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Dem Ganzen verpflichtet

Die multiperspektivische Praxis der wissenschaftlichen Inventarisation
  • Sabine Schulte
Published/Copyright: November 9, 2022
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Die Faszination an der Alltagspraxis realen Inventarisationsgeschehens hängt wohl mit dem Vorgang der Denkmalwerdung zusammen. Was vielfach verengt wird auf die reine Frage nach Sitz und Zeitpunkt einer letztinstanzlichen Entscheidung[1] über die Denkmalfeststellung und Aufnahme von Objekten in Denkmallisten, ist ein erkenntnisgeleiteter Prozess, der bestimmt wird durch wissenschaftliche Methodik und Komplexität.[2]

Auch wegen des hohen Spezialisierungsgrads ist das Bedeutungsmetier der Denkmalpflege von vielen Seiten her aufgeladen. Ist es gerade deswegen erklärungsbedürftig? Viele für die wissenschaftliche Inventarisation wichtige Grundannahmen scheinen entweder selbstverständlich oder nicht präsent. Von welchen Wissensgrundlagen dürfen wir heute ausgehen, wenn wir in immer kürzeren Zyklen um Grundsätzliches werben müssen? Dem wachsenden Bedarf an Inventarisationsleistungen stehen schwindende Investitionen in spezialisiertes Fachpersonal in den Landesdenkmalämtern gegenüber. Wie können unter diesen Voraussetzungen einmal erarbeitete Grundlagen und Informationsstände zum Denkmalwissen erhalten und weiterentwickelt werden? Denkmalfachliche, wertende Betrachtung beginnt an dem Punkt, wo ein architekturgeschichtlicher Wissensstand vorliegt. Wie kann der Austausch mit einer wissensstarken Gesellschaft fruchtbar gemacht werden? Bewertungen des Bestands sollten Bestand haben und belastbar sein. Wie steht es um die Gültigkeit von Denkmalerkenntnis und Denkmalbegründungen, wenn ihre Gegenstände sich beschleunigt verändern? Was müssen wir für die Erhaltung der Grundlagen tun? Worin besteht der besondere Beitrag der Inventarisation?

Neben der wachsenden Nachfrage nach Denkmalbegründungen scheint auch der Aufklärungsbedarf über Aufgabenstellung und Arbeitsweise der Inventarisation gestiegen, weshalb die Zugänge des operativen Bedeutungsmetiers von Begründungsexperten aus der Praxis heraus vermittelt werden sollten.

In seiner Studie »Komplexität und Widerspruch in der Architektur« charakterisiert Robert Venturi die Merkmale postmoderner Architektur. Gerade wegen der Vielfalt, Widersprüchlichkeit, dem Spannungsreichtum sowie den verschiedensten Bedeutungsebenen, wechselnden Abhängigkeiten und verflochtenen Bedingungen formuliert er den Anspruch auf »eine Verwirklichung der schwer erreichbaren Einheit im Mannigfachen« und betont die »Verpflichtung auf das schwierige Ganze«.[3]

Die Übertragung der Frage kunsthistorischer Epochenabgrenzung auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Gegenwartsarchitektur hat Auswirkungen für die Interpretation von Architektur.[4] Auch für die Praxis der Inventarisation von Denkmalen gibt es Parallelen zu Venturis Ansatz. So steht sie vor der komplexen Aufgabe, der Pluralität und Differenz individueller Objekte und Bedingungen nur gerecht werden zu können durch eine multiperspektivische Sicht und die flexible Anwendung von Methoden aus verschiedenen Disziplinen. Zugleich bedarf es jedoch einheitsstiftender Grundübereinkünfte und gesetzlicher Kriterien in der Art eines Ordnungssystems. Voraussetzung für das Gelingen dieses Unterfangens ist die strukturelle Offenheit dieses Ordnungssystems.

