Abstract
In their attempt to reposition Germany in an international context after World War II, actors from both the fine arts and the literary scene turned to the idea of art as a universal language. Two major projects that shaped the West German cultural sphere in the 1950 s and 1960s – the contemporary art exhibition documenta 2 and Hans Magnus Enzensberger’s anthology Museum der modernen Poesie – placed this idea at their conceptual core. The debates surrounding these projects show, however, that the notion of art as a universal language was as contested as it was compelling. In close readings of paratexts, including previously overlooked archival material, it becomes evident that very different conceptualizations of monolingualism and community are attached to the idea in each context. Evaluating these differences through the lens of translation studies, curatorial studies, and political theory enables a more nuanced discussion of the concept’s post-war renaissance and its ideological implications.
Am 10. Dezember 1954 versammeln sich zweiundsiebzig Nationen um einen Tisch: Die UNESCO tagt in Montevideo, Uruguay. Einen Punkt auf der Tagesordnung stellt dabei das Thema ‚Esperanto‘. Rund siebzig Jahre nach ihrer Erfindung wird die von Ludwik Zamenhof entwickelte Plansprache auf der Generalkonferenz als Mittel zur Völkerverständigung gewürdigt. Esperanto, hält die Montevideo Resolution fest, trage maßgeblich zum internationalen intellektuellen Austausch bei und vermöge es, die Völker der Welt einander anzunähern. Mehrere Mitgliedsstaaten kündigen den Ausbau von Esperanto-Unterricht in Schulen an und die Versammlung legt eine Kooperation mit dem Welt-Esperantobund fest (UNESCO 36). Diese Wiederbelebung des Jahrhundertwendeprojekts ‚Weltsprache‘ steht unverkennbar im Zeichen der Weltkriegserfahrung: Wie mit der Gründung der UNESCO selbst, die in die Nachfolge des 1926 gegründeten Institut International de Coopération Intellectuelle tritt, wird mit der Förderung von Esperanto an Weltkulturkonzepte der Vorkriegsmoderne angeknüpft.
Dass die Rückbesinnung auf die Moderne auch für die Kunst und Literatur nach 1945 bestimmend war, ist aus diversen Perspektiven beleuchtet worden.[1] Dem Konzept der Weltsprache kommt auch in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Am Beispiel der documenta 2 (1959) und Hans Magnus Enzensbergers Lyriksammlung Museum der modernen Poesie (1960) soll im Folgenden aufgezeigt werden, wie die Weltsprachenidee in den späten 1950er Jahren zu einer so wichtigen wie umstrittenen Bezugsgröße für die Neuausrichtung des kulturellen Feldes der jungen Bundesrepublik avanciert. Literatur und bildende Kunst gehen dabei verschlungene Wege: Sowohl die Macher der Kasseler Kunstaustellung als auch der Herausgeber Enzensberger meinen in den Werken der Moderne eine universelle Sprachform zu erkennen, die es im Nachkriegsdeutschland zu präsentieren gilt: „[E]ine Sprache ausstellen“ (Enzensberger, „Vorwort“ 18) – die Weltsprache der modernen Kunst beziehungsweise der modernen Poesie – ist das geteilte Ziel beider Projekte. Dabei stehen ihnen jedoch sehr unterschiedliche Vorstellungen von Sprachgemeinschaft vor Augen.
Intrikate Aushandlungsprozesse von Gemeinschaftskonzepten verbinden sich mit der Idee der Weltsprache seit jeher. So stehen etwa Weltsprache und Nationalsprachen in einem komplexeren Verhältnis zueinander als einer schlichten ‚Entweder-oder-Beziehung‘. Wie Myriam-Naomi Walburg im Lexikon der Welt-Komposita ausführt, wollen Weltsprachenentwürfe zum einen einen Beitrag zur Aufhebung „der ,babylonischen Sprachverwirrung‘ leisten“, „woraufhin sich alle Probleme der Übersetzung ein für alle mal erledigen ließen“ (207). Zum anderen sei damit, wie es der Weltsprachentheoretiker Hans Ostwald formuliert hat, gerade „nicht gemeint, dass hinfort jedermann auf der Erde nur eine einzige Sprache sprechen soll. Es soll vielmehr künftig jeder zwei Sprachen zu lernen haben, nämlich seine Muttersprache wie bisher, und außerdem die allgemeine Sprache“ (zit. n. Walburg 210–211). Als Zusatz, nicht als Ersatz, tritt die Weltsprache – in der Moderne auch unter dem Namen ‚Welthilfssprache‘ – zur Pluralität nationaler Einzelsprachen hinzu.[2] Sprachenvielfalt wird durch sie somit keinesfalls abgeschafft, wohl aber „die Notwendigkeit, andere Fremdsprachen zu erlernen“ (Walburg 211) – das heißt: immer weiter zu übersetzen. Neben dem übersetzungsfrei imaginierten Raum der Nation eröffnet die Weltsprache schließlich einen globalen übersetzungsfreien Kommunikationsraum. Die Kombination ‚Nationalsprache plus Weltsprache‘ wird so als Doppelzugehörigkeit zu zwei einsprachigen Gemeinschaften gedacht: der kleineren nationalen Sprachgemeinschaft, verbunden durch die ‚natürliche‘ Muttersprache und der großen internationalen Sprachgemeinschaft, verbunden durch die ‚künstliche‘ Weltsprache. Der Plansprachentheoretiker Louis Couturat spricht 1904 von der „zweite[n] Sprache für Jedermann“ (zit. n. Krajewski 79). In Anlehnung an Yasemin Yildiz ließe sich sagen: Das „monolingual paradigm“ wird mittels Weltsprache zum bilingual paradigm erweitert (4).
Ob diese Doppelung von Sprachzugehörigkeit als gewinnbringend, unproblematisch oder unmöglich betrachtet wird, verrät viel über die Auffassungen von Gemeinschaft, die in einem bestimmten Kontext und historischen Moment vorherrschen oder konkurrieren. Eine feste ideologische Verortung der Weltsprachenidee erweist sich hingegen als schwierig, wie ein Blick in die Geschichte von Esperanto in Deutschland verdeutlicht: In der NS-Zeit war das Lehren und Lernen von Globalsprachen streng unterbunden. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden unter anderem die Esperanto-Verbände in Deutschland von der politischen Polizei aufgelöst. Dennoch finden sich, wie Malte König gezeigt hat, insbesondere in den 1930er Jahren zahlreiche Versuche, Esperanto und völkische Ideologie zusammenzudenken.[3] Diese ideologische Dehn- und Wandelbarkeit des Konzepts ‚Weltsprache‘ ist auch mit Blick auf seine Verwendung als ästhetische Metapher in der bildenden Kunst und Literatur der Nachkriegszeit zu bedenken. Denn obgleich die Renaissance der Weltsprache hier einhellig im Zeichen einer Distanzierung vom nationalen Gemeinschaftsideal steht, wird die Frage, was für alternative Formen der Verbundenheit sie eröffnen soll, durchaus unterschiedlich beantwortet. Ein Umstand, der weniger medialen Differenzen geschuldet zu sein scheint als ideologischen. An der Weltsprache scheiden sich die Geister und in den Reflexionen über sie treten Konfliktlinien zutage, welche die deutsche Nachkriegsmoderne durchziehen. Der repräsentative Anspruch und die Öffentlichkeitswirksamkeit, die sich mit der Praktik des Ausstellens verbinden, lassen diese Differenzen in den konzeptuellen Debatten um die documenta und das Museum der modernen Poesie besonders anschaulich hervortreten.
