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Arbeit als konjunktiven Erfahrungsraum rekonstruieren

Anschlüsse zwischen praxeologischer Wissenssoziologie, dokumentarischer Methode und subjektorientierter Arbeitsforschung
  • Carolin Mauritz
Veröffentlicht/Copyright: 23. Mai 2025
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Arbeit
Aus der Zeitschrift Arbeit Band 34 Heft 1-2

Zusammenfassung

Praxeologisch-rekonstruktive Zugänge halten für die methodischen Herausforderungen der subjektorientierten Arbeitsforschung hilfreiche Begriffe, Konzepte und forschungspraktische Verfahren bereit. Auf dieser Grundlage sucht der Beitrag nach Anschlüssen zwischen subjektorientierter Arbeitsforschung, praxeologischer Wissenssoziologie und dokumentarischer Methode. In einem ersten Schritt werden bereits vorhandene Anschlussstellen von Seiten der Arbeitsforschung dargestellt. In einem zweiten Schritt werden daran anschlussfähige und bereits weiter entwickelte Annahmen und Konzepte der praxeologischen Wissenssoziologie aufgestellt und erläutert. Der Mehrwert einer wissenssoziologisch instruierten rekonstruktiven Herangehensweise an arbeitssoziologische Forschungsdesigns wird mit Bezug auf ein Forschungsprojekt über Freiwilligenarbeit zusammenfassend dargestellt. Ziel des Beitrags ist es, innerhalb der Debatte um die Methoden der Arbeitsforschung praxeologische Grundannahmen und dokumentarisch vorgehende Verfahren stärker einzubeziehen.

Abstract

Praxeological-reconstructive approaches provide terms, concepts and practical research procedures for the methodological challenges of subject-oriented work research that need to be explored. Based on this assumption, the article defines the relationship between subject-oriented work research, praxeological sociology of knowledge, and documentary method, and focuses on the connections between them in two steps. First, existing connections on the side of work research are presented; in a second step, methodologically further developed concepts and procedures within praxeological sociology of knowledge are presented and related to subject-oriented work research. The surplus value of an approach to work research drawing on sociology of knowledge and reconstructive procedures is demonstrated at the hands of a research project on volunteer work. The aim of the article is to incorporate reconstructive procedures and basic assumptions of the praxeological sociology of knowledge within the methodological debate of subject-oriented work research.

1 Einleitung

Innerhalb der Arbeitsforschung werden Entscheidungen für Erhebungs-, Auswertungs- und Analyseverfahren auf einem wenig kanonisierten und offenen Terrain getroffen, da „die Arbeits- und Industriesoziologie […] über kein genuines methodisches Repertoire (verfügt), das gegenüber anderen soziologischen Fachgebieten eigenständig wäre“ (Menz/Nies 2018, 265). Auch auf Ebene der konkreten Forschungspraxis dokumentiert sich eine große methodische Offenheit, die es auf der einen Seite zulässt, Methoden gegenstandsangemessen zu wählen; auf der anderen Seite führt diese Offenheit zu einer gewissen Beliebigkeit, wie in den folgenden Ausführungen deutlich wird:

„Generelle Aussagen zu den Auswertungsprozessen lassen sich über die Masse arbeitssoziologischer Studien ansonsten schwer treffen – zumal die Angaben zum Auswertungsverfahren in den Forschungsberichten und Veröffentlichungen oft spärlich sind. […] Bezüglich des Kodierprozesses hat sich in der Arbeitssoziologie kein klassisches Verfahren durchgesetzt. Die konkreten Verfahrensregeln der Grounded Theory etwa finden in aller Regel keine exakte Anwendung in der Arbeitssoziologie. […] Der Kodierprozess in der Arbeitssoziologie ist somit wohl am ehesten an einer Variante der Qualitativen Inhaltsanalyse orientiert, die induktive Kategorienentwicklung mit deduktiver Kategorienanwendung verbindet […]. Allerdings lässt sich auch hier keine einheitliche Aussage über die Bandbreite unterschiedlicher Forschungsprojekte treffen. Das jeweilige Verhältnis von deduktiver und induktiver Kategorienbildung variiert zwischen verschiedenen Forschungstraditionen und in Abhängigkeit von der Fragestellung und Forschungsintention beträchtlich.”

Menz/Nies 2018, 300–301 (Hervorhebungen CM)

Auch die subjektorientierte Arbeitsforschung (Bolte/Treutner 1983; Langfeldt 2009), auf die ich mich im Folgenden beziehe, hat bis dato noch keine eigene methodologische Meta- oder Hintergrundtheorie formuliert.

Die praxeologische Wissenssoziologie als Hintergrundtheorie der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2017, 2021; Bohnsack u.a. 2013), wie sie maßgeblich von Ralf Bohnsack als Erhebungs-, Interpretations- und Auswertungsmethode entwickelt wurde,[1] hat bis dato noch wenig Anwendung in der subjektorientierten Arbeitsforschung erfahren, obwohl hier – so die grundlegende Annahme des Beitrags – eine Vielzahl an geteilten Grundannahmen und damit Anschlüssen und Anknüpfungspunkten in Bezug auf das Verständnis von arbeitenden Subjekten und ihrer Arbeitspraxis vorliegt. Im Sinne einer methodologischen Fundierung der subjektorientierten Arbeitssoziologie könnten diese ausgebaut und gewinnbringend angewendet werden.

Mein Beitrag verfolgt daher das Ziel, das methodische Repertoire der subjektorientierten Arbeitsforschung um Annahmen einer rekonstruktiv ausgerichteten Sozialforschung im Hinblick auf zwei zentrale methodische Herausforderungen zu erweitern – bezüglich der Vermittlung von Subjekt- und Objektperspektive und bezüglich der Generalisierungs- bzw. Theoretisierungsprozesse empirischer Forschungsergebnisse. In diesem Sinne plädiert er dafür, die Wissensbestände, Begriffe und Konzeptionen der praxeologischen Wissenssoziologie und ihrer Forschungspraxis, der dokumentarischen Methode, in die Forschungsbestrebungen der subjektorientierten Arbeitssoziologie zu integrieren und Arbeit im Rahmen der empirisch-qualitativen Arbeitsforschung als konjunktiven Erfahrungsraum zu verstehen und zu rekonstruieren.

Um zu begründen, warum im Zuge der Bearbeitung der methodischen Herausforderungen eine rekonstruktive Wendung der subjektorientierten Arbeitsforschung mithilfe der praxeologischen Wissenssoziologie bzw. der dokumentarischen Methode hilfreich sein kann, bzw. um zu klären, warum diese zum methodologischen Repertoire der subjektorientierten Arbeitsforschung gehören sollten, suche ich vor allem nach Anschlüssen und Gemeinsamkeiten zwischen beiden. Ich strebe eher eine erklärende ‚Übersetzungsleistung‘ an, die gegenseitige Verständnisangebote eröffnet, als eine methodologische Kanonisierung.

Mit Bezug auf die beiden methodischen Herausforderungen erläutert der Beitrag, (1) warum die Annahmen der praxeologischen Wissenssoziologie, vor allen Dingen die Differenzierung zwischen kommunikativen und konjunktiven Wissensbeständen, der Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie und das Verständnis von Arbeit als konjunktiver Erfahrungsraum, förderlich sind im Hinblick auf die Vermittlung von Subjekt- und Objektperspektive und (2) warum das Prinzip des beständigen Vergleichs bzw. der Interpretationsschritt der komparativen Analyse und die darauffolgenden verfahrens- und forschungsoffenen Verfahren der dokumentarischen Typenbildung für Generalisierungs- bzw. Theoretisierungsprozesse empirischer Forschungsergebnisse hilfreich sind.