Offene Einheitsform: Gesetz und Bewertungskriterien

Unsere Denkmalschutzgesetze sind postmodern angelegt für den Umgang mit Phänomenen der Pluralität. In ihrer ursprünglichen Weitsichtigkeit sind sie geeignet, eine multiperspektivische, interdisziplinäre, entwicklungsoffene wissenschaftliche Inventarisation von Denkmalen zu ermöglichen. Sie verlangen die Erforschung von Denkmalen und fordern von uns die nachvollziehbare Darstellung eines wohlverstandenen öffentlichen Erhaltungsinteresses.

Was bedeutet es, wenn Denkmalschutzgesetze in Gefahr geraten, verunklart zu werden? Wirken sich forcierte Anstrengungen zur gerichtlichen Durchsetzung von Einzelinteressen langfristig aus auf den gesetzlichen Begründungsauftrag sowie auf das Verständnis von Rechtsgütern der Allgemeinheit?

Anfechtungswellen gegen eine festgestellte Denkmaleigenschaft können den Explikationsbedarf bezogen auf ein einzelnes Objekt exponentiell steigen lassen

Das trifft neben Rechtsreferaten vor allem die Fachabteilungen für Inventarisation, die den gesetzlichen Auftrag haben, Denkmale zu erforschen, den Überblick zu bewahren sowie weitestgehende Objektivierung und Ordnungsgewinne für das Ganze zu gewährleisten. Diese Leistungen sind aber wiederum ohne ein Mindestmaß an Abstand und Abstraktion von vorgetragenen Einzelinteressen nicht zu haben. Einen solchen Abstand einzufordern und auszuhalten ist unsere »Verantwortung für das schwierige Ganze«. Und dieser Abstand meint weder Entrücktsein noch Elfenbeinturm und erst recht nicht Isolierung gegenüber einem lebendigen Interesse der Öffentlichkeit – im Gegenteil.

Gesetzliche und gesellschaftliche Regulierungsfunktionen, Subjektivitätsentwürfe und Affektdynamiken sind ja nur dann fruchtbar, wenn wir vielheitsfähig bleiben. Neben der Fähigkeit zur Vielheit, die allein schon die Gegenstände von Denkmalschutz und Denkmalpflege einfordern, braucht es dazu geschützte Grundlagen.

Da das Interesse der Rechtswissenschaft, Recht weiterzuentwickeln auch die Auslegung der Begründungskriterien des Denkmalschutzes betrifft, ist es wichtig, dass grundsätzliche Erkenntnisse der Denkmalinventarisation als angewandte Geschichtswissenschaft im Sinne eines Transfers von Fachwissen in diesen Entwicklungsprozess eingebracht werden können. Eine theoretisch, methodisch und gesetzlich für den Umgang mit Vielheit ausgestattete Inventarisation sollte daher darauf achten, dass interpretatorisch anspruchsvolle Kriterien wie die künstlerische und wissenschaftliche Bedeutung in ihrer Anwendung bei der Auslegung von Denkmalbedeutung nicht verblassen, zum Beispiel in Folge einer Verengung im Kunstverständnis oder anderer einschränkender Tendenzen. Hier ist ein fachwissenschaftlich argumentativer Ausgleich gefragt, denn nur in der vollen Ausschöpfbarkeit der verfügbaren offenen Begriffe erfüllt sich die »Verantwortung für das schwierige Ganze«. Verengt würde auch der unbestimmte, also wertausfüllungsbedürftige Rechtsbegriff »Interesse der Allgemeinheit«, wenn die zu dessen analytischer Ausfüllung beitragende Begründungsprofession Inventarisation angesichts der Quantität und inhaltlichen Komplexität ihrer Aufgaben ihre Verantwortungsbereitschaft für das schwierige Ganze reduzieren würde (Abb. 1).