1 Unmittelbarkeit. Weltsprache auf der documenta 2 (1959)
Als „wichtigstes Ausstellungsereignis zeitgenössischer Kunst“ generiert die documenta seit ihrer Gründung im Jahr 1955 Öffentlichkeit und öffentliche Kontroversen (Schneckenburger U4). Wie die jüngsten Auseinandersetzungen um die Schau erst wieder verdeutlicht haben, entzünden sich diese Debatten meist weniger an den Kunstwerken selbst, sondern an Fragen ‚rund um‘ die Ausstellung, deren Konzeption und Gestaltung.[4] Auf den zweiten Blick ist das nicht sehr verwunderlich: Als „Versammeln“ von Exponaten ebenso wie von Besucher:innen ist Ausstellen schließlich eine politische Praxis (Chernyshova 23). In Vita Activa oder vom tätigen Leben (1960) erklärt Hannah Arendt das Versammeln zur Grundbedingung politischen Handelns. Versammlungen eröffneten einen Erscheinungsraum, in dem soziale Relationen auf neue Weise sichtbar gemacht und rekonfiguriert werden können (193). Dabei ist wichtig, dass Arendt diesen Raum, wie Judith Butler nachzeichnet, nicht einfach als „architektonische Gegebenheit“ versteht, als feste Bühne, auf der sich politisch agieren lässt (105). Politisches Handeln vollzieht sich vielmehr in der Hervorbringung und Gestaltung des Raumes selbst – kurz: in den Praktiken derer, die ihn erscheinen lassen. Diese Einsicht aus der politischen Theorie ist auch für die Curatorial Studies erhellend. Denn auch für sie liegt das zentrale Moment des Ausstellens in der Hervorbringung von Raum, nicht in seiner bloßen Bestückung.
Auch die documenta etabliert sich als Institution von Beginn an nicht nur darüber, was in Kassel präsentiert werden soll – internationale zeitgenössische Kunst –, sondern ganz wesentlich über die Frage nach dem Wie – begonnen bei der Ausstellungsarchitektur. Die nationenübergreifende Perspektive der Schau wird dabei verschiedentlich räumlich in Szene gesetzt. Mit dem Museum Fridericianum erkürt man einen im Krieg ausgebrannten klassizistischen Bau zum Haupthaus, in dem die Kunstwerke aller beteiligten Länder versammelt werden. Damit grenzen sich die Ausstellungsmacher dezidiert von der Pavillon-Architektur der Venediger Biennale ab, deren „Präsentationsmodi mit Nationenpavillons“ der documenta-Leitung um Arnold Bode „nicht mehr geeignet“ erscheinen, „um moderne Analogien und Kontinuitäten in der Kunst aufzuzeigen“ (Völz 229). Auch innerhalb des Gebäudes bestimmen Analogie und Kontinuität die Raumgestaltung: „Offenes Gebälk“ (Linfert 530), poröse oder gar fehlende Wände vergegenständlichen das Prinzip einer „organische[n] [...] Verbindung“ zwischen den ausgestellten Werken (Curjel 758). Man habe den Eindruck, „sich in fließend ineinander übergehenden, nie endgültig begrenzten Räumen zu befinden“, schreibt ein Kritiker der Gegenwart nach seinem Besuch (Linfert 531). Eben das ermögliche eine Neuperspektivierung der Kunst jenseits nationaler Kategorien: „Wir wollen die Bilder [...] nicht durch vorgefertigte Räume von früher überformen. Eben deshalb ist das Verfahren dieser Ausstellung so eindringlich.“ (531) Auch die Weltkunst diagnostiziert eine „Wendung zum Übernationalen“, die in der Anlage erfahrbar werde: „[M]an merkt plötzlich, wie sehr die nationalen Unterschiede der Kunst dabei sind, sich zu verflüchtigen.“ (Anonym 5) In einem anderen zeitgenössischen Bericht heißt es: „Der Bau selbst scheint zu versinnbildlichen, was die Ausstellung besagen will: Neues Leben im Hause des alten Europas.“ (D. Westecker 17) Zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eröffne die Kasseler Ausstellung so einen Imaginationsraum für ein ‚wir‘ jenseits der Nation: „Maler aus beinahe allen Völkern sind in diesem großen Saal vereinigt. Man spürt deutlich, wie sehr diese Triumphstraße alle Beteiligten befriedigt: der Sieg ist unser!“ (W. Westecker, zit. n. Kimpel und Stengel 108)
Wenn Westdeutschland hier scheinbar selbstverständlich im ‚wir‘ der Siegermächte mitspricht, erweist sich diese Perspektivierung jedoch durchaus als problematisch: Wie in den letzten Jahren aufgearbeitet worden ist, wird die Hinwendung zum Übernationalen in den Anfängen der documenta gezielt zur Abkehr von deutscher Schuld und Verantwortung genutzt. Shoah, Nationalsozialismus und deutsche Kriegsverbrechen werden unter dem Banner des Universalismus ausgeklammert; Kuratoren verschleiern ihre NS-Vergangenheit (Friedrich; Voss). Als einer der Hauptakteure gilt dabei der Kunsthistoriker Werner Haftmann – ehemaliger SA-Mann und „Spiritus rector“ der ersten documenta-Jahre (Schneckenburger 30). Wo die Ausstellungsarchitektur einen räumlich erfahrbaren Rahmen schafft, spannen Haftmanns Texte einen Diskursrahmen für die Ausstellung auf. In seinen Eröffnungsreden, Katalogtexten und begleitenden Schriften präsentiert er die documenta als einen Raum, aus dem heraus sich Deutschland als global anerkannte Kulturnation reetablieren könne. Die Schau sei ein „erster Versuch, wieder den internationalen Kontakt in breiter Form aufzunehmen und in ein lange unterbrochenes Gespräch sozusagen im eigenen Hause wieder einzutreten“ (Haftmann, „Einleitung“ 23–24). Die Formulierungen von der „Unterbrechung“ und von der Rückkehr ins „eigene[] Haus[]“ deuten dabei auf die Wiederherstellung eines regulären, eigentlichen Zustands hin. Die „Kunst der neuen Generationen“, so Haftmann an anderer Stelle, führe das in der Moderne „Begonnene bruchlos weiter“ (Malerei im 20. Jahrhundert 425). Entsprechend vereinheitlichen die Nachkriegsschauen in Kassel Werke der klassischen Moderne und der Gegenwart nach 1945 unter dem Schlagwort der modernen Kunst (Fitzke 156). Den Zweiten Weltkrieg betrachtet Haftmann in seinen Texten als einen schicksalhaft-gewaltsamen Einschnitt, der die von ihm postulierte kontinuierliche, natürliche Entfaltung der internationalen Moderne nur oberflächlich hemmen, letztlich aber nicht aufhalten konnte: „Der Künstler ging in den Untergrund [...] und nährte sich wie die Lilien auf dem Felde.“ („Einleitung“ 16) Mittels organischer Metaphern und dichotomer Gegenüberstellungen von Oberfläche und Tiefe, Künstlichkeit und Natürlichkeit entwirft Haftmann das Bild eines nationenübergreifenden Stils, dessen „unterirdisch wirkende[] Gemeinsamkeiten“ es nach dem Krieg schlicht wieder sichtbar zu machen – sprich: auszustellen – gilt („Einführung“ 14).