Die Kernfrage des Beitrags lautet daher: Wo können Begriffe, Konzepte, Annahmen der praxeologischen Wissenssoziologie und der dokumentarischen Methode Angebote für die oben beschriebenen methodologischen Herausforderungen der subjektorientierten Arbeitsforschung bereitstellen?

Im Zuge eines kursorischen Literaturüberblicks stelle ich zunächst einige Forschungsarbeiten vor, die Fragen der subjektorientierten Arbeitsforschung mithilfe von rekonstruktiven Ansätzen bearbeiten und dabei arbeitssoziologische Fragestellungen und dokumentarische Methode im weitesten Sinne zusammenbringen.

Danach arbeite ich die Anschlüsse zwischen subjektorientierter Arbeitsforschung und praxeologischer Wissenssoziologie (hier eher auf theoretisch-konzeptioneller Ebene) bzw. dokumentarischer Methode (hier eher auf forschungspraktischer Ebene) hinsichtlich der beiden methodischen Herausforderungen heraus. Ich gehe dabei zuerst auf die Herausforderung der Vermittlung zwischen Subjekt- und Objektperspektive und danach auf die Herausforderung der Generalisierung empirischer Ergebnisse ein. Hierfür stelle ich – notwendigerweise verkürzt – grundlegende Annahmen der praxeologischen Wissenssoziologie und der dokumentarischen Methode dar. Um den Mehrwert einer praxeologischdokumentarischen Auswertungspraxis zu verdeutlichen, stelle ich exemplarisch einige Aspekte aus meiner eigenen Forschungspraxis zum Thema Freiwilligenarbeit vor, bevor ich abschließend noch einmal auf die Angebote der praxeologisch-dokumentarischen Herangehensweise bezüglich der Herausforderungen der Arbeitsforschung hinweise.

2 Rekonstruktive Ansätze in der subjektorientierten Arbeitsforschung – ein kursorischer Überblick

Im Fahrwasser der Debatte um die Subjektivierung von Arbeit (Matuschek u.a. 2003) und die alltägliche Lebensführung (Kleemann 2001) kamen Reflexionen darüber auf, wie der Einbezug der Subjektperspektive innerhalb der subjektorientierten Arbeitsforschung methodologisch gelingen kann. Ein Ergebnis dieser Debatte ist das Methodenlehrbuch von Frank Kleemann, Ingo Matuschek und Uwe Krähnke (Kleemann u.a. 2013), in dem sich ausgewiesene Arbeitssoziologen mit der Forschungspraxis der dokumentarischen Methode als Instrumentarium der interpretativen Sozialforschung auseinandergesetzt haben. Grundbegriffe und die Forschungspraxis der dokumentarischen Methode werden hier im Kontext arbeitssoziologischer Fragestellungen dargestellt und erläutert. Auch die neueren Debatten der zu einem eigenständigen Forschungsgebiet entwickelten Subjektivierungsforschung (Geimer u.a. 2019) beschäftigen sich mit methodologischen Fragen, da auch hier Arbeitsforschende sich auf die subjektiven Deutungen der Arbeitenden beziehen und dabei auf rekonstruktive Ansätze zurückgreifen (Abbenhardt 2019; Hardering 2019).

An der Schnittstelle zwischen Organisations- und Subjektivierungsforschung werden ebenfalls zunehmend rekonstruktive Verfahren und hier im Besonderen die dokumentarische Methode genutzt und Fragen der subjektorientierten Arbeitsforschung mit methodologischen Ansätzen verbunden. Anja Mensching (2010) tut dies mit Bezug auf Organisations- und Professionalisierungsprozesse in der Organisation der Polizei, Werner Vogd (2004) mit Bezug auf das Krankenhaus, Robin Mohan (2019), Gabriele Fischer und Kolleg*innen (Fischer u.a. 2020) und Stefan Kerber-Clasen und Kolleg*innen (Kerber-Clasen u.a. 2022) mit Bezug auf die spezifische Subjektivierung der Arbeit von Pflegekräften in ökonomisierten Kontexten.

Auch in den (wirtschafts-)psychologisch und (wirtschafts-)pädagogisch akzentuierten Debatten der Arbeitsforschung (Wehner/Güntert 2015) werden – z.B. mit Bezug zur Frage der Authentizität und der Entfaltungs- und Gestaltungspotenziale von Arbeitenden in unterschiedlichen Arbeitsformen – rekonstruktive Ansätze der Bearbeitung von arbeitssoziologischen Fragestellungen nicht nur genutzt, sondern auch in ihren Operationalisierungsschritten reflektiert. Gina Mösken rekonstruiert in ihrer qualitativen Studie zum Eigensinn von Freiwilligenarbeit mithilfe narrativer Grid-Studien[2] die Sinnkonstruktionen und Motive von Freiwilligen (Mösken/Dick 2017; Mösken u.a. 2010). Michael Dick bearbeitet ebenfalls mithilfe narrativer Grid-Studien, in denen – ähnlich wie in der dokumentarischen Methode – „die Erzählung […] als Darstellungsmodus besonders wichtig [ist], da sie durchlebte Erfahrung aus subjektiver Perspektive wiedergibt“ (Dick 2021, 208) – Fragen der Arbeitsforschung nach Authentizität in der Arbeit. Sonja Kubisch und Mario Störkle (Kubisch/Störkle 2016, 2018) arbeiten im Rahmen ihrer Studie zum Erfahrungswissen von bürgerschaftlich Engagierten explizit mit der dokumentarischen Methode und fragen, wie dieses Wissen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels an Bedeutung gewinnt. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie für ihre Forschung qualitativ-rekonstruktive Methoden in Zusammenhang mit einem erweiterten Arbeitsbegriff nutzen bzw. über die Rekonstruktion der subjektiven Perspektive der Arbeitenden (konkret: über die Frage, wie Arbeitende ihre Arbeit selbst wahrnehmen) einen Arbeitsbegriff konzipieren und dabei auf Arbeitsformen jenseits der Erwerbsarbeit fokussieren.

In dieser kursorischen Übersicht wird deutlich, dass rekonstruktive Ansätze – und dabei vermehrt die dokumentarische Methode im Konkreten – innerhalb der Forschungsvorhaben von subjektorientiert Arbeitsforschenden gewinnbringend genutzt werden, da das Verfahren der Rekonstruktion im Hinblick auf Fragen der (Selbst-)Wahrnehmung von Arbeitenden sich als besonders geeignet erweist. Jedoch existiert bis dato in den Beiträgen keine grundlegende Auseinandersetzung mit den metatheoretischen Annahmen rekonstruktiver Verfahren und ihrer Verwendung innerhalb der jeweiligen Forschungsvorhaben: Operationalisierungsschritte werden kaum thematisiert, ebenso wenig wie die konkreten Schritte der Auswertungspraxis.

In Reaktion auf diese metatheoretische Leerstelle gehe ich nun auf gemeinsame, ähnliche und anschlussfähige Annahmen ein, die subjektorientierte Arbeitsforschung, praxeologische Wissenssoziologie (als Hintergrundtheorie der dokumentarischen Methode) und die Forschungspraxis der dokumentarischen Methode verbinden können.

