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Den Blick schärfen. Zum Umgang mit rechtspopulistischen Sachbüchern aus Lektoratssicht

  • Susanne Brandt

    Susanne Brandt

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Published/Copyright: October 26, 2018
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Zusammenfassung

Meinungsfreiheit kontra Menschenwürde? Der freie Zugang zu Informationen gehört zu den Kernanliegen von Bibliotheken und schließt das Angebot von Titeln mit rechtspopulistischen Positionen nicht aus. Da sich aber bei der Kaufentscheidung zu diesen Büchern oft ein Konflikt zwischen zentralen Grundrechten offenbart, kann weder eine unkritische Akzeptanz noch eine grundsätzliche Ablehnung die Antwort sein. Lektorinnen und Lektoren tragen mit ihrer Markt- und Titelsichtung dazu bei, dass der Blick für Kriterien und Grenzen geschärft und der Mut für begründete Entscheidungen gestärkt wird.

Abstract

Freedom of expression contra human dignity? Granting free access to information is one of the central tasks of libraries, which also implies access to titles advocating right-wing populist positions. Decisions to purchase such non-fiction books often give rise to conflicts between fundamental rights, therefore neither unquestioning acceptance nor blanket rejections can be the solution. Market analyses and careful title selections of editorial staff in publishing houses can make important contributions to sharpen our perception and specify possible criteria and limits, as well as encourage those in a position of responsibility to make informed choices and decisions.

Zu den Herausforderungen für Institutslektorinnen und -lektoren, für die Lektoratskooperation wie auch für alle, die für den Bestandsaufbau in Bibliotheken Verantwortung tragen, gehört es, unter den Neuerscheinungen auch solche Titel zu begutachten und gegebenenfalls zu rezensieren, die für rechtspopulistische Meinungen werben und als solche oft provozieren und polarisieren. Neben Büchern aus den sogenannten „rechten Verlagen“ zählen dazu gelegentlich auch Veröffentlichungen und Autoren aus großen Publikumsverlagen, die sich medienwirksam bei Talkshows und über Soziale Netze in Szene setzen und so gelegentlich den Sprung auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffen. Manchmal geht es auch um zunächst eher unverdächtig wirkende Titel, die ein populäres oder polarisierendes Thema aufgreifen und - vielleicht erst beim genaueren Hinsehen erkennbar - dazu dann massiv Beispiele und Argumente aus dem Spektrum der neuen Rechten liefern. Nicht nur bei Geschichte oder Politik tauchen diese Titel auf. Auch Religion, Sozialwissenschaften, Themenbereiche wie Klimawandel oder Europa-Fragen in verschiedenen Sachgruppen sind davon betroffen.

Eines sei dabei gleich vorweg geschickt: Auch wenn dieser Beitrag abhebt auf Überlegungen zum Umgang mit rechtspopulistischen Sachbuch-Titeln, so sind die nachfolgend dazu vorgeschlagenen Einschätzungshilfen in einem weiteren Sinne zu verstehen und einsetzbar. Es geht hier nicht darum, der rechtspopulistischen Sachliteratur eine besondere Stellung im Spektrum der Medien einzuräumen. Das käme einer unangemessenen Hervorhebung gleich. Was hier am Beispiel dieser Themenstellung ausgeführt wird, soll übertragbar bleiben auf andere Streitfragen und ideologisch überzeichnete Darstellungen, die im Lektorat ebenfalls kritisch zu begutachten sind. Betrachtet man z. B. das Sachgebiet Religion, so hat man es dort auf dem Gebiet der extrem missionarischen oder der fundamental atheistischen Literatur gelegentlich mit Titeln zu tun, für die eine genauere Einschätzung im Blick auf Einseitigkeit der Darstellung, herabwürdigende Sprache, Umgang mit Quellen und unangemessene Verallgemeinerungen auch hilfreich sein kann. Es wird in diesem Beitrag deshalb auch nicht auf konkrete Buchtitel Bezug genommen. Ziel ist es, vielfältig übertragbare Fragestellungen an ein Medium zu entwickeln, die zu mehr Transparenz und Differenzierung beitragen können und damit eine begründete Meinungsbildung und Argumentation erleichtern.

