Auf dem Weg zu einer umfassenden Forschungsperspektive auf die lebendige Arbeit
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Jacqueline Kalbermatter
Zusammenfassung
Dieser Beitrag befasst sich mit der zentralen Herausforderung der qualitativen Arbeitsforschung, Erkenntnisse zu gewinnen, die über den betrieblichen Kontext hinausweisen. Er schlägt eine gesellschaftstheoretisch fundierte qualitative Forschungsmethodologie vor, die den betrieblichen Arbeitsprozess in die gesellschaftliche Organisation der Reproduktion einbettet. Erstens wird im Anschluss an die Extended Case Method für eine theoriereflexive Methode plädiert, in der das Verhältnis zwischen Gesellschaftstheorie und dem empirischen Fall als ein methodisch kontrollierter und systematisierter Dialog entworfen wird. Daran anknüpfend wird zweitens eine kapitalismustheoretisch fundierte Forschungsperspektive vorgeschlagen, die erlauben soll, die unterschiedlichen Bedingungen der Reproduktion gesellschaftlicher Gruppen mit der betrieblichen Arbeitswelt analytisch in Beziehung zu setzen. Schließlich wird diskutiert, wie diese integrative Forschungsperspektive für die Analyse des Arbeitsprozesses fruchtbar gemacht werden kann.
Abstract
This contribution addresses the key challenge of qualitative labour research to generate evidence beyond the corporate context. It proposes a qualitative research methodology based on social theory that embeds the labour process in the social organisation of reproduction. Firstly, following the extended case approach it offers a theory-reflexive method capable of accounting for the relationship between theory of society and the empirical case and allowing for controlled and systematic dialogue between both. Secondly, following on from this, it suggests a research perspective based on capitalism theory, which aims to analytically relate the different conditions of reproduction of social groups to the workplace. Finally, it discusses how this integrative research perspective can be fruitfully used in analysing the labour process.
1 Einleitung: Zum Verhältnis zwischen Gesellschaftstheorie und Methode in der arbeitssoziologischen Forschung
Nach wie vor sieht sich die Arbeitssoziologie mit der zentralen Herausforderung konfrontiert, ihre Erkenntnisgewinnung in der Auseinandersetzung mit konkreten Problemstellungen der Arbeitswelt nicht auf den betrieblichen Kontext zu verengen. In dieser Frage nach der Erkenntnisreichweite arbeitssoziologischer Forschung verdeutlicht sich, dass eine Methodendiskussion und -reflexion nicht entkoppelt von einer gesellschaftstheoretischen Rückbindung empirischer Ergebnisse geführt werden sollte. Die Blickverengung auf den betrieblichen Untersuchungskontext geht auch mit einem methodologischen und methodischen Schweigen gegenüber der gesellschaftstheoretischen Einbettung empirischer Erkenntnisse einher. Soll jedoch geklärt werden, wie Bezüge zwischen der empirisch erforschten Arbeitswelt und gesellschaftstheoretischen Perspektiven hergestellt und auf welche Weise Gesellschaftstheorien in den Forschungsprozess integriert werden, ist eine systematisch geführte methodisch-methodologische Auseinandersetzung unabdingbar. Denn die gesellschaftstheoretische Einbettung empirischer Ergebnisse ist keineswegs eine Möglichkeit, die sich am Ende des Forschungsprozesses eröffnet. Vielmehr gilt es, die gesellschaftstheoretische Perspektive als Ausgangspunkt des Forschungsprozesses zu betrachten, der nicht nur die Methodenwahl, sondern auch deren konkrete Anwendung im Feld und die methodische Vorgehensweise im Allgemeinen strukturiert. Oder mit Burawoy (1998, 30) formuliert: „Usually, it is not the problem that determines the method but the method that shapes the problem.“
Dieser Beitrag schlägt vor, die Bezugnahme auf gesellschaftstheoretische Perspektive(n) als methodisches und methodologisches Anliegen in den Mittelpunkt der arbeitssoziologischen Forschung zu rücken und eine gesellschaftstheoretisch fundierte Erforschung der betrieblichen Arbeitswelt zu adressieren, die ihren Blick um die Bedingungen der sozialen Reproduktion erweitert. Eine wesentliche Herausforderung dieser gesellschaftstheoretischen Perspektivnahme auf die betriebliche Arbeitswelt besteht darin, die subjektive Perspektive der Beschäftigten aufzunehmen und zugleich methodisch zwischen Subjekt- und gesellschaftstheoretischer Perspektive zu vermitteln. Im Anschluss an die subjektorientierte qualitative Arbeitsforschung schlage ich eine gesellschaftstheoretisch fundierte qualitative Forschungsmethodologie vor, die den betrieblichen Arbeitsprozess in die gesellschaftliche Organisation der Reproduktion einbettet.
