zusätzliche Möglichkeit, mit den Metadaten auch die Inhalte selbst zur Verfügung zu stellen und diese innerhalb der Sammlung zu kontextualisieren. Dieses Potenzial an Verlinkungsoptionen, das bis zu semantischen Vernetzungen reicht, stellt eine neue Qualität dar, die zugleich eine deutlich bessere Vernetzung von Sammlungsobjekten ermöglicht, als dies bei analogen Sammlungen gegeben ist.

In Anbetracht dessen lässt sich sagen: Was ein digitales item, eine „Enhanced Publication“ als Einzelstück vermag, kann in einer Sammlung solcher Objekte zum „Knowledge Network“ skalieren. Für die Gestaltung und Vernetzung digitaler Sammlungen ist signifikant mehr an forschungsnaher Aufbereitung und Verarbeitung möglich als bei analogen Sammlungen. Insofern sind die genannten Merkmale von „Enhanced Publications“ zugleich Eigenschaften digitaler Sammlungen, die damit allerdings eher als Wissensnetzwerke oder Wissensplattformen zu bezeichnen sind. Es gibt prominente Beispiele für solche Knowledge Hubs wie z. B. die Deutsche Digitale Bibliothek oder die Europeana oder das „Bavarikon“ der Bayerischen Staatsbibliothek. Dabei geht es im Unterschied zu analogen Sammlungen nicht nur um eine räumliche Zusammenstellung von gesammelten Materialien, sondern um Kontextualisierungen von Digitalisaten, die Beziehungen zu anderen Autoren, Werken, Orten etc. herstellen. In diesen Zusammenhang gehört sicher auch Text-Grid[8] als virtuelle Forschungsumgebung für die Geisteswissenschaften – vor allem für Vorhaben auf den Gebieten der Editionswissenschaften, der Lexikologie und der Linguistik. Die Verbindung von Inhalten und von Werkzeugen zu deren Bearbeitung macht Text-Grid zu einer Arbeitsplattform und zu einer Sammlung, die Inhalte aggregiert und vernetzt.

Wenn digitale Sammlungen als Wissensnetzwerke bis hin zu virtuellen Arbeitsumgebungen für Wissenschaftler zu verstehen sind,[9] ergeben sich daraus für die Bibliotheken Aufgaben, die die Bibliotheken zu ihren Wurzeln führen. Denn im digitalen Paradigma kooperieren die Bibliotheken mit Wissenschaftlern so, wie es für Bibliotheken schon immer kennzeichnend war, indem sie die Inhalte der wissenschaftlichen Arbeit sammeln und dauerhaft für die (Nach-)Nutzung zur Verfügung stellen: Bibliotheken sammeln, was Wissenschaft hervorbringt und generiert, und Bibliotheken stellen das „Gesammelte“ der Wissenschaft auf Dauer und nachnutzbar zur Verfügung. Was bedeutet das? Bilder, Daten, Texte und alle weiteren Materialien, die Forscher aktuell und vor Ort produzieren oder in ihren Projekten nutzen, werden von Bibliotheken archiviert, aggregiert, aufbereitet, verlinkt und durch weitere – auch außerhalb der unmittelbaren Forschungsaktivitäten verfügbare – Materialien ergänzt. Auf diese Weise werden diese Materialien oder „Forschungsdaten“ zu permanent wachsenden Wissensnetzwerken ausgebaut und gestaltet und sind für die Forschung dauerhaft zugänglich. Bibliotheken kommen so auf das „Sammeln“ und die damit verbundenen Aufgaben unter digitalen Vorzeichen zurück und entwickeln sich im digitalen Zeitalter zu „Institutions for the Digital Memory of the World“!

Zugleich wird dabei deutlich, von welcher Bedeutung für Bibliotheken Besitz oder Eigentum der gesammelten Materialien sind, um sie aufbereiten, verarbeiten und verlinken und damit wiederverwendbar zur Verfügung stellen zu können. Mit lizenzierten Materialien kommerzieller Verlage, deren Nutzung und Weiterverarbeitung entsprechende Rechte erfordern, ist – sofern überhaupt – eine Verfügbarkeit über die Inhalte in einem nur eingeschränkten Umfang gegeben. Von daher sind lizenzierte Materialien für digitale Sammlungen nur sehr bedingt und allenfalls als Links geeignet. In Anbetracht dessen sind die Prinzipien des Open Access und die davon ableitbaren Nutzungspotenziale für digitale Sammlungen eine ganz wesentliche Voraussetzung. Denn insgesamt sind digitale Sammlungen auf rechtliche Rahmenbedingungen angewiesen, die Bibliotheken und Nutzern angemessene und praxistaugliche Arbeits- und Nutzungsoptionen ermöglichen.

