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Der Familienbrief PBS 1/2, 21

Verfasserinnen kassitenzeitlicher Briefe – 2. Teil
  • Lynn-Salammbô Zimmermann EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 2. Dezember 2024
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Abstract

The Kassite family letter PBS 1/2, 21 concerns a court procedure in which a female sender is involved. In this article I analyse the language and style of PBS 1/2, 21 with the help of “Speech Act Theory”, which shows that the female sender Rīšat-[...] had limited authority and justified her actions with elaborate quotations of men’s orders, thereby transferring responsibility for her actions to the men she quoted. Only four out of 331 Kassite letters from Nippur were sent by women. The other three Kassite letters from a female sender indicate that a woman named Inbi-ajjari held an influential position in the Nippurean administration and was involved in governance processes. Rīšat-[...]’s letter differs considerably from Inbi-ajjari’s letters. While Rīšat-[...]’s letter illuminates a woman’s societal role within a family, Inbi-ajjari’s bēlu letters illustrate the power of influential women outside their family structures.

1. Einleitung

In diesem Artikel präsentiere ich einen Frauenbrief aus Nippur aus der Kassitenzeit.[1] Insgesamt stammen lediglich vier von 331 (ca. 1,2 %)[2] kassitenzeitlichen[3] Briefen aus Nippur mit Sicherheit von Frauen.[4] Diese vier Frauenbriefe demonstrieren die Rechts- und Geschäftsfähigkeit von Frauen aus der Oberschicht. In dem hier gewählte Familienbrief, PBS 1/2, 21, berichtet die Absenderin Rīšat-[...] ihrem Bruder von einem Gerichtsprozess, der vom König entschieden werden soll.

Der folgende Artikel präsentiert einen Familienbrief aus der Quellengattung der kassitenzeitlichen Briefe; zur prosopografischen Untersuchung werden zudem sekundär kassitenzeitliche Verwaltungs- und Rechtsdokumente hinzugezogen. Zuerst präsentiere ich eine Übersetzung (Sektion 2. Übersetzung) gefolgt von einer inhaltlichen Zusammenfassung mit rechtshistorischen Erklärungen in Sektion „3. Inhalt“. In Sektion „4. Die illokutionären Sprachakte in PBS 1/2, 21” erfolgt die sprachwissenschaftliche (pragmatische) Untersuchung unter Zuhilfenahme der „Sprechakttheorie“ von Austin und Searle. Daran schließt sich in „Sektion „5. Die Prosopografie“ eine prosopografische Studie der Personennamen an, die im Brief erwähnt werden. Die Erkenntnisse dieser Untersuchungen werden in Sektion „6. Fazit: Die soziale Position der Rīšat-[...]” abschließend präsentiert.

2. Übersetzung

Frühere Bearbeitung: Waschow 1936: 14–15.

Vs. 1 a-na iḪu-un-nu-[...] Sprich zu Ḫunnu[...]:
Vs. 2 qi-bi₂-[ma]
Vs. 3 um-ma fRi-šat-⸢d⸣[...] Rīšat-[...], Deine Schwester, (sagt) das Folgende:
Vs. 4 a-ḫa-at-ka-ma
Vs. 5 um-ma-a a-na iḪu-un-nu-[...] (Sprich) das Folgende zu Ḫunnu[...]:
Vs. 6 dumu išeš-šum-na-damar.utu Der Sohn des Aḫa-iddina-Marduk
Vs. 7 a-na dumu.munus-šu i-šap-pa-ra schickt (einen Brief) an seine Tochter,
Vs. 8 um-ma-a šum-ma mi-im-ma (der) das Folgende (sagt): „Wenn sie Dir irgendetwas sagen (sollten),[5][6][7] dann sag
Vs. 9 iq-ta-bu-ni-ik-ki qi-bi-i
Vs. 10 um-ma-a a-ma-ta das Folgende: ‚Die (Rechts-)Sache
U.Rd. 1 a-na lugal na-ša-ku bringe ich vor den König!‘“
U.Rd. 2 e-ne-en-na ki iq-bu-u Jetzt, nachdem sie das Folgende gesagt hat: „Die (Rechts-)Sache bringe ich vor den König!“,
Rs. 1 um-ma-a a-ma-ta
Rs. 2 a-na lugal na-ša-ku
Rs. 3 ie₃-a-na-zalag₂-dingir-šu schickt Lūṣi-ana-nūr-ilīšu wiederholt (Briefe) an mich, (die berichten,) wie sie sich bemüht.
Rs. 4 ki-i ṣa-ra-a-mi-ša[8]
Rs. 5 il-ta-nap-pa-ra
Rs. 6 um-ma-a ṣi-i-ma (Er schreibt) Folgendermaßen: „Geh hinaus und komm zum König!“
Rs. 7 a-na mu-uḫ lugal al-ki
Rs. 8 a-na ie₃-a-na-zalag₂-dingir-šu Schick (einen Brief) an Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und (an) Zākiru
Rs. 9 uiZa-ki-ri
O.Rd. 1 ki-i ša te-le-ʾu-[u₂] (so) wie (das, was) Du vermagst,
O.Rd. 2 šu-up-<ra>-am-ma šu⸣ [x x] ... [...]!
L.Rd. 1 um-ma-a a-na-ku a-na e₂.gal (Schreib) folgendermaßen: „Ich selbst bin auf dem Weg zum Palast.
L.Rd. 2 te-ba-a-ku e-leq-qe-ši-ma Ich werden sie nehmen und
L.Rd. 3 i-ša-ʾa-a-lu-ši er wird sie befragen.“

3. Inhalt

Gemäß der Adress- und Grußformel (Vs. Z. 1–5) von PBS 1/2, 21 schreibt eine Frau mit dem Namen Rīšat-[...] einen Brief an ihren Bruder Ḫunnu[...]. Es ist nicht sicher, ob die Selbstbezeichnung „deine Schwester“ in PBS 1/2, 21 Vs. Z. 4 tatsächlich Blutsverwandtschaft bzw. familiäre Beziehungen ausdrückt, da Verwandtschaftstermini auch außerhalb der Familie angewendet wurden. In den aB Briefen redeten sich Geschwister üblicherweise mit dem Namen an (vgl. Sallaberger 1999: 44–45).

In der Kassitenzeit ist die Briefgruppe der aḫu-Briefe zwischen hohen Beamten und dem Gouverneur von Nippur und anderen hohen Beamten des Königreichs sowie der internationalen Korrespondenz der „Bruderschaft der Könige“, d. h. zwischen den „gleichrangigen“ Herrschern, zu erwähnen, in denen sich der Absender als „Bruder“ des Empfängers bezeichnete. Die Intention, sich durch eine Selbstbezeichnung als gleichrangig zum Empfänger darzustellen, ist sowohl im aB Briefkorpus (Sallaberger 1999: 45) als auch im kassitenzeitlichen Briefkorpus aus Nippur viel seltener belegt, da angestrebt wurde, den Empfänger als deutlich höherrangig darzustellen. Es ist unklar, ob sich die Absenderin Rīšat-[...] mit der Selbstbezeichnung als Schwester in der Adressformel gesellschaftlich gleichrangig positionieren wollte. Zudem ist uns das Amt des Empfängers unbekannt. In Ermangelung dieser Informationen nehme ich unter Vorbehalten in diesem Artikel die ungewöhnliche Selbstbezeichnung der Rīšat-[...] wörtlich und gehe davon aus, dass es sich um ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen einem Bruder und einer Schwester handelt.

PBS 1/2, 21 enthält eine Reihe von wörtlichen Zitaten. Dies deutet auf eine geringe Autorität der Absenderin hin, da Rīšat-[...] viel Mühe in die Beziehung zum Empfänger Ḫunnu[...] investieren musste (vgl. Sallaberger 1999: 14–15).

In den Zeilen Vs. Z. 6–U.Rd. Z. 1 gibt Rīšat-[...] die schriftliche Anweisung eines Vaters an seine Tochter in Form eines ausführlichen wörtlichen Zitats (in Vs. Z. 8 eingeleitet mit ummā, „folgendermaßen“) wieder. Der Vater ist der „Sohn des Aḫa-iddina-Marduk,“ d. h. entweder ein Nachfahre oder der Sohn von Aḫa-iddina-Marduk.[9] Dieser Vater fordert seine Tochter in einem Brief auf, jemandem zu drohen. Seine Tochter solle jemandem androhen, dass sie eine Angelegenheit vor den König bringen werde bzw. ein Gerichtsverfahren vor dem König anstrengen werde, falls „sie“ etwas zu ihr sagen würden.[10]

Diese Tochter des „Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk“ folgt der Anweisung ihres Vaters (siehe Vs. Z. 6–U.Rd. Z. 1) und kündigt gemäß U.Rd. Z. 2–Rs. Z. 2 verbaliter an, dass sie eine (möglicherweise rechtliche) Angelegenheit vor den König bringen werde. Rīšat-[...] zitiert diese Drohung der Tochter in U.Rd. Z. 2–Rs. Z. 2 in wörtlicher Rede.[11] Da diese Passage mit ummā, „folgendermaßen,“ eingeleitet wird, und da ummā auch in Vs. Z. 8, 10, Rs. Z. 1, 6 und L.Rd. Z. 1 wörtliche Zitate einleitet, ist dies wahrscheinlich.[12]

amātu bedeutet u. a. Angelegenheit. Es lag im Ermessen des Königs, ob er eine solche „Angelegenheit“ akzeptierte und zu einem Rechtsfall machte – ein möglicherweise mittelbabylonischer Brief (CT 22, 247) zeigt, dass der König nicht jedem, der ihn darum bat, einen Prozess gewährte (siehe Paulus 2007: 19). Es scheint, dass die Tochter des „Sohnes von Aḫa-iddina-Marduk“ dem König ebenfalls eine Angelegenheit vorstellen wollte, die möglicherweise in einem Gerichtsverfahren mündete. Folglich besteht die Möglichkeit, dass die Tochter des „Sohnes von Aḫa-iddina-Marduk“ ein Gerichtsverfahren eröffnen wollte – ob der König ihr diesen Gerichtsprozess gewährte, bleibt dahingestellt.