3 Anschlüsse zwischen Arbeitsforschung, praxeologischer Wissenssoziologie und dokumentarischer Methode

Auf der Suche nach den Anschlüssen gehe ich in zwei Schritten vor. In einem ersten Schritt beschreibe ich zentrale Annahmen und weit verbreitete methodische Vorgehensweisen innerhalb der subjektorientierten Arbeitsforschung und stelle ihre anschlussfähigen Aspekte und bereits vorhandenen Operationalisierungsleistungen vor. Danach gehe ich auf die wichtigsten Annahmen der praxeologischen Wissenssoziologie und die zentralen Schritte der Forschungspraxis der dokumentarischen Methode ein und arbeite in einem zweiten Schritt heraus, wie ihre Annahmen und Konzepte hinsichtlich der methodischen Herausforderung der Vermittlung von Subjekt- und Objektperspektive und der Generalisierung von Forschungsergebnissen hilfreiche, weiterführende Möglichkeiten bereithalten.

3.1 Subjektorientierte Arbeitsforschung und die Vermittlung von Subjekt- und Objektperspektive

3.1.1 Zentralität der Subjektperspektive

Als gemeinsamer Ausgangspunkt von subjektorientierter Arbeitsforschung und praxeologischer Wissenssoziologie lässt sich festhalten, dass die Perspektive der Subjekte auf ihre Arbeit und die innerhalb der Arbeit gemachten Erfahrungen von entscheidender Bedeutung sind. Die Zentralität der Subjektperspektive und die Relevanz, die den Arbeitserfahrungen zugemessen wird, beeinflussen die Art und Weise, wie Fragestellungen operationalisiert werden, wie erhoben und ausgewertet wird. Dies dokumentiert sich erstens in der Entwicklung des Erhebungsformats der Gruppendiskussion innerhalb der Arbeitsforschung und zweitens in der besonderen Rolle, die Narrationen in der Erhebungs- und auch Auswertungspraxis der subjektorientierten Arbeitsforschung spielen.

3.1.2 Entwicklung des Gruppendiskussionsverfahrens

Praxeologische Wissenssoziologie und subjektorientierte Arbeitsforschung beziehen sich in ihrer Entwicklungsgeschichte gemeinsam auf die Anfänge der Entwicklung des Gruppendiskussionsverfahrens, wie frühe Arbeiten am Institut für Sozialforschung in Frankfurt zeigen (Menz/Nies 2018, 267 ff.) Das Interesse an den latenten faschistischen Orientierungen deutscher Arbeiter war ausschlaggebend für die Entwicklung des Gruppendiskussionsverfahrens durch Werner Mangold und Friedrich Pollock (Dröge u.a. 2010; Mangold 1960; Pollock 1955). Methodologisch war mit dem Erhebungsformat der Gruppendiskussion die Hoffnung verbunden, dass Erfahrungen von Arbeitenden innerhalb von Gruppendiskussionen ‚unverstellter‘ als in Interviews oder anderen Erhebungsformaten geäußert werden und damit ein Zugang zu den latenten, tieferliegenden Strukturen, welche Handlungen bzw. Arbeiten ermöglichen, rahmen und steuern, ermöglicht wurde.[3] In der Entwicklung der dokumentarischen Methode als eigenständiges Auswertungsverfahren für (zunächst) Gruppendiskussionen (Bohnsack 2017; Bohnsack u.a. 2013) greift Bohnsack maßgeblich auf die Überlegungen von Werner Mangold zurück. Bezüge zur subjektorientierten Arbeitssoziologie finden sich in diesen ersten von Mangold durchgeführten Gruppendiskussionen in Form der Berufsgruppe als „Vertreter sozialer Großgruppen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 90). Hier wird bereits die prägende Funktion des Berufs für die Subjekte dargestellt. Im methodischen Repertoire der subjektorientierten Arbeitsforschung wurden Gruppendiskussionen – wohl auch als Folge der Erwerbsarbeitszentrierung der Arbeitssoziologie – durch die Betriebsfallstudien (deren Teil sie trotzdem sein konnten) verdrängt (Menz/Nies 2018, 290–291).

3.1.3 Relevanz von Narrationen

Die Relevanz von Erfahrung dokumentiert sich zudem in der besonderen Beachtung von Narrationen innerhalb des Datenmaterials. Die besondere Beachtung der Erzählung rührt daher, dass auch hiermit die Hoffnung verbunden ist, dass Erfahrungen darin unmittelbarer geteilt werden. In Erzählungen werden „[…] spezifische „Zugzwänge“ wirksam […], die die Erzählenden zur Kohärenz, zur Verdichtung und zur Detaillierung – und letztlich zu einer besonderen Aufrichtigkeit, die den Aufbau von Legitimationsfassaden erschwert – zwingen“ (Menz/Nies 2018, 288). Nicht zufällig ist, dass die Bedeutung von Narrationen innerhalb der subjektorientierten Arbeitsforschung insbesondere dann in den Vordergrund rückt, wenn es um Arbeit außerhalb der Erwerbsarbeit und/oder um die Organisation von Erwerbs- und anderen Formen von Arbeit geht, z.B. in arbeitsbezogenen biografischen Erzählungen. In diesen feministisch geprägten „integrierenden Untersuchungsperspektiven“ (Menz/Nies 2018, 288) auf Arbeit, die mit einem weiten Arbeitsbegriff operieren und „das Ganze der Arbeit“ (Haubner/Pongratz 2021) in den Blick nehmen wollen, stehen Subjektperspektive, Arbeit (bzw. Arbeitserfahrung) und die Auswertungspraxis der Narrationen von Beginn an in einem stärkeren Zusammenhang.

Aus methodischer Perspektive ist auffällig, dass Forschende sich zwar im Rahmen der Erhebung um die Produktion von Narrationen bemühen, sich jedoch kein explizit auf Narrationen fokussiertes Auswertungsverfahren innerhalb der subjektorientierten Arbeitssoziologie etabliert hat. Zugespitzt formuliert: Forschende geben sich viel Mühe dabei, Narrationen zu erzeugen, diese werden jedoch im Zuge der Auswertung kaum als solche ausgewertet, da selten formale Verfahren der Textsortentrennung angewendet werden, mit denen zwischen Erzählungen, Erklärungen, Argumenten usw. unterschieden werden könnte.[4]

3.1.4 Subjektverständnis von Arbeitenden als Träger*innen unterschiedlicher Wissensformen

Ein zweiter gemeinsamer Ausgangspunkt von subjektorientierter Arbeitsforschung und praxeologischer Wissenssoziologie bezieht sich auf das Subjektverständnis: Arbeitende werden auch als Träger*innen unterschiedlicher, aber gleichermaßen relevanter Wissensformen verstanden. Das Wissen der Arbeitenden hat unterschiedliche Formen (z.B. Erfahrungs- und Expert*innenwissen) und ist zugleich an die Arbeitenden selbst gebunden (Menz/Nies 2018, 279). In der theoretischen Konstitution der Arbeitenden sind diese sowohl Träger*innen unterschiedlicher Wissensformen als auch Inhaber*innen unteilbarer, weil z.T. über lange Zeit inkorporierter, verkörperter Wissensbestände, die in der Praxis der Arbeit von besonderer Bedeutung sind.

Exemplarisch zeigt sich das in der Debatte um den Status der Expert*in im Rahmen von Expert*inneninterviews: Hier wird „auf die besondere Struktur und Beschaffenheit von Expert*innenwissen im Unterschied zum Alltagswissen hingewiesen“ (Menz/Nies 2018, 281), zugleich sind im Rahmen des Expert*inneninterviews aber auch „persönliche Exkurse und ‚private‘ Anmerkungen der Befragten von Interesse, denn das wirklichkeitsstrukturierende Wissen ist eben häufig nicht kodifiziertes Fachwissen, vielmehr geht implizites Alltagswissen immer in diese Wirklichkeitsstrukturierung ein“ (ebd., 282). Trotz des Eingeständnisses, dass vielfältige Wissensformen existieren, finden auf methodologischer Ebene keine konzeptuellen Differenzierungen oder Weiterentwicklungen – z.B. in Richtung unterschiedlicher Auswertungsverfahren für unterschiedliche Wissensformen – statt.