In einem ersten Schritt unterbreite ich anknüpfend an die Extended Case Method eine theoriereflexive Methode, in der das Verhältnis zwischen Gesellschaftstheorie und dem empirischen Fall als ein methodisch kontrollierter und systematisierter Dialog entworfen wird. In einem zweiten Schritt wird eine subjektbezogene Perspektive auf Konflikte in der betrieblichen Arbeitswelt entwickelt, die die gesellschaftliche Stellung der Subjekte analytisch berücksichtigt. Damit wird die Zentralsetzung des Transformationsproblems, das in der Arbeits- und Industriesoziologie seit jeher als zentraler Gegenstandsbereich gilt (Dörre 2012, 493; Mayer-Ahuja 2021, 5–6; Minssen 2006, 11; Ruiner/Wilkesmann 2016, 12–13) und auch heute noch „als das arbeitssoziologische Basistheorem schlechthin“ (Menz/Seeliger 2024, 38) bezeichnet wird, nicht etwa aufgegeben, sondern in einen außerökonomischen gesellschaftlichen Kontext eingerückt. Dabei erachte ich die reproduktionsfeministische Perspektive als fruchtbare gesellschaftstheoretische Grundlage, da sie eine analytische Verengung auf die kapitalistische Produktion und auf den betrieblichen Zugriff auf die Ware Arbeitskraft zu überwinden vermag, indem sie die Aufrechterhaltung und Erneuerung der Arbeitskraft und die damit verbundenen gesellschaftlichen Bedingungen und Beziehungen in den Blick nimmt. Insbesondere Vertreter:innen der neuen Theorien Sozialer Reproduktion haben darauf hingewiesen, dass Reproduktionsbedingungen sozial ungleich verteilt sind und entsprechende gesellschaftliche Beziehungen theoretisch eingefangen werden müssen (z.B. Bhattacharya 2015; Ferguson 2020; Ferguson/McNally 2013; Haubner 2024). Gerade diese Einbettung in eine übergeordnete Gesellschaftsordnung ist elementar, um ein vertieftes Verständnis von Konflikten in der betrieblichen Arbeitswelt zu generieren – wie es zu zeigen gilt. Daran anknüpfend schlage ich schließlich in einem dritten Schritt in Anlehnung an das 1983 erschienene Buch von Lise Vogel Marxism and the Oppression of Women: Towards a Unitary Theory (Vogel 2019/1983) eine integrative Forschungsperspektive der lebendigen Arbeit vor, die es erlauben soll, die gesellschaftliche Stellung von Frauen und Migrant:innen bezüglich sozialer Reproduktion und Ausbeutung analytisch miteinander in Beziehung zu setzen und für den Arbeitsprozess als Untersuchungsgegenstand fruchtbar zu machen (vgl. Ferguson/McNally 2013, xxiii).
2 Von der Gesellschaftstheorie zur Methode: Extended Case Method
Was Menz (2021,19) als „verbreitete Klage über das gesellschaftstheoretische Defizit der Arbeitssoziologie“ bezeichnet hat, ist auch über die Arbeitssoziologie hinaus in der Soziologie keine Ausnahme. So attestierten Erhard und Schäfer (2024) jüngst der quantitativen und qualitativen soziologischen Forschung ganz generell eine Leerstelle in Bezug auf ihre Auseinandersetzung mit der gesellschaftstheoretischen Rückbindung von empirischen Ergebnissen. Die Autoren plädieren dafür, diese Rückbindung als Gütekriterium soziologischer Forschungsarbeit zu definieren, denn nur durch die Bezugnahme auf gesellschaftstheoretische Perspektiven, so ihre Argumentation, „verlieren sich die eigenen Forschungsergebnisse nicht im Empirismus und werden greif- und kritisierbar“ (Erhard/Schäfer 2024, 94). In diesem Zusammenhang tritt unweigerlich die elementare Bedeutung der Methoden hervor, die weniger mit methodischen Detailentscheidungen im Forschungsprozess als gewissermaßen mit ihrer Vermittlungsfunktion im Dialog zwischen Empirie und Gesellschaftstheorie verbunden ist (vgl. Burawoy 2021, 23). In der arbeitssoziologischen Forschung widerspiegelt sich diese Herausforderung insbesondere in der Vermittlung der Methode zwischen dem Subjektbezug und der Strukturanalyse, die Menz und Seeliger (2024, 52) als „gegensätzliche Grundprinzipien“ bezeichnen. Als wegweisend dafür, dieses Verhältnis in der arbeitssoziologischen Forschung methodisch anzugehen, erweisen sich meines Erachtens die Überlegungen von Burawoy (1991a,b, 1998) zur Extended Case Method. Zwar bezieht sich diese Forschungsmethodologie auf die Methode der teilnehmenden Beobachtung, sie lässt sich aber durchaus allgemein fruchtbar machen für die arbeitssoziologische Forschung, in der traditionell qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden dominieren (vgl. Menz/Nies 2018; Pflüger u.a. 2010). Denn gerade in der deutschen Arbeitsforschung kann eine Schwierigkeit darin verortetet werden, dass – wie es etwa Sauer (2017, 257) auf den Punkt bringt – der Allgegenwärtigkeit der Fallstudienforschung im empirischen Feld „ein eigentümliches methodologisches Schweigen“ gegenübersteht. Dennoch finden sich mit der industriesoziologischen Fallstudienforschung (Pongratz/Trinczek 2010) und insbesondere der theoriegeleiteten Fallstudienforschung (Nies/Sauer 2010) oder auch der Dual Thematic Framework Analysis (Kalbermatter 2022) durchaus Ansätze, in denen konkrete Problemstellungen der betrieblichen Arbeitswelt theoriegeleitet und methodisch reflektiert in übergeordnete soziale Kontexte eingebettet werden. Weniger deutlich expliziert wird hingegen, wo und wie eine gesellschaftstheoretische Perspektive in der Entwicklung der methodischen Vorgehensweise verortet und theoretisch eingeordnet werden kann. Mit der Extended Case Method lässt sich diese Lücke schließen. Es handelt sich um eine qualitative Forschungsmethodologie, die eine systematische, gesellschaftstheoretisch fundierte Theorie-Rekonstruktion auf der Basis von Daten aus teilnehmender Beobachtung und qualitativen Interviews anvisiert (Burawoy 1991b, 271) und auf einer reflexiven wissenschaftstheoretischen Position basiert (Burawoy 1998, 6).