Während die Ausstellungsarchitektur der documenta von Beginn an mit dem ‚Pavillon-Prinzip‘ der Ländergruppierung bricht, wird die Abkehr von der Nation in diesen paratextuellen Rahmungen allerdings erst stückweise vollzogen. Im Ausstellungskatalog der d1 sind die Künstler:innen unter der Überschrift „Beteiligte Länder“ noch nach Nationen angeordnet. Und auch Haftmanns Katalogvorwort hält noch an Landeszugehörigkeiten fest:
Wir können nun zum ersten Mal vergleichen, wie sich die europäischen Länder in ihren heutigen Kunstäußerungen zueinander verhalten. Dabei werden wir sehen, wie auch die ganze junge europäische Kunst aus gleichen Antrieben lebt und doch den Charakter ihrer Länder und ihrer Völker bewahrt, wie also der Traum von Jean Jaurès in der Kunst schon Wirklichkeit geworden ist, daß die europäischen Völker sein möchten wie ein Strauß von Blumen, in dem jede Blume eigenen Duft und Farbe bewahrt und doch in einem größeren Ganzen zusammenklingt. (25)
Zwar soll die vergleichende Perspektive Gemeinsamkeiten sichtbar machen. Der bunte Blumenstrauß setzt sich aber eben im Sinne eines Ethnopluralismus aus verschiedenen „Völker[n]“ zusammen, die in ihrer Differenz als harmonische Komposition „zusammenkling[en]“. In einem Pressebericht heißt es analog dazu, im Fridericianum „werde anschaulich, wie sich die deutsche Stimme im europäischen Konzert verhält: vollgültig mittönend, ungeschwächt durch alle Behinderung der Schreckenszeit. [...] Alle wesentlichen Künstler aller europäischen Länder sind vertreten, und siehe: sie haben sich versammelt zu einem gleichgestimmten Chor.“ (Heise 16)
Mit der d2 weicht dieses Leitbild internationaler Vielstimmigkeit der Idee von der Weltsprache moderner Kunst. Am Prinzip einer Vielheit in der Einheit hält Haftmann dabei fest. Die Ebene, auf der das Partikulare angesiedelt wird, hat sich jedoch verschoben: „Nicht darum jedoch handelt es sich, die Besonderheiten im menschlichen Geschlecht in einem einheitlichen Stilausdruck zu ertränken, sondern eine Gemeinsamkeit zu finden, in der jeder an jedes anderen Besonderheit Anteil nehmen und Erhellung finden kann.“ („Einführung“ 14) Statt von den Besonderheiten der „Länder und ihre[n] Völker[n]“ ist hier nun von den „Besonderheiten im menschlichen Geschlecht“, der Besonderheit „jedes anderen“ die Rede. Nicht Differenzen zwischen Nationen gilt es in diesem Ganzen also zu wahren, sondern zwischen individuellen Subjekten. Den partikularen „Charakter“ verschiedener „Völker“, den Haftmann 1955 als „eigenen Duft und Farbe“ der verschiedenen Blumen im Strauß ästhetisiert, wertet er vier Jahre später als „hemmende Besonderheit[]“ ab:
Im letzten Jahrzehnt ist gerade sie [die moderne Kunst, J.M.W.] es gewesen, die über all die hemmenden Besonderheiten von Sprache, Sitte, Geschichte, Rassegefühl und Folklore hinweg ein menschliches Bewußtsein hat herstellen können. Ihre Ausdrucksformen und Erlebnisweisen haben zum erstenmal der seit der Romantik aufleuchtenden Idee einer Weltkultur eine gewisse Wirklichkeit gegeben. Von Europa über die beiden Amerika, über Afrika und Asien bis hin zum Fernen Osten hat sie innere Übereinstimmungen wachrufen und diese Übereinstimmungen in eine Sprachform einbetten können, die eine unmittelbare Kommunikation möglich macht. (14)
Damit ist die Vorstellung einer Weltsprache zum ästhetischen Kernkonzept erhoben. René Hirner zufolge schwirrt die Idee globaler Verständlichkeit abstrakter moderner Kunst schon seit Ende der 1940er Jahre durch die Ausstellungslandschaft (Hirner 31). Die „Inthronisierung der Abstraktion als Weltsprache“, so der Kurator Daniel Zamani, erfolgt jedoch auf der d2 in Kassel.[5] Inzwischen ist diese Vorstellung freilich als eurozentrische Vision entlarvt worden, in der Weltsprache von vornherein als „Weltsprache der freien westlichen Welt“ konzipiert ist (Hirner 31). Dass Haftmann eine westeuropäische Perspektive global setzt, ist in den Ausführungen nicht zu überlesen; empirisch belegbar ist eine universelle Zugänglichkeit abstrakter Darstellungsformen kaum (Brinkmann). Im zeitgenössischen Diskurs wird die These, Abstraktion stifte eine „Gemeinschaft von wahrhaft globalem Ausmaß“ jedoch emphatisch aufgegriffen und zirkuliert (Sello 15). Rasch wird die Schau von der Presse dabei mit dem Schlagwort der ‚Weltsprache‘ verknüpft.
Blickt man in Haftmanns Eröffnungsrede und das Katalogvorwort, taucht der Begriff dort allerdings nirgendwo auf. Ein Jahr zuvor hatte Haftmann an der Publikation eines Kunstbuchs mit dem Titel Abstrakte Kunst, eine Weltsprache (1958) mitgewirkt, deren Gedanken er in den Texten zur d2 aufgreift. Dass der Kunsthistoriker den Begriff in seinen documenta-Texten selbst nicht verwendet, ist vielleicht auch durch die zeitliche Nähe der Ausstellung zu dieser Buchpublikation übersehen worden. Für die Gemeinschaftsvorstellungen, die Haftmann im documenta-Kontext artikuliert, ist die Umschiffung des Wortes jedoch nicht unerheblich. Wenn er mit dem Begriff der ‚Weltkultur‘ die Brücke zur Romantik schlägt, distanziert Haftmann die von ihm imaginierte ‚Sprachform‘ schließlich von dem, was man mit dem Begriff der Weltsprache im zeitgenössischen Diskurs vielleicht eher verknüpfen würde: moderne Plansprachen wie das in den 1950er Jahren erneut populäre Esperanto. Als solch ein künstliches Vehikel zur globalen Verständigung will Haftmann die abstrakte moderne Kunst gerade nicht verstanden wissen. In Naturmetaphern fasst er sie als organisch gewachsene Sprachform. Im Vergleich zu den modernen Esperanto-Diskursen sind die Attribute von ‚künstlich‘ und ‚natürlich‘ hier also genau umgekehrt zugeordnet: ‚Künstlich‘ erscheinen Nation und Nationalsprache, ‚natürlich‘ die Weltsprache der Kunst. Das heißt für Haftmann auch, dass man sie – anders als die Welthilfssprachen – nicht erst erlernen muss. Statt als ‚Zweitsprache für Jedermann‘ inszeniert er die abstrakte Moderne als Muttersprache der Menschheit, deren Verständlichkeit durch äußere Umstände zeitweise verstellt sein mag, eigentlich aber eine natürliche Gegebenheit darstellt.