3.2 Vermittlung von Subjekt- und Objektperspektive im konjunktiven Erfahrungsraum Arbeit

Unter Einbezug der Arbeiten von Mannheim, Bourdieu und Schütze entwickelte Ralf Bohnsack seit den 1980er Jahren die dokumentarische Methode, deren Grundlagentheorie die praxeologische Wissenssoziologie ist (Bohnsack 2017, 2021; Bohnsack u.a. 2013, 2018; Bohnsack/Sparschuh 2022). Im Verlauf ihrer Entwicklung ist sie zu einer viele Erhebungsformen umfassenden rekonstruktiven Methodologie geworden, die breit angewendet wird und mit der – neben Gruppendiskussionsverfahren – auch narrative bzw. biografische Interviews, Bild- und Videoanalysen interpretiert werden können. Bisherige Anwendungsbereiche lagen vor allem im Bereich von Fragen der Sozialisationsforschung, Jugend- und Familiensoziologie sowie der Sozialpädagogik (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 279–280).

Grundlegend für die dokumentarische Methode ist erstens die aus der praxeologischen Wissenssoziologie rührende Annahme unterschiedlicher konjunktiver Erfahrungsräume, die sich in der gemeinsam verrichteten Arbeit und den Erzählungen darüber aktualisieren und daher auch re-konstruieren lassen. Eine zweite zentrale Annahme bezieht sich auf das Vorhandensein unterschiedlicher Wissensbestände und die damit einhergehende methodologische Differenzierung zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen. Drittens wird angenommen, dass der konjunktive Erfahrungsraum doppelt strukturiert ist: In ihm aktualisieren sich sowohl Elemente des Orientierungsschemas als auch Elemente des Orientierungsrahmens im engeren Sinne, die im Verlauf der Rekonstruktion voneinander getrennt werden, obwohl sie empirisch miteinander verwoben sind.

3.2.1 Rekonstruktion von konjunktiven Erfahrungsräumen und Arbeit als ein konjunktiver Erfahrungsraum

Die praxeologische Wissenssoziologie stellt ihre Fragestellungen explizit auf die Rekonstruktion von konjunktiven[5] Erfahrungsräumen ab (Bohnsack u.a. 2013; Bohnsack 2013) und will diese in ihrem Gewordensein rekonstruieren, um ihre Wirkweisen und strukturierenden Funktionen gesamtgesellschaftlich zu verstehen. Handeln im Allgemeinen und Arbeiten bzw. Tätigsein im Besonderen findet fallspezifisch zwar in höchst unterschiedlichen, aber dennoch gemeinsamen, geteilten Erfahrungsräumen statt, die der individuellen Erfahrung vorgängig (‚primordial‘[6]) sind. In konjunktiven Erfahrungsräumen werden subjektiv-individuelle und objektiv-gesellschaftliche Gehalte miteinander vermittelt, da hier individuelle Praxis im Kontext des Erlebens von vorheriger gemeinsamer und prägender Erfahrung steht – und umgekehrt. Konjunktive Erfahrungsräume aktualisieren sich entlang von einschneidenden, gemeinsam erlebten Erfahrungen – und in Bezug auf die methodische Weiterentwicklung der subjektorientierten Arbeitsforschung gilt es, Arbeit als einen solchen gemeinsamen Erfahrungsraum zu verstehen. Mithilfe dieser praxeologisch-dokumentarischen Annahmen zeige ich also auf, dass in Arbeitskontexten und in der Praxis des Arbeitens handlungsleitende Erfahrungen erlebt (und später erzählt) werden, welche die Praxis des Arbeitens selbst wiederum strukturieren. Erzählungen, die z.B. im Zuge von Gruppendiskussionen oder Interviews entstanden sind, haben – wie oben ausgeführt – eine besondere Nähe zum Alltagswissen der Arbeitenden; in ihnen kommen diese sowohl individuell als auch mit anderen erlebten prägenden Erfahrungen am ehesten und unverstellt durch die Arbeitenden selbst zum Ausdruck.

3.2.2 Kommunikatives und konjunktives Wissen

In konjunktiven Erfahrungsräumen liegen gesellschaftlich strukturierte, ‚objektive‘ Wissensbestände über Arbeit und subjektive, durch individuelle, aber eben auch geteilte Erfahrungen zustandegekommene Wissensbestände miteinander verwoben vor. Um Zugang zu beidem zu erhalten, nimmt die praxeologische Wissenssoziologie eine analytische Differenz (Bohnsack 2017, 103) an.

Sie unterscheidet a) das kommunikative Wissen, das explizit geäußert wird/geäußert werden kann, z.B. in Erklärungen, Argumentationen oder Berichten. Arbeitende haben auf dieses kommunikative Wissen direkten Zugriff, da es sich u.a. an kommunikativ zugängliche Normen, Diskurse und Wissensbestände anlehnt und ‚sagbar‘[7] ist. In den kommunikativen Wissensbeständen über Arbeit können sich implizite normative Erwartungen an Arbeitende und/oder Arbeitsstellen ausdrücken, aber auch Rollen- oder Identitätserwartungen an Arbeitende. Mit der Rekonstruktion des kommunikativen Wissens kann auf den common sense von und über Arbeit – und damit letztlich auch auf die gesellschaftlichen und verobjektivierten Strukturen der Arbeit geschlossen werden.

Die zweite Kategorie ist b) das konjunktive, inkorporierte Wissen, das implizit bleibt und im Anschluss an die formulierende Interpretation im Rahmen der reflektierenden Interpretation rekonstruiert werden muss. Dieses implizite Wissen um Arbeit ist Bestandteil des (Arbeits-)Habitus und den Arbeitenden nicht unmittelbar zugänglich: Es ist vorreflexiv und wird „in Form von Erzählungen und Beschreibungen vermittelt, d.h. in Form von Metaphern, von metaphorischen, also von bildhaften Darstellungen sozialer Szenerien“ (Bohnsack 2006, 277).[8] In den Erzählungen und Beschreibungen, insbesondere denen mit großer metaphorischer Dichte, in denen die Arbeitenden bildlich erzählen, wird die größte Nähe zum impliziten Wissen angenommen. Es wurde im Verlauf der Zeit, quasi als Teil der (Arbeits-)Sozialisation angeeignet und hat Spuren bei den Arbeitenden hinterlassen, wurde inkorporiert und strukturiert (habituell gewordene) Arbeitsroutinen (Bohnsack 2011; Przyborski 2004).

Die Differenzierung zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen wird in der Forschungspraxis der dokumentarischen Methode in zwei Interpretationsschritte übersetzt: die Frage nach dem, was die Arbeitenden explizit über ihre Arbeit gesagt haben, wird im Rahmen der formulierenden Interpretation und entlang eines vorher erstellten thematischen Verlaufs zusammengefasst. Im Material explizit aufgeworfene Themen werden in einem ersten Schritt der Rekonstruktion durch die Forschenden reformuliert. Der für die dokumentarische Methode entscheidende Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie des Gesagten erfolgt im Rahmen der reflektierenden Interpretation, deren Ziel es ist, das implizite Wissen der Arbeitenden zu rekonstruieren. Dies geschieht im Zuge einer formalen Analyse (wie reden die Arbeitenden, wie beziehen sie sich in der Gruppendiskussion aufeinander, welche Muster und Regelmäßigkeiten lassen sich im Gesagten rekonstruieren?), aber auch durch eine Analyse der Kontexte der Erzählung und ihrer Bewertung durch die Arbeitenden mithilfe von positiven und negativen Horizonten.