In altbabylonischer Zeit war der König der oberste Richter, aber er konnte Fälle, die ihm vorgelegt wurden, an lokale Richter und Beamte delegieren (manchmal mit Vorentscheidungen, vgl. Neumann 2003: 90). Aus der altbabylonischen Zeit ist bekannt, dass der König über Kapitalverbrechen urteilte (vgl. Codex Ešnunna § 48: awāt napištim ana šarrimma, vgl. Roth (1995: 66), „... ein Kapitalverbrechen aber ist für den König (bestimmt)“). Für die mittelbabylonische Zeit zeigen die Inschriften der kudurru-Monumente sowie eine Anzahl an Rechtsdokumenten, dass der König insbesondere Gerichtsfälle entschied, die Eigentumsverhältnisse großer Landschenkungen oder das königliche Opfer an die Götter betrafen und Diebstahlsfälle, die zur Todesstrafe führen konnten (Paulus 2007: 1–22).[13] Wenn sich Empfänger von Landschenkungen mit rechtlichen Angelegenheiten, die ihre Landschenkungen betrafen, an den König wandten, bestätigte der König dann oftmals Eigentumsverhältnisse bzw. eine unter einem früheren König erfolgte Schenkung (Paulus 2007: 4, 11–12). Diese Rechtsfälle betrafen teilweise Erbstreitigkeiten (siehe beispielsweise Paulus 2007: 7–10). Im Verlauf der Rechtsprozesse befragte der König Zeugen, deren Aussagen vermutlich größtenteils prozessentscheidend waren und die die Landschenkung bzw. Übertragung des Besitzes bestätigen konnten, und andere Sachverständige (siehe Paulus 2007: 5–6, Anm. 26). Stand Aussage gegen Aussage, so ist belegt, dass der König die Parteien zum Ordal schickte, d. h., das Richteramt von der königlichen auf die göttliche Ebene übertragen wurde.

Auf Basis der kassitenzeitlichen Belege für Gerichtsfälle, die vom kassitischen König verhandelt wurden, lässt sich daher spekulieren, ob der vorliegende mögliche Gerichtsfall bedeutende Immobilien (beispielsweise aus den großen Landschenkungen mittelbabylonischer Könige, siehe Paulus 2014d) betraf. Die mittelbabylonischen Könige hatten ein berechtigtes Interesse an den Besitzverhältnissen ihrer Landschenkungen. Aufgrund der Beteiligung von zwei Frauen ist ebenso in Erwägung zu ziehen, ob es sich hierbei um einen Streit um derartige Immobilien als Erbschaft oder durch Geschenke in der Ehe handelt.

Nachdem die Tochter des „Sohnes von Aḫa-iddina-Marduk“ verkündet hatte, dass sie die (Recht-)Sache vor den König brächte, erhielt Rīšat-[...] laut Rs. Z. 3–5 mehrere Briefe von einem Mann namens Lūṣi-ana-nūr-ilīšu.[14] Lūṣi-ana-nūr-ilīšu schrieb an Rīšat-[...] über eine Frau, die sich sehr um etwas bemühte (ṣarāmu, „sich bemühen, sich einsetzen,“ siehe AHw. 183b, s.v. ṣarāmu(m)). Es ist möglich, dass es sich bei dieser Frau, über die Lūṣi-ana-nūr-ilīšu an Rīšat-[...] schrieb, um die Tochter des „Sohnes von Aḫa-iddina-Marduk“ handelte, die ein Gerichtsverfahren vor dem König anstrengen wollte.

Man bemerke, dass meine Lesung ṣa-ra-a-mi-ša⸣, ṣarāmīša (Rs. Z. 4), „wie sie sich bemüht“ oder „gemäß ihrem Bemühen“, sich von den bisherigen Lesungen von Aro (1955: 135; 1957: 95), CAD Ṣ 101a-b, s.v. ṣarāmu und von Waschow (1936: 14) unterscheidet, die ṣa-ra-a-mi-šu lesen. Aro, CAD Ṣ und Waschow verstehen den Ausdruck kī ṣarāmīšu als den Eifer oder das Streben des Lūṣi-ana-nūr-ilīšu, d. h. als „in his impetuous way“ oder „gemäss seinem Planen“. Meine Kollation zeigt jedoch, dass es sich bei dem letzten Zeichen um das beschädigte Zeichen ša handelt und nicht um ein šu (und auch nicht um ein šu₂). Das bedeutet, dass sich kī ṣarāmīša auf eine Frau bezieht und nicht auf den Mann Lūṣi-ana-nūr-ilīšu.

In den nächsten Zeilen, Rs. Z. 6–7, folgt ein wörtliches Zitat aus den Briefen des Lūṣi-ana-nūr-ilīšu, der ihr befiehlt, zum König zu kommen. Dieser Befehl „Geh hinaus und komm zum König!“ wird mit um-ma-a, „folgendermaßen,“ eingeleitet, und folgt auf die Verbform iltanappara in Rs. Z. 5. ummā leitet auch im restlichen Brief die wörtliche Rede ein. Somit läge eine einheitliche Interpretation von ummā in Vs. Z. 8, 10, Rs. Z. 1, 6 und L.Rd. Z. 1 vor.[15]

Es ist nicht eindeutig ersichtlich aus dem Befehl von Lūṣi-ana-nūr-ilīšu, ob die amātu-Angelegenheit bereits vom König als Rechtsfall akzeptiert worden war (vgl. Paulus 2007: 19). In diesem Brief kündigt die Tochter des „Sohnes von Aḫa-iddina-Marduk“ an, eine (Rechts-)Sache vor den König zu bringen, d. h., als Klägerin aufzutreten und ein Gerichtsverfahren zu eröffnen. Aus juristischen Dokumenten des babylonischen Gerichtswesens wissen wir, dass die klagende Partei die gegnerische Partei vor den Richter bzw. König (im Fall der königlichen Gerichtsbarkeit) „laden“ oder (physisch) zu erscheinen zwingen konnte (vgl. Neumann 2003: 90). Hatte die Tochter des „Sohnes der Aḫa-iddina-Marduk“ Anklage vor dem König erhoben, so hatte sie dafür zu sorgen, dass die gegnerische Partei bei Gericht anwesend war, damit der Richter die Voraussetzungen für die Verhandlung prüfen konnte (vgl. Neumann 2003: 90). Daher wurde auch die gegnerische Partei vor den König geladen, in diesem Fall vermutlich die Absenderin dieses Briefs, Rīšat-[...]. Es ist unklar, zu welcher Partei Lūṣi-ana-nūr-ilīšu gehörte. Eine Möglichkeit ist, dass er zur gegnerischen Partei gehörte, d. h., dass er für die Tochter des „Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk“ arbeitete und der Angeklagten Rīšat-[...] im Auftrag der Tochter des „Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk“ in Rs. Z. 6–7 mehrfach schriftlich befahl: „Geh hinaus und komm zum König!“ Eine zweite Möglichkeit ist, dass Lūṣi-ana-nūr-ilīšu das Gerichtsverfahren im Auftrag des Königs organisierte.[16]

In Rs. Z. 8–O.Rd. Z. 2 gibt Rīšat-[...] ihrem Bruder einen Auftrag: Er solle einen Brief an Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und einen Mann namens Zākiru schicken – allerdings nur, wenn er sich dazu in der Lage sehe. Die Funktion des Zākiru im Rahmen des Rechtsprozesses ist aus dem Kontext nicht ersichtlich.

Rīšat-[...] schreibt in L.Rd. Z. 1–3 in wörtlicher Rede das, was der Bruder an Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und Zākiru schreiben soll. So wie in Vs. Z. 8 und 10 und in Rs. Z. 1 und 6 leitet sie diese Passage mit ummā („folgendermaßen“) ein.[17] Der Bruder soll ankündigen, dass er auf dem Weg zum Palast sei und eine Frau ergreifen werde (L.Rd. l. 2: „ich werde sie nehmen und“, e-leq-qe-ši-ma), damit ein Mann sie befragen könne.[18] Da Lūṣi-ana-nūr-ilīšu gemäß Rs. Z. 6–7 die Rīšat-[...] bereits mehrfach schriftlich vor Gericht geladen hatte, sollte nun der Bruder der Rīšat-[...] dem Lūṣi-ana-nūr-ilīšu brieflich versichern, dass er für das Erscheinen seiner Schwester sorgen würde.[19]

Es ist ungeklärt, an welchem Ursprungsort Rīšat-[...] den Brief PBS 1/2, 21 verfasste bzw. verfassen lies und per Bote abschickte. Folglich ist es ebenfalls unbekannt, an welchem Ort ihr Bruder sie ergreifen und zum König in Babylon oder Dūr-Kurigalzu oder einer weiteren königlichen Residenz (Nippur?) bringen sollte.

4. Die illokutionären Sprachakte in PBS 1/2, 21

Im Folgenden werden die illokutionären Sprechakte in PBS 1/2, 21 analysiert.[20]

4.1 Nachricht 1: Zwei repräsentative illokutionäre Akte (Vs. Z. 6–U.Rd. Z. 1)

In den Zeilen Vs. Z. 6–7 erzählt Rīšat-[...] zunächst, dass ein Vater einen Brief an seine Tochter geschickt habe (d. h., es ist ein repräsentativer illokutionärer Akt). Die Empfängerin des Briefs war vermutlich nicht Rīšat-[...].

In Vs. Z. 8–U.Rd. Z. 1 gibt Rīšat-[...] dann den Inhalt dieses Briefs in der Form eines ausführlichen wörtlichen Zitats wieder. Dieses Zitat deutet auf geringe Autorität und eine defensive Haltung der Rīšat-[...] hin, da Rīšat-[...] viel Aufwand in die Beziehung zum Empfänger Ḫunnu[...] investieren musste (Sallaberger 1999: 14–15).