Diese Naturalisierung des Konzepts führt so weit, dass Haftmann selbst der Begriff der Sprache noch zu artifiziell und vermittelnd erscheint: Was er zurückhaltender als ‚Sprachform‘ beschreibt, ist derart selbstverständlich, dass sich hier letztlich gar das Sprechen selbst erübrigt. Das zeigt sich eindringlich in seiner Eröffnungsrede zur d2 mit dem Titel „Die lautlose Phalanx der Künstler“. Standen im Vortrag zur ersten Ausstellung noch „Ruf und Gegenruf“ zwischen verschiedenen Ländern im Mittelpunkt (Haftmann, „Über das moderne Bild“ BuZ4), liegt der Fokus nun auf stummen, atmosphärischen Formen der Verbundenheit: „einem gemeinsame[n] Schaffensklima“ (Haftmann, „Die lautlose Phalanx der Künstler“ 9). Vor diesem Hintergrund beschreibt er eine „lautlose“ transnationale Künstlergemeinschaft, deren „brüderliche[] Übereinstimmungen“ aus einem „einheitlichen Erlebnisgrund[]“ erwachsen (9): Verständnis stellt sich hier scheinbar ganz ohne Verständigung ein – sowohl zwischen den Künstler:innen als auch im Akt der Rezeption.
Im Kontext der zeitgenössischen Debatten um Kunst und Gesellschaft ist dieses Modell der Unmittelbarkeit als Gegenentwurf zu Hans Sedlmayrs kulturkritischer These vom „Verlust der Mitte“ zu lesen. In seiner gleichnamigen Verfallserzählung von 1948 stellt der Kunsthistoriker Sedlmayr die moderne Kunst als Erkrankung dar, welche die traditionelle Ordnung befällt und zersetzt. Durch die Abstraktion habe die Kunst den ihr zugewiesenen gesellschaftlichen Platz verlassen und trage nicht länger zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts bei – für Sedlmayr eine Abkehr von verbindlichen Werten und vom Humanismus, wie er mit einem Zitat Blaise Pascals unterstreicht, das er der Abhandlung voranstellt: „Die Mitte verlassen, heißt die Menschlichkeit verlassen.“ (6) In der Kritik, die Sedlmayrs konservativer Abhandlung nach ihrer Publikation entgegenschlägt, zählt Haftmann zu den zentralen Wortführern. 1949 erklärt er auf dem Kunsthistoriker Kongress in München: „Der Strukturbegriff unserer Epoche ist jedoch nicht die ‚Bindungslosigkeit‘ oder der ‚Verlust der Mitte‘; es ist vielmehr der positive Lebenstrieb, zu dem diese beiden Begriffe nur negative Spiegelungen sind, es ist die Freiheit.“[6] Sedlmayrs Klage über den „Verlust der Mitte“ als Verlust der Menschlichkeit wird von Haftmann so in ihr Gegenteil verkehrt. Erst die Befreiung von strukturierenden Mittelpunkten schafft für ihn den „tragfähigen Grund weltweiter menschlicher Beziehungen“ („Einführung“ 14) und wird so zur Voraussetzung für eine „menschliche Gemeinschaft“ („Die lautlose Phalanx der Künstler“ 9). Eine Prämisse jedoch teilen die beiden: Soziale Verbundenheit entsteht, wo man nicht übersetzen muss. Während Sedlmayr diese Form der Gemeinschaft durch Einsprachigkeit gewährleistet sieht – ein in der Mitte festgelegtes verbindliches Bezugssystem –, sucht Haftmann sie jenseits des Sprachlichen – in stummen „brüderlichen Übereinstimmungen“ (9), die an archaische Gemeinschaftskonzepte erinnern. Seine vermeintlich progressive Abkehr von nationalen Ordnungsprinzipien kippt so selbst ins Reaktionäre.
2 Vermitteln. Weltsprache in Enzensbergers Museum für moderne Poesie (1960)
„Was die ‚documenta‘ für die bildende Kunst, ist das Suhrkamp-Programm für das literarische Leben.“ (Lau 108) Diese Zuspitzung Jörg Laus erscheint mit Blick auf die Weltsprachen-Begeisterung Ende der 1950er Jahre durchaus treffend. Denn auch im Hause Suhrkamp erarbeitet man im Jahr 1959 eine Moderne-Ausstellung unter einer ähnlichen Leitidee: Enzensbergers Anthologie-Projekt Museum der modernen Poesie, für das ursprünglich der Titel Weltsprache der modernen Poesie angedacht war. Obwohl Enzensbergers Museum schon bald als literarische documenta bezeichnet wurde, sind die kuratorischen Praktiken der Kasseler Kunstausstellung und der Anthologie bislang noch nicht in einen gemeinsamen Zusammenhang gestellt worden. Dabei zeigt sich die Verwobenheit von Enzensbergers Projekt mit der documenta nicht erst durch eine direkte Bezugnahme von Alfred Bode, der für die d3 1964 das Motto „Das reale Museum“ aus Enzensbergers Vorwort entlehnt (Floyd 81). Konzeptuell ist die Anthologie schon mit der d2 eng verbunden: Wie Haftmann möchte Enzensberger „eine Sprache ausstellen“ – die Weltsprache der modernen Poesie – und trifft dabei, zumindest auf den ersten Blick, sehr ähnliche kuratorische Entscheidungen (Enzensberger, „Vorwort“ 18).
Immerhin haben beide denselben Gegner im Blick: In einer unverschleierten Bezugnahme auf Sedlmayr schreibt Enzensberger über die „alten Widersacher“ der „modernen Poesie“: „Sie fabeln vom Ende der Neuzeit, vom Verlust der Mitte.“ (8) Und auch er kontert die Klage von der Bindungslosigkeit durch eine positive Umdeutung als Freiheit: „Die lingua franca, die durch dieses Buch belegt werden soll hat ihre Größe gerade darin, daß sie sich dem Ausdruck des Besonderen nicht verschließt; daß sie vielmehr das Besondere aus der Bindung an die nationalen Literaturen befreit.“ (13) Die architektonischen Konsequenzen, die Enzensberger daraus zieht, könnten glatt aus dem documenta-Katalog stammen: „Für ein Museum der modernen Poesie folgt daraus: Es ist nicht einzurichten nach der Art einer Weltausstellung, auf der ein jedes Land sich einen Pavillon vorbehält. Das Gedicht trägt nicht wie ein Olympia-Sieger die Landesfarben auf der Brust.“ (13) Analog zu Haftmann und Bode verwirft Enzensberger hier die Ländergruppierung. Unter dem Schlagwort ‚Pavillon‘ wird dabei ebenfalls die Biennale als negative Kontrastfolie aufgerufen. Zudem grenzt der Herausgeber das Museum so von anderen Anthologien auf dem zeitgenössischen Lyrikmarkt ab: Am deutlichsten wohl von Günther Steinbrinkers Konkurrenzprojekt Panorama moderner Lyrik (1960), das die Namen von 24 Ländern „auf der Brust“ – seinem Buchcover – trägt und seine Lesenden dazu auffordert, „die in verschiedenen Autoren einer Sprache sich bekundende nationale Besonderheit aufzuspüren und gegen die Lyrik eines anderen Sprachraumes abzugrenzen“ (Steinbrinker 8).[7] Ein Unternehmen, von dem Enzensberger abrät:
Wer Lust am Rubrizieren hat, mag immerhin versuchen, die Dichter seiner Nation zusammenzuklauben. Ohne Schwierigkeiten wird das nicht abgehen. Das lehrt ein Blick auf ihre Lebensläufe. Am 26. August 1880 wurde in Rom ein gewisser Guillaume-Albert-WladimirApollinaire Kostrowitzky geboren; im Geburtenregister findet sich ein Eintrag unter dem Namen Guillaume-Albert Dulcigni. Die Mutter des Kindes ist in Helsinki geboren und entstammt einer polnisch-russischen Familie; der Vater ist ein Sizilianer namens Francesco Costantino Camillo Flugi d’Aspermont. Guillaume Apollinaire, wie er sich später nannte, hat Zeit seines Lebens französisch geschrieben, wie der Litauer Oscar Wenceslas de Lubicz Milosz, wie der Chilene Vicente Huidobro (von dem auch spanische Werke existieren). (13–14)
Über einen kompletten Absatz hinweg setzt der Herausgeber die Liste kosmopolitischer Dichterleben fort und betont: „[D]iese biographischen Einzelheiten verdienen es, erwähnt zu werden, weil sie als Beleg dafür dienen können, wie wenig mit der Vorstellung für sich stehender Nationalliteraturen auszurichten ist im Angesicht der modernen Poesie.“ (14) Die Gegenüberstellung artifiziell errichteter Architektur auf der einen und dem Leben der Schreibenden auf der anderen Seite markiert die Kategorie der Nation als eine künstliche Überformung gelebter Realität. Anders als etwa Vertreter der konkreten poesie, die sich einige Jahre später auf ihrer Suche nach einer „übernationale[n] sprache“ emphatisch zum Künstlichen bekennen werden, sucht Enzensberger seine Weltsprache gegen den Vorwurf zu immunisieren, ein künstliches Konstrukt zu sein.[8] Wie Haftmann schiebt er daher Assoziationen zu Plansprachen den Riegel vor: „[D]ie lingua franca der modernen Poesie ist nicht als leeres Einerlei, als ein lyrisches Esperanto zu denken. Sie redet in vielen Zungen. Sie bedient sich der Nationalsprachen als ihrer Dialekte.“ (18) Mit Vielzüngigkeit (statt Vielsprachigkeit) wählt der Herausgeber ein körperbezogenes Bild, das den Fokus auf verkörperte Sprechweisen legt. Wo Nationalsprachen als Dialekte gebraucht werden, erfolgt zudem eine Vermündlichung fixierter Sprachsysteme im gelebten Sprechakt. Wie Haftmann nimmt Enzensberger damit erstens eine Aufwertung des Organischen gegenüber dem Künstlichen vor und entwirft zweitens ein Modell der Vielheit in der Einheit jenseits nationaler Kategorien.