Eine der besonderen Stärken der Extended Case Method liegt darin, das Verhältnis zwischen Gesellschaftstheorie und dem empirischen Fall – der Arbeitssituation oder dem Betrieb – als einen methodisch kontrollierten und auf systematische Weise stattfindenden fortwährenden Dialog zu entwerfen – und zwar ohne dabei in eine Subjektvergessenheit zu geraten. Mit Blick auf die arbeitssoziologische Forschung kann festgestellt werden, dass sich die Zentralsetzung der Perspektive der Beschäftigten mittlerweile als Selbstverständlichkeit durchgesetzt hat und entsprechend auch mit einem Wandel der Methoden einhergeht. Die stärkere Gewichtung der subjektiven Perspektive der Beschäftigten hat zur Folge, dass neben der weitverbreiteten Anwendung von Expert:inneninterviews vermehrt Beschäftigteninterviews als Kernmethode zum Einsatz kommen, die im Gegensatz zu quantitativen Bewusstseinsstudien erlauben, komplexe Sinnstrukturen in den Blick zu nehmen (Menz/Seeliger 2024, 36–37; Menz/Nies 2018, 280–286; Nies/Sauer 2010, 151). Demgegenüber spielt die teilnehmende Beobachtung in der deutschen arbeitssoziologischen Forschung grundsätzlich eine marginale Rolle (Menz/Nies 2018; Heiland/Schaupp 2022). Verschiedentlich wurde bereits für eine Stärkung dieser Methode in der Erforschung der Arbeitswelt plädiert, weil sie Praktiken der Beschäftigten und somit potenzielle Widerstandsmomente in sozialen Interaktionen im betrieblichen Arbeitsprozess im Gegensatz zur Interviewforschung überhaupt erst als solche in den Blick zu nehmen vermag (z.B. Schaupp 2022; Kalbermatter 2022). Eine wesentliche Gemeinsamkeit der teilnehmenden Beobachtung und der qualitativen Interviewforschung mit Beschäftigten lässt sich aber allgemein darin verorten, dass sie erlauben, alltägliche Erfahrungen der Beschäftigten in den Mittelpunkt der Analyse der betrieblichen Arbeitswelt zu rücken und damit die Kritik an der „‚Subjektvergessenheit‘ früherer Forschung“, die „das Subjekt systematisch ausgeblendet“ hat, methodisch ernst zu nehmen (Nies/Sauer 2010, 150).
Eine solche subjektorientierte Arbeitsforschung wird auch mit der Extended Case Method verfolgt. Denn die Zentralsetzung der Perspektive der Beschäftigten und deren methodische und theoretische Vermittlung mit einer kapitalismustheoretischen Perspektive zeichnen Burawoys (1979, 1985) empirische Untersuchungen des betrieblichen Arbeitsprozesses aus. Dabei zielt die Extended Case Method darauf ab, die Analyse in den alltäglichen Erfahrungen der Beschäftigten zu verankern und kapitalismustheoretische Überlegungen mit der Frage zu verbinden, was es bedeutet, Arbeiter:in in historisch-konkreten Gesellschaftsformationen zu sein (Burawoy 1985, 19). Sie erlaubt in diesem Sinne, den analytischen Standpunkt der lebendigen Arbeit einzunehmen und deren Widerständigkeit gegenüber Kontrollstrukturen im Arbeitsprozess analytisch zu betonen.
Burawoy schlägt mit der Extended Case Method (1991b, 274) ein methodisches Instrumentarium vor, das nicht auf der Analyse der Mikroebene stehen bleibt, sondern die Verbindung zwischen Mikro- und Makroebene herzustellen und damit zwischen dem Subjektbezug und der Strukturanalyse zu vermitteln vermag. Er sieht eine Einschränkung der klassischen ethnografischen Einzelfallstudien darin, dass sie zwar durchaus interessante Ergebnisse für einzigartige Fälle liefern, aber keine Verallgemeinerung über spezifische soziale Situationen hinweg anzustellen imstande sind (ebd., 272). Auch für eine subjektorientierte Arbeitsforschung stellt sich die Herausforderung der Vermittlung zwischen Mikro- und Makroebene. Dies gilt insbesondere für jene Forschungsperspektiven, in denen der Fall auf der Ebene der Arbeitssituation gefasst und der Betrieb als Analyseeinheit „auf der mittleren Ebene zwischen Subjekt und Handlung einerseits und gesellschaftlichen Strukturprinzipien andererseits“ aufgegeben wird (Menz/Seeliger 2024, 54). Daran anknüpfend verortet Burawoy (1991b, 272) ein zweites Problem für ethnografische Einzelfallstudien darin, dass die Untersuchung spezifischer sozialer Situationen auf der Mikroebene stehenbleibt – die Untersuchung ist auf eine kurze Zeitdauer und auf einen spezifischen geografischen Raum beschränkt. Auch in der subjektorientierten Arbeitsforschung kann eine wesentliche Herausforderung darin gesehen werden, dass die strukturelle Ebene, also die „äußeren Handlungsbedingungen – die Konstitutionsbedingungen der kapitalistischen Ökonomie“, nicht verloren geht (Menz/Seeliger 2024, 53–54).