3.2.3 Die Doppelstruktur des konjunktiven Erfahrungsraums Arbeit

Orientierungsschema und Orientierungsrahmen im engeren Sinne strukturieren den konjunktiven Erfahrungsraum Arbeit auf doppelte Art und Weise.

Der von den Arbeitenden explizierbare common sense, die objektiv-gesellschaftliche Realität der Arbeit, wird als Teil des Orientierungsschemas (Bohnsack 2017, 80, 84 ff.) abgebildet. Teil davon sind die – aus dem Material zu rekonstruierenden – Normen, Diskurse, Erwartungen und Rollen sowie die daraus verdichteten gängigen, alltagstheoretischen Annahmen über Arbeit, die das gemeinsame, gesellschaftliche, über unterschiedlich geartete (öffentliche, mediale, auf bestimmte Kontexte bezogene) Diskurse bestimmte Bild von und über Arbeit gemeinsam ‚schaffen‘ und das konkrete Arbeitshandeln der Subjekte beeinflussen. Kurz: Im Orientierungsschema findet sich all das wieder, was Arbeitende in Bezug auf Arbeit explizit wissen, womit sie sich auseinandersetzen und umgehen müssen. Im Orientierungsschema zeigt sich den Arbeitenden ihre objektive Arbeitsrealität, die Einfluss auf ihr Handeln/Arbeiten nimmt, die sie aber zugleich durch ihr Arbeitshandeln/ihre Arbeitspraxis auch mitgestalten.

Forschungspraktisch ist bei der Rekonstruktion der Orientierungsschemata das kommunikative, explizierbare und einer direkten Reflexion zugängliche Wissen, das sich vor allem in argumentativen und erklärenden Passagen findet, von Bedeutung. In den kommunikativen Wissensbeständen über Arbeit wird das aus Diskursen angeeignete bzw. hervorgegangene Wissen um Arbeit zum Ausdruck gebracht.

Mithilfe des Konzepts des Orientierungsrahmens im engeren Sinne wird der Arbeitshabitus rekonstruierbar.[9] Die innerhalb der Arbeit erlebten Erfahrungen und Arbeitspraktiken verdichten sich im Laufe der Zeit zu einem (mit anderen geteilten Arbeits-)Habitus, in dem Haltungen, Vorstellungen und Praktiken (mit Bezug auf die Arbeitspraxis z.B. bezüglich der eigenen Profession, der Einschätzung der gesellschaftlichen Relevanz der eigenen Arbeit usw.) eingelagert bzw. inkorporiert sind. Für die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens ist das Erfahrungswissen um die Erledigung und die Umstände der eigenen Arbeit, der (möglicherweise vergangene, aber auch sich wiederholende) Prozess der Inkorporierung von Arbeitserfahrungen,[10] die sich im Arbeitshabitus der Arbeitenden verdichten, von Bedeutung. Die eigenen persönlich-subjektiven Erfahrungen mit und in der Arbeit sind im Orientierungsrahmen sedimentiert und zum – mehr oder weniger spezifischen – Arbeitshabitus, dem ‚Sein als Arbeitende‘ geronnen. In den Erzählungen über und in Bezug auf Arbeit kann der Arbeitshabitus rekonstruiert und als das Ergebnis von implizit bleibenden, regelhaft ablaufenden, dem expliziten Zugang versperrten Prozessen verstanden werden. Entlang der rekonstruierten Gehalte können dann Aussagen über den sozialen Strukturierungsprozess der Handlungen getroffen werden. Um Zugang zu diesem sedimentierten, habitualisierten Erfahrungswissen zu erlangen, stehen vor allen die Ausbrüche aus dem Arbeitshabitus, die Spannungen, die sich zwischen Arbeitshabitus und Normen und Diskursen der Arbeit ergeben, quasi der in Handlungen übersetzte ‚Eigensinn‘ der Arbeitenden im Vordergrund des Forschungsinteresses.

3.2.4 Konjunktiver Erfahrungsraum Arbeit

Gemeinsam bilden Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen im engeren Sinne den konjunktiven Erfahrungsraum der Arbeit (Abbildung 1). Dieser ist primordial, da hier einerseits all das gesellschaftliche Wissen über Arbeit eingelagert ist und all das vorkommt, was vorgängig über Arbeit bereits gewusst wird, noch bevor die Arbeitenden mit der Arbeit selbst beginnen; andererseits ist der konjunktive Erfahrungsraum aber auch voll von individuellen und zugleich mit anderen geteilten gesellschaftlichen Erfahrungen und Wissensbeständen über Arbeit, die sich im Laufe eines Arbeitslebens ansammeln.

Abb. 1 Konjunktiver Erfahrungsraum Arbeit, angelehnt an Bohnsack 2017, 103
Abb. 1

Konjunktiver Erfahrungsraum Arbeit, angelehnt an Bohnsack 2017, 103

Orientierungsschema und Orientierungsrahmen im engeren Sinne stellen damit Handlungsfolien dar, vor denen sich die konkrete Arbeitspraxis der Arbeitenden abspielt und die gleichzeitig die Arbeitspraxis wiederum strukturieren. Im zu rekonstruierenden konjunktiven Erfahrungsraum sind sie übereinandergelegt, empirisch immer schon miteinander vereint. Gemeinsam sind sie die Arbeitsrealität, wie sie Arbeitssoziolog*innen erforschen: ein Konglomerat aus sowohl objektiven als auch subjektiven Zuständen, aus gesellschaftlich vorformulierten, aber auch autonomen Handlungs- und Arbeitsanweisungen. Arbeit ist demnach aus Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie ein konjunktiver Erfahrungsraum, da sie erstens Erfahrungen strukturiert, bevor Arbeitende überhaupt arbeiten, und da zweitens die Arbeits- bzw. Handlungspraxis – quasi selbstreferentiell – durch vorhergehende Arbeits- bzw. Handlungspraxis strukturiert wird. Arbeit als konjunktiven Erfahrungsraum zu verstehen bedeutet, Arbeit eine ähnlich starke strukturierende Wirkung zuzugestehen, wie Bohnsack dies in Bezug auf Generation, Milieu und Geschlecht (Bohnsack 1989) getan hat.

3.2.5 Implizite Reflexion als Ausdruck der Spannung zwischen Norm und Habitus

Innerhalb der konzeptuellen Architektur des konjunktiven Erfahrungsraums Arbeit wird ein Spannungsverhältnis zwischen Orientierungsschema und Orientierungsrahmen im engeren Sinne bzw. zwischen gesellschaftlichen, diskursiv vermittelten Normen und dem individuellen und zugleich gesellschaftlich geprägten Arbeitshabitus angenommen. Denn: Diskurse, Normen und der gesellschaftliche common sense über Arbeit müssen mit dem jeweils eigenen Arbeitshandeln in Einklang gebracht werden.

