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Strafrechtsdogmatik und Ethik – die Straßburger Dissertation Robert Redslobs (1906)

– Zugleich ein Beitrag zur Dogmengeschichte des unechten Unterlassungsdelikts
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Veröffentlicht/Copyright: 4. Juni 2025

I. 297Der Staats- und Völkerrechtler Robert Redslob und das Strafrecht

Robert Redslob (1882–1962) wird gegenwärtig nahezu ausschließlich im Hinblick auf seine einflussreiche Parlamentarismustheorie rezipiert[1]. In seiner 1918 vorgelegten Schrift „Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form, Eine vergleichende Studie über die Verfassungen von England, Belgien, Ungarn, Schweden und Frankreich“[2] hatte Redslob eine (von ihm so bezeichnete) echte parlamentarische Regierung durch ein Gleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative charakterisiert und zur Rolle des Staatsoberhauptes ausgeführt:

298„Das parlamentarische Regime ist vergleichbar einer Wage. Der nominelle Träger der Gewalt, der Monarch oder der Präsident, hält sie in Händen. Die beiden Platten sind das Ministerium und das Parlament. Die Schwerkraft entspricht dem unwiderstehlichen Zwang, der aus den Wahlen folgt. Das Staatsoberhaupt soll das Gleichgewicht herstellen, indem es die Gewichte auf die eine oder andere Seite verteilt.“[3]

Während diese Gleichgewichtstheorie Redslobs großen Einfluss auf die wissenschaftliche Debatte innerhalb der Weimarer Staatsrechtslehre ausübte[4] und auch in den Verfassungsberatungen der Weimarer Nationalversammlung diskutiert wurde[5], ist das seiner Hinwendung zum Staats- und Völkerrecht vorangegangene strafrechtliche Werk Redslobs heute nahezu vergessen. Die vorliegende Abhandlung beleuchtet Redslobs strafrechtliche Dissertationsschrift über „Die kriminelle Unterlassung“ (1906)[6] aus rechtsgeschichtlicher Perspektive und will so aufzeigen, dass sich eine Wiederentdeckung des Strafrechtlers Redslob für die Erforschung der strafrechtlichen Dogmengeschichte des frühen 20. Jahrhunderts als lohnend erweist.

Robert Redslob, 1882 in Straßburg geboren, studierte ab 1900 Rechtswissenschaften, Philosophie sowie Nationalökonomie in Straßburg und Berlin[7]. Nach der juristischen Doktorpromotion 1906[8] habilitierte Redslob sich 1909 mit einer Arbeit 299über „Die persönlichen Eigenschaften und Verhältnisse, welche die Strafbarkeit erhöhen oder vermindern, dargestellt nach deutschem und französischem Recht“[9] und erhielt daraufhin in Straßburg die venia legendi für Strafrecht und Rechtsphilosophie; kurze Zeit später erhielt Redslob zusätzlich auch die venia legendi für das Staatsrecht[10]. Die letzte strafrechtliche Arbeit Redslobs datiert aus dem Jahr 1910[11]; danach wandte er sich dem Staats- und Völkerrecht zu, welchem sein eigentliches Interesse galt:

„Je me sentais de plus en plus porté vers ce monde, d’abord parce qu’en raison de mon tempérament, je tendais vers la périphérie de la jurisprudence, où le droit confine à l’histoire, la philosophie et la morale, ensuite parce que les problèmes [...] des droits fondamentaux m’avaient toujours passionné en ma qualité d’Alsacien. Je vivais journellement ces questions brûlantes: assujetti à la rigidité d’un régime autoritaire, j’aspirais par atavisme aux libertés civiques.“[12]

1913 folgte Redslob dem Ruf auf einen staatsrechtlichen Lehrstuhl an die Universität Rostock, ehe er nach Ende des Ersten Weltkriegs eine Professur an der Université de Strasbourg erhielt[13]. Bis zu seiner Emeritierung 1953 forschte und lehrte Redslob zum Staats- und Völkerrecht[14].

II. 300Die strafrechtliche Dissertation Robert Redslobs – eine Analyse

Der kontextualisierenden Analyse der Straßburger Dissertationsschrift Robert Redslobs (sub II.2.) wird ein kurzer Überblick über die geschichtliche Entwicklung des unechten Unterlassungsdelikts in der deutschen Strafrechtswissenschaft sowie die 1906 geltende Rechtslage vorangestellt (sub II.1.)[15]. An die inhaltliche Analyse der Schrift schließt sich eine Rekonstruktion deren Rezeption an (sub II.3.). Die so gewonnenen Ergebnisse werden in einem schlaglichtartigen Resümee zusammenfassend gewürdigt (sub III.).

1. Die schwierige dogmatische Konsolidation des unechten Unterlassungsdelikts

„Die Kausalität der Unterlassung“, konstatierte Franz von Liszt 1884, „in unserm positiven Rechte unzweifelhaft anerkannt, im praktischen Leben unbestritten, in der philosophischen Litteratur unangefochten, bildet den Zankapfel der kriminalistischen Doktrin von den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis auf unsre Tage.“[16] In dieser Feststellung klingt das Ringen von Wissenschaft und Praxis um eine adäquate dogmatische Fundierung des (unechten) Unterlassungsdelikts an, welches – wiederum in den Worten Franz von Liszts – eine „verhängnisvolle Zweifelsucht“ heraufbeschworen und „die deutsche Litteratur der Unterlassungsdelikte mehr und mehr der Scholastik in die Arme“ getrieben habe[17]. Hat sich in der gegenwärtigen deutschen Strafrechtswissenschaft unter der „Gleichstellungsvorschrift“[18] des § 13 StGB die Garantenstellung des Unterlassenden als maßgebliches Kriterium der Gleichstellung von Tun und Unterlassen etabliert[19], so fehlt dennoch auch ge301genwärtig eine allgemein anerkannte theoretische Absicherung hinsichtlich der Entstehung und Reichweite der Garantenstellungen[20]. Das Gleichstellungsproblem ist daher auch als „das heute noch umstrittenste und dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils“[21] bezeichnet, teilweise ist seine Lösbarkeit gar in Zweifel gezogen worden[22].