1 Berlin, Große Hamburger Straße 15–16, Wohnanlage, Kriegslücke mit Kunstwerk »Das fehlende Haus«, 1990 von Christian Boltanski, 2022
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Berlin, Große Hamburger Straße 15–16, Wohnanlage, Kriegslücke mit Kunstwerk »Das fehlende Haus«, 1990 von Christian Boltanski, 2022

Plurale Interessen – Hybride Objekte

Denkmalen inhärent ist naturgemäß ein postmodernes Moment, insofern sie im Laufe ihrer Geschichte nicht selten zu hybriden Objekten von komplexer pluraler Struktur geworden sind. Bei aller Vielschichtigkeit, auch von Anpassungsarchitektur, bleiben doch nachprüfbare Fakten. Die Analyse eines hybriden Bestands ist ohne spezielles Hintergrundwissen kaum angemessen zu bewerkstelligen. Wir sollten diesen Anspruch des genauen Auseinanderdividierens nicht aufgeben. Das schließt bei überlieferten Denkmalen die Bewertung jüngerer Schichten mit ein, zu denen auch denkmalpflegerische Interventionen der 1970er bis 1990er Jahre gehören können. Das ist in hohem Maße selbstreflektierend für unsere Disziplin (Abb. 2).[5]

2 Berlin, Spandauer Damm 10, 20/22, Schloss Charlottenburg, Weißer Saal im Neuen Flügel mit Deckenbild, 1972 von Hann Trier, 2022
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Berlin, Spandauer Damm 10, 20/22, Schloss Charlottenburg, Weißer Saal im Neuen Flügel mit Deckenbild, 1972 von Hann Trier, 2022

Die Berücksichtigung von Geschichtlichkeit bezieht sich sowohl auf die Objekte als auch auf die handelnden Personen. Für die Inventarisation betrifft das die von ihr erarbeiteten Erfassungen, Texte, Begründungen und Fortschreibungen. Zum Weiterbegründen kann daher auch die kritische Reflexion der Deutungsgeschichte gehören.

Zugänge und Methoden

In einem von Pluralität bestimmten Handlungsfeld ist die Darstellung von Denkmaleigenschaft im Gegensatz zur Architekturinterpretation vor zusätzliche Herausforderungen gestellt. Denkmale sind in diesem Sinne doppelt auslegungsbedürftig. Die inter pretatorische Reichweite der Architekturgeschichte inkludiert keine Denkmalwertbegründung. Diese ist ein eigener qualitativer Schritt, was nicht nur angesichts vorschneller positiver oder negativer Denkmalbehauptungen ins Bewusstsein gerufen werden muss. Objektbefragung und Begründungsarbeit der wissenschaftlichen Inventarisation haben zum Ziel, die Denkmaleigenschaft individuell bezogen auf ein Objekt, fachlich argumentierend und damit intersubjektiv nachvollziehbar und justiziabel darzustellen.[6] Dabei gilt es, in der speziellen Objektauseinandersetzung auch das zu erfassen, was sich der unmittelbaren Erscheinung entzieht (Abb. 3).

3 Berlin, Karolinenstraße 19, Humboldt-Bibliothek, 1985–1988 von Charles Willard Moore, John Ruble und Buzz Yudell, 2017, Codierungen im Wissenschaftsbau
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Berlin, Karolinenstraße 19, Humboldt-Bibliothek, 1985–1988 von Charles Willard Moore, John Ruble und Buzz Yudell, 2017, Codierungen im Wissenschaftsbau

Geschult auf Differenzen, die das Wirklichkeitsbild prägen, steigen für die Inventarisation mit der Anspruchshöhe der Wirklichkeit und der Pluralität der Erscheinungen auch die Anforderungen an ihre denkmalfachliche Begründungsarbeit. So entbehrt beispielsweise die Aufgabenstellung, das einheitsstiftende Moment eines Denkmalbereichs bzw. einer Sachgesamtheit aus hochgradig differenten Objekten der sogenannten Postmoderne darzustellen, nicht einer gewissen Paradoxie. Die Aufgabe bleibt jedoch in Anwendung offener Bewertungskriterien und wissenschaftlicher Methoden lösbar.

