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Die Entscheidbarkeit des persönlichen Ehrstatus frühneuzeitlicher Männer und Frauen. Konfliktsfälle im Vergleich

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Veröffentlicht/Copyright: 1. August 2024
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Zusammenfassung

Die diversen frühneuzeitlichen Fälle gewaltsamer (Raufhändel) und gerichtlicher Ehrverteidigung (Injurienprozesse) sowie der Ehrlichsprechung berufsbedingt unehrlicher oder devianzbedingt ehrloser Personen lassen sich mithilfe entscheidungstheoretischer Analysekategorien vergleichen und damit zusammenführen. Trotz geschlechterspezifisch unterschiedlicher Ehrkonzepte konnten sowohl straffällig gewordene Männer als auch entjungferte Frauen um Ehrrestitution bitten. Beleuchtet werden die Entscheidbarkeit des persönlichen Ehrstatus in verschiedenen Phasen eines Konflikts, seine Entscheidbarmachung, die Entscheidungsressourcen, die Entscheidungsmodi sowie die Entscheidungszeit. So zeigt sich, dass die entsprechende Benennungsmacht der den Ehrstatus Beurteilenden und konkurrierende Normen, die eine Kritik an der vorangegangenen Ehrzuschreibung erlaubten, zu den Entscheidungsressourcen zählten. Entscheidungsmodi konnten obrigkeitlich durchgeführte Verfahren, aber auch Einzelentscheidungen der Mituntertanen sein, die dabei keineswegs entscheidungsfaul erscheinen. Der persönliche Ehrstatus galt in all den Fällen als entscheidbar, in denen es um die auf das individuelle Verhalten bezogene Ehre ging, in der er also über die entsprechende Zeitdimension verfügte. Unter diesen Umständen konnte er durch liminalisierende Temporalisation, Gabentauschpraktiken und das Erzählen von Geschichten erneut entscheidbar gemacht werden.

Abstract

The various early modern cases of violent defence (Raufhändel) and judicial defence of honour (injuria trials) as well as the declaration of honesty of profession-related dishonest or offence-related infamous persons can be compared with the help of decision-theoretical analysis categories and thus viewed together. Despite gender-specific differences in concepts of honour, both men who had committed offences and women who had been deflowered were able to ask for restitution of honour. The study will shed light on the decidability of the personal honour status in different stages of a conflict, on how it became decidable and how it could be changed, on decision-making resources, decision modes and decision time. It is shown that decision-making resources were competing norms that allowed a critique of the previous attribution of honour and the power of naming and labeling someone as (dis)honourable. Decision-making modes could be procedures carried out by the authorities, but also individual decisions by fellow subjects, which by no means appeared to be indecisive. The personal honour status was considered decidable in all cases in which it was a matter of event-related individual behavioural honour and thus had the appropriate time dimension. Given these circumstances, it could be made decidable again through liminalising temporalization, gift exchange practices and the telling of stories.

Eine besondere historische Ausformung des Phänomens, dass deviantes Verhalten oder ein entsprechender Verdacht mit sozialer Exklusion bzw. schlechtem Ruf sanktioniert wird und zugleich die Möglichkeit zur Rehabilitation sowie die Neuentscheidung des sozialen Status offenhält, findet sich in der ehrbewussten frühneuzeitlichen mitteleuropäischen Gesellschaft. Über den Ehrstatus einer Person – ihre Ehre – ließ sich mitunter wiederholt entscheiden. Trotz der produktiven Erforschung einerseits von Ehre, zuletzt mit Fokus auf Ehrkonzepte und die dazugehörigen Praktiken, und andererseits von Entscheidungen, vor allem im gerichtlichen und politischen Bereich[1], fehlt jedoch ein systematisierender Vergleich all jener bisher getrennt behandelten Fälle, in denen der äußere Ehrstatus einer Person durch Entscheidungen anderer verändert werden konnte – etwa in aus den zahlreichen Fällen von Beleidigungen resultierenden Duellen, in Raufhändeln oder aber auch in Injurienprozessen. Dabei würde ein solcher Vergleich nicht nur grundlegende soziale Praktiken und Verbindungen zwischen unterschiedlichen Ehrkonzepten erkennen lassen, sondern auch eine weitere Möglichkeit zur empirischen Prüfung entscheidungstheoretischer Konzepte bieten.