In Spannung zueinander stehen: einerseits der common sense der Arbeit bzw. all das, was Arbeitende über Arbeit und in der Arbeit gesellschaftlich-diskursiv vermittelt bekommen und was sich u.a. zu Normen und Erwartungen an Arbeit und Arbeitende verdichtet; andererseits der eigene bzw. auch kollektiv gewordene, aber dennoch implizit bleibende Arbeitshabitus, in dem sich das eigene Erleben von Arbeit, das inkorporierte und erfahrungsgebundene Wissen um das, was Arbeit bedeutet und wie sie zu leisten ist, verdichtet. Die Spannung zwischen Norm und Habitus der Arbeit(enden) findet Ausdruck in Bruchstellen des Arbeitshandelns, wo Arbeitsnorm und Arbeitshabitus nicht (mehr) in Kongruenz zueinander sind, wo sie auseinanderfallen und/oder sich reiben. Arbeit im Vollzug zeigt sich hier als beständig störanfällige und krisenhafte Praxis. Hier setzt auch die dokumentarische Auswertungspraxis an: Passagen, in denen noch keine Norm expliziert ist (meist die Eingangspassage) bzw. wo es keine Einheit von Norm und Habitus gibt, wo sich gestritten wird, wo die Worte fehlen, wo sich verhaspelt wird oder wo Konflikte oder besonders eindrücklich(e) Erlebnisse erzählt werden, werden zur kleinteiligeren Interpretation ausgewählt.

Im Hinblick auf die methodische Herausforderung der Vermittlung zwischen subjektiver und objektiver Perspektive von Arbeitenden bietet die praxeologische Wissenssoziologie auf Ebene der Operationalisierung die Differenzierung von kommunikativem und konjunktivem Wissen bzw. von Orientierungsschema und Orientierungsrahmen im engeren Sinn an. Auf forschungspraktischer Ebene arbeitet die dokumentarische Methode mit der Trennung zwischen formulierender und reflektierender Interpretation und dem darin vollzogenem Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie.

Damit kann der konjunktive Erfahrungsraum Arbeit als eine konzeptionelle Vermittlungsfigur verstanden werden, mit der a) die verobjektivierte Perspektive auf Arbeit, Arbeitspraktiken bzw. Arbeitsverständnisse mithilfe des kommunikativen Wissens und entlang der gesellschaftlich geprägten Diskurse und Normen um Arbeit und b) die subjektive Perspektive auf (eigene/andere) Arbeit, Arbeitspraktiken bzw. das Arbeitsverständnis mithilfe konjunktiven Wissens und entlang des sich nach und nach konturierenden Arbeitshabitus rekonstruiert werden können. Kurz: Die praxeologisch-dokumentarischen Differenzierungen ermöglichen es, gesellschaftliche und subjektive Wissensgehalte als analytisch getrennte zu beschreiben und zugleich beide in ihrer Verbundenheit in der Figur des konjunktiven Erfahrungsraums zu verstehen und zu rekonstruieren.

3.3 Generalisierung in der subjektorientierten Arbeitsforschung

Hinsichtlich der zweiten Herausforderung, der Generalisierung empirischer Ergebnisse zu theoretischen Aussagen, wird zu Beginn der Operationalisierung einer Fragestellung für die empirische Forschung häufig auf Verfahren des theoretical sampling, welche ursprünglich aus der Grounded Theory stammen, gesetzt. Auf Basis von theoretischen Vorannahmen bezüglich der Struktur des jeweiligen empirischen Feldes soll damit in der Erhebung und im Hinblick auf die spätere Fallauswahl ein breiter Blick auf und in das Feld ermöglicht werden. Zudem bietet das theoretical sampling die Möglichkeit, forschungsprojektübergreifende Generalisierungsstrategien anzuwenden.

„Das Theoretical Sampling ist in diesem Sinne auch als ein Prozess zu verstehen, der verschiedene Forschungsprojekte neben- und nacheinander umfasst: So kann etwa eine ‚maximale und minimale Kontrastierung‘ […] auch über verschiedene Projekte hinweg erfolgen und die Erfahrungen vorangegangener Projekte können für den Samplingprozess der jeweils aktuellen Forschungsbemühungen genutzt werden.“

Menz/Nies 2018, 298–299, Hervorhebungen CM

Zudem werden recht allgemeine Verfahren der Typenbildung angewandt. Innerhalb dieser tritt …

„[a]n die Stelle einer möglichst breiten Differenzierung […] die Suche danach, was das Typische der jeweils untersuchten Fälle ist: Es geht also um eine genaue Analyse der Bedingungskonstellationen, die den Fall auszeichnen, und die Identifizierung zentraler Einflussgrößen auf das interessierende Phänomen.”

Menz/Nies 2018, 302

Hinsichtlich der allgemein gehaltenen Typenbildungsverfahren bietet die dokumentarische Methode für die Ausweitung des Geltungsbereichs der empirischen Befunde unterschiedliche und forschungspraktisch gut ausgearbeitete Typenbildungsverfahren an, welche sich konsequent am Prinzip des beständigen Vergleichens orientieren.

3.4 Generalisierung durch das Prinzip des beständigen Vergleichens

Das Leitprinzip des beständigen Vergleichens ist in der Forschungspraxis der dokumentarischen Methode durchgängig verankert – von der Erhebung über die Auswertung bis hin zur Generalisierung der Ergebnisse. Die Generalisierung der Ergebnisse erfolgt hier auf der Basis des Prozesses der Typisierung, in welchem die einzelnen, detailliert miteinander verglichenen Fälle auf abstrakterem Niveau und durch den Vergleich untereinander zu Typen zusammengefasst werden. In der dokumentarischen Typenbildung bleibt – durch das Überspitzen und Vernachlässigen der Unterschiede zwischen den Fällen entlang der Vergleichsdimensionen – der Bezug zum Fall (der Gruppe oder der Interviewpartner*in) bestehen. Empirische Unterschiede zwischen den Fällen werden nicht zu Gunsten (oder zu Lasten) von Aspekten der ursprünglichen Forschungsfrage oder des Forschungsinteresses subsummiert, sondern diese werden ihrerseits in einem forschungsoffenen Prozess verändert.

Um aussagekräftige und deutliche Vergleiche für den Prozess des beständigen Vergleichens zu ermöglichen, sollen in der Erhebung mithilfe des theoretical sampling maximale Kontraste der Fälle auf allen denkbaren Ebenen erzeugt werden. In der Auswertung wird zunächst nach Differenzen und Unterschieden innerhalb und danach zwischen den Fällen gesucht, um zuerst auf der Ebene des Einzelfalls und danach auch fallübergreifend Vergleiche anstellen zu können. In der Interpretation werden so früh wie möglich sukzessiv weitere Fälle hinzugezogen, um Vergleichsmomente zu generieren und trennscharfe Fallbeschreibungen, in denen die jeweiligen konjunktiven Erfahrungsräume beschrieben werden, zu erzeugen. Der fallübergreifende Vergleich ist innerhalb der dokumentarischen Methode zu einem eigenständigen Auswertungsschritt weiterentwickelt worden, der komparativen Analyse.[11] Mit der Frage nach dem tertium comparationis – also dem gemeinsamen Dritten, das alle Fälle verbindet und worauf sich alle Fälle beziehen lassen – findet das Prinzip des beständigen Vergleichens einen (vorläufigen) Abschluss; allerdings können die bis dahin erstellten Typiken durch die Hinzuziehung weiterer empirischer Fälle erneut ‚geöffnet‘ und ergänzt werden.

Im Hinblick auf Generalisierungsstrategien setzt die dokumentarische Forschungspraxis damit weniger auf das forschungsprojektübergreifende Wissen von Forschenden (Menz/Nies 2018, 301), sondern auf kollektive Auswertungspraktiken, wie sie z.B. in Forschungswerkstätten (Riemann 2018)[12] organisiert werden. Empirisches Material, Fälle und Typologien aus unterschiedlichen Forschungsprojekten werden in den Werkstätten parallel zueinander in Verbindung gebracht; der Prozess ist damit unabhängig(er) von der Forschungserfahrung einzelner Forschender.