Eben an dieser Stelle tritt jedoch auch ein großer Unterschied zwischen den beiden Weltsprachen-Entwürfen hervor. Die Zungen zeigen: Wo Haftmanns universelle Sprachform verstummt, wird im Museum weiterhin gesprochen. Und auch die Nationalsprachen werden nicht vollständig getilgt, sondern nur mündlich anverwandelt, als „Dialekte“ (Enzensberger, „Vorwort“ 18) gebraucht. Mediale Unterschiede zwischen bildender Kunst und Lyrik liefern für diese konzeptuellen Differenzen keine hinreichende Erklärung. Schließlich wird ‚stumme‘ visuelle Kunst auf der d1 durchaus noch laut und vielstimmig gedacht.[9] Umgekehrt finden sich im literarischen Feld Versuche, wortlose Strukturen jenseits des Gesprochenen freizulegen: Im zeitlichen Kontext von Enzensbergers Projekt wohl am prominentesten durch Hugo Friedrichs „stumme[s] Modell“ einer Struktur moderner Lyrik (1956) (Schultz 435). Dass Enzensberger das Sprechen betont, Haftmann das Schweigen, zeugt vielmehr davon, dass beide in der Weltsprache grundlegend andere Formen sozialer Verbundenheit verwirklicht sehen wollen. Das beginnt schon bei der Verbindung zwischen den Werken. Zeichnet Haftmann das Bild eines stummen „Schaffensklimas“ („Die lautlose Phalanx der Künstler“ 9), in dem „brüderliche Übereinstimmungen“ (9) erwachsen, bilden sich „Übereinstimmungen und Parallelen“ (Enzensberger, „Vorwort“ 19), aber auch „Echos, Gegensätze, Widersprüche“ (19) bei Enzensberger im zweifelnden Gespräch heraus: „Die Gedichte fingen an, miteinander zu reden, zu hadern, zu argumentieren.“ (19) Und auch die Verbindung zwischen den Werken und ihrem Publikum entsteht für den Herausgeber des Museums gerade nicht durch unmittelbares Verstehen. Die von ihm ausgestellte Weltsprache muss erst gelernt werden. Im Vorwort inszeniert er seine Sammlung daher als ein didaktisches Projekt: Um „zur Kenntnis dieser Weltsprache [zu] verhelfen“, müsse „das Museum den Gesetzen einer Chrestomathie folgen“ (18). Vermittlung statt Unmittelbarkeit.
Anders als auf der documenta führt die Auflösung der nationalen Mittelpunkte des Pavillon-Modells im Museum entsprechend auch nicht zu einem vollen Verzicht auf Gruppierungen. Enzensberger ordnet „weder nach Ländern, noch nach Autoren“ noch „chronologisch“ (19), versammelt die Texte aber um neue Mittelpunkte: Universelle Motiv- und Themenkreise wie ‚Augenblicke‘, ‚Ortschaften‘, ‚Klagen‘ oder ‚Zeitläufte‘ strukturieren die Auswahl. Zugleich betont er, diese Anordnung habe „kein System, sie ist das Resultat eines freien Spieles mit den Texten“ (19). Es ist, als würde „die Statik seiner Konstruktion“ dem „Anthologisten“ selbst „Unbehagen“ bereiten, wie Monika Schmitz-Emans treffend festgestellt hat (Schmitz-Emans 378). Entgegen der These von der Referenzlosigkeit moderner Lyrik, betont Enzensberger am Ende des Vorworts, dass Freiheit nicht Freiheit von Inhalten bedeutet. Die moderne Poesie spreche nicht nur, sie „spricht von etwas“ (20). Doch sind diese Bezugspunkte, anders als Sedlmayrs Mitte, gezielt wacklig gestaltet. Enzensberger schafft Mittelpunkte nur, um sie zu destabilisieren. Als Sprachlehrbuch, mit dem man sich ein festgelegtes einsprachiges Referenzsystem erschließen kann, ist die Chrestomathie folglich nicht gedacht. Im Gegenteil: der Anspruch, sich die poetische Weltsprache der Moderne als lingua franca für die Gegenwart anzueignen, wäre für Enzensberger schlichtweg geschichtsvergessen:
Die großen historischen Brüche erreichen [...] auch den Vers. Faschismus und Krieg, der Zerfall der Welt in feindselige Blöcke, die Rüstung zum Untergang: dies alles hat auch das Einverständnis der modernen Poesie tief erschüttert. Ihre Weltsprache zeigt nach 1945 Spuren der Erschöpfung des Alterns. Ihre großen Meister sind fast alle tot. Nur als konventionelles Spiel kann sie fortgesetzt werden, als gäbe es zu ihr keine historische Differenz. Die bedeutenden Geister haben längst begonnen, auf sie zu reflektieren. Poesie heute setzt nicht nur Kenntnis, sondern auch Kritik der modernen Poesie voraus. (14)
Nirgendwo wird die Diskrepanz zu Haftmann deutlicher: Wo der Kunsthistoriker von Bruchlosigkeit redet, erkennt und benennt der Anthologist die unüberwindbaren „historischen Brüche“. Die Weltsprache der Moderne, die sich in Haftmanns Ausführungen über die „hemmenden Besonderheiten von [...] Geschichte“ (14) hinwegsetzt, ist für Enzensberger selbst nur ein Stück Geschichte. Die ‚Zäsur 1945‘ bestimmt auch seine Textauswahl, die keine späteren Gedichte umfasst. Was aber bleibt zu lernen von einer Weltsprache, zu der man in unauflösbarer historischer Differenz steht? Letztlich wohl weniger die Sprache selbst als der Umgang mit ihr: Kritik statt Kenntnis. Dass Enzensberger das Museum zu einem Ort kritischer Auseinandersetzung machen möchte, wird an verschiedenen Stellen deutlich:
Richtiger wäre es, das Museum als Annex zum Atelier zu denken; denn es soll Vergangenes nicht mumifizieren, sondern verwendbar machen, dem Zugriff der Kritik nicht entziehen, sondern aussetzen. So verhält sich das literarische Museum zum Schreibtisch der gegenwärtigen produktiven Arbeit wie das Mittel zum Zweck. (9)
Konsequenterweise fordert er die Lesenden dann auch zur Fortsetzung seiner kombinatorischen Praktiken auf:
Wie die Stücke eines Puzzles wurden die einzelnen Gedichte immer wieder versuchsweise aneinandergelegt, und zwar so lange, bis sich aus ihnen ein Kontext ergab. [...] [D]ie ideale Form dieses Museums [wäre] die eines Kartenspieles. Sie würde es dem Leser gestatten, auf eigene Faust die Anordnung zu treffen, die ihm gefiele; ja, das Puzzlespiel mit den Texten beliebig auszudehnen und zu variieren. (19)
Die Anregung, immer wieder neue Mittelpunkte zu suchen und zu verwerfen, statt feste Referenzen zu etablieren, macht deutlich: Was hier gelernt werden soll ist keine Zweitsprache, kein weiteres einsprachiges System, sondern das Übersetzen selbst.