Der Vater fordert seine Tochter dazu auf, eine Ankündigung auszusprechen, sollten mehrere Leute („sie“) etwas zu ihr sagen. Der Vater nutzt dazu den Imperativ. Da der Vater seinen Befehl in der Form eines Konditionalsatzes ausdrückt, übt er also einen bedingten direktiven illokutionären Akt aus. Da Rīšat-[...] hier dessen Direktive an seine Tochter lediglich wiederholt und damit ihren Bruder über die Kommunikation zwischen einem Vater und seiner Tochter informiert, entspricht die Wiedergabe der wörtlichen Rede einem repräsentativen illokutionären Akt.

4.2 Nachricht 2: Drei repräsentative illokutionäre Akte (U.Rd. Z. 2–Rs. Z. 7)

In U.Rd. Z. 2–Rs. Z. 2 zitiert Rīšat-[...] in wörtlicher Rede die Ankündigung der Tochter des „Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk“, die verkündete, sie werde eine (Rechts-)Sache vor den König bringen. Diese Ankündigung des Vorhabens ist ein kommissiver illokutionärer Akt, da sich die Tochter zur Ausführung einer zukünftigen Handlung verpflichtet. Da Rīšat-[...] hier ihrem Bruder von den Versprechen der Tochter des „Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk“ berichtet bzw. diesen zitiert, ist dies jedoch ein repräsentativer illokutionärer und nicht ein kommissiver illokutionärer Akt.

In Rs. Z. 3–5 berichtet Rīšat-[...], dass sie infolgedessen mehrere Briefe von einem Mann namens Lūṣi-ana-nūr-ilīšu erhielt, der ihr über die Anstrengungen einer Frau berichtet; mit diesen Anstrengungen ist vermutlich die Initiation eines Gerichtsprozesses gemeint. Dieser Tatsachenbericht enthält einen repräsentativen illokutionären Akt.

In Rs. Z. 6–7 gibt Rīšat-[...] den Inhalt der Briefe des Lūṣi-ana-nūr-ilīšu in wörtlicher Rede wieder: „(Er schreibt) folgendermaßen: ‚Geh hinaus und komm zum König!‘“. Lūṣi-ana-nūr-ilīšu scheint der Rīšat-[...] mehrfach geschrieben zu haben, dass sie zum König kommen solle (Rs. Z. 6–7); seine mehrfache Wiederholung dieses Befehls impliziert eine Dringlichkeit. Da Rīšat-[...] diesen Befehl, der an sie gerichtet war, wiedergibt, sind Z. 6–7 informativer Natur und entsprechen einem repräsentativen illokutionären Akt.

Das Zitat in wörtlicher Rede aus Lūṣi-ana-nūr-ilīšus Briefen endet in Rs. Z. 7, denn der folgende Befehl im Imperativ lautet „Schick (einen Brief) an Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und (an) Zākiru!“; dieser Befehl kann nicht mehr zu einem Zitat aus Lūṣi-ana-nūr-ilīšus Briefen gehören, da er dann hätte schreiben müssen: „Schick (einen Brief) an mich!“. Lūṣi-ana-nūr-ilīšu schrieb vermutlich nicht über sich selbst in der 3. Ps. Sg.

4.3 Nachricht 3: Vier direktive illokutionäre Akte (Rs. Z. 8–L.Rd. Z. 3)

In Rs. Z. 8–O.Rd. Z. 2 befiehlt Rīšat-[...] ihrem Bruder Ḫunnu[...], einen Brief an Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und Zākiru zu schicken, wenn er dazu in der Lage sei; dies entspricht dem bedingten illokutionären Akt des Direktivums.

Direkt auf den bedingten Befehl an ihren Bruder in Rs. Z. 8–O.Rd. Z. 2 folgt eine Passage auf dem L.Rd. Z. 1–3, die mit ummā, „folgendermaßen,“ eingeleitet wird und vermutlich ein Zitat in der wörtlichen Rede enthält (siehe oben, „2. Inhalt“), das Ḫunnu[...] an Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und an Zākiru schreiben soll. Ḫunnu[...] soll schreiben, dass er auf dem Weg zum Palast sei (L.Rd. Z. 1–2; repräsentativer illokutionärer Akt) und eine Frau ergreifen werde (L.Rd. Z. 2; kommissiver illokutionärer Akt), damit ein Mann sie befragen könne (L.Rd. Z. 3; repräsentativer illokutionärer Akt). Die angekündigte Befragung wird vermutlich vom zuständigen Richter, vielleicht dem König, durchgeführt.

Da Rīšat-[...] in L.Rd. Z. 1–3 diesen Befehl an ihren Bruder inhaltlich wiedergibt, enthalten L.Rd. Z. 1–3 Details, die ihren Befehl in Rs. Z. 8–O.Rd. Z. 2 inhaltlich qualifizieren, bzw. drei einzelne Befehle (dreimal „Schreib: ‚...!‘“), die daher ein Teil ihrer Anweisungen sind. Das bedeutet, dass L.Rd. Z. 1–3 direktiven illokutionären Akten entsprechen.

4.4 Auswertung

Zwei Drittel der Nachrichten in Rīšat-[...]s Brief bestehen aus Zitaten sowie Berichten über Nachrichten anderer Personen. Fünf von neun illokutionären Akten sind Repräsentativa.

Die Sprechakte in PBS 1/2, 21:

Fig. 1

Die illokutionären Sprechakte in PBS 1/2, 21.

Zeilen Nachricht illokutionäre Akte
Vs. Z. 6– U.Rd. Z. 1 Nachricht 1 2 Repräsentativa
U.Rd. Z. 2– Rs. Z. 7 Nachricht 2 3 Repräsentativa
Rs. Z. 8–L.Rd. Z. 3 Nachricht 3 4 Direktiva

Wie an Fig. 1 erkennbar ist, kann der Brief in zwei Teile geteilt werden: Im ersten Teil, von Vs. Z. 6 bis Rs. Z. 7, gibt die Absenderin in Zitaten (repräsentative illokutionäre Sprechakte) die Befehle, die Männer an ihre potentielle Anklägerin und an sie gegeben haben, und die Aussagen ihrer Anklägerin wieder. Der erste Teil ist die Vorgeschichte und somit die Begründung für ihre Anweisungen im zweiten Teil des Briefs. Im zweiten Teil des Briefs, ab Rs. Z. 8, folgt dann der Befehl der Absenderin an ihren Bruder, einen Brief zu verschicken und, insbesondere, drei Aussagen in diesen Brief zu schreiben.

Diese ausführlichen Zitate, insgesamt fünf Repräsentativa (Nachrichten 1–2), dienen scheinbar als Begründung für vier Direktiva, die Rīšat-[...] an ihren Bruder richtet (Rs. Z. 8–L.Rd. Z. 3). Konkret bedeutet dies, dass Rīšat-[...]s Berichte über die Äußerung des „Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk“ an seine Tochter, die Äußerung der Tochter („Die (Rechts-)Sache bringe ich vor den König!“) sowie Lūṣi-ana-nūr-ilīšus schriftlicher Bericht über die Anstrengungen einer Frau sowie seine Befehle an sie, zum König zu gehen, die Erklärung für Rīšat-[...]s Befehl an ihren Bruder sind, Briefe an zwei Männer zu schreiben (Direktivum).[21]

Dabei ist zu beachten, dass Rīšat-[...] ihr erstes Direktivum zudem bedingt („(so) wie (das, was) Du vermagst,“), d. h., sie bittet ihren Bruder nur unter der Voraussetzung, den Brief an Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und Zākiru zu schreiben, dass er (vielleicht zeitlich, physisch or mental) dazu in der Lage ist, dies zu tun. Diese Einschränkung zeugt von geringer Autorität.

Der erste Befehl, den Rīšat-[...] an ihren Bruder gibt, d. h., einen Brief an Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und Zākiru zu schreiben, geht nicht aus den vorangegangenen Zitaten hervor. Allerdings wäre es inhaltlich naheliegend, auf die Ladung vor Gericht des Lūṣi-ana-nūr-ilīšu zu antworten, dass man ihr nachkommen werde – u. a. deshalb, da Prozessgegner auch gewaltsam vor den Richter gebracht werden konnten und da der König in diesem Fall dem Gerichtsprozess vorstand. Zudem enthält Rīšat-[...]s bedingte Aufforderung (vier Direktiva) an ihren Bruder ein Zitat (drei Direktiva),[22] das inhaltlich zu zwei Dritteln den Befehlen des Lūṣi-ana-nūr-ilīšu entspricht, denn der Bruder von Rīšat-[...] soll schreiben, dass er seine Schwester zum König bringen werde, damit sie dort befragt werden könne. Aus den Befehlen des Lūṣi-ana-nūr-ilīšu an Rīšat-[...], die Rīšat-[...] im ersten Teil zitiert, ist nicht ersichtlich, dass Rīšat-[...]s Bruder ebenfalls zum Palast kommen solle. Folglich übernimmt Rīšat-[...] nur für einen (oder zwei) von vier direktiven illokutionären Sprechakten die Verantwortung. Hingegen basieren mindestens zwei ihrer Befehle (Direktiva) auf vorangegangenen, zitierten Befehlen des Lūṣi-ana-nūr-ilīšu.

Offenkundig musste Rīšat-[...] ihre Aktivitäten vor ihrem Bruder rechtfertigen und die Befehle, die sie ihm gibt, mit genug Argumenten untermauern, um ihn zu der gewünschten Handlung zu bewegen. Dies impliziert, dass ihr Bruder in ihrem familiären Gefüge einflussreicher war als sie. Dies ist keine Überraschung in einer patriarchalen Gesellschaft. Rīšat-[...]s Autorität reichte nicht aus, um lediglich einen Befehl ohne Begründung an ihren Bruder zu richten, wie es in den kassitenzeitlichen bēlu-Briefen von Höherrangigen an Untergebene geschieht. Das heißt, diese repräsentativen illokutionären Akte dienen nicht nur als äußerst ausführliche Begründung für ihre direktiven illokutionären Akte im zweiten Teil des Briefs, sondern können auch als Hinweis auf innerfamiliäre Strukturen gewertet werden.