Kern des Generalisierungsprozesses ist die schrittweise Erhöhung des Abstraktionsgrads auf Basis der Ergebnisse des beständigen Vergleichs. Der Abstraktionsvorgang beginnt bereits auf der Ebene des Einzelfalls in der formulierenden und reflektierenden Interpretation. Hierbei stehen die internen Differenzen und Gemeinsamkeiten der einzelnen Fälle im Vordergrund. Im Zuge der darauffolgenden komparativen Analyse werden fallübergreifende Differenzen und Gemeinsamkeiten in den Blick genommen und zu Vergleichsdimensionen verdichtet. Sukzessiv wird danach, entlang von Differenzen und Gemeinsamkeiten der Fälle untereinander, von den Besonderheiten der Fälle abstrahiert und es werden Fälle entlang der sich empirisch ergebenden Vergleichsdimensionen nach und nach zu Typen abstrahiert.

Hinsichtlich der Frage nach der Ausweitung der Reichweite der Ergebnisse zeigen sich sinngenetische, soziogenetische und relationale Typenbildungsverfahren (Nohl 2013) forschungsoffen: Sie regen dazu an, die formulierten Typen unter Einbeziehung weiteren empirischen Materials weiter auszuarbeiten und zu verdichten. Neue Fälle können in die ausgearbeitete Typologie integriert und an diese angepasst werden. Die dokumentarische Methode formuliert damit das Angebot, auf Einzelfallebene detaillierte Einzelfallstudien anzufertigen und gleichzeitig durch das Verfahren der Typenbildung abstrakte(re), generalisierte(re) Ergebnisse zu formulieren, welche die Aussagekraft erster theoretischer Konzepte gewinnen können.

4 Norm der Freiwilligkeit vs. implizites Wissen um Notwendigkeit – ein exemplarisches Beispiel

Um den Mehrwert einer praxeologisch-dokumentarischen Vorgehensweise für die subjektorientierte Arbeitsforschung und ihre Herausforderungen deutlich zu machen, stelle ich ausgewählte Aspekte aus dem empirischen Teil meiner Forschung zur Frage der Einordnung von Freiwilligenarbeit in den Kontext unterschiedlicher Arbeitsformen vor. Im empirischen Teil stand die Frage nach dem (Selbst-)Verständnis der eigenen Praxis freiwilliger Arbeit im Vordergrund; hierfür wurden Gruppendiskussionen mit Freiwilligen aus unterschiedlichen Engagementfeldern geführt.

Die analytische Differenzierung zwischen implizitem und explizitem Wissen erbrachte den Mehrwert, dass sowohl das überraschend große Diskurswissen der Freiwilligen als auch die implizit bleibenden Aspekte ihres Selbstverständnisses bezüglich ihrer Freiwilligenarbeit rekonstruiert werden konnten. Das breite Diskurswissen konnte fallübergreifend rekonstruiert werden; Freiwillige nahmen in allen (!) Gruppen ohne vorhergehenden Erzählimpuls Bezug auf Diskurse der Engagementpolitik und -forschung. In ihrem common sense beschrieben sie den Wert ihrer Arbeit als ‚unbezahlbar‘, sie thematisierten die Frage ihrer eigenen Bezahlung (meist im Sinne einer aktiven Ablehnung, begründet mit Bezug auf den ‚Eigensinn ihres Engagements‘), sie gingen mehr oder weniger oberflächlich auf die komplexen Debatten um Professionalisierung und Verdrängung von bezahlten Kräften durch Freiwillige ein und nahmen Bezug auf ihre eigene Belastung und Überforderung. Sie sprachen ohne Erzählimpuls über die Motive bzw. Wirkungen ihrer Freiwilligenarbeit: Diese soll u.a. Spaß machen, der Gesellschaft nützen und gleichzeitig den Wunsch, ‚helfen zu wollen‘, erfüllen, aber auch das Gefühl vermitteln, etwas zurückzubekommen. Mithilfe dieser Passagen ließ sich das fallübergreifende Orientierungsschema von Freiwilligen, der gesellschaftlich geprägte und prägende Kontext ihrer Freiwilligenarbeit rekonstruieren – der ihnen in Teilen als verobjektivierter Kontext gegenübertritt. Die fallübergreifend rekonstruierte geteilte Norm der Freiwilligen bezüglich ihrer Freiwilligenarbeit lautet demnach, dass diese unbezahlt, freiwillig, reziprok nützlich und mit Gemeinschaftsbezug ausgeübt wird bzw. werden sollte.

Im Zuge von reflektierender Interpretation und der komparativen Analyse konnte ein geteiltes, implizit bleibendes Wissen um die Notwendigkeit der eigenen Freiwilligenarbeit rekonstruiert werden: Alle Freiwilligen wissen – mehr oder weniger implizit –, dass sie mit ihrer Arbeit nicht nur zum ‚gesellschaftlichen Zusammenhalt‘ beitragen, sondern dass ihre Arbeit gesellschaftlich notwendig ist. Und sie wissen, dass dieses Wissen um die Notwendigkeit mit der expliziten, über Diskurse und common sense vermittelten und daher auch selbstformulierten Norm der Freiwilligkeit in Spannung steht.[13] Mithilfe der formalen Textsortenanalyse, der Bestimmung der wiederkehrenden Muster, Kontexte und negativen und positiven Horizonte im Verlauf der reflektierenden Interpretation konnte dieses Wissen um den ambivalenten Aspekt der Notwendigkeit der eigenen Arbeit aus der Perspektive bzw. aus den Erzählungen der Freiwilligen selbst rekonstruiert werden.

Mithilfe des Konzepts des konjunktiven Erfahrungsraums konnte die Ambivalenz freiwilliger Arbeit aus Perspektive der Freiwilligen zunächst empirisch, aber dann auch theoretisch verallgemeinernd in der Form des tertium comparationis gefasst werden: Freiwilligenarbeit stellt sich als eigenständige Arbeitsform zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit dar, in der Freiwillige im Spannungsfeld zwischen der diskursiven Norm der Freiwilligkeit und dem impliziten Wissen um die Notwendigkeit ihrer Freiwilligenarbeit stehen und diese notorische Spannung in ihrer Arbeitspraxis aus- und verhandeln müssen.

Das Prinzip des beständigen Vergleichens findet sich in der dokumentarischen Interpretationspraxis im beständigen Vergleich von Gemeinsamkeiten und Differenzen: zunächst innerhalb der Fälle, dann zwischen den Fällen und zuletzt mit Bezug allein auf die Gemeinsamkeiten der Fälle, um diese zu Typen zu abstrahieren. Für die Fallbeschreibungen der einzelnen Freiwilligengruppen wurde zunächst die Basis des fallübergreifenden Vergleichs geschaffen und es wurden die Unterschiede innerhalb der Fälle ausgearbeitet. Dafür wurden pro Fall drei bis fünf Passagen detailliert formulierend und reflektierend interpretiert und miteinander verglichen. Im nächsten Schritt, der komparativen Analyse, wurde das Prinzip des beständigen Vergleichs fallübergreifend angewandt. Die zwischen den Fällen hervorstechenden Gemeinsamkeiten wurden ausgearbeitet und auf abstrakterer Ebene zu Vergleichsdimensionen (‚Bezug auf Arbeit‘, ‚Umgang mit Autonomie und Heteronomie in der Freiwilligenarbeit‘ und ‚Bezug zu Klient*innen und Außenwelt‘) zusammengefasst. Entlang dieser Vergleichsdimensionen wurden fünf Fälle zu drei Typen freiwilliger Arbeit ausgearbeitet. Innerhalb des jeweiligen Typs blieben die Besonderheiten der darin eingelagerten Fälle erhalten, zugleich wurde auf die analytische Trennschärfe der Typen untereinander in Bezug auf die Vergleichsdimensionen geachtet. Im Zuge der Typisierung wurden die in der Falldarstellung noch fokussierten Differenzen der einzelnen Fälle nach und nach vernachlässigt und der Fokus auf die Gemeinsamkeiten – entlang der aufgestellten Vergleichsdimensionen – gerichtet.

