Gesprengte Ketten? Zur Zukunft des Guidelines Sentencing im US-amerikanischen Strafzumessungsrecht
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Frank Meyer
Abstract
I. Einleitung
Fragt man Strafrechtler hierzulande nach kennzeichnenden Elementen des US-amerikanischen Strafjustizsystems, wird die Antwort regelmäßig jury trial oder plea bargaining lauten. Weitaus weniger bekannt ist ein Institut, das die Strafrechtspflege der Vereinigten Staaten in den letzten 20 Jahren besonders nachhaltig geprägt hat. Die Rede ist vom guidelines sentencing. Anders als es eine wörtliche Übersetzung nahe legt, handelt es sich dabei nicht um informelle Richtlinien, wie sie auch in Deutschland vor allem für Verkehrs- und Steuerstrafsachen existieren. Sie sind vielmehr in der Regel als rechtlich verbindliche Vorschriften ausgestaltet. Dies galt bis zum 13. Januar 2005 auch für die in Bundesstrafverfahren geltenden Federal Sentencing Guidelines (im Folgenden: FSG). An besagtem Tag entschied der U.S. Supreme Court in United States v. Booker, dass deren rechtlich verbindliche Natur mit dem 6. Amendment (right to a jury trial) unvereinbar ist. Die FSG sollten nur noch „beratend“ (advisory) bei der Strafzumessung herangezogen werden. Die Tragweite dieser Entscheidung lässt sich kaum überschätzen. Trotz fortlaufender Kritik am guidelines-Regime war dieses doch integraler Bestandteil des bundesrechtlichen Verfahrensalltags. Mit „Booker“ ist dieses System nicht nur weggefallen, sondern durch ein neues ersetzt worden, über dessen genaue Ausgestaltung und Implikationen Unklarheit herrscht. Ziel des Beitrags ist es daher nicht nur, in die Welt des guidelines sentencing einzuführen, sondern auch Fragestellungen aufzuzeigen, die aus der jüngsten Rechtsprechung des Supreme Court folgen und das US-Strafrecht künftig stark beschäftigen werden. Dazu werden zunächst Geschichte (II.) und Funktionsweise (III.) der FSG skizziert. Überleitend erfolgt eine Schilderung der Kritik, die bezüglich der Anwendungspraxis der FSG sowie ihrer strukturellen Mängel seit Jahren geäußert wird (IV.). Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Entscheidungsserie des Supreme Court, die mit Jones v. United States ihren Ausgang nahm und schließlich in United States v. Booker kulminierte, darstellen (V.). Abschließend wird die Adaption dieser Rechtsprechung durch die Instanzgerichte (VI.) beleuchtet sowie das rechtliche und politische Spannungsfeld erörtert, in dem sich die Zukunft des guidelines sentencing entscheiden wird (VII.).
© Walter de Gruyter
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