Es sei betont, dass zu den Argumenten, die ihren Bruder überzeugen sollen, ihrem Befehl Folge zu leisten, insbesondere Befehle von Männern (von dem Sohn des Aḫa-iddina-Marduk und von Lūṣi-ana-nūr-ilīšu) zählen. Selbst das Zitat der Tochter des Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk, die Anklage gegen Rīšat-[...] erhebt, geht auf einen Befehl ihres Vaters zurück. Die Frauen in PBS 1/2, 21 sind mit einer Ausnahme äußerst passiv und handeln nur auf Anweisung der Männer. Die einzige Ausnahme stellt der direkte Befehl der Rīšat-[...] an ihren Bruder dar, dass dieser einen Brief schreiben solle.

5. Die Prosopografie

Gemäß der Adress- und Grußformel (Vs. Z. 1–5) schreibt eine Frau mit dem Namen Rīšat-[...] einen Brief an ihren Bruder Ḫunnu[...]. Für mögliche Einwände gegen ein tatsächliches Verwandtschaftsverhältnis, siehe oben die Sektion „3. Inhalt“.

An dieser Stelle ist zunächst auf die unvollständig überlieferten Namen der Absenderin und des Empfängers hinzuweisen: Hölscher (1996: 179) ergänzt den Namen Rīšat-[...] zu Rīšat-Gula. Auf den Stativ rīšat, „sie ist umjubelt“, muss ein Theonym folgen, da das Zeichen dingir in Vs. Z. 3 noch erkennbar ist. Es ist zu betonen, dass andere Theonyme außer Gula denkbar sind.

Gemäß dem Brief PBS 1/2, 21 Vs. 1, 5 war der Empfänger von Rīšat-[...]s Brief ein gewisser Ḫunnu[...]. Ḫu-un-nu[...] ist entweder die Schreibung für den Namen Ḫunnu,[23] oder kann zu Ḫu-un-nu-[bi-ja][24] oder Ḫu-un-nu-[bu][25] emendiert werden.

Im Folgenden werden kassitenzeitliche Textbelege aus Nippur (und möglicherweise Dūr-Enlilē) vorgestellt und diskutiert, in denen die Namen der Absenderin Rīšat-[...] und/oder des Adressaten Ḫunnu[...] und/oder die erwähnten Parteien Aḫa-iddina-Marduk, Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und Zākiru gemeinsam auftreten, da dies auf die im Brief PBS 1/2, 21 genannten Personen verweisen könnte.

5.1 Rīšat-Gula und Ḫunnu in PBS 2/2, 53

Die Namen Rīšat-Gula und des Ḫunnu erscheinen beide in derselben kassitenzeitlichen Rationenliste PBS 2/2, 53, die in den Monat elūlu (6. Monat) des Akzessionsjahrs von Kaštiliaš IV. datiert. PBS 2/2, 53 wurde vermutlich in Nippurs Palast gefunden, denn die Urkunde wird von Sassmannshausen (2001: 187) nicht unter den Dokumenten des Fundgebiets WA in Nippur gelistet. PBS 2/2, 53 ist eine Rationenliste des äußeren Palastbereichs (bābānu).[26] Die Rationenliste deckt einen Zeitraum von acht Monaten ab.[27] Auf der Rückseite in Z. 12 werden die zuvor aufgelisteten Arbeiter*innen als kāṣiru (lu₂tug₂.ka.keš₂.meš), „Knüpfer*innen“ (siehe Sassmannshausen 2001: 87–88), bezeichnet. Der Name Rīšat-Gula ist in PBS 2/2, 53 Rs. Z. 2 für einen Säugling (dumu.munus.gaba) belegt. Der Name Ḫunnu ist für den Vater eines Knüpfers (eines guruš(.tur)) namens Dān-Nergal (ikal-du.gur dumu iḪu-un-ni) in PBS 2/2, 53 Rs. Z. 9 aufgelistet.[28]

Obgleich das Auftreten beider Namen in demselben Dokument durchaus bemerkenswert ist, sprechen die folgenden Argumente gegen eine Identifizierung der Absenderin und des Empfängers von PBS 1/2, 21 mit den Personen in der Rationenliste PBS 2/2, 53:

  1. Da Rīšat-[...] in eine (Rechts-)Angelegenheit vor dem König verwickelt war und da ihr Brief vermutlich im Palast aufbewahrt wurde, ist anzunehmen, dass sie bzw. ihre Bruder, der Empfänger des Briefs, eine gehobene Stellung in der Gesellschaft Nippurs innehatte. Es erscheint daher unwahrscheinlich, dass die Absenderin des Briefs PBS 1/2, 21 eine von Rationen abhängige Arbeiterin (Knüpferin) war, deren Lese- und Schreibkenntnisse ebenfalls fraglich sind.

  2. Da Ḫunnu in PBS 2/2, 53 Rs. Z. 9 bereits Vater ist, ist es anzunehmen, dass ein großer Altersunterschied zwischen ihm und dem Säugling Rīšat-Gula in PBS 2/2, 53 Rs. Z. 3 bestand. Zudem gibt es keine Indikation dafür, dass Ḫunnu und der Säugling Rīšat-Gula miteinander verwandt sind.[29]

5.2 Ḫunnubu und Zākiru in BE 14, 132

In BE 14, 132 werden zwei nāqidu-Viehhirten namens Ḫunnubu und Zākiru[30] in demselben Dokument aufgeführt. Da Rīšat-[...] in ihrem Brief PBS 1/2, 21 an Ḫunnu[...] in Rs. Z. 9 einen Mann mit dem Namen Zākiru erwähnt, ist BE 14, 132 ein Dokument, das für die Identifizierung des Empfängers von PBS 1/2, 21 sowie des gesellschaftlichen Kontexts von Rīšat-[...] und ihrem Bruder in Betracht gezogen werden sollte.

BE 14, 132 ist nicht unter den Dokumenten, die in der Gegend WA (Gula-Tempel) gefunden wurden, aufgeführt (Sassmannshausen 2001: 187). In BE 14, 132 wird der Erhalt von Rückständen an Vieh aufgelistet. Diese Rückstände bestehen aus Schafen, Ziegen und Rindern „des Gottes.“ BE 14, 132 ist eine vierspaltige Tabelle, die in das siebte Jahr (1239) von Šagarakti-Šuriaš (1245–1233 v. Chr.)[31] datiert. Die erste Spalte beinhaltet die Gesamtzahlen jeder Zeile, die zweite Spalte das „zur Abholung bestätigte“ Vieh (ša ana esēri kunnu), die dritte Spalte das (tote) Vieh, das „vor den Gott geschickt wurde“ (ša ana maḫri dingir šapru), und die vierte Spalte führt die „Hirten des Gottes“ (lu₂na.gad.meš ša dingir), die das Vieh ablieferten, auf.[32]

Gemäß BE 14, 132 Vs. Z. 1–3 ([ab₂.gu₄.ḫi.a] uu₈.udu.ḫi.a ša i-na mu-6-kam Ša-ga-ra-ak-ti-Šur-ia-aš [... (i?lu?)-d]amar.utu lu₂.saĝ.lugal u-kin-nu-ma i-na mu-7-kam ša ka ki-ni [a-na e]-se-ri šum₂-nu uri.ri.ga na.gad.meš a-na igi dingir iš-pu-ru) führt BE 14, 132 „[Kühe und Rinder] und Kleinvieh, die im 6. Jahr des Šagarakti-Šuriaš [(Amīl?)]-Marduk, der ša rēš šarri, (als Schuld?) festgesetzt/zugewiesen/bestätigt (siehe Huang 2020: 101–102 und Sassmannshausen 2001: 45) hat und (die) im 7. Jahr gemäß des festen Wortlautes zum Eintreiben gegeben wurden, und die Rückstände der nāqidu-Viehhirten, (die) sie vor den Gott (= Tempel) gesendet haben“ auf. Ein ša rēš šarri, d. h. ein königlicher Beamter, setzt Vieh als Schuld (?) für die nāqidu-Viehhirten des Gottes (= Tempels) fest.

In BE 14, 132 Rs. Z. 11, einer eingeschobenen Zeile, die sich in etwas kleinerer Schrift über alle vier Kolumnen erstreckt, werden ein nāqidu-Viehhirte namens Ḫunnubu,[33] der Vater eines Taqīšu, und Nazi-Šuqamuna genannt. Beide Namen scheinen sich auf das Vieh und den dazugehörigen Viehhirten Damûtu in Z. 10 zu beziehen bzw. auf die Anzahl an Tieren in der ersten Kolumne. Auf der Vorderseite in Z. 18 ist der nāqidu-Viehhirte Zākiru aufgelistet.

5.3 Ḫunnubu und Zākiru in PBS 8/2, 163

Ein Ḫunnubu ist in der Prozessurkunde PBS 8/2, 163 Vs. Z. 6, Rs. Z. 4 belegt. In derselben Urkunde ist der Kläger der Sohn eines Za-⸢... (?)⸣.[34] Es bleibt Spekulation, ob dessen Name zu Za-⸢ki-ru/ri⸣ zu ergänzen ist. Da PBS 8/2, 163 vier Jahre später als BE 14, 132 in das Jahr 11 (1235 v. Chr.) des Königs Šagarakti-Šuriaš (1245–1233 v. Chr.) datiert, schlägt Hölscher (1996: 84–85) vor, dass dieser Ḫunnubu der Viehhirte aus BE 14, 132 ist.