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte Paul Johann Anselm Feuerbach unter naturrechtlichen Voraussetzungen einen besonderen Rechtsgrund zur Begründung der Gleichstellung von Tun und Unterlassen gefordert und als hinreichende besondere Rechtsgründe Gesetz und Vertrag ausgemacht[23]. In den 1820er Jahren trat unter Beibehaltung des Erfordernisses eines besonderen Rechtsgrundes der Aspekt einer Unterlassungsstrafbarkeit aus Ingerenz hinzu[24]. Neben diesen auf formale Gesichtspunkte abstellenden Ansätzen kamen verschiedene weitere Lehren auf, welche die Unterlassungskausalität als entscheidendes Kriterium der Gleichstellung ansahen[25]. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871[26] sah keine dem § 13 StGB vergleichbare allgemeine „Gleichstellungsvorschrift“ vor; dementsprechend war im Rahmen der gesetzlichen Einteilung der strafbaren Verhaltensweisen in Verbrechen, Vergehen sowie Übertretungen (vgl. § 1 RStGB) die strafbare Unterlassung vom Begriff der strafbaren „Handlung“ mitumfasst[27]. Vor diesem Regelungshintergrund setzt die Dissertationsschrift Robert Redslobs bei der Frage an, unter welchen Umständen eine Verbotsnorm durch eine Unterlassung übertreten werden kann.

2. 302Kontextualisierende Analyse der Dissertation Redslobs

Die begriffliche Grundlegung seiner Untersuchung – die Differenzierung zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten – gewinnt Redslob mittels eines Rückgriffs auf die dogmatische Unterscheidung zwischen schlichten Tätigkeitsdelikten (von ihm als „Delikte durch reine Betätigung“[28] bezeichnet) und Erfolgsdelikten (von ihm als „Delikte durch qualifizierte Betätigung“[29] bezeichnet). Übertragen auf das Unterlassungsdelikt werden die Delikte durch reine Betätigung mit den echten, die Delikte durch qualifizierte Betätigung hingegen mit den unechten Unterlassungsdelikten identifiziert[30]. Im Hinblick auf letztere wird schließlich der Untersuchungsgegenstand dahingehend bestimmt, dass die Gleichstellung von Tun und Unterlassen in ihren Voraussetzungen präzisiert werden solle[31]:

„Denn in sämtlichen Tatbeständen, welche als Delikte durch qualifizierte Betätigung charakterisiert sind, – weil sie nämlich von einem Zustande handeln, der mit einer vorausgehenden Willensbetätigung zusammenhängt, – fehlt eine ausdrückliche Regel darüber, ob das Strafgesetz einen Unterschied macht zwischen der Willensbetätigung als Tun und der Willensbetätigung als Unterlassen. Nun ist nicht zweifelhaft, dass wo zu solchen Delikten ein Unterlassen, der leichtere Ungehorsam, genügt, da auch ein Tun, der schwerere Ungehorsam. Doch bleibt fraglich, ob dem Tun das Unterlassen gleichsteht – und wenn dies verneint wird, in welchen Grenzen oder ob überhaupt die Unterlassung strafbar bleibt. Dies ist unser Problem.“[32]

Dem Hauptgegenstand der Untersuchung vorangestellt erfolgt eine Entwicklung des Begriffs des Konditionalzusammenhangs, welchen Redslob im Rahmen seiner Abhandlung als „reinen, philosophischen Begriff“ verstanden wissen will, welcher einerseits unabhängig von der juristischen Begriffsbildung sei, dieser andererseits jedoch zugrunde liege[33].

303Die bisherigen Theorien über das unechte Unterlassungsdelikt werden entsprechend des von ihnen behandelten Problems in philosophische sowie juristische Theorien geschieden und dieser Anordnung folgend ausführlich gewürdigt[34]. Während die philosophischen Theorien über das unechte Unterlassungsdelikt in ihrer Präzisierung der Kausalität bzw. des Konditionalzusammenhangs unterschiedliche Ansätze verfolgten, stimmten sie – so Redslobs allgemeine Charakterisierung – doch zumeist darin überein, „dass sie die Unterlassung als ein nicht Wirkliches, als ein Irreale betrachten“[35]. Die philosophischen Theorien werden weiter in zwei Hauptkategorien unterteilt, je nachdem, ob sie bei den unechten Unterlassungsdelikten das Vorliegen einer effektuellen Kausalität[36] für notwendig erachten oder einen Konditionalzusammenhang ausreichen lassen[37]. Als Vertreter jener Meinung, welche einen in Form eines speziellen Merkmals determinierten Konditionalzusammenhang ausreichen lässt, wird unter weiteren Gelehrten auch der Berliner Professor Josef Kohler benannt, welcher sich 1890 zur Theorie der Unterlassungsdelikte geäußert hatte und für diese eine qualifizierte Form der Kausalität (den von ihm so genannten „Causalismus der socialen Ordnung“) für notwendig erklärt hatte[38]. Zur Veranschaulichung seiner Auffassung hatte Kohler die Staatsordnung mit dem Getriebe einer „Maschinerie“ verglichen und für das unechte Unterlassungsdelikt eine „causierende Natur des Unterlassens“ für jene Fälle konstatiert, „wo die sociale Ordnung einen Menschen auf einen Posten stellt, um als Mitglied der socialen Organisation, als ein Glied in der Kette des socialen Mechanismus thätig zu sein“[39]. Redslob 304bekämpft die diesen Theorien gemeinsam zugrundeliegende Annahme, wonach die Unterlassung ein „Irreale“ sei, bereits im Ansatz; seiner Auffassung nach handelt es sich bei der Unterlassung vielmehr um ein „Reale“, weshalb „diese gesamten Theorien zwecklos und unnütz“ seien[40].

