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Neue, alte Herausforderung

Die Kulturlandschaft im Blick
  • Sigrid Brandt
Published/Copyright: November 9, 2022
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Denkmalinventarisation als Voraussetzung zur Eintragung in die Denkmallisten liegt – darin hat sich prinzipiell nichts geändert – in der Verantwortung der institutionalisierten Denkmalpflege. Bemerkenswert ist, dass dabei besonders in Jahren von Krisen oder des Wandels Grundlagenarbeit geleistet wird, die später zu überarbeiten und bisweilen zu korrigieren ist. So nutzte etwa das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege das in Kraft gesetzte Denkmalschutzgesetz von 1973, um bis 1986 eine Erstinventarisation voranzutreiben. Zwanzig Jahre später entschied man sich für eine Nachqualifizierung der Denkmalliste, die nicht zuletzt zur Streichung stark umgebauter oder abgerissener Denkmale führte.[1] In Berlin und in den östlichen Bundesländern hatte der Fall des Eisernen Vorhangs eine Neuinventarisation begünstigt. Auch die Ergebnisse dieser Denkmalerfassung werden heute mitunter kritisch betrachtet, konnte man doch in der Euphorie der unmittelbaren Nachwendejahre endlich all den Bauten und Anlagen Denkmalwert zuerkennen, die in den vergangenen Jahrzehnten entweder vernachlässigt oder vom Abbruch bedroht waren. Neben Industrieanlagen wurde insbesondere mit der Denkmalgattung des Ensembles der Blick auf zahlreiche kleinere und nicht unbedingt herausragende, aber die Landschaft der Stadt Berlin prägende, ganz alltägliche Bauten gelenkt, die kaum mit einem besonderen kunsthistorischen Wert zu beurteilen waren. Ganze Stadtquartiere gelangten nicht nur in den Schutz des Denkmalrechts, sondern in weitere, stadtplanerische Förderinstrumente wie unter anderem Erhaltungs- und Gestaltungssatzungen und Sanierungsgebiete.

Nicht zufällig liegt im Beginn der 1990er Jahre auch ein enormer Zuwachs an denkmalkundlichen Überlegungen, der nicht zuletzt dem im April dieses Jahres verstorbenen, langjährigen bayerischen Landeskonservator Tilmann Breuer zu verdanken ist.[2] Breuer, zwischen 1962 und 1996 in der Inventarisation des Bayerischen Landesamts tätig, hatte bereits vor Beginn dieser Tätigkeit, unmittelbar nach der Promotion in München, als Reaktion auf die schier unüberschaubaren Probleme der zerstörten Städte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Form der Denkmalerfassung und Publikation verfolgt, die bis dahin nicht üblich war: die des Kurzinventars. Augsburg (1958), Memmingen (1959) und Kaufbeuren (1960) machten den Anfang, weitere Bände folgten. Sie zielten auf eine Denkmalerfassung, die über eine reine Liste hinausgehen und den Zusammenhang der Stadt wahren sollte, ohne in umfangreiche und in diesen Jahren unerreichbare Großinventare zu münden.