Burawoy reagiert auf beide Probleme mit der Entwicklung der Extended Case Method, grenzt sich dabei aber explizit von einer Art der Verallgemeinerung ab, die darauf abzielt, allgemeingültige und unveränderliche Gesetze über spezifische soziale Situationen – und damit auch Raum und Zeit – hinweg zu generieren (Burawoy 1991a, 9; 1991b, 280–281). Vielmehr geht es umgekehrt darum, die Auswirkungen der Makroebene auf die Mikroebene zu identifizieren und somit das Allgemeine aus dem Besonderen herauszuschälen (Burawoy 1998, 5). Die Erklärung spezifischer Ausprägungen einer sozialen Situation – in diesem Sinne als Fall verstanden – ist nicht in dieser selbst zu suchen, sondern gelingt nur unter Bezugnahme auf äußere, nicht in ihr selbst liegende Einflussfaktoren (Burawoy 1991a, 9). Die damit verbundene Frage der Generalisierung adressiert Burawoy (ebd., 8), indem er gewissermaßen die Black Box der Theorie-Rekonstruktion öffnet und die Entdeckung und Rechtfertigung von Theorien als zwei untrennbare Seiten eines Prozesses betrachtet. Der Autor hält in Bezug auf die Kritik an der Generalisierbarkeit spezifischer Situationen auf der Mikroebene fest:
„The extended case method looks for specific macro determination in the micro world, but how does it measure up to the criticism of generalizability? lt seeks generalization through reconstructing existing generalizations, that is, the reconstruction of existing theory.“
Burawoy 1991b, 279
Generalisierungen basieren auf der Rekonstruktion von Theorien (Burawoy 1991b, 274). In diesem Sinne werden Theorien als eine Art Korpus bereits existierender Generalisierungen verstanden, die es durch deren Anwendung auf spezifische Fälle weiterzuentwickeln gilt (ebd., 280). Es handelt sich um eine Vorgehensweise, in der strukturorientierte Theorien an spezifische soziale Situationen herangetragen werden, um zu verstehen, wie diese Mikrosituationen durch umfassendere Strukturen geformt werden, ohne dabei das Ziel der Theorie-Rekonstruktion aus den Augen zu verlieren (ebd., 282). Dem Grundprinzip der Offenheit ist diese Vorgehensweise insofern verpflichtet, als es im Prozess der Theorie-Rekonstruktion stets darum geht, nach Fällen zu suchen, die Theorien nicht bestätigen, sondern widerlegen, wobei Letzteres nicht zur Folge hat, dass die theoretischen Überlegungen abgelehnt werden, sondern dass sie überarbeitet und weiterentwickelt werden (Burawoy 1991a, 9). So betont Burawoy:
„The importance of the single case lies in what it teils us about society as a whole rather than about the population of similar cases.“
Burawoy 1991b, 282
Dieser Suchprozess schlägt sich in einer Vergleichsstrategie nieder, die darauf abzielt, spezifische Unterschiede zwischen den Fällen auf unterschiedliche äußere soziale Kräfte zurückzuführen, in die sie eingebettet sind (Burawoy 1998, 19). Dies erlaubt die Beantwortung der Frage, wie ein sozialer Kontext beschaffen sein muss, damit die beobachteten Ausprägungen eines einzelnen Falles auftreten (Burawoy 1991b, 281). Zwar verortet Burawoy damit einzelne Fälle ganz allgemein gesprochen in einen größeren ‚externen Kontext‘, präzisiert aber selbst, dass es sich dabei um ‚external forces‘ handelt. Mit diesem Begriff unterstreicht er, dass es sich um soziale Kräfte handelt, die außerhalb der Situation und damit des Untersuchungsfelds anzusiedeln sind und weitgehend außerhalb der Kontrolle der Akteur:innen in dieser Situation existieren (Burawoy 2003, 653). Da diese externen Kräfte „not fixed“, sondern „in flux“ sind und „appear and disappear in ways that are often incomprehensible and unpredictable to the participants“ (ebd.), können sie nicht allein durch teilnehmende Beobachtung oder qualitative Interviewforschung mit Beschäftigten identifiziert werden. Gerade deshalb wird eine gesellschaftstheoretische Perspektive benötigt, die nicht nur diese über die Situation hinauswirkenden Kräfte einzufangen vermag, sondern sie auch theoretisch integriert, indem der Unterschied zwischen ‚intern‘ und ‚extern‘ konzeptionell berücksichtigt wird (ebd.).