Zum Nachweis der Realität der Unterlassung wendet sich Redslob weiter gegen solche Stellungnahmen, welche seinem Befund nach diese Realität nur scheinbar oder infolge eines Fehlschlusses doppeldeutig vertreten[41]. Der Rechtswissenschaftler Heinrich Luden und ihm folgende Autoren hingegen hätten die Realität der Unterlassung zwar im Ergebnis zutreffend beschrieben, indes keine hinreichende Begründung ihres Befundes vorgelegt:

Luden und seine Anhänger stellen so den Satz auf, dass die Unterlassung Bedingung eines Erfolges sein könne, weil sie, als eine andere Betätigung betrachtet, real sei. Dieser Satz ist richtig; aber sie geben ihm keine Entwicklung und keine Begründung. Er ist jedoch nur das Resultat einer umfangreichen Auseinandersetzung und Beweisführung, die bisher fehlt und die wir im folgenden zu bieten versuchen[.]“[42]

Bereits 1836 hatte Luden festgestellt, dass der Mensch, welcher die Naturgesetze und die Gesetzmäßigkeiten des Kausalzusammenhangs zu seinen Zwecken einsetze, gleichsam durch diese Gesetze handele und diese hierdurch einen Teil seiner Handlung bildeten; dies gelte unabhängig davon, ob der handelnde Mensch diese Gesetzmäßigkeiten selbst in Bewegung setze oder als solche bereits vorgefunden habe[43]. Daraus folge, dass wenn der Mensch die Wirksamkeit dieser Kräfte in seiner Gewalt gehabt habe und seinen Zwecken gemäß wirken lasse, ihm „auch das, was daraus erfolgte, oder was er als nothwendig daraus folgend erkennen mußte, als seine 305Handlung und als seine Wirkung zugerechnet werden“ könne[44]. Auf dieser Grundlage sei die Unterlassung als ein Anders-Handeln, und damit als etwas Reales, zu klassifizieren:

„Und daß er die Wirksamkeit der Naturkräfte ihren Gang gehen ließ, während ihm die Bewältigung derselben möglich war, ist zunächst zwar nur eine Unterlassung, aber doch auf der anderen Seite zugleich eine positive Handlung. Denn während er das Eine unterließ, muß er nothwendig etwas Anderes gethan haben, und das muß immer eine positive Handlung gewesen sein, sollte es auch in bloßem Zusehen oder in einer Ortsentfernung bestanden haben. Und diese positive Handlung ist alsdann die alleinige Ursache des verbrecherischen Erfolges.“[45]

Auf die Vorarbeiten Ludens aufbauend, charakterisiert auch Redslob jede Betätigung als „ein Wirkliches, nämlich ein körperlicher Zustand, dessen Existenz unmittelbar vom Willen abhängt.“[46] Daher sei der Unterschied zwischen einem Verhalten und einem Unterlassen ein lediglich formeller, in der sprachlichen Fassung begründeter Unterschied[47]. Die Unterlassung definiert Redslob daher als „de[n] Mangel eines gewissen Tuns, der vom Willen unmittelbar abhängt“ und damit als „die Gattung aller Betätigungen, welche dieses Tun nicht enthalten“[48].

Die herrschende Ansicht der juristischen Theorien über die Kausalität im Rahmen des unechten Unterlassungsdelikts bekämpft Redslob als „offenbare Verirrung“[49] und in sich widersprüchlich[50]. Dieser herrschenden Meinung, wie sie auch prominent in der Kommentierung des Tübinger Professors Reinhard von Frank zum 306Reichsstrafgesetzbuch vertreten wurde[51], lag die Annahme zugrunde, dass ein Unterlassender nur dann strafrechtlich haftbar gemacht werden könne, wenn er rechtlich – und nicht bloß moralisch – zur Abwendung des eingetretenen Erfolges verpflichtet gewesen sei[52] oder (gegebenenfalls konkludent) eine entsprechende Verpflichtung zum Handeln übernommen habe[53]. Für den in der herrschenden Ansicht angelegten Umstand, dass „eine Unterlassung [sc. im Gegensatz zu einem Tun] erst durch einen Rechtssatz, der ausserhalb der sie betreffenden Strafsanktion liege, das Merkmal der Rechtswidrigkeit erhalte“[54], sieht Redslob indes keinen ausdrücklichen Anhaltspunkt im Strafgesetz[55].

Nach Abschluss der Kritik sowohl der bisher vorgetragenen philosophischen als auch der juristischen Theorien wendet sich Redslob der Entwicklung eines eigenen Systems zu[56]; sein methodisches Vorgehen beschreibt er wie folgt:

„[W]ir haben erstens, von der Voraussetzung der Realität des Unterlassens ausgehend, den Begriff des Zusammenhangs bei den Delikten durch qualifizierte Betätigung auf dem Wege der Interpretation des geltenden Rechts zu gewinnen und festzustellen, inwieweit die Unterlassung ihrem Begriffe nach in einem solchen Zusammenhang stehen kann; wir haben zweitens zu ermitteln, ob das Gesetz den strafbaren Unterlassungen eine engere Grenze zieht als den strafbaren Tätigkeiten und gegebenenfalls, – welches dieses Merkmal ist, welches nicht zum strafbaren Tun, wohl aber zum strafbaren Unterlassen gefordert wird.“[57]

307Zur Konturierung des Begriffs des Zusammenhangs bei den unechten Unterlassungsdelikten setzt die Arbeit mangels einer allgemeinen Regel bei einer grammatischen Interpretation der einzelnen Straftatbestände an[58]. Die in diesen verwendeten Verba bzw. Verbalsubstantive werden zu diesem Zweck in die fünf Klassen der (1) Verba des Dauerzustandes, (2) Verba des Geschehens, (3) Verba des Erfolgs, (4) Verba der Beziehung sowie (5) Verba des unvollständigen Sinnes[59] unterteilt[60]. Hinsichtlich des unechten Unterlassungsdeliktes seien die Verba der Klassen (3) bis (5) von Interesse; diese Kategorien werden daher einer eingehenden grammatischen Interpretation unterzogen[61].