Ob sich Rīšat-[...]s Brief auf diesen Gerichtsprozess bezieht, ist fraglich. Die Überschneidungen zwischen ihrem Brief und der Prozessurkunde sind der mögliche, nicht vollständige Name Zā⸢kiru⸣ in Vs. Z. 1 (dumu iZa-ki?-ri?⸣) und der Name Ḫunnubu in Vs. Z. 6 und Rs. Z. 4, der vielleicht dem nicht vollständigen Empfänger Ḫunnu[...] von Rīšat-[...]s Brief entspricht, sowie der Fakt, dass in beiden Prozessen der König involviert ist.

5.4 Ḫunnubu, Zākiru und Aḫa-iddina-Marduk in BE 15, 110 und in 115

Es kann in Erwägung gezogen werden, dass Ḫunnubu, der Sohn des Ukni-šaḫ, der in BE 15, 110 und 115 zusammen mit einem Sohn des Aḫa-iddina-Marduk und Zākiru nachgewiesen ist, mit Ḫunnu[...], dem Empfänger des Briefs PBS 1/2, 21, identifiziert werden kann, da beide Namen im Brief an ihn erwähnt werden.

In der Quittung BE 15, 110 erscheint ein Mann mit dem Namen Ḫunnubu (iḪu-nu-bi) als Zeuge. In BE 15, 110 erhält Innannu Gerste aus der Hand eines Lī/ūṣi-ana-nūr-Marduk, eines Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk aus dem Ort Mê-Zurud (BE 15, 110 Vs. Z. 3–6) und gibt sie an einen Ešemmūtu. Rīšat-[...] zitiert in ihrem Brief an Ḫunnu[...] einen „Sohn (oder Nachfahren) des Aḫa-iddina-Marduk“ (PBS 1/2, 21 Vs. Z. 6–U.Rd. 1). Da sowohl Ḫunnubu als auch ein Sohn des Aḫa-iddina-Marduk in BE 15, 110 belegt sind, besteht die Möglichkeit, dass Ḫunnu[bu], der Empfänger von PBS 1/2, 21, identisch mit dem Zeugen aus BE 15, 110 ist.

Derselbe Mann mit dem Namen Ḫunnubu erscheint als Empfänger in der Ausgabeliste BE 15, 115 Vs. Z. 12,[35] in der ḫirgalû-Mehl und Gerste aus dem Ort Tarībātu aus dem Haus des Innannu ausgegeben werden. In BE 15, 115 Vs. Z. 12 erfahren wir, dass Ḫunnubu der Sohn des Ukni-šaḫ war. Für diese Identifizierung spricht, dass in BE 15, 115 Rs. Z. 4, 10–12 auch der Name Zākiru genannt wird. In PBS 1/2, 21 Rs. Z. 9 bittet Rīšat-[...] ihren Bruder Ḫunnu[...], einen Brief an Zākiru zu schreiben. In BE 15, 115 werden nach den Ausgaben aus Innannus Haus ab Rs. Z. 4, nach der Summe der Ausgaben (Rs. Z. 3), Einnahmen gelistet. Gemäß BE 15, 115 Rs. Z. 4 stammen „inklusive 7;2.0.0 gur aus der šibšu-Abgabe des Tempels (= Gottes) aus dem Haus des Zākiru (en 7;2.0.0 pi i-na šašib-šu₁₄ ša dingir i-na e₂ Za-ki-ri) und gemäß Rs. Z. 10–12 „Emmer, die šibšu-Abgabe des Zākiru, die Aḫēdūtu[36] und Ešemmūtu in den Getreidespeicher getragen haben, (und die) sie den Innannu empfangen lassen werden“ (ziz₂.an.na šib-šu₁₄ ša Za-ki-ri sipa išeš-du-tuu I-še-mu-tua-na guriš-šu-ni iIn-na-an-na u-ša-am-ḫa-ru₃).

5.4.1 Ḫunnubu, ein Sohn des Ukni-šaḫ

Dieser Ḫunnubu, ein Sohn des Ukni-šaḫ, ist vermutlich ebenfalls in BE 15, 94 belegt. In BE 15, 94 Z. 4, 7, 11 werden Beträge von ḫirgalû-Mehl (se.bal) aus der Hand eines Ḫunnubu (ohne Patronym, Rs. Z. 1) ausgegeben, u. a. an Ḫunnubu selbst für (seine?) ṣābu-Arbeiter (Vs. Z. 4–5). Die Ausgabe ist mit dem Siegel des Ḫunnubu gesiegelt (Rs. Z. 5). Ein Foto und eine Umzeichnung der Siegelabrollung ist in der CDLI Datenbank Nr. P259467 und in Matthews (1992: 83–84, Nr. 51) zu finden.[37]

Ein weiteres Dokument, in dem möglicherweise derselbe Ḫunnubu belegt ist, könnte die Quittung BE 14, 20 sein. In BE 14, 20 gibt ein Ḫunnubu (ohne Patronym) Emmer an Addu-rāʾim-zēri heraus.

BE 15, 110 und 115 datieren in das 20. und 21. Jahr eines Königs (möglicherweise Kurigalzu II, vgl. Hölscher 1996: 85); BE 15, 94 datiert in das 19. Jahr eines Königs (Nazi-maruttaš o. Kurigalzu II, vgl. Hölscher 1996: 85). BE 14, 20 datiert in das 4. Jahr von Kurigalzu II.

Möglicherweise ist dieser Ḫunnubu in weiteren kassitenzeitlichen Verwaltungstexten aus Nippur belegt (vgl. Hölscher 1996: 84–85). Beispielsweise überbringt ein Ḫunnubu in der Quittung BE 15, 113 (undatiert, vielleicht Kurigalzu II.) Gerste aus dem Ort Kalbīja (Vs. Z. 1–2).[38] In MUN 134 (11. Jahr von Kurigalzu II.) nimmt ein Mann mit dem Namen Ḫunnubu von verschiedenen Männern aus verschiedenen Ortschaften aus der pīḫatu Lā-nibâš[39] Gerste, Saatweizen und Saatemmer ein.[40] In einer anderen Liste, BE 15, 64 (vielleicht aus der Regierungszeit Nazi-maruttašs, vgl. Hölscher 1996: 85), ist ein Ḫunnubu einer der Brauer, die dem kaṣṣidakku-Müller Rīš-aṣûšu einen Restbetrag schulden (oder diese Beträge zugeteilt bekommen haben).[41] Da es nicht gesichert ist, ob dieser Ḫunnubu mit der Sohn des Ukni-šaḫ aus BE 15, 110 und 115 identisch ist, bleibt unsicher, ob dieser Brauer war.

5.4.2 Aḫa-iddina-Marduk, der Sohn des Erība-Amma

Der Name Aḫa-iddina-Marduk ist vielfach in kassitenzeitlichen Quellen belegt. Allerdings ist zu beachten, dass Aḫa-iddina-Marduk lediglich als Patronym erscheint, und da die Angabe von Patronymen dumu PN, „Sohn von PN,“ Nachfahren eines ursprünglichen Besitzers von Land bezeichnen konnte (siehe Paulus 2020: 313–314),[42] ist nicht ersichtlich, ob Aḫa-iddina-Marduk ein möglicherweise noch lebender Vater oder Vorfahre ist. Allerdings zeugt die Quittung BE 15, 24 davon, dass es sich bei Aḫa-iddina-Marduk, dem Vater des Lī/ūṣi-ana-nūr-Marduk, um einen noch lebenden Vater handelt. BE 15, 24 belegt, dass Aḫa-iddina-Marduk an einer Transaktion mit Innannu beteiligt ist. In BE 15, 24 erhalten zwei Männer (Rs. Z. 1–5) Sesam aus dem Haus des Marduk-nīšu aus der Hand des Innannu (Vs. Z. 2–3), anstelle von (kī qāt) Aḫa-iddina-Marduk, dem Sohn eines Erība-Amma.[43] BE 14, 25 datiert in das 17. Jahr des Königs Kurigalzu II.; BE 15, 24, 110 und PBS 2/2, 80 datieren jeweils in das 10., 20. und 22. Jahr eines Königs, möglicherweise ebenfalls Kurigalzu II.

5.5 Die Belege aus Dūr-Enlilē

Der Name Lī/ūṣi-ana-nūr-ilīšu ist in keiner anderen mir bekannten Quelle belegt (vgl. Hölscher 1996: 84–85).[44] Allerdings ist in einer Liste an Posten aus Saat und Emmer aus dem 5. Regierungsjahr von König Kudur-Enlil (1254–1246 v. Chr., siehe Brinkman 2017: 26) aus dem möglichen Fundort Dūr-Enlilē ein Lī/ūṣi-ana-nūr-ilīšu (CUSAS 30, 199: Vs. Z. 8) aufgeführt.

Beamte aus Nippur sind teilweise auch in Dokumenten aus dem vermuteten Fundort Dūr-Enlilē zu finden (publiziert in CUSAS 30), siehe van Soldt (2015: 29–30). Dūr-Enlilē lag im Norden von Nippur und war ein “important economic center that was to a certain degree dependent on Nippur” (van Soldt 2015: 30).[45] Einige Texte, die möglicherweise aus Dūr-Enlilē stammen (publiziert in CUSAS 30), müssen in die prosopografische Annäherung insbesondere deshalb einbezogen werden, da der Name Ḫunnubu dort häufig erwähnt wird (siehe van Soldt 2015: 545).[46] Allerdings sind nur die folgenden drei Dokumente relevant für die Einordnung der Personen aus PBS 1/2, 21, da sie weitere Namen aus dem Brief PBS 1/2, 21 beinhalten:

Zunächst ist die Ausgabeliste CUSAS 30, 360 (CUNES 52-13-159) zu nennen. In CUSAS 30, 360 erhält ein Sohn eines Ḫunnubu Wolle (Vs. Z. 2) in Ḫursagkalamma.[47] In demselben Dokument erhält ein Sohn eines Aḫa-iddina-Marduk ebenfalls Wolle (Vs. Z. 13–14). CUSAS 30, 360 datiert in das 2. Regierungsjahr von Šagarakti-Šuriaš, d. h. in dieselbe Regierungszeit wie die Liste über den Erhalt von Rückständen an Vieh BE 14, 132 aus Nippur (siehe oben Sektion 5.2). Ob eine Verbindung zu den nippuräischen nāqidu-Viehhirten Ḫunnubu und Zākiru aus demselben Zeitraum besteht, bleibt offen.