Das zeigt sich nicht zuletzt auch an der sprachlichen Verfasstheit der Textsammlung. Der nationalsprachlichen Vielfalt, die Haftmann als Metapher von den bildenden Kunstwerken schlicht wieder ablösen kann, muss Enzensberger sich im Umgang mit lyrischen Texten zweifellos auf konkrete Weise stellen. Die Entscheidung, Mehrsprachigkeit gezielt in Szene zu setzen, wie das Museum der modernen Poesie es tut, erweist sich aber auch hier als eine, die mit medialen Unterschieden allein nicht zu begründen ist. Im Vergleich zum Panorama moderner Lyrik wird erkennbar, wie unterschiedlich Ausstellungen sprachlich verfasster Texte mit der im Medium Sprache gegebenen Polyglossie umgehen können: Während Enzensberger den größtenteils von ihm angefertigten Übersetzungen stets auch das Original zur Seite stellt, präsentiert Steinbrinker die Gedichte durchgängig einsprachig in deutscher Übersetzung. Die zeitgenössische Presse ist ob der Ansätze geteilter Meinung: Wird von den einen bemängelt, dass das Panorama „keinen Originaltext“ enthält – „fünfhundert Seiten übersetzte Lyrik, das ist ein deprimierendes Erlebnis“ –, erscheint anderen die Mehrsprachigkeit des Museums nur als neumodische „Marotte“ (Zimmer; Günther).
Ähnliche Positionen diskutiert man bei der Vorbereitung der Textsammlung bereits verlagsintern. Wie aus Dokumenten im Suhrkamp-Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach hervorgeht, ist die mehrsprachige Gestaltung des Buches keineswegs von Beginn an geplant.[10] Sie entwickelt sich vielmehr aus einem intensiven Austausch zwischen Enzensberger und seinen Verlegern, bei dem vor allem eines hitzig diskutiert wird: das Konzept ‚Weltsprache‘. Briefe zwischen Hans Magnus Enzensberger, Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld sowie ein von Walter Höllerer verfasstes Protokoll zu einer Anthologie-Krisensitzung am 26. Februar 1959 zeugen von großen Vorbehalten gegenüber der Idee – nicht nur wegen ihrer Beschränkung auf die „westliche[] Welt“ (Höllerer, o. S.). Genau einen Monat nach der Zusammenkunft, am 26. März 1959, schreibt Unseld an Enzensberger:
Zur „Weltsprache“: wir wollen Dir nicht Deine Grundkonzeption torpedieren, obschon wir hier alle gelinde Zweifel daran haben. Selbstverständlich ergeben sich gemeinsame Züge. Aber wie dem auch sei, das ist in erster Linie Dein Problem. Worauf wir jedoch dringen möchten, wäre Deine Einsicht, den Begriff „Weltsprache“ doch nicht im Titel zu bringen, allenfalls im Untertitel. Sicherlich wird Dir hierzu ein Titel einfallen, der paßt und doch nicht zu ambitiös ist. Versuche den Schein zu meiden, daß die in Deinen Übersetzungen zutage tretende Weltsprache der Dichtung in Wirklichkeit Deine eigene sei.[11]
Die Frage nach Objektivität spielt bei der Zusammenstellung von Anthologien mit repräsentativem Anspruch immer eine zentrale Rolle. Im Streit um die Weltsprache gewinnt sie als Sprachenfrage neue konkrete Dringlichkeit. Der Gefahr, dass das Buch „einen durchgehenden Akzent [bekomme], der dann als allgemein modern hingestellt werde, in Wirklichkeit aber der Ton Enzensbergers sei“, wie Höllerer es im Protokoll formuliert, versucht man so schließlich durch Mehrsprachigkeit vorzubeugen. Nachdem er 1958 noch vehement dafür plädiert hatte, „auf den abdruck der originale zu verzichten“, freundet sich auch Enzensberger mit der Idee einer vielsprachigen Gestaltung an (E/U, 15. Dez. 1958). Diese Hinwendung zur Mehrsprachigkeit ist maßgeblich auf die verlagsinterne Diskussion der Weltsprachen-These zurückzuführen: „nachdem die grundthese gefallen ist, könnte man, nach dem vorgang der garzanti-anthologie, den gedanken eines zweisprachigen abdrucks von neuem erwägen“, schreibt Enzensberger im September 1959 an Siegfried Unseld (E/U, 6. Sept. 1959). Darauf antwortet dieser:
Ich selbst habe mir hierzu noch keine entschiedene Meinung gebildet. Irgendwie hat es für mich etwas Snobistisches, neben dem deutschen Text kyrillische Buchstaben oder Ungarisch, Rumänisch oder Finnisch gesetzt zu sehen, Sprachen also, die der normale deutsch Sterbliche nicht lesen kann. Höllerer hat aber einen gewichtigen Gesichtspunkt hier in die Debatte geworfen. Er meint, daß wir durch das Zweisprachige eine Nachweisbarkeit schaffen, und wäre sie auch nur dem Kenner und Experten möglich. (U/E 15. Sept. 1959)
Dass man schließlich für die mehrsprachige Gestaltung optiert, scheint jedoch weniger dem Bedürfnis geschuldet, die Übersetzungen abzusichern, wie der Begriff der „Nachweisbarkeit“ vielleicht zunächst suggerieren könnte. Vielmehr geht es darum, Zweifel zu säen. Dieses Verfahren leuchtet nicht unmittelbar ein. In einer Rezension heißt es dazu: „Niemals haben Übersetzungen ihre Wirkungen durch kontrollierte Vergleiche mit den Originalen getan – dadurch sind sie umgekehrt immer nur problematisiert worden, was ja nun wiederum nicht die selbstmörderische Absicht einer fremdsprachigen, in diesem Falle sogar vielsprachigen Anthologie sein kann.“ (Günther 18) Doch eben das, was diesem Kritiker „selbstmörderisch“ erscheint, wird im Museum zur Methode. Die Aufforderung an die Lesenden, selbst zu übersetzen, eröffnet Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit den einzelnen deutschsprachigen Übersetzungen – aber eben auch mit der Weltsprache, die sie erkennbar machen sollen. In der mehrsprachigen Gestaltung wird ihre Problematisierung zum Programm.