So setze der Gebrauch der Verba des Erfolges einen adäquaten Konditionalzusammenhang voraus; adäquat sei der Konditionalzusammenhang zwischen einem Erfolg und einer Bedingung bzw. einem Bedingungskomplex dann, „wenn beim Vorliegen dieser Bedingung oder dieses Komplexes auf Grund des Inbegriffs alles menschlichen Wissens mit einer gewissen, nach dem allgemeinen Sprachgefühl näher zu fixierenden Wahrscheinlichkeit das Eintreten des Erfolges erwartet wird.“[62] Für den Gebrauch der Verba des Erfolges sei ferner eine gewisse zeitliche Beziehung entscheidend, welche Redslob näher als „ein spezielles zeitliches Verhältnis direkt zwischen der Bedingung und einem andern Erfolg als dem Enderfolg, d. h. einem Zwischenerfolg [...] und damit nur indirekt ein zeitliches Verhältnis zwischen der Bedingung und dem Enderfolg“[63] charakterisiert[64]. Auf die Unterlassung gewendet ergibt die grammatische Interpretation der Verba des Erfolges folgendes Ergebnis:

„Eine Unterlassung, d. h. ein Verhalten [...] ist ein Zustand [...], kann also Bedingung eines Erfolges sein. Nun ist aber das Verhalten ein dauernder Zustand [...]; das Verhalten kann daher 308wohl Bedingung, niemals aber bewegte Bedingung sein. [...] Die Verba des Erfolges in ihrem eigentlichen Sinne bedeuten nicht das Bedingtsein durch eine Unterlassung.“[65]

Aufgrund der Vielzahl ihrer möglichen Relationen bestimmt Redslob für die elf von ihm ausgemachten Verba der Beziehung innerhalb des Reichsstrafgesetzbuchs deren jeweilige Bedeutung im Wege einer Einzelanalyse[66]. Die Satzelemente, welche zu Verba unvollständigen Sinnes in einer Bedeutungsrelation stehen, untergliedert Redslob ihrerseits in vier Kategorien von (1) dauernden Zuständen, (2) Geschehen, (3) Geschehen, das charakterisiert ist als Erfolg, gebunden an eine Bedingung sowie (4) Beziehungen[67]. Für die näher untersuchten Bildungen von Satzelementen der dritten Kategorie kommt die Interpretation zu dem Schluss, dass diese „die gleiche Beziehung bedeuten wie die Verba des Erfolges, nämlich: das Verhältnis der bewegten adäquat verursachenden Bedingung zum Erfolg.“[68] Das Ergebnis der grammatischen Interpretation fasst Redslob wie folgt zusammen:

„Das Strafgesetz bedroht die Unterlassung: I. als solche: in den Paragraphen, die gebildet sind a) mit einem Verbum des Verhaltens [...], b) mit dem Verbum „unterlassen“ [...], c) mit dem Verbum „lassen“ als Verbum der Beziehung [...], d) mit einem negierten Verbum des Erfolges oder mit dem negierten Surrogat eines solchen Verbums [...]; II. Als Erfolgsbedingung: in den Paragraphen, die gebildet sind mit den unter 1–9 genannten Verben der Beziehung.“[69]

Das durch grammatische Interpretation gewonnene „Fundament“[70] erweitert Redslob durch eine logische Interpretation, welche nach dem besonderen Sinn der Verba der Beziehung und des Erfolges in den Straftatbeständen fragt[71]. Die logische Interpretation modifiziert so das im Wege der grammatischen Interpretation aufgefundene – vorläufige – Resultat:

„Die Eigentümlichkeit der Verba der Beziehung, auf jede Bedingung, bewegte wie unbewegte, Anwendung zu finden, wird auf die Verba des Erfolges übertragen; der Begriff der Erfolgsverba verliert zwar das Merkmal der Bedingung als einer bewegten, behält aber sein anderes 309Element, die Eigenschaft des Konditionalzusammenhangs als eines adäquaten und überträgt dieses Merkmal auf den Begriff der Beziehungsverba.“[72]

Eine engere Umgrenzung der aufgefundenen Gleichstellung des Tuns mit dem Unterlassen gewinnt die Untersuchung sodann anhand des Gesetzes im Wege des Analogieschlusses: Während für die Gruppe der fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte die gesuchte Grenze mittels der ethischen Norm[73] zu bestimmen sei, könne für die Gruppe der vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikte ein vergleichbares Kriterium dem Strafgesetz nicht entnommen werden[74]. Diese plan- weil sinnwidrige Lücke des Strafgesetzes könne nur durch „die analoge Anwendung der Restriktion beim fahrlässigen auf das vorsätzliche Delikt“ geschlossen werden[75]. Durch diesen gebotenen Analogieschluss werde weder die gleichmäßige Rechtsanwendung gefährdet, noch lasse diese Konstruktion der Willkür Raum, denn „wenn der Gesetzgeber kein Bedenken trägt, auf dem Gebiet des fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts, wie nachgewiesen, die subjektive und objektive Rechtswidrigkeit von der ethischen Norm abhängig zu machen, so besteht für ihn kein Grund, dieses Prinzip nicht auch auf dem Gebiet des vorsätzlichen, unechten Unterlassungsdeliktes gelten zu lassen.“[76] Das Ergebnis präzisiert Redslob nach Anwendung des Analogieschlusses wie folgt:

„[U]nabhängig davon, ob der Tatbestand mit einem Verbum der Beziehung oder mit einem Verbum des Erfolges gefasst ist, kann ein Delikt durch qualifizierte Betätigung in Form einer Unterlassung begangen werden, wenn die Unterlassung in adäquatem Konditionalzusammenhang mit dem Erfolg steht und nach herrschendem ethischen Werturteil strafwürdig ist.“[77]

Zur Absicherung des für maßgeblich befundenen ethischen Beurteilungsprinzips verweist Redslob auf eine Arbeit seines akademischen Lehrers Fritz van Calker zum Einfluss ethischer Werte auf die strafrechtliche Begriffsbildung[78]. Dieser hatte angemahnt, die öffentliche Volksmeinung bei der wissenschaftlichen Erforschung und 310Fortentwicklung des Strafrechts nicht außer Betracht zu lassen, sondern die öffentliche Kritik vielmehr zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Aufarbeitung zu nehmen[79]. Die Entwicklung der Völker hin zu einer differenzierteren Beurteilung von Tat und Täter habe in der Öffentlichkeit verwurzelte Anschauungen hervorgebracht, „die heute in unserem Volke herrschen und die sich in der Kritik unserer Strafrechtspflege zur Geltung bringen“[80]; diese Anschauungen forderten „eine tiefere und klarere Erfassung der Idee der Schuldhaftung im Sinn einer immer stärkeren Betonung der Bedeutung ethischer Werte bei der Beurteilung strafrechtlich relevanter Tatbestände“[81]. Die historisch gewachsene Relation zwischen (Straf-)Recht und Ethik beschreibt van Calker wie folgt:

„Das Recht im allgemeinen, das Strafrecht im besonderen bildet einen Teil der sittlichen Ordnung, welche das Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen im Sinn der Idee der Vervollkommnung der Gemeinschaft und ihrer Glieder zu regeln bestimmt ist.“[82]

Der Inhalt der im Strafgesetz enthaltenen ethischen Normen müsse – so Redslob weiter – einer selbständigen wissenschaftlichen Darstellung vorbehalten bleiben und werde daher vom Gegenstand der Untersuchung ausgeklammert[83]. Die ethische Strafwürdigkeit der Unterlassung wird – unabhängig vom Inhalt der Anwendung findenden ethischen Gesetze – nachfolgend als „gegenseitige Abwägung von Gütern und Übeln“[84] bestimmt, welche dann eintrete, wenn „die Unterlassung einen so hohen ethischen Unwert erreicht, dass der ethische Wert der Strafe den ethischen Unwert der Strafe überwiegt“[85]. Wann diese Grenze überschritten werde, habe der Gesetzgeber indes selbst positiv festgelegt und damit gleichsam einen Rahmen für die Wirksamkeit des ethischen Prinzips vorgegeben[86]:

„Welche Kategorie der Tätigkeiten mit der Strafe im Verhältnis der Äquivalenz steht, wird durch positiven Rechtssatz bestimmt; innerhalb welcher Grenzen aber die Unterlassung dem 311Tun gleichsteht und deshalb in das gleiche Verhältnis der Äquivalenz mit der Strafe tritt, soll das ethische Gesetz feststellen.“[87]

Welche Unterlassungen aber stehen dem Tun an ethischem Unwert gleich? Zur Beantwortung dieser Frage bedient sich Redslob eines Rückgriffs auf die natürliche Handlungsfreiheit, welche – so die Grundannahme – durch Befolgung der Strafgesetze in unterschiedlichem Maß beschränkt werde; diese Beschränkung sei bei Gebotsnormen größer zu veranschlagen als bei Verbotsnormen[88]. Die natürliche Handlungsfreiheit selbst stelle „eine[n] der höchsten bestehenden ethischen Werte überhaupt“[89] dar; daher richte sich die Beurteilung des ethischen Unwerts einer kausalen Willensbetätigung nicht lediglich nach deren Erfolg, „sondern nur nach der Gesamtheit der durch sie berührten ethischen Interessen“[90]. Bei einem jeweils gleichbleibenden Unwert des Erfolges wahre folglich eine diesen Erfolg herbeiführende Unterlassung die ethischen Interessen stärker als eine denselben Erfolg herbeiführende Tätigkeit; der ethische Unwert der Unterlassung reiche daher prinzipiell nicht an den ethischen Unwert der Tätigkeit heran[91]. Dieses Resultat sei in einigen Fällen darauf zurückzuführen, dass der Unwert, welcher in einer weiteren (Unterlassungs-)Einschränkung der natürlichen Handlungsfreiheit bestehe, kompensiert werde durch einen anderen Wert[92]. Diesen abstrakten ethischen Kompensationseffekt veranschaulicht Redslob mithilfe zweier Beispiele:

„Wenn z. B. die Mutter verpflichtet ist, ihr Kind zu ernähren, so ist diese Beschränkung ihrer Handlungsfreiheit Bestandteil eines Komplexes von Befugnissen und Pflichten und damit Gütern und Übeln, welcher das ethische Eltern- und Kindesverhältnis ausmacht. Wenn es dem Bahnwärter obliegt, einen auf die Bahn gerollten Felsblock zu entfernen, so bildet diese Leistung nur ein Äquivalent für den ihm zustehenden Lohn; hier bildet das Dienstverhältnis einen Komplex von Befugnissen und Pflichten, die sich gegenseitig aufwiegen. Diese Gesamtbeziehung von gegenseitiger ethischer Macht und Gebundenheit kann wie im ersten Beispiel auf einem natürlichen Verhältnis oder wie im zweiten Falle auf Vereinbarung beruhen.“[93]