Im Sinne des BID-Positionspapiers[1] zum Umgang mit umstrittener Literatur gilt es hierbei zunächst, die Kernaufgabe von Bibliotheken im Blick zu behalten, die u. a. darin besteht „freien Zugang zu Informationen - ein breites Spektrum an Wissen, Ideen, medialen Inhalten und Meinungen - anzubieten, auch wenn diese für einzelne Personen oder gesellschaftliche Gruppen inakzeptabel erscheinen.“ Eine Zensur von Inhalten aus politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen - so erklären es die bibliothekarischen Verbände in ihrem Papier unmissverständlich - findet nicht statt. Ebenso soll auch die persönliche Meinung zu einem umstrittenen Thema nicht zum Maßstab erhoben werden, wenn es darum geht, eine Veröffentlichung in Bibliotheken zugänglich zu machen.

Vor diesem Hintergrund unterstützen Lektorinnen und Lektoren mit ihrer Marktsichtung wie mit Rezensionen zu einzelnen Medien den Bestandsaufbau der Bibliotheken. Sie nehmen mediale Trends und Entwicklungen in ihren jeweiligen Fachgebieten wahr, versuchen eine Einordnung einzelner Titel im Spektrum anderer Veröffentlichungen zum Thema und erleichtern den Bibliotheken so die Orientierung in der Fülle der Neuerscheinungen. Schließlich geht es im Lektorat wie auch in den Bibliotheken immer um eine Auswahl.

Aus verschiedenen Gründen werden Entscheidungen für oder gegen ein Medium getroffen. Die Lektorinnen und Lektoren können also im Sinne des BID-Positionspapiers nach „rein fachlichen Kriterien“ im Blick auf Qualität und Bibliothekseignung mit ihren Rezensionen und Empfehlungen geeignete Argumente liefern, die den Bibliotheken bei ihrer Anschaffungsentscheidung - und manchmal auch im Beratungsgespräch - helfen.

Soweit die Theorie. Die Praxis zeigt hingegen oft, dass sich die Frage nach „rein fachlichen Kriterien“ und Qualität nicht immer so neutral und frei von Meinungseinflüssen beantworten lässt, wie es im Sinne der Informationsfreiheit und Offenheit für ein möglichst breites Meinungsspektrum geschehen sollte.

Wie also können Lektorinnen und Lektoren umgehen mit rechtspopulistischen Titeln, die sich zum Beispiel mit einer unsachlichen Polemik und Einseitigkeit bei der Auswahl und Bewertung der darin gesammelten „Fakten“ eigentlich disqualifizieren, zugleich aber von einer größeren Leserschaft als „Aufklärungsliteratur“ eingefordert werden - und letztendlich für die geforderte Meinungsvielfalt unverzichtbar scheinen? Denn die qualitative Frage nach sachlicher Richtigkeit wird oft zum Streitpunkt, wenn z. B. eine gezielte Aneinanderreihung von Fallbeispielen vorgenommen wird, die für sich genommen vielleicht alle als „Tatsachen“ zu belegen sind, aber in der manipulativ vorgenommenen Auswahl und Gewichtung wie durch das bewusste Weglassen anderer Informationen zu falschen Schlüssen führen. Lässt sich dann noch von einem echten Informationsgewinn sprechen?

Und wie soll man sich entscheiden, wenn Darstellungen eines nicht indizierten Mediums als menschenverachtend empfunden werden und nach persönlicher Einschätzung nicht mehr in Einklang mit Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ zu bringen sind?

Gar nicht selten scheinen also zwei Grundrechte in Konflikt miteinander zu geraten. Geht dann die Freiheit von Meinung und Kunst vor Menschenwürde - und sei es nur, weil die Meinungsfreiheit im Sinne einer größtmöglichen Toleranz leichter umsetzbar scheint als die schwierige Auseinandersetzung mit Bedeutung und Grenzen von Menschenwürde?