Tilmann Breuer ist nicht nur für die Denkmalpflege und Denkmalkunde interessant, er verstand seine theoretischen Ansätze auch als grundlegend für das Fach Kunstgeschichte, in der er den Begriff des Kunstdenkmals als entscheidendes Instrument der Würdigung neu zu verankern suchte.[3] Breuer ging es dabei beileibe nicht um einen Begriff, der nur »Hochkunst« ins Auge fassen sollte. Kunstdenkmale verstand er gleichwohl als Gegensatz zum neuen Kunstwerk und hatte auch ihre im 19. Jahrhundert eingenommene Funktion als Religionsersatz vor Augen. Bereits Alois Riegl wusste, dass ein Denkmalbegriff, wird er strikt historisch aufgefasst, zur Entgrenzung und Auflösung tendiert. In den Überlegungen Breuers scheint jedoch insbesondere der Kunstbegriff des 20. Jahrhunderts auf, der dem abgeschlossenen Werk ein offenes Werk entschieden entgegensetzt. Diese Offenheit betrifft nun nicht allein aktuelle Kunstwerke, sondern wird ein zentrales Thema auch des Denkmalbegriffs. Er ist zeitlich offen – sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart – und benötigt in der Beschreibung, Erläuterung und Kommunikation des Materiellen und Ideellen beständige Ergänzung, Korrektur sowie neue Auseinandersetzung. Die in den 1970er Jahren breit diskutierte »Erweiterung des Denkmalbegriffs« gründet nicht allein in der wachsenden Gefährdung der bestehenden Bauten, sie ist ganz unmittelbar mit diesem prinzipiell offenen Kunstverständnis verbunden. Nicht zuletzt wurden auf dem Gebiet der Denkmalwerte auch sämtliche Auseinandersetzungen des besonders ideologischen 20. Jahrhunderts ausgetragen. Wolf Jobst Siedler kommentierte sein Buch »Die gemordete Stadt« 1964: »Dieser Band entstand aus der ironischen Zuneigung zum Gestern […]. Er lebt aus der sich selbst dementierenden Verklärung des Hinterhofs und er spielt, aus Gründen der Taktik, das wilhelminische Stuckportal gegen die Rasterfassade aus […]. Seine Stimmlage ist die reaktionären Frohmuts.«[4] Bezeichnend für das Dickicht aus vermeintlichen Avantgarden und weltanschaulichen Positionen mögen auch die Berührungspunkte von Albert Erich Brinckmann und Gerhard Strauss sein, die sich in ihrer Ablehnung Le Corbusiers trafen.[5] Wie wenig entfernt Debatten um Architekturgeschichte und ihre erhaltenen Zeugen von einem politisch-ästhetisch konnotierten Diskurs sind, zeigen die jüngst mit großem publizistischen Echo vorangetriebenen Auseinandersetzungen um »rechte Räume«, die eine neuerliche Ideologie der Moderne forcieren, Rekonstruktionen tendenziell unter Generalverdacht stellen und in ihrer Konsequenz auch den Blick auf unbequeme Denkmale[6] und Denkmale der breit gefächerten, von konservativer bis experimenteller Moderne reichenden Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts erschweren anstatt zu differenzieren.[7]

Relevant werden Fragen dieser Art im Rahmen einer Denkmalkunde, die Ergebnis von Denkmalerfassung ist und ihr gleichzeitig vorausgeht, in zweierlei Hinsicht: Einerseits sind sämtliche Denkmale, um deren Akzeptanz heute gerungen wird, keine Einzeldenkmale, auch wenn sie nach den jeweils geltenden Denkmalschutzgesetzen so genannt werden. Die Auseinandersetzungen der oben genannten Beispiele entzünden sich bezeichnenderweise nicht allein an singulären Bauten, ihr Interesse gilt der Stadt und dem mit ihr verbundenen, elementaren Versprechen des Wohnens und einer zu ermöglichenden Identität oder besser gesagt mehrerer Identitäten. Die Einbettung der denkmalwerten Bauten entweder in städtische, dörfliche oder landschaftliche Zusammenhänge ist daher von entscheidender Bedeutung.[8] Andererseits ist vor diesem Hintergrund auch der Neubau von denkmalpflegerischem Interesse. Tilmann Breuer hat es in seinem Aufsatz von 1997 als Fragezeichen mitgegeben: »Inwieweit ist die Denkmalpflege, auch jene, die sich als ›wissenschaftlich› geriert, nicht nach wie vor auch ein Teil der Kunst ihrer Gegenwart […].«[9] Breuer hatte seinerzeit weniger das Bild des Denkmals vor Augen als vielmehr seinen Wirkungsraum und Wirkungsbezugsraum. 1997 betonte er topographische Zusammenhänge, etwa am Beispiel der Donaulandschaft von Weltenburg bis Kelheim, der Industrielandschaft Sulzbach-Rosenberg in der Oberpfalz (Abb. 1) oder der Denkmallandschaft Kieler Förde (Abb. 2). Am Beispiel von Weimar gelingt Breuer das, was er als die wesentliche Methode von Denkmalkunde ansieht: Beschreiben, Erklären, Datieren. Die Skepsis seiner Fachkollegen, seine Vorstellungen nicht hinreichend in der Praxis der Denkmalerfassung und Unterschutzstellung anwen den zu können, haben ihn nicht irritiert, ging es ihm doch um die Erweiterung des Historisch-Topographischen und Überschreitung eines lediglich kulturlandschaftlich Gedachten. So fließen in seine Darstellung selbst akustische Elemente ein: Das Glockengeschoss auf dem Weimarer Hausmannsturm ist »großartige Landmarke als Mitte« und konnte mit dem »Klang des feierlichen und angenehmen Geläutes […] nun seine Landschaft erfüllen.«[10] Begriffe, die Breuers Denkmalkunde bestimmen, sind »Satelliten […] welche die Residenz [Weimar] ausgeworfen bzw. an sich herangezogen hat«, durchaus nicht ohne »Reliquiencharakter«[11], Schneisen, lang gestreckte Achsen, Grünzüge, Straßenfrequenzen, Durchblicke – Letztere nur wenig geeignet, sich im Rahmen einer substanzorientierten Denkmalkunde fassen zu lassen (Abb. 3). Auch der Begriff der »Metropole« wird, wenngleich nur kurz, aber wesentlich gestreift: »Die Metropole ist Friedensstadt, sie ist dem Land geöffnet; sie läßt das Grün in sich eindringen, sie entsendet das Stadtgrün in die Landschaft, sie ist nicht monozentral, sondern polyzentral; in lockeren Ensembles von Denkmälern, Straßen, Plätzen und Monumentalbauten erkennt sich die verfaßte Gesellschaft wieder.«[12] Breuers Fazit: »Das Denkmal Weimar […] scheint nur aus abstrakten Strukturbezügen zu bestehen, auf Denkmalsubstanz scheint es wenig anzukommen.«[13] Zum Gauforum und seinem Architekten, Hermann Giesler, liest man: »Bei der Würdigung des Denkmalcharakters eines solchen Baukomplexes darf man sich nicht mit dem schnellen Urteil, es handle sich einfach um schlechte Architektur, aus der Affäre ziehen.«[14] Wichtiger ist Breuer der Umstand, das mit ihm ein »kennzeichnendes, ungemein sprechendes Denkmal entstanden ist«, dem er den Sinn für Schönheit nicht abspricht. Das klassische Weimar wollte man, von einer Loggia auf der Rückseite der Anlage »wohl als schönes Bild«[15] genießen.