Die Strafwürdigkeit der Unterlassung wird schließlich wie folgt präzisiert:

„Die Unterlassung ist nach ethischem Urteil strafwürdig, wenn sie an ethischem Unwerte dem Tun gleichsteht; die Unterlassung steht aber an ethischem Unwerte dem Tun gleich, wenn das 312Mass der Unfreiheit, welches aus dem Tätigkeitsgebot an sich resultiert, durch einen andern ethischen Wert aufgewogen wird.“[94]

3. Rekonstruktion der Rezeption

Für die Dissertation Redslobs lässt sich eine umfangreiche Rezeption sowohl in der Kommentar- und Lehrbuchliteratur als auch in monographischen Darstellungen nachweisen. Die soweit ersichtlich ausführlichste Auseinandersetzung mit den Thesen Redslobs findet sich in einer Rezension zu dessen Dissertationsschrift, erschienen 1909 in der „Kritischen Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“[95]. Bei dem Münchener Rezensenten A. Köhler handelt es sich höchstwahrscheinlich um den Strafrechtslehrer August Köhler[96]. In terminologischer Hinsicht kritisiert der Rezensent die Unterscheidung Redslobs zwischen „reinen Betätigungsdelikten“ und „Delikten durch qualifizierte Betätigung“ dahingehend, dass bei letzteren die willentliche Unterlassung ihre deliktische Natur nicht erst durch den mit ihr verknüpften Erfolgseintritt erhalte: „die Willensbetätigung in der Form der Unterlassung [wird] deliktisch [...] auch ohne Erfolgseintritt.“[97] Der eigenen Theorie Redslobs attestiert der Rezensent eine „bedenkliche Verwandtschaft mit der neuerdings ziemlich aufgegebenen Theorie [...], wonach die Unterlassung etwas Reales sein soll, weil sie angeblich eine innere Handlung (= Betätigung) darstellt. Innerliche Handlungen sind aber zollfrei und straflos.“[98]Köhler selbst hält die Kausalität einer menschlichen Unterlassung für einen eingetretenen Erfolg maßgeblich in zwei Fällen für gegeben:

313„a) Bei Bestehen einer direkten gesetzlichen Verpflichtung zur Abhaltung des verbotenen Erfolges, sofern nicht bereits auf Grund der bisherigen Sachlage andere Personen jenen Erfolg abhielten und hiezu bis zum Eintritt einer Ablösung weiter verpflichtet blieben. [...]

b) Bei vorgängiger eigener Beseitigung tauglicher Bedingungen zur Abhaltung des verbotenen Erfolges.“[99]

Während diese von Köhler selbst aufgestellten Kriterien eine deutliche Nähe zur vorherrschenden Auffassung einer Ableitung der für notwendig befundenen Handlungspflichten aus Gesetz und (faktischer) Übernahme aufweisen[100], beurteilt dieser den Ausgangspunkt der Theorie Redslobs – dessen Klassifizierung der Verba im Reichsstrafgesetzbuch[101] – als „nicht unanfechtbar“[102]. Auf dieser in methodischer Hinsicht nicht hinreichend stichhaltigen Basis sei Redslob irrigerweise zu der Annahme gelangt, dass die Verba des Erfolges nicht von Unterlassungen gebraucht würden[103]. Indes:

„Die direkte Betrachtung des Sprachgebrauchs, etwa unter Heranziehung des positiven Rechts (z. B. in § 361 Ziff. 10 StGB.) hätte den Verfasser ebenfalls dazu bringen müssen, daß ruhende Bedingungen (also auch die Unterlassungen) als Ursachen im Sprachgebrauch des Gesetzes anzusehen sind.“[104]

Zu ebendiesem (vorläufigen) Ergebnis gelange Redslob aufgrund seiner irrigen Prämisse „nur durch mehrfache Irrtümer und auf unnötigen Umwegen“[105]. Weiter kritisiert Köhler die seiner Ansicht nach verfehlte Heranziehung der ethischen Normen in der Beweisführung; diese ethischen Normen nämlich „bedeuten etwas ganz Unsicheres und decken sich durchaus nicht immer mit den Anschauungen des Gesetzgebers oder der Uebung des Verkehrs.“[106] Zudem spreche gegen eine Implementierung der herrschenden ethischen Normen der Umstand, dass die Kausalität vom Verschulden unabhängig sei[107]. Folglich sei auch die analoge Anwendung der ethischen Normen von der Kausalität der fahrlässigen Unterlassung auf die vorsätzli314che Unterlassung[108] eine „weitere Willkürlichkeit des Verfassers“[109]. Eine „Absurdität“[110] sei schließlich der von Redslob in seine Definition implementierte ethische Kompensationsgedanke[111]:

„Der schlechtbezahlte oder der unbezahlte Bahnwärter, welcher nach ethischer Wertung kein Aequivalent für die ihm auferlegte Unfreiheit erhält, beginge im analogen Falle keine strafbare Handlung; denn letzterenfalls wird ja das Maß der Unfreiheit, welche der Bahnwärter durch das Tätigkeitsgebot überkommt, nicht durch den ,ethischen‘ Wert des Lohnes aufgewogen.“[112]

So gelangt der Rezensent zu dem wenig positiven Fazit:

„Man kann dem Verfasser zwar das Zeugnis ausstellen, daß er sich redlich bemüht hat, sowie auch, daß ihm originelle Einfälle gekommen sind. Auf der anderen Seite aber ist zu betonen, daß er sich völlig in Abstraktionen von der Wirklichkeit verliert und so Irrtümer auf Irrtümer häuft, ohne die Oberflächlichkeit seiner Beweisgründe zu bemerken.“[113]