Im Folgenden sollen auf einem stabilen entscheidungstheoretischen Fundament[2] zunächst Überlegungen zum persönlichen Ehrstatus und dessen Entscheidbarkeit (I) angestellt werden. Es folgen Abschnitte zum Vorgang des Entscheidbarmachens (II), zu den Entscheidungsressourcen (III) sowie zu den Entscheidungsmodi[3] (IV), zur Entscheidungszeit (V) und schließlich zu den Grenzen der Entscheidbarkeit (VI), wobei diese Aspekte freilich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Entscheidbarkeit und Entscheidungen sind dabei analytische Begriffe.[4]

I. Entscheidbarkeit des Ehrstatus

Neben häufigeren Quellen zur gewaltsamen (zum Beispiel durch Raufhändel[5]) und gerichtlichen (etwa durch Injurienprozesse[6]) Ehrverteidigung bzw. -wiederherstellung existieren auch Suppliken, Vorformen der heutigen Petitionen[7], in denen nicht adelige Untertanen den Herrscher um die Restitution ihrer verlorenen Ehre aus kaiserlicher Gnade baten. Die Datenbank zu „Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II.“ verzeichnet 1425 Verfahrensakten zu den verschiedensten Themen, in denen mindestens eine Supplik überliefert ist[8] und die vom Kaiserlichen Reichshofrat im Namen des Reichsoberhaupts bearbeitet wurden. Darunter befinden sich 31 Verfahren männlicher Supplikanten und seltener von Familien, die explizit oder implizit um Ehrrestitution baten: fünf, die einen unehrlichen Beruf ausübten oder von einem Unehrlichen abstammten und nun ihre Anrüchigkeit loswerden wollten[9], sowie 26 ehrlose Delinquenten oder deren Nachkommen.[10] Der Begriff restitutio famae et honoris konnte im zeitgenössischen Verständnis zweierlei bedeuten, einmal die Ehrlichmachung berufsbedingt unehrlicher oder aber die Wiederherstellung deliktsbedingt verlorener Ehre ehrloser (Andreas Deutsch) bzw. unehrenhafter (Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff) Untertanen.[11]

Die verhältnismäßig geringe Zahl der hier vorrangig behandelten supplizierenden Delinquenten erklärt sich dadurch, dass aus verschiedenen Anlässen suppliziert wurde und Ehrrestitutionsbitten voraussetzungsvoll waren[12]: Sie ergingen nur in bestimmten Phasen eines Sanktionierungsprozesses (man war bereits verurteilt worden und hatte seine Strafe angetreten oder verbüßt oder man hatte sich mit den Angehörigen seines Opfers verglichen, also bereits den Rechtsweg beschritten[13]), man bat in bestimmten sozialen Beziehungsgeflechten[14] (neben Gegnern*innen verfügte man auch über Unterstützer*innen), unter bestimmten persönlichen Umständen (man wollte sozioökonomische Handlungsmöglichkeiten und Rechte wiedererlangen und besaß zugleich das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital, um zu supplizieren[15]) und in bestimmten Herrschaftsbeziehungen (man hatte bisher keinen Erfolg bei der lokalen Obrigkeit erzielt) – dies spiegelt die Vielfalt der Entscheidungsinstanzen und Konfliktbewältigungsmöglichkeiten in einer diversifizierten Gesellschaft.[16]

Als identitätsstiftendes Sozialregulativ verband Ehre das Individuum mit der Gesellschaft qua normbedingter In- oder Exklusion in Form von Sanktionierung bzw. Statuserzeugung.[17] Der Ehrstatus war codierte Bedeutung (Sinn) sowie sprachlich-symbolisches Medium und ermöglichte damit praktische, entscheidungsförmige Eigenschafts-, Positions- und Verhaltenszuschreibungen.[18] Die Zu- oder Aberkennung des äußeren, also durch andere festgelegten Ehrstatus einer Person vollzog sich gleichsam als „soziale Magie“ in einem performativen Akt der gleichzeitigen Statusdarstellung sowie Statusherstellung.[19]

In all den Fällen, die Schilderungen Ehrloser enthalten, war Ehre nach dem Vorwurf eines Eigentums-, Gewalt- oder Sexualdelikts durch die Reaktion von Obrigkeiten und Mituntertanen verlorengegangen (außergerichtliche Sanktionen auf horizontaler Ebene können, nicht dichotomisch, als Infrajustiz[20] oder, nicht rechtszentristisch, als Konfliktbewältigungsmechanismen, die auf der Existenz mehrerer Normsysteme bzw. auf Multinormativität gründeten[21], bezeichnet werden). Es zeigt sich, dass Ehre auch Amts- und Zeugnisfähigkeit sowie Kreditwürdigkeit bedeuten konnte[22]: transmedial mit ihm verbundene Manifestationen des Ehrstatus und symbolische und sozioökonomische Medien der Vertrauenswürdigkeitsbehauptung.[23] Erhalten wurde Ehre aufgrund früherer Norm- bzw. Pflichterfüllung[24] und gebraucht, um als Person (für Ämter etc.) „gebraucht“[25] werden zu können, um also als rechtlich und sozial fähig zu gelten.[26] Dies traf auf Bauern und Bürger, auf Christen und auch auf Juden zu[27], weshalb sich gruppenübergreifend ein gewisser kontextspezifischer Zusammenhang zwischen Ehr-, Rechts- und Vertrauensstatus ausmachen lässt. Je nach Kontext konnten nach dem Baukastenprinzip Bedeutungsteile zu einem konkreten Ehrkonzept zusammengesetzt werden. Der konkrete Zusammenhang bestimmte, was problemlos gesagt werden konnte, und gab damit die Bedeutungsmöglichkeiten vor.[28]