Damit verabschiedet sich die Extended Case Method von einer Vorgehensweise, in der Gesellschaftstheorien als statische Rahmentheorien oder starre Raster konzipiert und empirischen Fällen auf eine ‚mechanische‘ Weise ‚übergestülpt‘ werden. Vielmehr werden Gesellschaftstheorien weiterentwickelt, in dem sie für die Untersuchung neuer Fälle nutzbar gemacht werden (Burawoy 2021, 97). Diese Erweiterung wird möglich, indem gesellschaftstheoretisch fundierte Überlegungen mit Situationen des alltäglichen Lebens und Arbeitens konfrontiert werden, wobei Burawoy explizit auf die zentrale Bedeutung kapitalismustheoretischer Perspektiven in diesem Prozess verweist:
„There I argue that by focusing on the ‚macro‘ determinations of everyday life, the extended case method is also the most appropriate way of using participant observation to (re)construct theories of advanced capitalism.“
Burawoy 1991b, 271
Anknüpfend an diese methodologischen Überlegungen zur Extended Case Method stellt sich die Frage, wie diese subjektbezogene Perspektive auf Konflikte in der betrieblichen Arbeitswelt in eine gesellschaftstheoretische Perspektive eingerückt werden kann, die es erlaubt, auch gesellschaftlich ungleich verteilte Reproduktionsbedingungen in die kapitalismustheoretische Perspektive zu integrieren.
3 Von der Methode zur Gesellschaftstheorie: Reproduktion der lebendigen Arbeit
Als fruchtbaren Ausgangspunkt für eine solche Analyse erachte ich die Labour Process Theory, zu deren zentralen Vertreter:innen auch Burawoy zählt. Sie erlaubt die Vermittlung zwischen Subjektbezug und Strukturanalyse, indem der Arbeitsprozess als empirischer Bezugspunkt der Untersuchung herangezogen wird, die hier stattfindenden Dynamiken im Zusammenhang des Transformationsproblems aber ins antagonistische Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit eingerückt und durchaus unter theoretischer Berücksichtigung exogener Faktoren erklärt werden (Thompson/Smith 2024, 4–6). Ich schlage eine theoretische Weiterentwicklung der Labour Process Theory um die Reproduktionsbedingungen der lebendigen Arbeit vor, welche die spezifische gesellschaftliche Stellung weiblicher und migrantischer Arbeiter:innen analytisch greifbar machen soll. Dazu rücke ich die Reproduktionsbedingungen in eine kapitalismustheoretische Perspektive ein, die den Arbeitsprozess in den Mittelpunkt der Analyse stellt.
Die Zentralsetzung der Perspektive der Arbeiter:innen kann als Kern der Labour Process Theory bezeichnet werden, da sie die Handlungsmacht der Arbeiter:innen den Versuchen des Managements gegenüberstellt, die Arbeitskraft in tatsächlich verausgabte Arbeit zu transformieren, und den Arbeitsprozess somit als umkämpftes Terrain in den Blick nimmt (Burawoy 1979, 1985; Edwards 1979) – ohne umgekehrt in eine ‚Kapitalismusvergessenheit‘ zu geraten. Eine kapitalismustheoretische Einbettung erfährt der Arbeitsprozess bei Burawoy (1985, 13–14, 125), indem er diesen, verstanden als Koordination von Tätigkeiten und sozialen Beziehungen zur Umwandlung von Rohstoffen in Endprodukte, analytisch von den political apparatuses of production trennt und damit auf die politische Dimension des Ausbeutungsverhältnisses hinweist. Unter political apparatuses of production versteht er all jene politischen Institutionen am Arbeitsplatz, welche die sozialen Beziehungen in der betrieblichen Arbeitswelt und die damit verbundenen Auseinandersetzungen zwischen der Kapital- und der Arbeitsseite koordinieren und regulieren (Burawoy 1985, 87, 255). Diese Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz bezeichnet er als politics of production (Burawoy 1985, 87).
Daran anknüpfend unterscheidet Burawoy (1985, 87) historisch und geografisch zwei Varianten des factory regime, die er als „overall political form of production, including both the political effects of the labour process and the political apparatuses of production“ bezeichnet: das despotische und das hegemoniale factory regime. Die politics of production in diesen Regimen unterscheiden sich im Wesentlichen in Bezug darauf, inwiefern die Reproduktion der Arbeitskraft unmittelbar von der Arbeit im Unternehmen abhängt oder durch staatliche Interventionen abgesichert wird (Burawoy 1985, 189–190). Während Ersteres sich durch den Zwang zur Unterordnung der Arbeiter:innen auszeichnet, der aufgrund minimaler sozialpolitischer Absicherung und Regulierung der Arbeitsbeziehungen ausgeübt werden kann, hat die Entwicklung zu einer wohlfahrtsstaatlichen Regulierungsweise des Kapitalismus dazu geführt, dass das Management nicht mehr auf die Peitsche des Marktes setzen kann, sondern die Arbeiter:innen ‚überzeugen‘ muss, mit dem Management zu kooperieren. Staatliche Interventionen, die auf die Reproduktion der Arbeitskraft abzielen, führen in diesem Sinne dazu, dass das Management ein neues Gleichgewicht zwischen Zwang und Konsens finden muss, weil die Reproduktionssicherung der Arbeiter:innen nicht mehr in unmittelbarer Abhängigkeit vom Unternehmen realisiert wird (Burawoy 1985, 15, 126). So hält Burawoy fest:
„In other words, workers’ bargaining strength is critically determined by the extent of enterprise control over the reproduction of their labour power. The more independent the reproduction of labour power is from enterprise control, the greater is the ability to resist managerial offensives.“
Burawoy 1985, 189
Zwar verweist Burawoy (1976, 1985) darauf, dass sich die Bedingungen und Mittel der Reproduktion entlang gesellschaftlicher Gruppen unterscheiden lassen und sich gerade Frauen und Migrant:innen diesbezüglich in einer unterprivilegierten Position befinden, er nimmt aber keine systematische Analyse in Bezug darauf vor, wie spezifische Reproduktionsbedingungen weiblicher und migrantischer Beschäftigter die Kontrollstrukturen im Arbeitsprozess beeinflussen und strukturieren (vgl. auch die Kritik und Erweiterung von Hürtgen 2021). In den letzten Jahren wurde dieses Anliegen wieder vermehrt aufgenommen und bearbeitet, indem die theoretische Perspektive der sozialen Reproduktion auf die Labour Process Theory angewendet und insbesondere auf die ko-konstitutive Beziehung zwischen dem Arbeitsprozess und der Reproduktionssphäre verwiesen wurde (z.B. Baglioni 2018, 2022, 2024; Baglioni/Mezzadri 2020; Dong 2023; Mezzadri 2023).
