Wider das Verschwinden der Dinge. Die Erfindung des Denkmalinventars
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Eduard Sebald
Reviewed Publication:
Noell Matthias: Wider das Verschwinden der Dinge. Die Erfindung des Denkmalinventars Wasmuth & Zohlen Verlag 2020 384 Seiten, Paperback € 48,00 ISBN 978-3-8030-3410-6
Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts reifte allgemein die Erkenntnis, dass die Erfassung vornehmlich baulicher Zeugnisse der Vergangenheit von zentraler Bedeutung für deren Erhalt und Pflege sei. So kam es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und noch vor den klassischen Inventaren zu diversen Versuchen, Denkmalverzeichnisse zu erstellen. Diese Frühzeit der Inventarisation – genauer: die Zeitspanne zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg – ist Gegenstand der Untersuchung von Matthias Noell. In vier Kapiteln zeichnet er die Entwicklung der Methoden und Instrumente der Denkmalkunde im 19. Jahrhundert nach, wobei der Blick über die Grenzen des Deutschen Reichs hinausgeht, vor allem nach Frankreich und Österreich, aber auch in die Schweiz und nach England.
Im ersten Kapitel »Das Denkmalinventar als Sammlungsersatz« wird zunächst die Aufgabenstellung definiert: die Ausarbeitung einer »vergleichenden Geschichte der Denkmalinventare« (Noell, S. 13). Im Anschluss sind Vorformen des Inventars aufgelistet bis hin zu ersten staatlichen Versuchen der Erstellung von Denkmallisten. Aus der Fülle von Beispielen seien hier kunsttopographische Werke erwähnt, die Inventaren am nächsten kommen, etwa Matthäus Merians Topographia Germaniae (1642–1688), oder Sammlungs-publikationen, wie jene zu den Beständen des Louvre. Daneben stehen Einzelwerke, beispielsweise das 1643 erschienene Danicorum Monumentorum, eine Sammlung dänischer Bauten vorwiegend des Mittelalters. Dessen Autor, Ole Worm (1588–1654), stellte einen Sieben-Punkte-Plan auf, der vielen als erste Anleitung zum Inventarisieren gilt. Auch frühe »amtliche« Versuche der Registrierung sind überliefert: So bereiste das Antikvitetskollegium ab 1667 Schweden, nachdem im Jahr zuvor das erste schwedische Denkmalpflegegesetz erlassen worden war. Mitglieder des mehrköpfigen Gremiums zeichneten und beschrieben ausgewählte Kirchen, Ruinen, Grabsteine und Wappen während der Reisen. Im Gebiet des Deutschen Reichs wies die hessische Denkmalschutzverordnung von 1780 einen Abschnitt zur Inventarisation auf.
Im zweiten Kapitel »Wege der Erfassung« ist die Entwicklung der Denkmallisten bis hin zu den Kunstdenkmalinventaren dargestellt. Verursacht unter anderem durch Verluste während der Französischen Revolution ging die Initiative vor allem von Frankreich aus. Bereits 1810 forderte der Innenminister Napoleons, Jean-Pierre Bachasson Comte de Montavilet, die Präfekten der Départements auf, Denkmallisten zu erstellen. Da dies billiger war, wurden in der Folge Fragebögen zum Denkmalbestand versandt – meist unter der Federführung regionaler Vereine. Die ersten Denkmallisten lehnten sich unter anderem in Fragen der Auswahlkriterien oder Zuordnung zu bestimmten Arten oder Gattungen methodisch bei naturwissenschaftlichen Listen an. Bis zur Einstellung der Fragebogenaktionen in der Zeit um 1880 wurden diverse Bögen entwickelt, die im Buch vorgestellt werden. Letztlich scheiterte man an zwei grundlegenden Problemen: Die Resonanz war großteils eher mäßig, vor allem aber genügten die durchweg laienhaften Antworten nicht den Ansprüchen einer offiziellen Denkmalliste. Letztere mussten von ausgebildeten Inventarisatoren erarbeitet werden. Schon 1830 wurde ein Inspecteur général des monuments historique en France installiert, zu dessen vornehmsten Aufgaben die Erarbeitung eines flächendeckenden Denkmalverzeichnisses der Grande Nation zählte. Die Denkmale wurden in der Statistique monumentale erfasst und beschrieben, anfangs sortiert nach chronologischen und geografischen Kriterien. Die Liste zu je einem Département wurde im 1834 eigens dafür gegründeten Bulletin monumental publiziert. Für viele Verzeichnisse vorbildlich war Arcisse de Caumonts Statistique du Calvados, deren fünf Bände zwischen 1846 und 1867 erschienen. Ab 1842 wurden sie mit Text und Bild in kleinerem Format verlegt, um sie auf Reisen mitnehmen zu können. Nun waren die Objekte nur noch nach geografischen Gesichtspunkten geordnet, was maßgebend blieb. Um 1835 übernahm der Staat die Bearbeitung der Statistiken, delegierte deren Veröffentlichung jedoch bereits um 1839 an die Regionen und Départements.