Wie können digitale Sammlungen in dem hier dargelegten Sinne realisiert werden? Schon jetzt wird eine ganz Reihe von Maßnahmen in diese Richtung ergriffen. In diesen Zusammenhang gehören zahlreiche virtuelle Fachbibliotheken, die von wissenschaftlichen Bibliotheken aufgebaut und betrieben werden und die differenzierte Such- und Nachweissysteme für analoge und digitale Inhalte einschl. lizenzierter Ressourcen umfassen.[10] Weiterhin gehören dazu Open-Access-Publizieren, Forschungsdatenmanagement, Retro-Digitalisierung, Hosting und Langzeitarchivierung. Diese Aktivitäten müssen in Verbindung mit Inhalten weiter intensiviert und durch zusätzliche Aktivitäten ergänzt werden wie zum Beispiel durch die Bereitstellung von Werkzeugen zur Bearbeitung und Verarbeitung von Inhalten, durch fächerübergreifende Indices, durch Format- und Metadatenmanagement, durch Aufbereitung und Strukturierung von Dokumenten und Objekten, durch semantische Verknüpfungen und durch vieles andere mehr. Mit der aktuell erfolgenden Umstellung der Sondersammelgebiete auf Fachinformationsdienste (FIDs) werden möglicherweise Entwicklungen mit ähnlicher Zielsetzung angestrebt.[11] Ob dies allerdings nach dem Vorbild der Fachinformation erreicht werden kann und auf Basis der Fördergrundsätze für FIDs gelingt, ist als offen zu betrachten[12] – wünschenswert wäre es auf jeden Fall.

4 Ausblick

Mit digitalen Sammlungen oder Wissensnetzwerken können sich Bibliotheken neu positionieren. Zugleich führen digitale Sammlungen Bibliotheken nicht nur zu ihren Wurzeln, sondern auch zur Wissenschaft, indem Bibliotheken mit Aufbau, Betrieb und Weiterentwicklung von Wissensnetzwerken Teil der Wissenschaft werden und als Partner an Forschungsvorhaben partizipieren.[13] Digitale Sammlungen haben einen ausgeprägten Forschungsbezug und dies vor allem deshalb, weil die Inhalte digitaler Sammlungen vielfältig nachgenutzt und wieder verwendet werden können. Die Reusability digitaler Inhalte, die ganz unterschiedliche Materialien umfassen, ist ein ganz wesentliches Merkmal digitaler Sammlungen und integriert digitale Sammlung in die wissenschaftliche Arbeit sehr viel unmittelbarer, als Sammlungen gedruckter Materialien dies jemals ermöglichen könnten. Wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass die digitalen Inhalte „offen“ zugänglich sind und von den Bibliotheken für die weitere Verarbeitung aufbereitet und zur Verfügung gestellt werden können. Pay-Wall-bewehrte und verwertungsrechtlich geschützte Daten- und Content-Silos mögen zwar Impact-Faktoren generieren, tragen damit aber nur wenig zur Unterstützung zeitgemäßer Formen wissenschaftlicher Arbeit bei.

Aber können wir auf die Lizenzierung und Vermittlung von E‑Books und E‑Journals unmittelbar verzichten, um ab sofort auf den Auf- und Ausbau von Sammlungen mit „Enhanced Publications“ zu fokussieren? Sofort und unmittelbar werden wissenschaftliche Bibliotheken das sicher nicht umsetzen können. Doch dass die Bibliotheken mit der Vermittlung lizenzierter Inhalte und Ressourcen kommerzieller Verlage nicht ans Ende der digitalen Informationsversorgung gekommen sind, zeichnet sich bereits ab. Dies geben die Bedeutung und Rolle von „Daten“ für die wissenschaftliche Arbeit klar zu erkennen. Der daraus erwachsende, neue „Sammelauftrag“ konkretisiert sich bereits und wird mit ersten Maßnahmen zum „Management von Forschungsdaten“ aufgegriffen. Mit Blick auf die derzeitige Praxis der Bestandsentwicklung erscheinen digitale Sammlungen noch als Vision eines Neubeginns, doch werden sich die wissenschaftlichen Bibliotheken dieser Herausforderung stellen – damit begonnen haben sie schon.

Online erschienen: 2014-11-26
Erschienen im Druck: 2014-12-19

© 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

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