4 Auf dem Weg zu einer umfassenden Forschungsperspektive auf die lebendige Arbeit
Dennoch steht bislang eine kapitalismustheoretisch fundierte Forschungsperspektive aus, die es erstens erlaubt, die Aushandlungen der Kontrolle im Arbeitsprozess und die Reproduktionsbedingungen weiblicher und migrantischer Arbeiter:innen unter Berücksichtigung der damit verbundenen gesellschaftlichen Organisation der Reproduktion auf systematische Weise miteinander in Beziehung zu setzen, und die zweitens daran anknüpfend, in eine theoriereflexive Methode überführt wird. Diese Leerstelle aufgreifend, schlage ich im Anschluss an die Extended Case Method und im Sinne der Weiterentwicklung des theoretischen Zugangs von Burawoy (1979, 1985) zum Arbeitsprozess eine Erweiterung der politics of production um die politics of reproduction vor. Eine analytische Erweiterung der Labour Process Theory um die politics of reproduction diskutierten jüngst auch Thompson und Smith (2024, 14). Im Anschluss an Burawoy verstehe ich politics of reproduction als (klassen-)politische Auseinandersetzungen um die Bedingungen der Reproduktion der Arbeitskraft, die durch staats- und gesellschaftspolitische Institutionen reguliert werden und die politics of production am Arbeitsplatz strukturieren. In Anlehnung an Vogels (2019) Überlegungen zur sozialen Reproduktion schlage ich vor, die gesellschaftliche Stellung von Frauen und Migrant:innen bezüglich der sozialen Reproduktion analytisch in das Transformationsproblem im betrieblichen Arbeitsprozess zu integrieren.
Eine klassenpolitische Auseinandersetzung um die Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft findet insofern statt, als die Kapitalseite einerseits danach strebt, die Kosten des Lebensunterhalts der Arbeitskraft langfristig so weit wie möglich einzudämmen, andererseits das Interesse der Arbeiter:innenschaft darin besteht, die bestmöglichen Bedingungen für ihren Lebenserhalt zu sichern (Vogel 2019, 225). Im Anschluss an Vogel (ebd., 215) lässt sich argumentieren, dass es gilt, die „tatsächliche Ausgestaltung der Formen der Reproduktion der Arbeitskraft einer bestimmten Klassengesellschaft“ zu identifizieren, dabei aber den strukturbedingten Stellenwert von Frauen und Migrant:innen in der sozialen Reproduktion im Kapitalismus zu berücksichtigen. Denn diese beiden gesellschaftlichen Gruppen nehmen eine spezifische Bedeutung in Bezug auf die Bearbeitung des potenziellen Widerspruchs des Kapitals ein, dass einerseits langfristig der Bedarf an passenden Arbeitskräften gedeckt werden muss und andererseits ihre Erhaltungskosten möglichst auf ein Minimum reduziert werden sollen. Letzteres gilt nicht nur für den Arbeitslohn, sondern auch für staatliche Leistungen (ebd., 219, 225). Der Fokus liegt hierbei nicht auf der individuellen Erneuerung von weiblichen und migrantischen Arbeiter:innen, sondern auf ihrer gesellschaftlichen Stellung in der sozialen Reproduktion, also auf der Ebene der Gesamtheit der Arbeiter:innen. Letzteres bezieht sich auf die gesellschaftliche Organisation der Aufrechterhaltung der Arbeiter:innen und der nicht-arbeitenden Bevölkerung, der generationellen Erneuerung und der Anwerbung von ‚neuen‘ Arbeiter:innen für die Arbeiter:innenschaft (vgl. ebd., 202). Die spezifische gesellschaftliche Stellung von Frauen ergibt sich laut Vogel daraus, dass die Kapitalseite hinsichtlich der generationellen Erneuerung von biologischen Prozessen – Schwangerschaft, Geburt, Stillen – abhängig ist, die sich auf Frauenkörper beziehen. Gerade diese Tatsache ist entscheidend dafür, dass die Kapitalseite auf die Kontrolle und Regulierung weiblicher Reproduktion abzielt und Frauen als gesellschaftliche Gruppe eine besondere Position in der Bearbeitung des potenziellen Widerspruchs aus Kapitalsicht einnehmen, einerseits auf ihre Arbeitskraft angewiesen zu sein, um Mehrarbeit anzueignen, und andererseits „ihrem langfristigen Bedarf an einer Klasse, die diese Mehrarbeit leistet“ (ebd., 210), Genüge zu tun.