Freilich wurden entsprechende Verluste und andere – weitgehend standardisierte – von semiprofessionellen Supplikenschreibern stammende Argumente strategisch vorgebracht, indem die Wirklichkeit verzerrt, womöglich auch erfunden wurde.[29] Ehre konnte persönliches Movens, aber auch nur die offiziell-wertkonforme Begründung einer Bitte sein. Die vorgebrachten Argumente zur Bittengewährung mussten jedoch stets rhetorisch-vernünftig bzw. sozial-rational sein[30], das heißt im Rahmen bestimmter geteilter Wertvorstellungen plausibel und verständlich dargelegt werden [31]. Daher erlaubt die sprachlich und sachlich komplexe Argumentation zugunsten der Ehrwiederherstellung einen Einblick in geteilte frühneuzeitliche Sprach- und Vorstellungswelten – sie zeigt nämlich, was die Gesellschaft von sich preisgeben wollte, aber auch, wie sie über sich sprechen konnte. Hintergedanken waren möglich, doch explizierten Ehrrestitutionsbitten stets den Eigen- und Fremdwert von Ehre, um ihre Relevanz zu unterstreichen. Es galt als plausibel, dass äußere Ehre sowohl durch vertikal-obrigkeitliche als auch durch horizontal-soziale (Folge-)Sanktionen verlorengehen konnte.[32] Die meisten späteren Supplikanten waren nicht öffentlich, nicht entehrend, sondern „bürgerlich“[33] bestraft worden (zum Beispiel mit Gefängnis), fürchteten jedoch in weiterer Folge um ihre Rechte oder hatten diese schon verloren. Selbst geschlossene Vergleiche wurden mitunter ignoriert bzw. beugten weiteren Klagen und Sanktionen nicht zwangsläufig vor.[34] Übermäßig andauernde Sanktionen und Grundwerte wie Ehre[35] anzusprechen, resultierte aus einem Argumentationsnotstand, half aber auch, sich mit einem Fokus auf bestimmte Fakten[36] wieder in die Gesellschaft „hineinzuargumentieren“. Die Supplikanten lieferten dem Reichshofrat ein Argumentationsangebot, dass er zur Begründung seiner Verfügungen nutzen konnte, bauten also an der von Tobias Schenk beschriebenen formalen „Schaufassade“ der Entscheidungsdarstellung mit, welche freilich nur bedingt Auskunft über die teils auch informal ablaufende Entscheidungsherstellung gibt.[37]