Sowohl durch das Anordnungsprinzip als auch durch die sprachliche Verfasstheit des Museums entsteht ein textuelles Gefüge, in dem Einsprachigkeit postuliert und unterlaufen wird. Setzungen laden hier stets zur Übersetzung ein. Diese Spannung zwischen Statik und Dynamik – die Gleichzeitigkeit von „Destruktion und Rückgriff“ (Enzensberger, „Vorwort“ 10), die Telge als „Dialektik der Übersetzung“ (385) beschrieben hat – zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit dem Begriff ‚Weltsprache‘ selbst. Mit der Einsicht, dass „die tragende these (‚weltsprache‘) des buchs eingestürzt“ sei, streicht Enzensberger das Wort schließlich auch aus dem Titel (E/U, 6. Sept. 1959). Darin scheint eine weitere Parallele zu Haftmann auf, die bei genauerem Hinsehen doch wieder nur die Differenz bestätigt. Beide gehen, wie hier ersichtlich wurde, letztlich auf Distanz zum Begriff – doch offenbar aus gegensätzlichen Gründen. Während für Haftmanns Gemeinschaftsvision selbst die Einsprachigkeit einer Weltsprache noch zu viel Übersetzungsrisiken birgt, geht es dem „an der Kritischen Theorie geschulten“ Enzensberger gerade um mehr Raum für Übersetzung, Zweifel und Kritik (Pinke 79). Die Art und Weise, wie sich die beiden vom Begriff lösen, könnte diese gegenläufigen Zugänge wohl kaum anschaulicher machen: Während Haftmann das Wort unausgesprochen lässt, stellt Enzensberger den Begriff im Vorwort zur Disposition. Angestoßen durch einen eigenen Prozess des Haderns und Argumentierens mit seinen Verlegern macht er die Weltsprache von der „tragende[n] these“ zum ungesicherten, „spekulativen Fundament“ (Schmitz-Emans 378) seiner Sammlung – und setzt sie so der Übersetzung aus.
3 Ausblick: Von Séancen und wackligen Tischen
Abschließend auf den Punkt bringen lassen sich die hier angestellten Beobachtungen am besten wohl an einem Tisch: Nicht an dem aus Montevideo, an dem man 1954 Pläne zum Ausbau von Esperanto beschließt, sondern an einem, an dem die Weltsprachenidee fast zeitgleich als „Unsinn“ verworfen wird. Die Rede ist von jenem Tisch, den Hannah Arendt in den 1950er und 1960er Jahren in ihre Texte stellt. In Vita Activa schreibt sie:
Was die Verhältnisse in einer Massengesellschaft für alle so schwer erträglich macht, liegt nicht eigentlich, jedenfalls nicht primär, in der Massenhaftigkeit selbst, es handelt sich vielmehr darum, dass in ihr die Welt die Kraft verloren hat zu versammeln, d. h. zu trennen und zu verbinden. Diese Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer spiritistischen Séance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus ihr Mitte verschwinden sieht, sodass nun zwei sich gegenüber sitzende Personen durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden sind. (78)
Der Tisch konstituiert für Arendt hier eine Mitte, die zugleich verbindet und trennt. In ihrer Kritik der Massengesellschaft macht sie deutlich, dass solch ein Mittelpunkt weder eine Gegebenheit noch notwendige Voraussetzung für Sozialität ist: Gemeinschaft gibt es auch, wo man sich ohne Tisch stumm gegenübersitzt. Doch fehlt dort eben, was für Arendt das Politische ausmacht: das Austragen von „Konfrontationen“, „das Aushandeln der unterschiedlichen Positionen“ (Goebbels 32). Eine in diesem Sinne unpolitische Form unmittelbarer Verbundenheit evoziert Haftmann mit seiner Idee einer stummen, universellen „Sprachform“ („Einführung“ 14). Die moderne abstrakte Kunst eröffnet für ihn einen außerdiskursiven Raum jenseits von Vermittlung, wo man sich durch „Gespürtes, aber nicht Gewusstes“ weltweit sogleich als Brüder fühlt („Die lautlose Phalanx der Künstler“ 9). Die deliberativen Praktiken, die Arendt mit dem Tisch verknüpft, stellen für solche Gemeinschaftsmodelle bloße Hindernisse dar, die soziale Verbundenheit verkomplizieren, wenn nicht gar verunmöglichen. Wird der Tisch weggezaubert, um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, rückt man aus Arendts Sicht hingegen von der Realität ab: Versammlung wird zur „spiritistischen Séance“. Am Tisch ist ihrnach festzuhalten, allerdings ohne sich je ganz sicher auf ihm abzustützen. Das zeigt sich in Arendts Denktagebuch, in dem die Theoretikerin 1950 schon einmal einen Tisch heranzieht, ihn aber gleich übersetzend zum Wackeln bringt:
Pluralität der Sprachen: Gäbe es nur eine Sprache, so wären wir vielleicht des Wesens der Dinge sicher. Entscheidend ist 1. dass es viele Sprachen gibt und dass sie sich nicht nur im Vokabular, sondern auch in der Grammatik, also der Denkweise überhaupt unterscheiden und 2. dass alle Sprachen erlernbar sind. Dadurch, dass der Gegenstand, der für das tragende Präsentieren von Dingen da ist, sowohl Tisch wie „table“ heissen kann, ist angedeutet, dass uns etwas vom wahren Wesen des von uns selbst Hergestellten und Benannten entgeht. Nicht die Sinne und die in ihnen liegenden Täuschungsmöglichkeiten machen die Welt unsicher, [...] sondern die Vieldeutigkeit, die mit der Sprache und vor allem mit den Sprachen gegeben ist. Innerhalb einer homogenen Menschengemeinschaft wird das Wesen des Tisches durch das Wort Tisch vereindeutigt, um doch gleich an der Grenze der Gemeinschaft ins Schwanken zu geraten. Diese schwankende Vieldeutigkeit der Welt und die Unsicherheit des Menschen in ihr würde natürlich nicht existieren, wenn es nicht die Möglichkeit der Erlernbarkeit der fremden Sprache gäbe, die uns beweist, dass es noch andere „Entsprechungen“ zur gemeinsam-identischen Welt gibt als die unsere, oder wenn es gar nur eine Sprache gäbe. Daher der Unsinn der Weltsprache – gegen die „condition humaine“, die künstlich gewaltsame Vereindeutigung des Vieldeutigen. (42, Hervorh. im Original)
Arendts Ablehnung der Weltsprache zeigt: Nicht nur ‚stumme‘ Gemeinschaftsmodelle à la Séance verkennen ihr zufolge die „schwankende Vieldeutigkeit der Welt“, sondern auch einsprachige. Im Versammeln versucht sie stattdessen eine Form zwischenmenschlicher Verbundenheit zu denken, die dieses Schwanken als Grundbedingung von Sozialität affirmiert. Die Wackligkeit des Tischs, die in homogenen, einsprachigen Gemeinschaften erst „an der Grenze der Gemeinschaft“ erfahren wird, rückt in den Mittelpunkt des Miteinanders. Dass Arendt dieses Übersetzungsdenken im Denktagebuch am Wort „Tisch“ illustriert, erzeugt ein Spannungsverhältnis von Statik und Dynamik, das durchaus mit Enzensbergers Museums-Architektur resoniert:[12] Wie Arendt, die ausgerechnet „de[n] Gegenstand, der für das tragende Präsentieren von Dingen da ist“, durch Verweis auf seine Übersetzbarkeit zu einer wackligen Grundlage macht, so macht auch Enzensberger die „tragende these“ von der Weltsprache durch das Ausstellen von Übersetzungsprozessen zu einem ungesicherten „spekulativen Fundament“ (Schmitz-Emans 378). Während Haftmann und Enzensberger trotz grundlegender ideologischer Differenzen in ihrem zögerlichen Festhalten an der Weltsprache vereint sind, verfolgen Arendt und Enzensberger trotz ihres konträren Urteils über die Weltsprache letztlich also das gleiche Ziel: die Dynamisierung von Einsprachigkeit durch Übersetzung. Da Arendt Weltsprache als absolute Einsprachigkeit begreift – einen Zustand, in dem es „nur eine Sprache gäbe“ –, wird die Idee bei ihr verworfen. Enzensberger hingegen sucht das Konzept noch übersetzerisch zu retten: Anstatt die Weltsprache vom Tisch zu nehmen, bringt er sie selbst gezielt ins Wanken.