Welche Methoden gibt es zur Denkmalbestimmung? Welche Ansätze eignen sich zur Untersuchung und Darstellung von Denkmaleigenschaft? Denkmalpflege »stellt [...] eine eigene (angewandte) Bezugswissenschaft dar, in der Anteile verschiedener Disziplinen gebündelt werden: Urbanistik, Bauforschung, Materialkunde, Geschichtswissenschaft, Stadtsoziologie, Landschaftsplanung. Die Kunstgeschichte, speziell die Architekturgeschichte, ist in diesem Ensemble jedoch die Dominante [...].«[7]

Ganz allgemein sind für die Ermittlung denkmalwürdiger Objekte thematische, zeitliche und topographische Begrenzungen der Betrachtung im Sinne eines geeigneten Referenzrahmens hilfreich, um semantische, bedeutungstragende Relationen herausarbeiten zu können. Für die Erforschung von Denkmalen eignen sich die deskriptiven, normativen, empirischen und/oder hermeneutischen Interpretationsmethoden der Geschichtswissenschaften. Der raumbezogene Ansatz der Topographie hat sich als Erkenntnismethode in der Denkmalpflege etabliert. Wegen der Erfahrbarkeit von Räumen bringt ihre Betrachtung zusätzliche Untersuchungs- und Erkenntnismomente mit sich.[8]

Für die Architekturinterpretation und Bedeutungsanalyse von Denkmalen sind vor allem klassische Methoden der Kunstgeschichte relevant von Stilgeschichte und Stilanalyse (Alois Riegl, Heinrich Wölfflin), Ikonografie und Ikonologie (Aby Warburg, Erwin Panofsky), Ikonik (Max Imdahl) über die Forschung zur Architektur als Bedeutungsträger (Günter Bandmann), die Strukturanalyse (Hans Sedlmayr) bis zu kunstsoziologischen und sozialhistorischen Ansätzen (Martin Warnke).

Ein bis heute inspirierendes Beispiel kunstwissenschaftlicher Interpretation und Auslegung eines Einzelwerks und zugleich Veranschaulichung des Interpretationsvorgangs selbst ist Hans Sedlmayrs Deutung der Schauseite der Wiener Karlskirche[9] durch intuitives Erfassen und ein durch Wissen transformiertes »gestaltetes Sehen«[10] (Abb. 4). In seiner Strukturanalyse und symbolischen Auslegung des ikonografischen

4 Wien, Karlskirche, 1716–1739 von Johann Bernhard Fischer von Erlach, 2022
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Wien, Karlskirche, 1716–1739 von Johann Bernhard Fischer von Erlach, 2022

Sinngehalts der Architektur liefert er mehrere in Beziehung miteinander stehende Deutungsansätze und arbeitet die Qualität scheinbarer Disparitäten des Baus heraus. Robert Venturi thematisiert an diesem Beispiel das Verhältnis von Innen und Außen in der Architektur.[11] Als frühes Dokument offener Einheit gebe, so Wolfgang Welsch, die Karlskirche ein Urbild ab. In Hans Sedlmayrs positiver Deutung ihrer Uneinheitlichkeit als Komplexität sieht Welsch einen »präpostmodernen« Akt.[12]

Verschiedene Ansätze der Interpretation von Architektur hat Claus Dreyer zusammengestellt:[13] Bei Arthur C. Danto geht es um Architektur als künstlerische Metapher.[14] Der semiotische Ansatz von Umberto Eco fokussiert auf die mehrdeutig codierte Botschaft von Architektur und ihre Lesbarkeit durch Zeichensysteme. In seiner eher strukturalistischen Interpretationstheorie arbeitet Juan Pablo Bonta mit dem Begriff von Architektur als »expressives System«.[15] In einem jüngeren Beitrag betrachtet Claus Dreyer weitere einflussreiche methodische Ansätze:[16] Charles Jencks thematisiert die Identifikation und Entschlüsselung der Doppel- oder Mehrfachcodierungen von Architektur als Sprache. Wolfgang Welsch arbeitet Mehrsprachigkeit und Dialog des Differenten am Paradebeispiel der Stuttgarter Staatsgalerie von James Stirling heraus.[17] Heinrich Klotz will, anknüpfend an das aus der Kunstgeschichte stammende ikonologische Konzept von Architektur als Bedeutungsträger, den »poetischen Gehalt« aus den architektonischen Zeichen rekonstruiert wissen. Jacques Derridas analytische Methode der Suche von Sinn in der »Differenz« ist dem Dekonstruktivismus verpflichtet.[18]