In einem Text aus der Regierungszeit von Šagarakti-Šuriaš, CUSAS 30, 223 (CUNES 52-16-043), erhält eine Tochter eines Ḫunnubu zweimal Getreide (Vs. 2–3); in derselben Liste wird eine gewisse Rīšatu als Empfängerin geführt (Vs. Z. 6) und gibt das Getreide aus (siehe Rs. Z. 8: šu fRi-ša-ti). Ebenso wird in einer undatierten Liste an Gersteposten, CUSAS 30, 320, die unter der Hand der Nippurītu sind (vgl. U.Rd. Z. 1:1;1.1.0 šu fNi-[ip-pu-ri-ti]), neben einer Tochter eines Ḫunnubu in Vs. Z. 4 direkt in der folgenden Zeile (Vs. Z. 5) eine Rīšatu genannt. Rīšatu ist laut Hölscher (1996: 180) ein Kurzname bzw. Hypokoristikon (zur Bildung von Hypokoristika im kassitenzeitlichen Onomastikon siehe Hölscher 1996: 9–10). Mindestens zwei Frauen des Namens Rīšatu erscheinen in ca. 60 Texten aus dem vermuteten Fundort Dūr-Enlilē. Rīšatu war in Dūr-Enlilē für die Ausgabe von Lebensmitteln, insbesondere aklu-Lebensmittel und Getreide (insbesondere Emmer und Mehl), zuständig und gab Getreide an Müller heraus (siehe dazu van Soldt 2015: 26–27). Das Hypokoristikon Rīšatu könnte für einen Namen bestehend aus dem Element Rīšat- und einem Theonym gestanden haben. Dafür, dass die Absenderin des Briefs PBS 2/1, 21, Rīšat-[...], mit einer der Beamtinnen aus Dūr-Enlilē zu identifizieren ist, gibt es jedoch keine Anhaltspunkte, außer dass sie in Dokumenten genannt wird, die kontemporär zu dem nāqidu-Viehhirten namens Ḫunnubu aus Sektion 5.2 sind, und in denselben Dokumenten erscheint, in denen eine Tochter eines Ḫunnubu genannt wird.

5.6 Die prosopografische Einordnung

Wie oben beschrieben, kann die Absenderin von PBS 1/2, 21, Rīšat-[...], nicht mit Sicherheit mit einer datierten Person in einem Verwaltungs- oder Rechtsdokument identifiziert werden. Allerdings kann Rīšat-[...]s familiäres Umfeld möglicherweise durch eine prosopografische Einordnung des Empfängers ihres Briefes, ihres Bruders Ḫunnu[...], geschehen. Dass Rīšat-[...]s Familie der Oberschicht in Nippur zuzuordnen ist, wird durch den Fundort des Briefs nahegelegt. Rīšat-[...]s Brief wurde vermutlich im Palastbereich von Nippur gefunden; der Ort, von dem aus Rīšat-[...] den Brief nach Nippur schickte, ist nicht bekannt. Daher ist davon auszugehen, dass sich der Empfänger des Briefes, Ḫunnu[...], in Nippur im Palast, vielleicht sogar als Teil der Palastverwaltung, aufhielt. Folglich ist durchaus anzunehmen, dass Rīšat-[...] zu einer Familie gehörte, deren Mitglieder vielleicht teilweise im Palast von Nippur arbeiteten, da ihr Brief dort archiviert wurde.[48]

Ḫunnu[...] kann ebenfalls nicht eindeutig durch eine prosopografische Untersuchung eingeordnet werden. Unter deutlichen Vorbehalten kann allerdings in Betracht gezogen werden, dass einer der Männer mit dem Namen Ḫunnubu, die in Sektionen 5.2 oder 5.4 aus Nippur belegt sind, mit dem Empfänger von PBS 1/2, 21 identifiziert werden kann.

Von den oben präsentierten Möglichkeiten ist insbesondere die Identifizierung mit Ḫunnubu, dem Sohn des Ukni-šaḫ (siehe oben, Sektion 5.4) hervorzuheben, da dieser mit zwei Namen genannt wird, die Rīšat-[...] in ihrem Brief erwähnt: Einerseits bezeugt dieser Ḫunnubu eine Transaktion, in die ein Sohn des Aḫa-iddinaMarduk involviert ist, und andererseits erhält dieser Ḫunnubu Ausgaben, die teilweise von Zākiru bzw. Aḫēdūtu stammten. Als Zeitgenosse Innannus wäre dieser Ḫunnubu in die Regierungszeit Kurigalzus II. (1332–1308 v. Chr.)[49] zu datieren.

Sollte Rīšat-[...]s Bruder gemäß Sektion 5.4 (siehe oben) Ḫunnubu, der Sohn des Ukni-šaḫ, sein, so unterstanden ihm möglicherweise eigene ṣābu-Arbeiter (BE 15, 94 Vs. Z. 4–5), und sein eigenes Rollsiegel ist anhand einer Abrollung belegt (siehe oben; P259467). Falls Ḫunnubu mit dem Brauer dieses Namens zu identifizieren ist, der vielleicht teilweise für Innannu bzw. dessen Tempelinstitution produzierte, so rückt dies die Familie möglicherweise in den Kontext der Produktion von Opfergaben für die Götter. Ist dies tatsächlich der Fall, so wäre Rīšat-[...] als Teil seiner Familie der wohlhabenden Oberschicht angehörig, die in den kassitenzeitlichen Verwaltungsdokumenten und Briefen belegt ist. Diese Identifizierung des Ḫunnu[...] ist jedoch ausdrücklich nicht gesichert. Da keine Belege für diese Annahme im Brief vorliegen, bleibt es bei einer Spekulation.

Wie oben in Sektion 5.2 dargelegt, besteht weiterhin die Möglichkeit, dass Ḫunnu[...] mit einem nāqidu-Viehhirten namens Ḫunnubu, der mit einem Kollegen Zākiru genannt wird (und der möglicherweise mit dem inhaftierten Schuldner Ḫunnubu aus der Prozessurkunde PBS 8/2, 163 identisch ist), zu identifizieren ist. Diese Person(en) datieren in die Regierungszeit Šagarakti-Šuriašs (1245–1233 v. Chr.). Als nāqidu-Viehhirte hätte Ḫunnubu (und somit auch seine Schwester Rīšat-[...]) ebenso der Oberschicht im kassitischen Nippur angehört, die beispielsweise auch als Absender von Briefen an den Gouverneur von Nippur belegt sind. Für den nāqidu-Viehhirten namens Ḫunnubu aus BE 14, 132 als Adressaten von PBS 1/2, 21 spricht, dass kontemporär, in der Regierungszeit Šagarakti-Šuriašs (1245–1233 v. Chr.), ein Ḫunnubu in der Ausgabeliste CUSAS 30, 360 (mit angenommenem Fundort Dūr-Enlilē) mit einem Sohn eines Aḫa-iddina-Marduk nachgewiesen ist (siehe oben Sektion 5.5). Zudem sind kontemporär Beamtinnen mit dem Hypokoristikon Rīšatu in Texten mit dem möglichen Fundort Dūr-Enlilē belegt. Wie oben in Sektion 5.5 beschrieben, hatte Rīšatu eine verantwortungsvolle Position in der Verwaltung von Getreide und Lebensmitteln in Dūr-Enlilē und ist in zwei Urkunden (u. a. in der Regierungszeit Šagarakti-Šuriašs) mit einer Tochter eines Ḫunnubu belegt.

Ob die Absenderin von PBS 1/2, 21, Rīšat-[...] mit einer dieser einflussreichen Beamtinnen in Dūr-Enlilē identisch ist, bleibt offen. Für eine Identifizierung der Absenderin von PBS 1/2, 21 mit einer Rīšatu aus Dūr-Enlilē spricht, dass innerfamiliäre Machtverhältnisse möglicherweise von Verwaltungsfunktionen einflussreicher Frauen in der Provinz- und Tempelverwaltung zu trennen sind. Das würde bedeuten, dass sich Rīšat-[...] innerhalb ihrer Familienhierarchie ihrem Bruder unterordnen musste, jedoch als Beamtin in Dūr-Enlilē die Lebensmittelverteilung und -herstellung überwachte und organisierte. Eine Identifizierung von Rīšat-[...] mit Rīšatu aus Dūr-Enlilē würde zudem den Ursprungsort ihres Briefs an ihren Bruder in Nippur zu Dūr-Enlilē machen. Gegen eine derartige Identifizierung spricht, dass Rīšat-[...] in ihrem Brief PBS 1/2, 21 eine passive Rolle in den innerfamiliären Strukturen einnimmt und keine Beteiligung an Governance-Prozessen demonstriert (siehe unten die Diskussion in „6. Fazit: Die soziale Position der Rīšat-[...])“.

6. Fazit: Die soziale Position der Rīšat-[...]

Die folgenden Schlussfolgerungen können in Bezug auf 1.) Frauenbriefe in der Kassitenzeit und 2.) die familiären Machtverhältnisse gezogen werden:

1. Frauenbriefe in der Kassitenzeit

Insgesamt sind vier von 331 Kassitenbriefen (ca. 1,2 %) Absenderinnen zuzuordnen. Die vier Frauenbriefe gehören nicht zu der großen Gruppe von ardu-Briefen von Untergebenen an Höhergestellte. Stattdessen sind drei der vier Briefe den bēlu-Briefen von Höherrangigen an Untergebene zuzuordnen, und der vierte Brief PBS 1/2, 21 der Rīšat-[...] gehört zur Gruppe der Familienbriefe.[50]

In den anderen drei Frauenbriefen gibt eine Frau namens Inbi-ajjari Befehle an den Tempelbeamten Innannu (BE 17, 85, 86 und HS 111). Inbi-ajjari hatte eine gehobene Position in einer Verwaltungseinheit/Institution in Nippur inne. Gemäß ihren drei erhaltenen Briefen mit Anweisungen an den Beamten Innannu war sie in ähnliche Governance[51]-Prozesse wie männliche Provinz- und Tempelbeamte involviert.[52] Inbi-ajjari kommuniziert in ihren Briefen Befehle, die die Verteilung von Ressourcen betrafen, und tadelt den Beamten Innannu.

