di juden jehent. Die Aufnahme jüdischer Erzählstoffe in der ›Weltchronik‹ des Jans von Wien
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Martin Przybilski
Unsere Spurensuche beginnt mit einem Zitat:
der huorenjuden ist gar ze vil hie in disem lande, iz ist sünd und schande.
[…]
und waer ich ein fürst ze nennen, ich hiez iuch alle brennen, ir juden, swâ ich iuch kaem an.
[…]
ez waer wol, der in verbut ir ketzerlîchez Talmut, ein buoch valsch und ungenaem. verfluochte juden widerzaem, ir gêt den rehten hellestîc.
(›Kleiner Lucidarius‹ II, vv. 1084–1086, 1159–1161 u. 1185–1189)
Diese Haßtirade, die ein niederösterreichischer Anonymus in der Zeit zwischen 1292 und 1294 verfaßte, wirft ein bezeichnendes Licht auf das christlich-jüdische Verhältnis an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert. Zusammen mit weiteren Zeugnissen veranschaulicht sie die äußerst judenfeindliche Stimmung, die sich in diesem Zeitraum in Niederösterreich ausbreitete. Neben den realhistorischen Ereignissen wie der Kremser Ritualmordbeschuldigung von 1293 oder den Hostienfrevelvorwürfen in Laa an der Thaya 1294 sowie in den Jahren 1305 bis 1307 in Korneuburg, St. Pölten und Wien verweist vor allem eine Reihe von Texten auf die zunehmende Feindseligkeit, mit der insbesondere christlich-theologische Kreise Juden und ihrer Religion begegneten. Zu denken ist hier sowohl an die lateinischen Traktate Nikolaus' von Heiligenkreuz und Ambrosius' von Heiligenkreuz als auch an die volkssprachigen Werke des sogenannten Österreichischen Bibelübersetzers. Die literarische Kultur des herzöglichen Österreich unter der Enns im ausgehenden 13. Jahrhundert erscheint also auf den ersten Blick als durchaus schlecht gewählte Ausgangsbasis für die Frage nach kulturellen Kontakten zwischen Juden und Christen im Mittelalter. Nichtsdestoweniger liefern gerade die Jahrzehnte zwischen 1250 und 1280 mit der gereimten ›Weltchronik‹ des Wiener Ritterbürgers Jans einen für diese Fragestellung besonders geeigneten Beispielfall. Nach ein paar kurzen Hinweisen zum Werk selbst werden wir einigen Spuren des jüdisch-christlichen Kulturtransfers in der volkssprachigen Literatur des deutschen Mittelalters in ebendiesem Text nachgehen.
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Postfach 2140, D–72011 Tübingen, 2004
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