Weitere Disziplinen, die für unsere Arbeit fruchtbar sind, sind die Architektursoziologie (Heike Delitz, Joachim Fischer), Stadtsoziologie (Martina Löw, Bernhard Schäfers), Stadtforschung oder die Erkenntnisse aus der Akteur-Netzwerk-Theorie (Bruno Latour). Hinzu kommen außerwissenschaftliche Aspekte sowie bei jüngeren Bauzeugnissen neben den oft opulenten zeitgenössischen Projektdokumentationen auch der Input durch Zeitzeugen in Form von Oral History (Abb. 5).

5 Berlin, Charlottenstraße 96–97B, Wohnanlage, 1983–1988 von John Hejduk, 2014, Quellenvielfalt zu den IBA-Projekten
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Berlin, Charlottenstraße 96–97B, Wohnanlage, 1983–1988 von John Hejduk, 2014, Quellenvielfalt zu den IBA-Projekten

Prämissen und Paradoxien

Aus der Gegenwart analysierend arbeitet Inventarisation also mit verschiedenen verfügbaren wissenschaftlichen Methoden, die einheitsstiftende, stabilisierende, objektivierende und intersubjektiv nachvollziehbare Momente bilden. Gerade wegen der Pluralität auf allen Ebenen ist die Verständigung und Reflexion über Prämissen (Aufgabenstellung, Grundlagen, Begriffe, Methoden, Zugänge) eine entscheidende Voraussetzung.

Inventarisation ist in ihrem Vergangenheitsbezug gebunden an »geschichtswissenschaftliche Verfahren, die den ›Eigensinn‹ historischer Strukturen respektieren«[19] (Abb. 6). Da für unser Urteilsvermögen einerseits das Vergehen von Zeit nicht unerheblich ist, aber anderseits das einheitsstiftende Konstrukt der abgeschlossenen Epoche in Bewegung gerät, weil sich die Zeiteinheiten durch beschleunigende Dynamiken verkürzen, liegt darin für die Unterscheidungsarbeit der Inventarisation eine gewisse Paradoxie. Zugleich verkürzen sich auch die Zyklen zur Auffrischung und Aktualisierung sicher geglaubter Erkenntnisse etablierten Denkmalswissens. Und weil Denkmale dem Verständnis ausgeliefert sind,[20] müssen wir unsere Vermittlungsarbeit darauf ausrichten.

6 Berlin, Britzer Garten, Café am See, 1983/84 von Engelbert Kremser und Manfred Korthals, 2021
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Berlin, Britzer Garten, Café am See, 1983/84 von Engelbert Kremser und Manfred Korthals, 2021

Innerhalb der Inventarisation entsteht eine Art intrinsische hermeneutische Bewegung auch durch die Verbindung von Recherchieren, Analysieren, Interpretieren, Begründen mit dem Strukturieren, Systematisieren, Archivieren, Dokumentieren, Digitalisieren und Vermitteln. Deshalb bleibt auch die Verantwortung für die Aufbereitung der erarbeiteten Inhalte (Denkmalwissen, Objektwissen) in einer Wissensarchitektur essenziell. Die Ordnungsleistung, die von der Inventarisation mitgeleistet wird, besteht darin, Informationsqualitäten[21] zu erzeugen, die wiederum multiperspektivische Zugänge ermöglichen. In dem Wechselverhältnis von Denkmalerforschung und Aufbau bzw. Erschließung denkmalfachlicher Sammlungen steckt der Schlüssel für eine in die Zukunft gerichtete Wissensbewahrung. Durch die kontinuierliche Weiterentwicklung ihrer Strukturen wird indirekt auch die methodisch geleitete Arbeitsweise der Inventarisation mit überliefert.