1 Industrielandschaft Sulzbach-Rosenberg, Blick vom Schlossberg auf die Maxhütte, 2005
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Industrielandschaft Sulzbach-Rosenberg, Blick vom Schlossberg auf die Maxhütte, 2005

2 Denkmallandschaft Kieler Förde, 2019
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Denkmallandschaft Kieler Förde, 2019

3 Weimar, Blick aus der Altstadt zum Ettersberg, 2010
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Weimar, Blick aus der Altstadt zum Ettersberg, 2010

Den zentralen Gedanken einer »durch menschliche Einwirkung von Bedeutung geschaffene[n] Struktur«, die »nicht mit einer scharf ausschneidenden Grenzlinie zu umschreiben [ist], eher von einem Grenzgürtel«[16], und die Erkenntnis, »daß fundamentale Denkmalaussagen an Gegenstände gebunden sind, die sich in Katalogen und Listen nicht erfassen, mit ausschließenden Bestimmungen nicht schützen lassen und daß ihnen Schutz aufgebaut werden kann allein durch denkmalkundliche Vermittlung«[17], haben später vor allem die historischen Geografen im Fach weiter gedacht. Wirkungsraum oder Wirkungsbezugsraum von Denkmalen und Strukturen sind Thema auch von Thomas Gunzelmann und Volkmar Eidloth, die auf die begrenzten juristischen Möglichkeiten der Denkmalpflege, aber auch die infrage kommenden Instrumente benachbarter Disziplinen, etwa in Stadt- und Raumplanung und Naturschutz, hinweisen.[18] Auch auf internationaler Ebene erwächst Ensemble- und insbesondere Landschafts fragen eine zunehmende Aufmerksamkeit. Nach der Aufnahme auch von »cultural landscapes« in die Ausgestaltung der Welterbekonvention im Jahr 1992 wurde 2011 die UNESCO »Recommandation on the Historic Urban Landscape« verabschiedet.[19] Eine jüngste Welterbe-Eintragung aus Deutschland im Jahr 2019, das Augsburger Wassermanagement-System (Abb. 4), profitiert von den lang geführten Debatten um Denkmal- und Erhaltenswertes und hat, umgekehrt gedacht, mit einem kreativen und innovativen Vorschlag Stadt- und Landschaftselemente zu einem überzeugenden Denkmalkomplex synthetisiert.

