Vorwort
Seitdem der Deutsche Städtetag 2018 insbesondere mit Blick auf die jüngeren Kulturdenkmale den Zustand der bundesdeutschen Denkmallisten beklagt hat, erfährt die Arbeit der Inventarisation eine lange nicht gekannte Aufmerksamkeit. Ein externes Positionspapier des Städtetags mahnt die Kernkompetenz der Fachämter an: das Erkennen und Begründen von Denkmalen! Und zwar schneller, tiefer und weiter. Dauerhaft und auf der Basis wissenschaftlicher Grundlagen. »Inventarisationsdefizite« heißt der Stachel, der tief ins Fleisch der Fachämter eingedrungen ist und das Thema auf die oberen Ränge ihrer Agenda katapultiert hat.
Tatsächlich aber geht es nicht nur um das notwendige Aufarbeiten vorangeschrittener Architekturentwicklungen oder neuer Bedeutungsschichten, sondern auch um ein verändertes Verständnis von Inventarisation, sowohl hinsichtlich ihrer Akteure als auch im Zugriff auf ihr Sujet. Rechtfertigt das Expertentum der Denkmalfachbehörden die Wahrnehmung und Definition des Öffentlichen Interesses? Nicht nur Bürgervereine und Hochschulen, auch digitale Communities und Schwarmintelligenz reklamieren eine adäquate Partizipation. Belange eines weiter gefassten Kulturerbes, niederschwellig, emotional, auch immateriell, stellen bewährte Auswahlprozesse infrage.
Das Themenheft »Inventarisation im 21. Jahrhundert« wird eröffnet durch einen grundlegenden Aufsatz von Sabine Schulte über den multiperspektivischen Prozess des Denkmalbegründens, dessen system- und denkmaltheoretische Hintergründe, Methoden und Gefährdungen sie facettenreich ausbreitet. Ganz im Hier und Jetzt blickt Martin Hahn auf die konkreten Herausforderungen der Inventarisation im begonnenen Jahrhundert. Will die Disziplin ihre Inhalte der jungen Mediengesellschaft vermitteln, muss sie ihre Sprache und ihr Selbstbild neu erfinden.
Eine von Helmtrud Köhren-Jansen initiierte und kommentierte Schilderung der frühen Listeninventarisation in Baden-Württemberg, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg verdeutlicht die erheblichen Unterschiede in den Ländern. Diesem heterogenen Listenbestand mit einer gemeinsamen Meliorations- und Grundlagenstrategie zu begegnen, wird eine Zukunftsaufgabe der Fachämter sein.
Sigrid Brandt lenkt den Blick auf die Bedeutung der Zwischenräume, der Wirkungs- und Bezugsräume der allzu oft als Solitärphänomene wahrgenommenen Denkmale. Die substanzorientierte Denkmalpflege vermag die fundamentalen Aussagen dieser »Denkmallandschaften« (Tilmann Breuer) kaum zu schützen. Für die Fortführung eines denkmalkundlichen Formats, das diese Qualitäten einzufangen versteht, die Denkmaltopographie, treten Astrid Hansen und Christine Onnen ein, deren Plädoyer ihren kaum zu überschätzenden Mehrwert gegenüber einer Denkmalliste oder Datenbank herausstellt.
Das Forum bereichern weiter Stefan Kleineschultes Aufforderung, die koloniale Dimension bestehender und neuer Denkmale entschlossener in den Blick zu nehmen, und Karin Berkemanns Präsentation der Crowdsourcing-Projekte von moderneREGIONAL, die gefährdete Kirchen sichtbar machen (»invisibilis«) und mit »Best of 90s« eine Form virtueller Erfassung leisten.
Berichte zu Neuerungen im UNESCO-Nominierungsverfahren, zum länderübergreifenden Erfassungsprojekt Braunkohleindustrie, zum DFG-Projekt der Eisenbahnbrücken »im Netz« und zur automatisierten luftbildbasierten Erfassung von Systembauwerken decken ein weites Spektrum aktueller Inventarisationsthemen ab. Im Aktuellen glückte eine spannende Mischung jüngster Denkmalausweisungen und Bauforschungsthemen. Zwei Rezensionen runden das prall gefüllte Heft ab.
In den Nachrufen auf Tilmann Breuer, Karl Ganser und Stefan Winghart verabschiedet sich Die Denkmalpflege von überaus geschätzten und liebenswerten Kollegen, die uns fehlen werden.
Für die Redaktion
MELANIE MERTENS
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany
Artikel in diesem Heft
- Inhalt
- Vorwort
- Aufsätze
- Dem Ganzen verpflichtet
- Inventarisation im 21. Jahrhundert
- »Inventarisation als Daueraufgabe«
- Neue, alte Herausforderung
- Forum
- Zur Erinnerung
- (Post-)Kolonialismus als Thema der Denkmalpflege
- Denkmalschwärmen
- Berichte
- Das Erbe der Menschheit inventarisieren?
- Länderübergreifendes Erfassungsprojekt Braunkohleindustrie
- Eisenbahnbrücken als »Denkmale im Netz«
- Deep Learning in der Denkmal-Inventarisation
- Zukunftsfragen. Perspektiven für die Denkmalpflege
- Aktuelles
- Kurzberichte aus den Ländern
- Rezensionen
- Wider das Verschwinden der Dinge. Die Erfindung des Denkmalinventars
- Weiterbauen. Das Lebendige in der Architektur
- Nachrufe
- Tilmann Breuer (1931 – 2022)
- Karl Ganser (1937 – 2022)
- Stefan Winghart (1952 – 2022)
Artikel in diesem Heft
- Inhalt
- Vorwort
- Aufsätze
- Dem Ganzen verpflichtet
- Inventarisation im 21. Jahrhundert
- »Inventarisation als Daueraufgabe«
- Neue, alte Herausforderung
- Forum
- Zur Erinnerung
- (Post-)Kolonialismus als Thema der Denkmalpflege
- Denkmalschwärmen
- Berichte
- Das Erbe der Menschheit inventarisieren?
- Länderübergreifendes Erfassungsprojekt Braunkohleindustrie
- Eisenbahnbrücken als »Denkmale im Netz«
- Deep Learning in der Denkmal-Inventarisation
- Zukunftsfragen. Perspektiven für die Denkmalpflege
- Aktuelles
- Kurzberichte aus den Ländern
- Rezensionen
- Wider das Verschwinden der Dinge. Die Erfindung des Denkmalinventars
- Weiterbauen. Das Lebendige in der Architektur
- Nachrufe
- Tilmann Breuer (1931 – 2022)
- Karl Ganser (1937 – 2022)
- Stefan Winghart (1952 – 2022)