Oder wiegt die Wahrung der Menschenwürde schwerer, wenngleich man sich dabei immer auch mit Fragen des subjektiven Ermessens auseinanderzusetzen hat? Ein Grundrecht wie die Unantastbarkeit von Menschenwürde ist nicht verhandelbar. Aber zur Debatte steht oft, ab wann man von einer Verletzung der Würde sprechen kann. Deshalb ist gerade dieser Aspekt nicht auf die leichte Schulter zu nehmen und allein durch die Frage, ob das Buch indiziert ist oder nicht, kaum angemessen zu beantworten.

Schließlich wirft die Forderung nach Informations- und Meinungsfreiheit in Bibliotheken bei der Entscheidung für oder gegen einen einzelnen umstrittenen Titel auch deshalb Fragen auf, weil ein Medium allein diese Freiheit kaum gewährleisten kann. Diese ergibt sich erst aus der Vielfalt anderer Titel zum gleichen Thema, die mit unterschiedlichen Positionen neben diesem einen Titel zur Verfügung stehen müssten.

Wenn nun also eine rechtspopulistische Veröffentlichung zu einem Thema erscheint, das auf dem Buchmarkt eher dünn abgedeckt ist oder in kleineren Beständen einen einsamen Platz im Regal findet, bleibt diese rechtspopulistische Stimme in der Bibliothek vielleicht über lange Zeit die einzige Antwort auf eine wichtige Frage. Leistet dieses Buch dann in der Bibliothek überhaupt einen Beitrag zur Informations- und Meinungsfreiheit? Oder geben Bibliotheken damit einzelnen Meinungen automatisch ein überproportional großes Gewicht?

All diese Fragen können eine Rolle spielen, wenn man sich im Lektorat mit rechtspopulistischen oder aus anderen Gründen umstrittenen und polarisierenden Medien befasst. Zugleich wird an der Gemengelage der aufgezeigten Interessenkonflikte deutlich, wie wichtig es ist, sich im Lektorat mit diesen Fragen zu beschäftigen: Denn Lektorinnen und Lektoren können in ihren Rezensionen zu einzelnen Titeln sachlich und beschreibend genau diese Konfliktpunkte ansprechen und sichtbar machen. Sie können Kolleginnen und Kollegen darin unterstützen, einen genaueren Blick für oft wiederkehrende Strickmuster in populistischen Veröffentlichungen zu entwickeln. Das wiederum schärft die Argumentation bei Beratungs- und Streitgesprächen mit Leserinnen und Lesern zu diesen Büchern.

In diesem Sinne sind die folgenden Impulsfragen als Orientierungshilfe für eine qualitative Einschätzung und Beschreibung zu verstehen, die im Umgang mit umstrittenen Büchern zu mehr Transparenz beitragen. Die damit oft einhergehende Gratwanderung zwischen persönlichem Ermessen und neutraler Fachsicht wird dabei nicht umgangen. Sie bleibt eine Herausforderung und kann sich manchmal auch auf der Seite der subjektiven Einschätzung entscheiden, solange diese nachvollziehbar zu begründen ist.

So sind die Impulsfragen lediglich als Anregungen dafür zu verstehen, wie sich ein rechtspopulistischer Sachbuch-Titel so beschreiben lässt, dass sich Bibliotheken auf der Basis von sachlich zu benennenden Aspekten dafür oder dagegen entscheiden können. Sicher sind dabei nicht alle Fragen für alle Titel gleichermaßen anwendbar. Und nicht allein rechtspopulistische Titel sind mit diesen Fragestellungen in den Blick zu nehmen. Wer aber versucht, sich bei der Beschreibung eines rechtspopulistischen Buches an diesen Fragen zu orientieren, wird dabei erfahrungsgemäß einiges zusammentragen können, was dazu taugt, den Charakter des Buches in der Rezension sachlich zu verdeutlichen:

  • Fragen zur Sprache:

    Von welchem Vokabular und Stil ist die Sprache geprägt? Sind zynische Bemerkungen, Häme, Polemik und abwertende Begriffe in Bezug auf bestimmte Menschen oder Menschengruppen dominant? Gehören Begriffe zum Vokabular, die man in einschlägigen Foren der sozialen Netze wiederfindet?