In den deutschen Staaten und Österreich beschritt man andere Wege. Zunächst wurden auch hier Fragebögen versandt, der erste in Preußen 1821, danach unter anderem in Württemberg (1836/37), Sachsen (1840) und Baden (1853). Freilich geriet das Projekt nach anfänglichem Elan ins Stocken, die oben genannten Unzulänglichkeiten führten dazu, dass die Umfragen eingestellt wurden. Parallel dazu ebnete die Kunst-Topographie Deutschlands von 1862/63 den Weg zum Kunstdenkmalinventar. Zwar geht die Nähe zur älteren Reiseliteratur schon aus dem Untertitel hervor, doch floss nun auch das aktuelle Wissen über die Objekte in die Schilderung der Reise ein. Das Inventar zum Regierungsbezirk Kassel dem Jahr 1870, das erste seiner Art in Deutschland, basierte noch auf Fragebögen von 1866, resultierte indes aus der Unzufriedenheit damit. In dem Doppelband, für den Wilhelm Lotz, der Autor der oben genannten Topographie, mitverantwortlich war, ging man über französische Vorlagen hinaus: unter anderem wird erstmals auf Restaurierungen hingewiesen. 1876/77 erschienen die beiden ersten Teilbände zu Elsass-Lothringen von Franz Xaver Kraus. Hierin und in den drei bis 1892 folgenden Bänden wurden auch Werke der Barockzeit und des Rokoko aufgenommen, was die Altersgrenze von Denkmalen deutlich senkte. Zudem fand auch der Bereich Ausstattung wesentlich mehr Berücksichtigung, ein Beleg dafür, dass wissenschaftliche Fragen gegenüber verwaltungstechnischen immer mehr in den Vordergrund rückten. Ab den 1880er Jahren folgten unter anderem Inventare zu Sachsen und Westfalen. In Bayern startete man etwas verspätet ab 1891 im Regierungsbezirk Oberbayern mit dem Inventar Ingolstadt. Im gleichen Jahr begann Paul Clemen mit der Inventarisierung des Rheinlands, das er zunächst auf dem Fahrrad erkundete. Der innovative und höchst produktive erste Provinzialkonservator der Rheinprovinz setzte Maßstäbe für zukünftige Inventare – von den Inhalten über die Gliederung bis hin zur Typografie.
In Österreich kursierten anfangs ebenfalls Fragebögen. Im Vergleich zu Deutschland etwas verspätet erschien 1889 als erste die Kunsttopographie zum Herzogtum Kärnten. Der eigentliche Beginn der Reihe Österreichische Kunsttopographie fiel allerdings erst ins Jahr 1907, wegen »der fast revolutionären […] Wandlungen in den Anschauungen über Denkmalpflege« (Josef A. von Helfert). Österreichs wichtigster Beitrag zur Entwicklung der Denkmalkunde liegt denn auch in den denkmaltheoretischen Arbeiten Alois Riegls und Max Dvořáks, auf die Noell ausführlich eingeht.
Das dritte Kapitel befasst sich mit »Methoden der Erfassung und Veröffentlichung«. Zunächst geht es unter dem Untertitel »Beschreiben« um die Entwicklung einer einheitlichen Terminologie, deren Fehlen einer der Gründe für das Scheitern der Umfragen war. Beim verwandten Thema »Abbilden« wird unter anderem das Verhältnis Wort – Bild diskutiert oder die Frage nach einer Trennung in Wort- und Bildband. In beiden Fällen kamen bei der Realisierung der Bände sicherlich auch finanzielle Aspekte zum Tragen. Die Fotografie ist in der Inventarisation ein wichtiges Medium, wurde aber erst ab der Mitte des Jahrhunderts häufiger eingesetzt und ist seit etwa 1900 fest darin etabliert. Mit dem Abbilden einher ging die Idee eines allgemeinen Bildarchivs, über das man zwar schon 1839 nachdachte, das aber erst Paul Clemen in den 1890er Jahren unter Nutzung der Fotografie realisierte. Der Abschnitt »Kartieren« geht auf Karten und Piktogramme ein, mit denen unter anderem die Verbreitung von Stilen oder regionale Besonderheiten in Kunst und Architektur prägnant veranschaulicht werden können. Arcisse de Caumont beschäftigte sich bereits 1825 mit einer Denkmalkarte des Départements Calvados. Idee und Begriff einer allgemeinen Denkmalkarte – besser bekannt als Carte monumentale – gehen wahrscheinlich auf ihn zurück, die Karte französischer Bauschulen hingegen auf Viollet-le-Duc. Zur Jahrhundertwende waren Denkmalkarten häufig Bestandteile von Inventaren. Kartierungen verlangen nach einer Auswertung bzw. einem Kommentar. Zwar hatte Paul Clemen einen solchen in seinem ersten Band angekündigt, gleichwohl nicht geliefert – vor allem deshalb, weil den eigentlichen Inventartexten nun, auf Anregung Max Dvořáks, kunsthistorische Überblicke vorangestellt wurden, was ebenfalls bindend blieb. Unter dem Stichwort »Buchgestaltung und Paratexte« runden Bemerkungen zu Reihen und Buchtiteln, zu Fließtexten, Marginalien und Typografie, schließlich zu Registern, Anhängen und Tabellen das informative Kapitel ab. Zuletzt thematisiert Noell im Abschnitt »Wertefragen, Bedeutungsfragen« die Aufnahmekriterien eines Denkmals. Hier standen zunächst Zeitgrenzen im Zentrum des Interesses, also die Frage, mit welchem zeitlichen Abstand man Denkmale aufnehmen dürfe. Die Spannbreite von 30 bis 60 Jahren führt die Willkür und Unsicherheit der Festlegungen vor Augen. Die Frage, was den Wert eines Denkmals ausmacht, wurde im 19. Jahrhundert lange diskutiert und kulminierte in Riegls ideellen Kategorien des Gebrauchswerts und Kunstwerts (beides Gegenwartswerte) sowie des historischen Werts und Alterswerts (beides Erinnerungswerte).