4 Augsburg, Wasserkraftwerk in der Wolfzahnau, 2022
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Augsburg, Wasserkraftwerk in der Wolfzahnau, 2022

Der zweite Gedanke von Tilmann Breuer, die Frage, ob Denkmalpflege nicht auch ein Teil der Kunst ihrer Gegenwart ist, gehört, obgleich vielleicht nicht sofort einleuchtend, ebenfalls in das Thema von Denkmalinventarisation und vor allem Denkmalkunde. Städte und Landschaften, selbstredend auch Bau- und Gartendenkmale, werden in einem frühen Stadium des Kennenlernens als Bild wahrgenommen und ästhetisch beurteilt, unabhängig von ihrem historischen Gehalt. Sich vor dem »relativen Kunstwert«, wie Riegl die sich wandelnden Vorstellungen von Schönheit nannte, sicher zu fühlen, indem vorrangig auf die historischen Bedeutungen eines Denkmals abgehoben wird, erscheint fatal und verweist Denkmalpflege in eine rückwärtsgewandte, allein der Vergangenheit verpflichtete Disziplin. Der Rückzug in das Historische, in das Bewahren der »denkmalpflegerischen Substanz« allein, ist jedoch grundsätzlich unmöglich. Wolfgang Sonne hat 2013 in seiner Untersuchung zur Geschichte der städtebaulichen Denkmalpflege zu Recht darauf verwiesen, dass die Anfänge städtebaulicher Denkmalpflege nicht dem Zeugnis der Geschichte galten. »Wesentliche Impulse gingen dabei von Architekten aus, denen es weniger um die Erhaltung historischer Stadtbilder, sondern vielmehr um einen besseren zeitgenössischen Städtebau ging. Historischer Städtebau spielte dafür weniger eine Rolle als Zeugnis der Geschichte, sondern als gutes Beispiel, […] um eine bessere zukünftige Praxis zu ermöglichen.«[20] Das Arbeitsblatt der Arbeitsgruppe Städtebauliche Denkmalpflege der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger wies 1990 in eine diametral entgegengesetzte Richtung, hier standen das Verständnis der Ortsgeschichte und der Zeugniswert im Zentrum der Aufmerksamkeit.[21] Sonne kommt zu einem anderen Schluss, der Denkmalpflegern eine unerhörte Freiheit und ästhetische Urteilskraft zumutet: Sie sind »frei, nicht nur das Andere oder ganz Andere, sondern auch das Gleiche oder Ähnliche als Zeitgenössisches anzuerkennen.«[22]

Zuletzt hat sich Judith Sandmeier intensiv mit Fragen der Geschichte des städtebaulichen Denkmalschutzes gewidmet. In einer beispielhaften Verschränkung von Akteursgeschichte und bildwissenschaftlicher Herangehensweise verweist sie auf die bereits im 19. Jahrhundert zirkulierenden Bild-Fragen und zeigt, dass Orts-, Stadt- und Landschaftsbilder um 1900 keine Reduktion lediglich auf das äußere Erscheinungsbild darstellen, sondern Konsequenz eines diffus verwendeten Bildbegriffs sind, deren substanzielle Tragweite sie vor Augen führt.[23] Auch das jüngste Arbeitsblatt der Arbeitsgruppe Städtebaulicher Denkmalschutz der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger von 2020 geht neue, dabei in bestem Sinne an Altes anschließende Wege. Nun sind unter der Überschrift »Raumwirkung von Denkmalen« Visuelles wie Sichtbezüge, Blickachsen, Sichtfächer, Panoramen, Strukturelles und Funktionales, Ideelles und Assoziatives, Umgebungsschutz und Erscheinungsbild von Bedeutung, sowohl in der Erfassung als auch in der Erhaltung.[24]

Die universitäre Denkmalpflege wird insbesondere die Aufgabe der an die Denkmalschutzgesetze gebundenen Denkmalinventarisation der institutionalisierten Denkmalpflege nicht abnehmen können. Denkbar und vielfältig realisiert sind jedoch Kooperationsprojekte, die von Nutzen für beide Seiten sind. In jedem Falle aber haben Architekt*innen, Kunsthistoriker*innen, Denkmalpfleger*innen, Bauforscher*innen, Restaurator*innen an den Universitäten und Hochschulen die Verantwortung, den Student*innen zweierlei an die Hand zu geben: erstens die Sensibilität für (nicht nur Kunst- und Architektur-) Historisches und zweitens die Schärfung ihrer Aufmerksamkeit für Fragen der Bild- und Raum-Wahrnehmung sowie des Ästhetischen, gleichviel, ob es schön oder hässlich ist.

  1. Abbildungsnachweis

    1: © Sulzbach-Rosenberg, Thilo Hierstetter — 2: © Bundesanstalt für Wasserbau CC BY 4.0. — 3: © imageBROKER / Alamy Stock Foto, hwo — 4: © Stadt Augsburg, Ulrich Wagner

Published Online: 2022-11-09
Published in Print: 2022-11-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany

Downloaded on 9.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/DKP-2022-2006/html
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