Scharf kritisiert wurden die Thesen Redslobs im 1907 erschienenen zweiten Band Carl Ludwig von Bars „Gesetz und Schuld im Strafrecht“:

„Auch die neuestens erschienene – der darin angewandten Scholastik und abstrusen Dialektik wegen schwer verständliche – Arbeit Radslobs [!] kommt zudem [!] Ergebnis (S. 64 ff.), daß der Kausalzusammenhang durch Unterlassung ethisch zu beurteilen sei. Die ethische Strafwürdigkeit der Unterlassung soll ,in dem Momente‘ eintreten, wo die Unterlassung einen so hohen ethischen Unwert erreicht, daß der ethische Wert der Strafe den ethischen Unwert der Strafe überwiegt. Diese Abwägung aber wird ,als eins der dunkelsten kriminalistischen Probleme‘ betrachtet; welches R. denn auch zu lösen nicht unternimmt, und in Beziehung auf welches nur einige scholastisch formulierte Andeutungen schwer zu entziffernden Sinnes gegeben werden.“[114]

Die weitere Wahrnehmung der Dissertationsschrift Redslobs in der Fachwelt ist durch entsprechende Buchanzeigen nachvollziehbar[115]. Eine kurze Rezension im „Zentralblatt für Rechtswissenschaft“ kommt zu dem Ergebnis: „Die Beweisführung 315der Arbeit geht den Schwierigkeiten des Problems überall nach. Im Ergebnis aber erscheint sie recht bedenklich.“[116] In zahlreichen Darstellungen wird Redslob als Nachfolger Ludens eingeordnet; so wird ihm etwa bereits 1909 das Verdienst zugesprochen, „die Grundlage für den Ausbau der Luden’schen Theorie geschaffen zu haben.“[117] Auch in einer 1929 erschienenen Abhandlung über die Kausalität bei Begehungsdelikten durch Unterlassung[118] wird Redslob trotz der „Eigenart“[119] seiner Lehre als Verteidiger und Nachfolger Ludens angesehen[120]. Der Straßburger Privatdozent Max Ernst Mayer hingegen sieht in den Thesen Redslobs die Unterlassung in Abkehr von den Luden’schen Grundannahmen als „eine Willensbetätigung, die mit dem Erfolge in Konditionalzusammenhang steht, aufgefaßt“[121]. Mayer kommt zu dem Ergebnis:

316„Ich kann somit in Redslobs Ergebnissen keine Förderung der Lehre sehen, wohl aber scheint mir die Abhandlung wegen ihrer Selbständigkeit und Eigenart der Beachtung würdig zu sein.“[122]

Rezipiert wird Redslobs Arbeit auch in dem renommierten Frank’schen Kommentar zum Reichsstrafgesetzbuch mit der anerkennenden Feststellung, er habe sich „nicht ganz mit Unrecht“[123] gegen die herkömmliche Begründung der Rechtswidrigkeit des Unterlassens gewendet[124]. Kritisch hingegen äußert sich 1913 der Marburger Rechtslehrer Ludwig Traeger zu den Thesen Redslobs, welche er als eine Verteidigung der überwundenen Kausallehre Ludens klassifiziert:

„Neuerdings sucht freilich Redslob, Die kriminelle Unterlassung (1906), S. 18 ff. die Lehre Ludens zu verteidigen und zu entwickeln, aber seine Beweisführung läuft auf sophistische Dialektik hinaus [...]. Wie eine Betätigungsweise nicht an sich selbst, nicht nach ihren individuellen Merkmalen bedingen soll, sondern nach einem generellen Merkmal, als Vertreterin der Gattung aller Betätigungen, die das erwartete Tun nicht enthalten, ist völlig unfaßbar.“[125]

Zusammenfassend zeichnet die Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte der Arbeit Redslobs damit ein gespaltenes Bild von deren Wahrnehmung in der Fachwelt: Einerseits werden die Gründlichkeit und Originalität der Darstellung anerkennend hervorgehoben; insgesamt indes überwiegt eine kritische Sichtweise sowohl im Hinblick auf die formal-abstrakten Begriffskonstruktionen als auch die Implementierung ethischer Maßstäbe in die Dogmatik des unechten Unterlassungsdelikts.

III. Der Strafrechtler Robert Redslob – einige Schlaglichter

Wie also lässt sich der Strafrechtler Robert Redslob durch seine Dissertationsschrift näher charakterisieren? Die Straßburger Dissertation Redslobs zeichnet sich – so lässt sich schlaglichtartig resümieren – insbesondere durch (1) den rechtsvergleichenden Untersuchungsansatz, (2) Redslobs präzise und in weiten Teilen abstrakte 317Methodik sowie (3) den Fokus auf ethische Fragestellungen in Form eines originellen eigenen Lösungsansatzes aus.