Es lässt sich argumentieren, dass die Bearbeitung und Regulierung dieses Widerspruchs entsprechend auf aus (klassen-)politischen Kompromissen hervorgehenden Institutionen basiert, die etwa die Vereinbarkeit von Lohnarbeit und Familie, Haus- und Sorgearbeit, Kinderbetreuung, Mutterschutz usw. organisieren. Ich schlage vor, diese als Kernbereich der politics of reproduction festzulegen. In diesem Sinne gilt es, die historisch konkrete Ausformung der politics of reproduction aufzuspüren, denn die aus (klassen-)politischen Kompromissen hervorgehenden Institutionen stellen keineswegs ein zeitloses universales Phänomen dar. Ich erachte dies in Bezug auf die Untersuchung der Kontrolle ihrer Arbeitskraft im Arbeitsprozess insofern als relevant, als diese gesellschaftstheoretische Perspektivnahme der Analyse widerspricht, die besondere Eignung von Frauen als disziplinierte Arbeitskräfte für Unternehmen ließe sich sozusagen automatisch aus ihrer konstanten Disziplinierung im Zusammenhang ihrer Hausfrauisierung ableiten (Baglioni 2018, 116; 2024, 15). Im Gegenteil gehe ich davon aus, dass die Reproduktionsbedingungen im Zusammenhang der spezifischen gesellschaftlichen Stellung von Frauen eine potenzielle Disziplinierungsquelle für das Management im Bestreben zur Etablierung von Kontrollstrukturen im Arbeitsprozess darstellen.
Wie gesehen, beschränkt sich das Bedürfnis des Kapitals nach der Erneuerung von Arbeitskraft keineswegs auf die generationelle Erneuerung, sondern beruht auch auf der Mobilität der lebendigen Arbeit. Wie De Genova (2023, 241) betont, wird Mobilität aber erst durch die Errichtung von Grenzen zu ‚Migration‘. Im Anschluss daran lässt sich festhalten, dass staatliche Migrationspolitik in kapitalistischen Gesellschaften darauf abzielt, einerseits die Verfügbarkeit geeigneter Arbeitskräfte sicherzustellen, andererseits auch Widersprüche national-sozialer Wohlfahrtsstaaten zu regulieren, also Auseinandersetzungen um den Zugang zu Staatsbürger:innenschaft und sozialen Rechten (Georgi 2016, 200; 2019, 208). Letzteres kann als spezifische Form der sozialen Reproduktion begriffen werden, die darauf abzielt, die Reproduktionsbedingungen von Migrant:innen in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsstatus auf ein Minimum zu reduzieren – etwa indem der Zugang zu wohlfahrtsstaatlicher Absicherung, Bildung und Spracherwerb, Krankenversicherung usw. eingeschränkt wird und der Bedarf an passenden Arbeitskräften dennoch abgedeckt werden kann. Wie die historisch spezifische Bearbeitung und Regulierung dieses Widerspruchs ausfallen, ist stets abhängig von (klassen-)politischen Kräfteverhältnissen und somit keineswegs ökonomistisch zu verkürzen. Die spezifische gesellschaftliche Stellung von Migrant:innen in Bezug auf die soziale Reproduktion beruht auf der (staats-)politischen Beschränkung ihrer Reproduktionsbedingungen bzw. ihrer Ausgrenzung von der Inanspruchnahme von Reproduktionsmitteln, was wiederum eine potenzielle Disziplinierungsquelle im Arbeitsprozess darstellt.
Wir haben gesehen, dass sich in der spezifischen Stellung weiblicher und migrantischer Arbeiter:innen hinsichtlich der sozialen Reproduktion eine Disziplinierungsquelle für die Anwendung ihrer Arbeitskraft im Arbeitsprozess identifizieren lässt. Die Frage, ob und auf welche Weise diese Disziplinierungsquelle im Arbeitsprozess tatsächlich zum Tragen kommt, lässt sich aber nur beantworten, wenn die Kontrolle im Arbeitsprozess als empirischer Bezugspunkt aufgenommen wird und der analytische Standpunkt der lebendigen Arbeit nicht nur im Rahmen des Arbeitsprozesses, sondern auch unter Berücksichtigung ihrer Reproduktionsbedingungen eingenommen wird. Denn mit Edwards (1979, 18) lässt sich festhalten, dass die Disziplinierung nur eines von insgesamt drei Kontrollelementen – Anweisung, Bewertung, Disziplinierung – darstellt, deren Koordination ein spezifisches Arbeitskontrollsystem ergibt. Während die Anweisung auf der Vorgabe beruht, spezifische Arbeitsaufgaben innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens in einer bestimmten Reihenfolge und Präzision durchzuführen, basiert die Bewertung der Arbeitsleistung auf entsprechenden Bewertungs- und Überwachungsverfahren. Freilich wirkt die Anwendung dieser Kontrollelemente im Arbeitsprozess auch disziplinierend auf die Arbeiter:innen. Eine besondere Bedeutung kommt diesem dritten Kontrollelement aber insofern zu, als Arbeiter:innen auch Widerstandsmöglichkeiten gegenüber der Kontrolle entwickeln und sich in jedem noch so ausgeklügelten Arbeitskontrollsystem stets auch Kontrolllücken eröffnen. Gerade weil das Management unaufhörlich damit beschäftigt ist, solche Kontrolllücken zu schließen, sind nicht nur Disziplinierungsquellen im Arbeitsprozess selbst, sondern auch außerhalb des Arbeitsplatzes substanziell.