Im Gegensatz zu Inbi-ajjari zeigt Rīšat-[...]s Brief, dass sie nicht aktiv an Governance-Prozessen beteiligt war. Während Inbi-ajjari an der Ressourcen-Verteilung beteiligt war, kommuniziert Rīšat-[...] in ihrem Brief kaum eine Beteiligung an den Governance- bzw. Steuerungsprozessen ihrer Familie bzw. der Familiengeschäfte. Aus ihrem Brief geht nicht hervor, dass Rīšat-[...] am Koordinieren eines staatlichen oder nicht-staatlichen Raum des Regierens beteiligt war; sie ist in ihrem Brief auch nicht aktiv an Entscheidungen beteiligt, die die Familiengeschäfte betreffen (dies spricht gegen eine Identifizierung von Rīšat-[...] mit den in Sektion 5.5 in Erwägung gezogenen Beamtinnen mit dem Hypokoristikon Rīšatu in Texten mit dem möglichen Fundort Dūr-Enlilē). Obgleich eine Ladung vor Gericht bzw. eine gerichtliche Verurteilung, beispielsweise bei Fiskalstrafen, ihre ganze Familie betreffen könnte, trifft Rīšat-[...] keine aktiven Entscheidungen im Interesse der Familie, sondern folgt ausschließlich den Befehlen von Männern.

Anhand der vier kassitenzeitlichen Frauenbriefe kann demonstriert werden, dass die Absenderinnen aktiv an der Gestaltung von Rechts- und Verwaltungsprozessen partizipierten und rechts-, handlungs- und geschäftsfähig waren. Jedoch zeigt das kleine Dossier auch, dass die Frauen innerhalb der Familienstrukturen der männlichen Autorität unterworfen waren und ihr Handeln mit den Anweisungen ihrer männlichen Verwandten begründeten. Folglich reflektiert das kleine Dossier kassitenzeitlicher Frauenbriefe die bisherige Forschung zum Familienrecht (siehe beispielsweise Stol 2016: 127; Neumann 2003: 77, 91; Wilcke 1985: 267–292).

Die Briefe von Rīšat-[...] und Inbi-ajjari entspringen unterschiedlichen sozialen Kontexten: einerseits der familiären Sphäre und andererseits der Sphäre der Regierungsprozesse. Inbi-ajjari gehört zur Oberschicht und hat die Autorität, dem Beamten Innannu Befehle zu geben und ihn zu kritisieren. Im Gegensatz zu Inbi-ajjari betrifft der Brief von Rīšat-[...] innerfamiliäre Beziehungen. Anhand der Sprechaktanalyse kann Rīšat-[...]s eingeschränkte Autorität innerhalb der Familie gezeigt werden. Möglicherweise bedeutet dies, dass man zwischen der Rechts- und Geschäftsfähigkeit[53] von kassitenzeitlichen Frauen und ihrer (sozialen) Rolle innerhalb der Familie unterscheiden muss, oder dass die beiden Absenderinnen unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zuzuordnen sind. Da allerdings die vorgeschlagenen prosopografischen Identifizierungen des Ḫunnu[...] (siehe oben Sektion 5) eine Zuordnung zur Oberschicht in Nippur implizieren und da der Brief, den er erhalten hatte, vermutlich im Palastbereich von Nippur gefunden wurde – d. h., dass der Empfänger des Briefes, Ḫunnu[...], in Nippur im Palast, vielleicht sogar als Teil der Palastverwaltung zu verorten ist – , wäre auch Rīšat-[...] einer ähnlichen gesellschaftlichen Schicht wie Inbi-ajjari zuzuordnen.

Es ist offensichtlich, dass sich Rīšat-[...]s Familienbrief deutlich von den drei kassitenzeitlichen Frauenbriefen der Inbi-ajjari (BE 17, 85 und 86, HS 111) unterscheidet. Inbi-ajjaris Briefe gehören zu den bēlu-Briefen von Höherrangigen an Untergebene. Meine Sprechaktanalyse dieser drei Briefe ergab, dass Inbi-ajjari mithilfe der hohen Zahl an Direktiven Befehlsgewalt, Autorität und Unabhängigkeit demonstriert. Im Gegensatz dazu ist Rīšat-[...]s Brief ein Beleg für eine gewisse soziale Abhängigkeit von Männern, die sie zitiert, sowie ihrem Bruder. Da ihre Autorität nicht ausreicht, macht sich Rīšat-[...] die Autorität der Männer, die ihr Anweisungen gaben, zu eigen und rechtfertig somit ihr Handeln gegenüber ihrem Bruder. Im Gegensatz zu Inbi-ajjari, die häufig Imperative und Prohibitive verwendet, nutzt Rīšat-[...] lediglich einmal einen Imperativ. Zudem schwächt sie ihren Befehl an ihren Bruder in der Form eines Konditionalsatzes ab, damit ihr direktiver illokutionärer Akt höflicher und vorsichtiger beim Empfänger ankommt.

In ihren Berichten – ausgenommen sind hier die Zitate der Tochter des Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk und die Zitate aus den Briefen des Lūṣi-ana-nūr-ilīšu, da diese aus deren Briefen kopiert sein könnten – verwendet Rīšat-[...] eine Präsens-/Durativ-Form (Vs. Z. 7: i-šap-pa-ra, „er schickt“) und eine Gtn-Form bzw. den Iterativ (Rs. Z. 5: il-ta-nap-pa-ra, „er schickt immer wieder (Briefe) an mich“). Diese Verbformen beschreiben sowohl zukünftige als auch kontemporäre, wiederkehrende Ereignisse, die zeitgleich mit dem Abschicken von Briefen passieren, und drücken Dringlichkeit aus. Diese Dringlichkeit dient als Rechtfertigung dafür, dass die Absenderin eine Aufforderung (Direktivum) an ihren Bruder richten muss.

Es ist zu beachten, dass auch die Verbformen in dem wörtlichen Zitat, das der Bruder in Briefform an den Lūṣi-ana-nūr-ilīšu schreiben soll, im Präsens/Durativ (L.Rd. Z. 2: e-leq-qe-ši-ma, „ich werde sie nehmen,“ L.Rd. Z. 3: i-ša-ʾa-a-lu-ši, „er wird sie befragen“) und im Stativ (L.Rd. Z. 2: te-ba-a-ku, „ich bin auf dem Weg“) stehen. Sie implizieren, dass der Bruder im Aufbruch ist (L.Rd. Z. 2: te-ba-a-ku, „ich bin auf dem Weg“) bzw. möglichst schnell dem Lūṣi-ana-nūr-ilīšu antworten soll.

Zusammenfassend sind die folgenden Unterschiede zwischen Inbi-ajjari und Rīšat-[...] zu beobachten:

  1. Die Briefe der Rīšat-[...] und Inbi-ajjari entstammen unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten: zum einen der familiären Sphäre und zum anderen der Sphäre der administrativen Governance-Prozesse. Während Rīšat-[...]s Brief auf der Ebene der Sprechakte die Beziehungen innerhalb einer Familie beleuchtet, illustrieren Inbi-ajjaris bēlu-Briefe die Macht einflussreicher Frauen außerhalb ihrer uns unbekannten familiären Strukturen.

  2. Beide Absenderinnen, d. h. die einzigen bekannten weiblichen Absenderinnen kassitenzeitlicher Briefe, Rīšat-[...] sowie Inbi-ajjari, schreiben keine unterwürfigen ardu-Briefe an ihre Herren.

2. Die familiären Machtverhältnisse

Es ist zudem deutlich zwischen der sozialen Rolle innerhalb der familiären Hierarchie sowie der gesellschaftlichen Schicht, zu der Rīšat-[...] gehörte, zu unterscheiden.

Rīšat-[...] schreibt keinen unterwürfigen ardu-Brief an ihren Herren. In ardu-Briefen verwendeten Untergebene unterwürfige Grußformeln, adressierten ihre Herren in der 3. Ps. Sg. und kommunizierten größtenteils Aufforderungen in der Form von Prekativen. Im Gegensatz dazu nutzt Rīšat-[...] keine Grußformel und nutzt sogar einmal einen Imperativ, um ihrem Bruder etwas zu befehlen. Die Abwesenheit dieser Merkmale eines ardu-Briefes in Rīšat-[...]s Brief könnte einerseits bedeuten, dass die familiären Beziehungen zwischen Rīšat-[...] und ihrem Bruder ranggleicher bzw. gleichgestellter waren als das hierarchische Verhältnis zwischen Herr*in und Diener*in. Andererseits ähnelt der Aufbau ihres Briefs den unterwürfigen ardu-Briefen von Untergebenen, die zunächst einen Bericht über ihre Arbeit liefern, bevor sie im Prekativ in der 3. Ps. ihren Herrn indirekt um etwas bitten („Mein Herr möge...“). Wie die Absender der ardu-Briefe, so beginnt Rīšat-[...] ihren Brief mit einem ausführlichen Bericht (1. Teil), bevor sie ihren Bruder zu etwas auffordert (2. Teil).