Zwanzig Jahre später allerdings serviert schließlich auch er sie ab. In der überarbeiteten Auflage des Museums moderner Poesie von 1980 erklärt der Herausgeber, „die Rede von der ‚Weltsprache der modernen Poesie‘“ sei „vollmundig und irreführend“ gewesen („Nachbemerkung“ 786). Er kritisiert den Eurozentrismus des Modells und betont, dass das Konzept „heute, in einem postkolonialen Zeitalter“ keine Tragfähigkeit mehr besitze: „Wenn es je so etwas wie eine Weltsprache der modernen Poesie gegeben hat, so ist sie unterdessen in zahllose Dialekte zerfallen. [...] Ihre Übersetzbarkeit hat ab-, ihre Mannigfaltigkeit zugenommen.“ („Nachbemerkung“ 787) Was aber ist hieran tatsächlich neu? ‚Eingestürzt‘ war die Weltsprache schließlich schon bei der Erstpublikation. Das wurde in der Verlagskorrespondenz und den Kritiken ebenso erkennbar wie an der wackligen Statik des Museums selbst, über dem das Banner ‚Weltsprache‘ von vornherein nur noch als kleine dekorative Fahne wehte, die man zurückhaltend im Vorwort hisste, nicht aber auf dem Titelblatt. Hier ist abschließend noch einmal genau auf die Formulierungen zu blicken: Auffällig ist, dass der Herausgeber die Weltsprache nicht aufgrund einer bloßen numerischen Ausdifferenzierung – einem ‚Zuviel an Vielsprachigkeit‘ – verwirft. Die Welt der Poesie ist für Enzensberger nicht einfach unübersichtlicher geworden, sondern unübersetzbarer. Damit hat sich die Problemlage merklich verschoben. Während bei der Erstpublikation Einsprachigkeit in der Kritik stand, gerät nun das Prinzip ins Wanken, das 1960 als Instrument der Kritik diente: die Übersetzung. Das impliziert keine Rückkehr zu Vorstellungen von „Unübersetzbarkeit“ wie sie etwa Hans Egon Holthusen in seiner konservativen Kritik des Museums artikuliert. Während für Holthusen „angeborene[]“ Unterschiede zwischen „Nationalsprache[n]“ die Übersetzung verunmöglichen, spricht Enzensberger erstens nur von verminderter Übersetzbarkeit, zweitens siedelt er ihre Grenzen nicht zwischen Nationen an (Holthusen 1080, 1083). In seinem Essay „Europäische Peripherie“, den er 1965 zusammen mit einem Aufsatz von Frantz Fanon im Kursbuch publiziert, betont er, dass die entscheidende Trennlinie „im post-kolonialen Zeitalter“ zwischen der westeuropäischen „Reichen Welt“ und der „Armen Welt“ des globalen Südens verlaufe.[13] Die Übersetzungsprobleme, die sich an dieser Grenze auftun, führt Enzensberger nicht auf essenzialistische Differenzen zwischen den beiden Seiten zurück, sondern auf ein erzeugtes Machtgefälle, das auch durch Übersetzungspraktiken gefestigt wird:
Keine ihrer Namen und keine ihrer Losungen hat die Arme Welt selbst hervorgebracht. Sie hat zwar ein eigenes Bewußtsein, aber keine eigene Sprache entwickelt. Stumm ist sie nicht, doch in einem prägnanten Sinn sprachlos. Ihre Stimme ist laut, bisweilen schrill, aber das Vokabular geliehen. [...] Noch der Kampf um die eigene Selbstständigkeit wird mit fremden Begriffen, mit denen des Feindes geführt. Jede Parole ist eine Übersetzung. [...] Was die Arme Welt selber sagt, wird dagegen kaum zur Notiz genommen. Ihre Wortführer und Theoretiker werden kaum übersetzt, noch weniger gelesen. (163–164)
Übersetzung scheint hier für die politische Gemeinschaftsbildung gleichsam unzulänglich wie unabdingbar. Die aktualisierte Auflage des Museums markiert so eine neue Umbruchstelle im Nachdenken über Kunst und Gemeinschaft in der BRD, an der nach einsprachiger und stummer Verbundenheit das Übersetzen selbst auf den Prüfstand gestellt werden muss. Ziel ist es nicht, die Übersetzung aufzugeben, sondern zu reflektieren, welche Machtverhältnisse die übersetzerische Praxis strukturieren, wessen Sprache als Sprache anerkannt wird und wer wen überträgt. Statt einer Essenzialisierung unübersetzbarer Einheiten im Sinne Holthusens fordert Enzensberger, mit Gayatri Chakravorty Spivak gesprochen, ein „unendliches Aushandeln des Unübersetzbaren“.[14] Dass die „Übersetzbarkeit“ ‚der‘ Weltsprache ‚abgenommen‘ hat (Enzensberger, „Nachbemerkung“ 787), heißt so letztlich wohl eher: Enzensbergers Bewusstsein für Grenzen der Übersetzbarkeit hat in Auseinandersetzung mit post-kolonialer Theorie zugenommen. Vor die Frage nach der Weltsprache schiebt sich für ihn hier nun die Frage, wer in der Welt überhaupt sprechen kann.
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Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Distant-Reading Communities: Monolingualisation in Fin-de-Siècle European Literary Historiography
- „Eine Sprache ausstellen“
- Transtextual Paths: Dream of the Red Chamber as a Source of Borgesian Labyrinth
- Indigenous Feminism in Environmental Sustainability: Zora Neale Hurston’s Dust Tracks on A Road (1942)
- Felt Anticipation: Rhythm, Expectation, and Emotion in Friederike Mayröcker’s Poetic Spoken Atmospheres
- Look Back in Hunger: The Metaphorization of Women as Food in Tim O’Brien’s Tomcat in Love
- Review
- Sarah Maria Teresa Goeth: Analogie zwischen Wissenschaft und Ästhetik. Eine Vermittlungsfigur der Moderne bei Kant, Novalis und Goethe. Berlin und Boston: De Gruyter, 2023. 377 S.
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