1. Der rechtsvergleichende Untersuchungsansatz Redslobs

Für eine deutschsprachige rechtswissenschaftliche Arbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich ist der vergleichsweise breite rechtsvergleichende Untersuchungsansatz Redslobs, welcher in der Konsultation von neun fremdsprachigen rechtswissenschaftlichen Werken – überwiegend französischen Schriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts – zum Ausdruck kommt[126]. Der Arbeit Redslobs vorangestellt ist zudem ein die Unterlassungsdelikte betreffendes Zitat des Schweizer Juristen Fritz Henri Mentha in französischer Sprache[127]. Wesentlich gefördert wurde die Heranziehung französischer Autoren mutmaßlich durch das biographisch bedingte zweisprachige kulturelle Umfeld Redslobs[128]; dem elsässischen Bürgertum entstammend, scheint dieser eine Wertschätzung auch für die (süd-)deutsche Kultur entwickelt zu haben[129], wenngleich seine Familie und auch er selbst sich nach der Annexion des Elsass 1871 entschieden Frankreich zugehörig empfanden[130]. Methodisch verfestigt hat sich der rechtsvergleichende Ansatz in der Dissertationsschrift Redslobs indes nur bedingt; die konsultierten fremdsprachigen Autoren werden zwar im Rahmen der Kritik der bisherigen Theorien zum unechten Unterlassungsdelikt behandelt[131], doch wird dabei kein Gesamtbild des jeweiligen 318ausländischen Forschungsstandes entworfen[132]. Inhaltliche Einflüsse der fremdsprachigen Werke auf die eigene Theorie Redslobs lassen sich der Beweisführung seiner Arbeit nicht entnehmen[133]. Einen breiteren rechtsvergleichenden Ansatz weisen spätere Werke Redslobs auf, etwa seine 1909 erschienene Arbeit über „Die persönlichen Eigenschaften und Verhältnisse, welche die Strafbarkeit erhöhen oder vermindern, dargestellt nach deutschem und französischem Recht“[134] oder seine staatsrechtlich bedeutende Schrift „Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form“[135], welche einen Rechtsvergleich der Verfassungen mehrerer Staaten enthält.

2. Bemerkungen zur Methodik

Weiter fallen – insbesondere im Rahmen der Ausführungen zur eigenen Theorie Redslobs – das hohe Abstraktionsniveau sowie die mathematisch präzise anmutenden Begriffsbestimmungen und Klassifizierungen auf. Ein Beispiel hierfür bildet die Klassifizierung der im Reichsstrafgesetzbuch vorkommenden Verba in Kategorien und Untergruppen[136]; die so durchgeführte grammatische Interpretation erinnert auch aufgrund der Listenbildung und Bezifferung der Verba an mathematische Erkenntnismethoden[137]. Von einem besonders hohen Abstraktionsniveau zeugen dagegen die finalen Präzisierungen der Strafwürdigkeit der Unterlassung nach dem ethischen Urteil[138], welche mit der Erörterung des ethischen Kompensationsgedankens schließen[139]. Diese Ausführungen hatte auch Köhler in Bezug genommen, als er 319Redslob den Vorhalt machte, „sich völlig in Abstraktionen von der Wirklichkeit“[140] zu verlieren; doch ist in der neueren Forschung auch für spätere Schriften Redslobs das Streben nach „eine[r] Art abstrakt-mathematische[n] Dimension“[141] konstatiert worden. Redslobs Memoiren haben zu der Vermutung Anlass gegeben, dieser könnte hinsichtlich seiner formal-technischen Methodik von dem Straßburger Staatsrechtler Paul Laband beeinflusst worden sein[142].

3. Hinwendung Redslobs zu ethischen Fragestellungen und Originalität

Mit seinem akademischen Lehrer van Calker schließlich verband Redslob das Bestreben, ethische Normen im Rahmen des Strafrechts de lege lata zur Geltung zu bringen[143], wie der Schlussteil seiner Dissertation anschaulich zeigt[144]. Dort heißt es eingangs über die Forschungen van Calkers:

„In dieser Arbeit van Calkers [gemeint ist dessen 1904 erschienene Schrift „Ethische Werte im Strafrecht“] ist nämlich zum ersten Mal gezeigt worden, dass das Recht nicht nur durch die Art seiner Entstehung mit der Ethik eng verwachsen ist, sondern dass sogar das moderne Recht seine Definitionen von Delikten vielfach mit Hilfe von ethischen Begriffen ausbaut.“[145]

Wie oben gezeigt wurde[146], sieht auch Redslob „der ethischen Norm die Grenzziehung zwischen der strafbaren und nicht strafbaren Unterlassung“[147] überantwortet[148]. Dieses Postulat bildet für Redslob indes lediglich gleichsam den Schlussstein 320in der Präzisierung seiner insgesamt als originell zu beurteilenden eigenen Theorie des unechten Unterlassungsdelikts[149]. Maßgebliche Impulse erhielt dieser eigene Lösungsvorschlag durch die Schriften Heinrich Ludens, dessen Prämisse der Realität der Unterlassung Redslob präzisierend fortentwickelte[150]. Die auf diesem Fundament mathematisch-präzise ausgeführte grammatische und logische Auslegung der Normen des Reichsstrafgesetzbuchs bildet in Verbindung mit einem Analogieschluss von den beim Fahrlässigkeitsdelikt aufgefundenen Restriktionen auf das vorsätzliche Delikt gewissermaßen das Herzstück der Redslob’schen Theorie des unechten Unterlassungsdelikts[151]. Schließlich wird die eigene Lösung auf den Spuren van Calkers mithilfe eines Rückgriffs auf die natürliche Handlungsfreiheit letztmalig weiter präzisiert und um den Gedanken der ethischen Kompensation erweitert[152]. Wenngleich sich diese originelle Theorie Redslobs nicht hat durchsetzen können[153], legt sie doch eindrucksvoll Zeugnis ab von dem langen Ringen der deutschen Strafrechtswissenschaft um eine hinreichende dogmatische Fundierung des unechten Unterlassungsdelikts. Das Forschungsinteresse Redslobs indes lag spätestens etwa nach 1910 auf den Gebieten des Staats- und Völkerrechts, auf welchen Redslob mit einem noch gegenwärtig rezipierten Gesamtwerk reüssieren konnte.


Danksagung

Der Verf. dankt Herrn Dr. Paul Hüther (Heidelberg) für die kritische Lektüre des Manuskripts und wertvolle Anmerkungen.


Online erschienen: 2025-06-04
Erschienen im Druck: 2025-05-26

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Heruntergeladen am 20.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zstw-2025-0006/html
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