  • Fragen zum Umgang mit Fallbeispielen, Fakten und Belegen:

    Wie verhält sich die Gewichtung der ausgewählten Fallbeispiele zur Realität unterschiedlicher Erfahrungen? Wird zu geschilderten Vorfällen ein größerer Kontext gegeben, der mehrere Deutungen zulässt oder wirken die geschilderten Szenen eher aus dem Zusammenhang gerissen und willkürlich aneinandergereiht? Werden zu der geschilderten Problematik unterschiedliche Erfahrungen, Sichtweisen und Lösungsansätze mit ihren Vor- und Nachteilen diskutiert oder werden Vorfälle für bestimmte Absichten und Zwecke instrumentalisiert?

  • Fragen zu Auswahl und Nachweis von Quellen:

    Welche Quellen werden herangezogen, um dargestellte Sachverhalte und Thesen zu untermauern? Welche für das Thema ebenfalls relevanten und belegten Erkenntnisse bleiben unberücksichtigt? Wird in der Argumentation eher pauschalisiert statt differenziert?

  • Fragen zur Achtung der Menschenwürde:

    Zeigen die Darstellungen von Menschen und Menschengruppen Achtung vor der Würde aller Menschen? Werden bewusst diskriminierende Schilderungen und unzulässige Verallgemeinerungen gezielt eingesetzt? Ist Anerkennung oder Abwertung dominant bei der Darstellung von Menschen mit ihren individuellen Eigenschaften? Werden emotional eher Ängste und Abwehrhaltungen geschürt, wo es auch Anlass zu Hoffnung, Ermutigung und Empathie geben könnte? Werden Lösungsansätze beschrieben, die sich an den Grundrechten orientieren?

Ergänzend zu einer Betrachtung und Darstellung einzelner Titel nach diesen Aspekten kann ein kleiner Überblick zum Buchmarkt mit weiteren Leseempfehlungen gegeben werden. Dort, wo sich Kolleginnen und Kollegen im Interesse der Informationsfreiheit für das Buch entscheiden, können sie anhand der ergänzenden Medienvorschläge am Bestand prüfen, ob und in welchem Umfang weitere Titel zum Thema bereit stehen und zur Meinungsvielfalt beitragen.

Neben all diesen Überlegungen liegt es im Ermessen von Mitarbeitenden in Bibliotheken, durch das Angebot von Medien im Rahmen der gegebenen Informationsfreiheit ausgewählte Akzente zu setzen und offene Diskussionen anzuregen. Sie können Autorinnen und Autoren zu Lesungen mit Nachgesprächen einladen, auf unterschiedliche Positionen z. B. zu Klimawandel und zu Europa-Fragen mit Informations-Veranstaltungen reagieren, mit Flüchtlingsinitiativen vor Ort kooperieren und Menschen aus verschiedenen Nationen zu Wort kommen lassen.

Entscheidend für ein Klima der freien Meinungs- und Informationsvielfalt in Bibliotheken ist also nicht allein, ob dieses oder jenes Buch dort bereitgestellt oder auch abgelehnt wird, sondern ebenso, wie bewusst die vorhandenen Gestaltungsspielräume der Kommunikation, der Begegnung und der Diskussion engagiert genutzt werden. Denn gegen populistische Medienmeinungen richten mutige Menschenworte und Zivilcourage im Alltag manchmal mehr aus als die mediale Verstärkung oder Verbannung.

Vielleicht können Hilfestellungen von Lektorinnen und Lektoren auch über die Kaufentscheidung hinaus dazu ermutigen, mit kritischen Einschätzungen und begründeten Argumentationen eine klare Haltung gegenüber populistischen Medienmeinungen einzunehmen und die Informationsfreiheit in Bibliotheken nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln.

About the author

Susanne Brandt

Susanne Brandt

Published Online: 2018-10-26
Published in Print: 2018-10-10

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 24.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bd-2018-0094/html
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