Thesen zum Schluss

Inventarisation von Denkmalen ist auch eine Unterscheidungspraxis, in der Vergleichsanstrengungen und Erfahrung notwendig sind, um eine authentische Interpretation[22] und nachvollziehbare Begründung zuerarbeiten. Der Prozess, in dem der Bedeutungsraum ausgelotet wird und an dessen Ende womöglich ein Denkmal entsteht, ist kein Verwaltungsakt, sondern ein wissenschaftlicher, verantwortungsvoller, schützenswerter, durch Gesetze abgesicherter Vorgang.

Die tägliche interpretatorische Befassung mit Objekten erwirtschaftet Denkmalwissen und damit vermittelbare Inhalte für die Landesdenkmalämter. Da, wo Denkmalerkenntnis entsteht, sollte sie auch reflektiert werden, weshalb die Denkmalforschung in den staatlichen Institutionen der Denkmalpflege eine wichtige Aufgabe bleibt. Für eine in die Zukunft gerichtete Wissensbewahrung und Wissenspflege ist die enge Verbindung von Inventarisation, Denkmalforschung, Dokumentation und digitaler Erschließung denkmalfachlicher Sammlungen sinnvoll. Inventarisation erbringt gerade angesichts der Dynamisierung der Geschichte und drohender Verluste unverzichtbare Grundlagenarbeit.

Die Bindung an und das Bewusstsein für geschichtswissenschaftliche Verfahren sollte bewahrt und gestärkt werden, weil die Einsicht in historische Prozesse nicht nur objektgebundenes Wissen heben und Bedeutungsanalyse zur Evidenz führen kann, sondern weil sich das Verhältnis der Gesellschaft zur Geschichte auf Denkmale auswirkt. Magnus Brechtken stellt »das Erfahrungswissen und das Bewusstsein für die Ressourcen der Geschichte« und den Wert der Geschichte im Sinne einer Demokratiewissenschaft dar.[23]

Gerade weil die Grundlagen, die Vielfalt und Pluralität absichern sollen, nicht selten durch eigennutzmotivierte Infragestellung und einseitige Instrumentalisierung des Ganzen zunehmend strapaziert werden – eine Tendenz, die demokratischen Institutionen generell schadet – müssen wir für die Bewahrung dieser Grundlagen sorgen. Das geschieht, indem wir die Offenhaltung der Ordnungssysteme, der Begriffe und der Methodenanwendung praktizieren und indem wir mögliche Erosionen der Prämissen kritisch reflektieren, die sich aus Verengungen in Bezug auf Geschmack, Geschichtsbilder, Kunstverständnis etc. ergeben können (Abb. 7).

7 Berlin, Pariser Platz 4, Akademie der Künste, 2005 von Behnisch & Partner mit Werner Durth, 2009
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Berlin, Pariser Platz 4, Akademie der Künste, 2005 von Behnisch & Partner mit Werner Durth, 2009

Für einen produktiven Umgang mit Pluralität sowie mit der positiven Dynamik von Dissensen in Klärungs- und Auseinandersetzungsprozessen brauche es, so Wolfgang Welsch, »ein Vermögen der Verbindung und des Übergangs zwischen [...] Rationalitätsformen« und eine »methodisch bewußte und analytisch präzise Arbeit transversaler Vernunft«. Das Konzept der »Einheitsform transversaler Vernunft«[24] oder Venturis »offene Einheit« sind ideale Wegweiser auch für die multiperspektivische Praxis einer Inventarisation, welche die Bewahrung offener Zugänge und Methoden miteinschließt. Natürlich handelt es sich bei den oben geschilderten Zusammenhängen um ein Ideal, an dem wir nur mitwirken können. Weil Methodenbewusstsein die Sensibilität für die Auswirkungen unseres Handels auf die Grundlagen stärkt, sollten wir in diesem Sinne weiterbegründen.

  1. Abbildungsnachweis

    1: © Landesdenkmalamt (LDA) Berlin, Anne Herdin — 2, 4: © LDA Berlin, Sabine Schulte — 3: © LDA Berlin, Thorsten Dame – 5, 7: © LDA Berlin, Wolfgang Bittner — 6: © LDA Berlin, Susanne Schöß

Published Online: 2022-11-09
Published in Print: 2022-11-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany

Downloaded on 8.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/DKP-2022-2003/html
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