Im vierten Kapitel »Über das Verschwinden der Dinge« zieht Noell ein eher philosophisches Resümee. Demnach machen Inventare sichtbare Objekte durch Erforschung noch sicht- bzw. lesbarer. In ihrer auf diese Weise freigelegten Geschichte spiegelt sich ihre Vergänglichkeit, zugleich wird damit die Vergangenheit für die Zukunft gesichert – in den Worten des Autors: »Das Denkmalinventar steht zwischen den beiden Polen des Erbens und Vererbens und lotet den entstehenden Raum aus.« (Noell, S. 317).
Noell breitet sein umfangreiches Wissen zunächst thematisch geordnet aus, erst in zweiter Linie chronologisch und schließlich geografisch. Das allzu starre Gliederungskorsett zwingt zu ständigen Orts- und Perspektivwechseln und erzeugt verwirrend viele Unterkapitel und Wiederholungen.[1] Land für Land vorzugehen (wie hier in der Besprechung des zweiten Kapitels versucht), hätte die Unterschiede in den Entwicklungen der Länder wohl wesentlich transparenter gemacht. Hinzu kommt eine auffällige Häufung von Originaltexten des 19. Jahrhunderts im Fließtext, die zwar im Kontext des Themas zweifelsohne interessant sind, die aber den Lesefluss behindern. Weniger wäre hier vielleicht mehr gewesen; ein Textanhang hätte Abhilfe schaffen können, der gut zum ausführlichen Literaturverzeichnis gepasst hätte.
Den formalen Schwächen, die nicht unerheblich sind, weil das übergeordnete Thema manchmal Gefahr läuft, aus durchaus lauterer Detailversessenheit aus dem Blick zu geraten, steht inhaltlich eine beindruckende Materialsammlung gegenüber, die weit über vorliegende Arbeiten renommierter Kollegen*innen hinausgeht. Dies gilt vor allem für die Darstellung der Geschichte der Inventarisation in Frankreich, aber auch für die Schilderung der Entwicklung verlagstechnischer Fragen. Gerade das dritte Kapitel sollte Pflichtlektüre für die Wenigen werden, die Inventare, Topographien etc. in Zukunft herausbringen wollen bzw. noch (!) dürfen. Insofern gehört Noells Buch in jede denkmalfachliche Bibliothek.
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany
Artikel in diesem Heft
- Inhalt
- Vorwort
- Aufsätze
- Dem Ganzen verpflichtet
- Inventarisation im 21. Jahrhundert
- »Inventarisation als Daueraufgabe«
- Neue, alte Herausforderung
- Forum
- Zur Erinnerung
- (Post-)Kolonialismus als Thema der Denkmalpflege
- Denkmalschwärmen
- Berichte
- Das Erbe der Menschheit inventarisieren?
- Länderübergreifendes Erfassungsprojekt Braunkohleindustrie
- Eisenbahnbrücken als »Denkmale im Netz«
- Deep Learning in der Denkmal-Inventarisation
- Zukunftsfragen. Perspektiven für die Denkmalpflege
- Aktuelles
- Kurzberichte aus den Ländern
- Rezensionen
- Wider das Verschwinden der Dinge. Die Erfindung des Denkmalinventars
- Weiterbauen. Das Lebendige in der Architektur
- Nachrufe
- Tilmann Breuer (1931 – 2022)
- Karl Ganser (1937 – 2022)
- Stefan Winghart (1952 – 2022)
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