Allerdings zeigt die Sprechakt-Analyse, dass Rīšat-[...]s Brief einem unterwürfigen ardu-Brief entspricht. Dies mag daran liegen, dass das Briefformular von Briefen zwischen „Nicht-Familienmitgliedern“ anders waren als das Formular von Familienbriefen. Das Fehlen von Grußformeln oder des Prekativs 3. Ps. bedeutet nicht, dass Rīšat-[...] mehr Autorität hatte als der Absender eines unterwürfigen ardu-Briefs. Wie aus dem kleinen Dossier der vier kassitenzeitlichen Familienbriefe aus Nippur ersichtlich ist, variiert das Briefformular der Familienbriefe stark. Generell ist eine erwartbare Tendenz zu erkennen: Eltern hatten mehr Autorität als ihre Kinder. So konnte ein Vater einen Brief, dessen Form einem bēlu-Brief entsprach, an seinen Sohn richten, und ein Sohn pries seine Eltern mit einer ausführlichen Exhortation.[54] Über das Briefformular in Briefen zwischen Geschwistern sowie Mann und Frau geht aus den kassitenzeitlichen Familienbriefen nichts hervor. Möglicherweise wurden keine unterwürfigen Grußformeln gegenüber einem Bruder verwendet. Zumindest sprechen sich alle Familienmitglieder in den vier kassitenzeitlichen Familienbriefen in der 2. Ps. direkt an; d. h., es war nicht notwendig, den Prekativ in der 3. Ps. zu verwenden, um Familienmitglieder zu etwas aufzufordern. Folglich entspricht das Briefformular von PBS 1/2, 21 den Familienbriefen und nicht den ardu-Briefen, obgleich die Sprechaktanalyse, die Struktur und die Sprache von PBS 1/2, 21 ihn in die Nähe der unterwürfigen ardu-Briefe rückt.

Dieser deutliche sprachliche Unterschied zwischen der familiären und der „öffentlichen“ Stellung von kassitenzeitlichen Frauen lässt sich gut in die bisherige Forschung einordnen (siehe Stol 2016: 127; Neumann 2003: 77, 91; Wilcke 1985: 267–292). Obgleich aus Rechts- und Wirtschaftsurkunden belegt ist, dass Frauen rechts- und geschäftsfähig waren, ist dies von der eherechtlichen bzw. familienrechtlichen Stellung zu unterscheiden, denn gemäß der babylonischen, d. h. südmesopotamischen, Rechtsvorstellung in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. unterstanden gesellschaftlich einflussreiche babylonische Frauen trotz einer gehobenen Stellung fortwährend der patriarchalen Gewalt des Mannes (bzw. der elterlichen und ehelichen Gewalt) und waren dem Familienoberhaupt untergeordnet (Frauen waren erbrechtlich und eherechtlich benachteiligt, vgl. Neumann 2003: 77, 91).[55]

„In the Babylonian patriarchal society a woman was transferred from the authority of one man to that of another, from that of her father to that of her husband. Male authority has been accepted as natural until recent times, with the man as the head of the family“ (Stol 2016: 127).

Es ist zu beachten, dass sich Stols Generalisierung explizit auf die familienrechtliche Situation bezieht, die in Gesetzessammlungen und Urkunden belegt ist. Sollte dieser Brief tatsächliche aus einem familiären Kontext stammen (siehe oben, Sektion „3. Inhalt“), so ist anzunehmen, dass Rīšat-[...] Rechenschaft gegenüber ihren männlichen Familienmitgliedern ablegen musste und dass von ihr erwartet wurde, die Ehre der Familie zu erhalten bzw. im Interesse ihrer Familie zu handeln.

Dieser deutliche Unterschied zwischen der untergeordneten Stellung der Frau innerhalb ihrer Familie in der Gewalt ihres pater familias (siehe Wilcke 1985: 267–292) und ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit vor Gericht wird auch anhand von Rīšat-[...]s Brief PBS 1/2, 21 deutlich: Rīšat-[...] beschreibt in ihrem Brief einen juristischen Konflikt zwischen zwei Frauen, der Tochter des Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk und der Rīšat-[...]. Obgleich Frauen rechts- bzw. handlungsfähig waren, wird deutlich, dass beide in ihrem juristischen Vorgehen den Anweisungen von Männern folgen. Die Tochter des Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk erhebt Anklage vor dem König („Die Rechtssache bringe ich vor den König!“). Dies ist ein gutes Beispiel für Rechts- und Handlungsfähigkeit von Frauen; allerdings wird auch hier das Handeln der Tochter auf einen Befehl des Vaters, d. h. des Sohnes des Aḫa-iddina-Marduk, zurückgeführt, der somit die Verantwortung erhält. Dasselbe gilt für Rīšat-[...], denn sie erhält Befehle von Lūṣi-ana-nūr-ilīšu („Geh hinaus und komm zum König!“), denen sie Folge leistet. Allerdings begibt sie sich nicht allein auf den Weg zum König, sondern gibt die Verantwortung für ihr Handeln an ihren Bruder ab, der ihre Anwesenheit vor dem König garantieren soll (L.Rd. Z. 1–3: „(Schreib) folgendermaßen: (‚)Ich selbst bin auf dem Weg zum Palast. Ich werden sie nehmen und er wird sie befragen.(‘)“). Da kein Vater erwähnt wird, ist es wahrscheinlich, dass der Bruder als pater familias fungierte.

Zusammenfassend kann beobachtet werden, dass sich Rīšat-[...] in ihrem Brief die Autorität der Männer, die ihr Anweisungen gegeben haben, zu eigen macht, da ihre Autorität scheinbar nicht ausreicht, und somit ihr Handeln rechtfertigt. Sie folgt dem Befehl eines Mannes, vor Gericht zu erscheinen; ihre einzige Handlung, die sie nicht deutlich mit einem Befehl eines Mannes begründet, ist der Befehl an ihren Bruder, einen Brief an Lūṣi-ana-nūr-ilīšu und an Zākiru zu schreiben. Der Inhalt, den sie ihrem Bruder diktiert, entspricht jedoch den Anweisungen des Lūṣi-ana-nūr-ilīšu, denn ihr Bruder soll diesem bestätigen, dass er seine Schwester beim König zur Befragung abliefert. Scheinbar ist ihr Bruder die Autoritätsperson, die dafür verantwortlich war, seine Schwester vor Gericht zu bringen.

Folglich ist PBS 1/2, 21 ein gutes Beispiel für die komplexe rechtliche und soziale Rolle mesopotamischer Frauen, von deren Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie Geschäftsfähigkeit nicht auf ihre soziale Rolle innerhalb der familiären Hierarchie geschlossen werden kann.

Stols generelle Aussage über die Autorität von babylonischen Frauen (2016: 127) mag Königinnen, weibliche Mitglieder der Königsfamilie und weibliche Mitglieder einflussreicher Familien, deren Rechtsgeschäfte in der Rechts- und Verwaltungsdokumentation belegt ist und deren Autorität durchaus diejenige von männlichen Untergebenen übertreffen konnte, außer Acht lassen. Inbi-ajjari demonstriert dies in ihren bēlu-Briefen anschaulich. Stols Schlussfolgerung wird jedoch generell durch die patriarchalen Strukturen im mesopotamischen Recht, durch die überwiegend männlichen Herrscher mesopotamischer Königreiche (insbesondere in der emischen Perspektive der sumerischen Königslisten, die fast ausschließlich männliche Herrscher aufführen) sowie durch die in den Verwaltungstexten dominierenden männlichen Beamten im Vergleich zu belegten weiblichen Autoritätspersonen bestätigt.

Das kleine Dossier kassitenzeitlicher Briefe von Frauen gestattet es nicht, dass generelle Schlussfolgerungen über die Stellung kassitenzeitlicher Frauen gezogen werden können. Abschließend kann gesagt werden, dass trotz der wirtschaftlichen und rechtlichen Freiheiten mesopotamischer Frauen, die Textquellen des 2. Jahrtausends v. Chr. nahelegen, dass Frauen familienrechtlich einem sogenannten pater familias unterstanden und bei Eheschließung in die Gewalt des Ehemanns bzw. dessen Familie eintraten (siehe Wilcke 1985: 267–292). Die sprachliche Analyse (u. a. mithilfe der „Speech Act Theory“) von Rīšat-[...]s Familienbrief scheint eine eingeschränkte Autorität weiblicher Familienmitglieder zu bestätigen, da Rīšat-[...] ihr Handeln sowie das Handeln ihrer Prozessgegnerin durch ausführliche Zitate von anderen Männern rechtfertigt, und somit indirekt die Verantwortung auf die zitierten Männer überträgt.

Danksagung

Die Forschungen zu diesem Artikel haben sehr profitiert von meiner Zeit als Fellow bei der DFG-Kollegforschungsgruppe 2615 „Rethinking Oriental Despotism: Strategies of Governance and Modes of Participation in the Ancient Near East“ an der Freien Universität Berlin. Die Auseinandersetzung mit Governance-Konzepten, die Anregungen durch die Fellows der Kollegforschungsgruppe 2615 und die Erforschung der Beteiligung kassitischer Frauen an Governance-Prozessen inspirierten mich zur intensiven Auseinandersetzung mit diesem kassitischen Brief PBS 1/2, 21. Zudem gilt ein besonderer Dank der*dem anonymen Reviewer*in, deren*dessen hilfreiche Anregungen zur Verbesserung des Manuskripts beitrugen.

Abkürzungen: Für die bibliografischen Abkürzungen sowie die Abkürzungen für die Perioden der mesopotamischen Geschichte (z. B. „aB“ für die altbabylonische Zeit etc.) siehe das Abkürzungsverzeichnis des Reallexikons der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie. Für die Urkunden aus Sassmannshausens Publikation „Beiträge zur Verwaltung und Gesellschaft Babyloniens in der Kassitenzeit“ (2001) wird zusätzlich die Abkürzung „MUN“ für „Mittelbabylonische Urkunden aus Nippur“ verwendet, siehe dazu Sassmannshausen 2001: XIV.

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Online erschienen: 2024-12-02
Erschienen im Druck: 2024-11-05

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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