5 Zusammenfassung und Fazit

Ausgangspunkt des Beitrags war die Frage nach den Möglichkeiten und Angeboten, die Methoden aus dem Spektrum des rekonstruktiven Paradigmas – wie die dokumentarische Methode und ihre Hintergrundtheorie, die praxeologische Wissenssoziologie – für die subjektorientierte Arbeitsforschung hinsichtlich ihrer methodologischen Herausforderungen bereithalten.

5.1 Vermittlung zwischen Subjekt- und Objektperspektive

Im Hinblick auf die Herausforderung der Vermittlung zwischen Subjekt- und Objektperspektive bietet die dokumentarische Methode das Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums an. Mit der Annahme eines zweigeteilten Erfahrungsraums Arbeit, in dem notorische Spannungsverhältnisse zwischen den objektiven Normen des Arbeitshandelns und dem Habitus der Arbeitenden existieren, können sowohl die Subjektperspektive auf Arbeit als auch die sich den Subjekten als objektiv darstellenden Bedingungen und Umstände der Arbeitssituation gleichberechtigt nebeneinander rekonstruiert werden.

Die dokumentarische Methode ermöglicht es damit, das Konglomerat aus verobjektivierten Normen der Arbeit und subjektiven Perspektiven auf Arbeit durch die Analyse von Darstellungen der Praxis (sei es in Gruppendiskussionen, Interviews, Bildern oder Videos) schrittweise in seinen Einzelteilen zu rekonstruieren. Subjektorientiert Arbeitsforschende flechten die Praxis der Arbeitenden somit nach und nach auf bzw. suchen in der Praxis der Subjekte und in ihren gewachsenen Strukturen nach wiederkehrenden Regeln und Mustern, um das Gewordensein dieser Praxis erklären zu können.

Dokumentarische Methode und praxeologische Wissenssoziologie ermöglichen es zudem, Arbeit als doppelt strukturierten, konjunktiven Erfahrungsraum zu verstehen, in dem gesellschaftliche und als objektiv erscheinende Aspekte der Arbeit bzw. des Arbeitsprozesses im Orientierungsschema und subjektive Aspekte im Orientierungsrahmen im engeren Sinne aufgehoben sind. Der Mehrwert der praxeologisch-rekonstruktiven Perspektive liegt in diesem veränderten Blickwinkel: Wird Arbeit als konjunktiver Erfahrungsraum begriffen, können subjektive und objektive Anteile darin – in den Rahmungen von Orientierungsschema und Orientierungsrahmen im engeren Sinne – beschrieben und gleichzeitig als miteinander vermittelt verstanden werden. Arbeit wird – ähnlich wie der Begriff des Habitus – als strukturierende und strukturierte Struktur gleichermaßen verstanden. Mithilfe der Konzepte des Orientierungsschemas und des Orientierungsrahmens im engeren Sinne kann das, was in der Arbeitsrealität (auch auf unterschiedlichen Ebenen: individuell, gruppen- oder professionsbezogen) miteinander verwoben vorliegt, analytisch getrennt werden, um es auf seine verobjektivierten und seine subjektiven Aspekte zu befragen, ohne jedoch die Wechselwirkungen zwischen ihnen zu negieren. Die rekonstruktive Vermittlung zwischen Subjekt- und Objektperspektive mithilfe der angenommenen Architektur des konjunktiven Erfahrungsraums Arbeit fundiert methodisch das, was innerhalb der subjektorientierten Arbeitsforschung ohnehin angenommen wird: Arbeitende werden als autonom handelnde, mit Eigensinn versehene Subjekte entworfen, die zugleich als in gesellschaftliche Strukturen Eingebettete begriffen werden und deren Arbeitshandeln somit doppelt bestimmt ist. Wird Arbeit als konjunktiver Erfahrungsraum verstanden, so werden darin nicht nur die Arbeitenden als Handelnde zwischen Eigensinn und objektiven Zwängen positioniert, sondern auch die vermittelnde Funktion von Arbeit für und in Gesellschaft wird verdeutlicht. Die Scharnierfunktion von Arbeit als Mittler zwischen Subjekt und Gesellschaft wird scharf- und damit hervorgestellt, sodass mit Arbeit ein Bezug auf den gesellschaftlichen Aspekt von Arbeit, ein Bezug auf das Überindividuelle, das Kollektiv der Arbeitenden hergestellt wird. Die praxeologisch-dokumentarische Vorgehensweise zeigt damit auch, dass ‚das Gesellschaftliche‘ bzw. ‚objektive‘ gesellschaftliche Strukturprinzipien – über eine Menge Umwege – auch im subjektiven und kollektiven Arbeitshandeln und den Erzählungen darüber eingelagert sind, jeden Tag aufs Neue eingelagert werden und so auch der Rekonstruktion zugänglich sind.

Andersherum formuliert: Da sich in der Art und Weise, wie etwas getan und gesagt wird, auch gesellschaftliche und strukturelle Gehalte niederschlagen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 278), kann das subjektive (Erfahrungs-)Wissen von Arbeit mit dem objektiven Geschehen von Arbeit zusammengeschlossen werden.

5.2 Generalisierung durch offene Typenbildungsverfahren

Das Problem der Generalisierung wird auf der Ebene der dokumentarischen Forschungspraxis durch die konsequente Anwendung des Prinzips des beständigen Vergleichens und die daraus hervorgehenden unterschiedlichen Typenbildungsverfahren gelöst. Ausgehend von detaillierten Fallbeschreibungen werden Fälle mit Bezug zu unterschiedlichen Vergleichsdimensionen nach und nach zu abstrakteren Typen verdichtet, ohne dabei den Bezug zur empirischen ‚Basis‘ zu verlieren. Unterschiedliche Typenbildungsverfahren (wie die sinngenetische, die soziogenetische und die relationale Typenbildung, Nohl 2013) können dabei miteinander kombiniert werden.

5.3 Fazit

Konzepte, Begriffe und Verfahren der praxeologischen Wissenssoziologie und der dokumentarischen Methode halten gute Angebote bereit für die methodische Herausforderungen der subjektorientierten Arbeitsforschung: Wird Arbeit als konjunktiver Erfahrungsraum konzipiert und rekonstruiert, können subjektive und verobjektivierte Perspektiven auf Arbeit gleichermaßen und in ihrer Wechselwirkung analysiert werden; ausdifferenzierte Typenbildungsverfahren erleichtern die Generalisierung von Einzelfällen hin zu Typen bzw. zu theoretischen Konzepten. Es gilt, die bereits bestehenden Anschlüsse zwischen subjektorientierter und rekonstruktiver Arbeitsforschung weiter auszuloten, insbesondere im Hinblick auf die zentrale Rolle, die die Subjektperspektive in der Debatte um den Wandel der Arbeit, der derzeit in vollem Gange ist, einnehmen sollte. Je tiefer subjektorientiert Arbeitsforschende dabei in die praxeologisch-dokumentarischen Methodendebatten einsteigen, desto mehr können sie dabei gewinnen.

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Online erschienen: 2025-05-23
Erschienen im Druck: 2025-05-26

© 2025 Carolin Mauritz, publiziert von De Gruyter

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