Aushandlungen der Disziplinierung im Zusammenhang der Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innen und ihre Integration in Kontrollstrukturen des Arbeitsprozesses sind erstens abhängig von der betrieblichen Zusammensetzung der Arbeiter:innenschaft und ihrer je spezifischen gesellschaftlichen Stellung hinsichtlich der sozialen Reproduktion. Spezifische Disziplinierungsquellen weiblicher und migrantischer Arbeitskräfte sind dabei nicht nur in Bezug auf ihre Reproduktionsbedingungen zu ergründen. Sondern ihre Disziplinierung muss daraufhin untersucht werden, wie ihre Reproduktionsbedingungen mit Disziplinierungseffekten im Zusammenhang von (prekären) Beschäftigungsformen wie Subunternehmertum, Temporärarbeit und Scheinselbstständigkeit (vgl. z.B. Kalbermatter 2024; Wood 2020) sowie rassistischen und geschlechtsspezifischen Abwertungen im Arbeitsalltag (vgl. z.B. Kalbermatter 2020; Neuhauser 2024) zusammenspielen. Daran anknüpfend argumentiere ich zweitens, dass diese Art der Disziplinierung einzelner Gruppen der Arbeiter:innenschaft keinesfalls unvermittelt auftritt, sondern im Zusammenwirken mit den Kontrollelementen der Anweisung sowie Bewertung und der Organisation der Arbeit zu untersuchen sind.
Umgekehrt lässt sich festhalten, dass die etablierten Kontrollstrukturen und die damit verbundenen Auseinandersetzungen um Disziplinierungen der Arbeitskräfte auch auf die politics of reproduction zurückwirken. Zwar kann im Anschluss an Ferguson (2020, 112) akzentuiert werden, dass Unternehmen in der Regel keine unmittelbare Kontrolle über die Reproduktion der Arbeitskraft auszuüben imstande sind, dennoch wirkt sich die Kontrolle des Managements unweigerlich auf die Bedingungen ihres Lebenserhalts aus und beeinflusst Auseinandersetzungen im Zusammenhang der gesellschaftlichen Stellung weiblicher und migrantischer Arbeiter:innen in Bezug auf die soziale Reproduktion.
5 Fazit: … und nochmals zurück zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Methode
Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück, wie es der Arbeitsforschung gelingen mag, Erkenntnisse zu generieren, die über den betrieblichen Kontext hinausweisen, so lässt sich festhalten, dass der hier vorgeschlagene Weg darin besteht, eine theoriereflexive Methode zu verfolgen, in der das Verhältnis zwischen Gesellschaftstheorie und dem empirischen Fall als ein methodisch kontrollierter und systematisierter Dialog konzipiert wird. Die von mir vorgeschlagene gesellschaftstheoretische Perspektivenerweiterung impliziert, dass der analytische Standpunkt der lebendigen Arbeit nicht nur in Bezug auf die Produktionsseite, sondern auch in Bezug auf die Reproduktionsseite eingenommen wird. Freilich bedeutet dies für eine theoriereflexive Methode keineswegs, dass damit der Betrieb oder die Arbeitssituation als empirischer Bezugspunkt aufgegeben werden soll. Ebenso wenig geht es mir darum, die analytische Trennung zwischen der Reproduktionssphäre und dem in der Produktionssphäre angesiedelten Transformationsproblem aufzulösen (vgl. die Kritik von Thompson und Smith 2024). Im Gegenteil, im Anschluss an Burawoy (1985) soll danach gefragt werden, wie Konflikte um die Kontrolle im Arbeitsprozess durch politics of reproduction reguliert und beeinflusst werden. Methodisch hat dies zur Konsequenz, dass in teilnehmenden Beobachtungen und in der qualitativen Interviewforschung mit Beschäftigten – in Abhängigkeit von der konkreten Fragestellung – all jenen Spuren im Zusammenhang der Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft gefolgt wird, die für die Auseinandersetzungen um die Kontrolle im Arbeitsprozess von Bedeutung sein können. Und ein solches Unterfangen wird methodisch erst durch die Rückbindung an eine gesellschaftstheoretische Perspektive umsetzbar, die auch die gesellschaftliche Stellung der Beschäftigten in Bezug auf die soziale Reproduktion berücksichtigt. Diese theoriereflexive methodische Vorgehensweise soll erlauben, den Weg zu einer umfassenden Forschungsperspektive zu ebnen, mithilfe derer die unterschiedlichen Bedingungen der Reproduktion gesellschaftlicher Gruppen mit der betrieblichen Arbeitswelt analytisch in Beziehung gesetzt werden. Auf dieser Grundlage lassen sich Erkenntnisse generieren, die über den betrieblichen Kontext hinausweisen – ohne dabei das arbeitssoziologische Basistheorem aufgeben zu müssen.
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© 2025 Jacqueline Kalbermatter, publiziert von De Gruyter
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