Ein Beispiel für supplizierende Delinquenten ist Christoph Stumpf[38], Bürger und Stadtrechner in Giengen an der Brenz, dem vorgeworfen wurde, er habe sich persönlich durch das Abzweigen von Getreide, Brettern, Steinplatten und anderer Materialien bereichert und Arbeiter für private Zwecke aus städtischen Mitteln bezahlt, kurz: Er habe Gelder veruntreut. Der Ausgangspunkt dieses Mikrokonflikts ist nicht mehr zu ermitteln.[39] Stumpf wurde jedenfalls seines Amtes enthoben und gefangengenommen. Auf Bitte seiner Ehefrau, Kinder, Verwandten und Freunde wurde jedoch keine Lebens- oder Leibesstrafe verhängt, sondern er durfte 1573 „Urfehde“ schwören (das heißt, er musste das Versprechen geben bzw. einen Eid ablegen, dass er sich nach Urteil und Bestrafung nicht rächen würde)[40] und wurde unter Hausarrest, später Stadtarrest gestellt – ein Zeichen der Gnade des Stadtrats. Dennoch schaffte es Stumpf, 1576 regelwidrig am Reichstag zu Regensburg aufzutauchen und an den Kaiser zu supplizieren, boten doch gerade Reichstage die Möglichkeit, Suppliken leichter an den Kaiser zu übergeben[41]: Sein verlorener guter Ruf, so argumentierte er nun, führe dazu, dass er nicht zu Geschäften auf Wochen- und Jahrmärkten in anderen Städten zugelassen bzw. dort gemieden werde. Während ein anderer Supplikant, Hans Rodenburger, ‚nur‘ um ein Fürbittschreiben an seine Stadtobrigkeit bat[42], strebte Stumpf „Abolition, Restitution und Reintegration“ an und beteuerte auf Nachfrage, dass seine Stadtobrigkeit hinter ihm stehe, was freilich nicht der Wahrheit entsprach, aber auch nicht nachgeprüft wurde, weil kein Gesandter der Reichsstadt anwesend war. Gesandte der Handelsstadt Nördlingen dagegen traten mündlich bzw. informal[43] für Stumpf ein, worüber nur das Resolutionsprotokoll[44] knapp Auskunft gibt. Restitution, wie erbeten, ja oder, nicht expliziert, nein – damit wurden die für eine Entscheidung notwendigen, kontextspezifischen Alternativen[45] benannt. Der Reichshofrat entschied sich auf Grundlage von spärlichen, aber mehr als im Akt allein überlieferten Informationen für die Ehrwiederherstellung. Eine Kassationsbitte Giengens erfolgte erst am folgenden Reichstag 1582, nachdem Stumpf auf eine Beleidigung hin (den Spottreim „Christoph Stumpf hat kein’ Zunft“) geäußert habe, er sei so gut wie jeder andere im Rat, er aber wegen Aufwiegelung und Beleidigung gefangengenommen worden sei, weswegen sein Sohn Konrad eine Klage gegen die Obrigkeit am Reichskammergericht eingebracht habe und er, Christoph, durch den Kamin aus dem Bürgerspital, in dem er festgehalten worden war, geflohen sei. Die Restitution, hieß es, sei unter Vorspiegelung falscher Tatsachen (sub et ob reptitia) erlangt worden. Der Reichshofrat wahrte sein Gesicht und das des Reichskammergerichts, indem er darauf hinwies, dass der Prozess an diesem rechtshängig sei – er wurde jedoch nie zu Ende geführt. Dass Nördlingen die Ehrrestitution Stumpfs später schriftlich und somit auch formal akzeptierte[46], das heißt, dass es tatsächlich um weiterverfolgte Interessen ging, spricht dafür, dass die Supplikanten zum Teil mit offenen Karten spielten.

Entscheidungen werden hier als soziokulturell bedingte und historisch wandelbare, prozesshaft ablaufende soziale Praxis verstanden, die wiederum auf kulturspezifischen Bedingungen beruht und diese prägt, nicht immer bewusst oder rational abläuft[47], jedoch immer eine legitimatorische Herausforderung darstellt[48]. In Ehrrestitutionsfällen wurden unterschiedliche Entscheidungen von verschiedenen Instanzen auf verschiedene Weise gefällt, indem aus Beurteilungen des vermeintlich Geschehenen (iudicium als Meinung und Urteil) ein Verhalten resultierte: Zuerst waren es der Stadtrat, der Strafprozesse führte, Gerichtsurteile fällte und Strafen exekutierte oder Vergleiche herbeiführte, sowie das teils personell mit ihm verbundene soziale Umfeld, das davor, danach oder parallel dazu als meinungsbildende situative (Informations-)Öffentlichkeit[49], informales Entscheidungskollektiv[50], „ständiges Gericht“[51] bzw. „Tribunal“[52] in außergerichtlichem, aber dennoch alltagsveränderndem Rahmen[53] über die Ehre des strafrechtlich auffällig Gewordenen „urteilte“[54] und ihn sanktionierte bzw. exkludierte, solange die Obrigkeit als Gerichtsherr nicht dagegen einschritt. Später war es dann der Kaiser, der sich mit Blick auf die Obrigkeit für eine Ehrrestitution entscheiden konnte – beides ist für das Feld der Entscheidungsforschung von Interesse. Es zeigt etwa, dass Untertanen aus der „breiten Masse“, wenngleich nicht mit herrscherlicher Entscheidungsgewalt ausgestattet, sich nicht immer entscheidungspassiv verhielten[55], sei es in horizontalen Ehrhändeln oder gegenüber vertikal-strafrechtlich Verfolgten. Abgesehen von oft nicht rekonstruierbaren Kontexten besaßen alle Subjekte eine gewisse Wahlfreiheit: Daher wurde dem verurteilten Ehebrecher Hans Rodenburger von seiner Frau vergeben, während Justinus Raisers Frau ihn verließ, und daher besaß Stumpf neben Gegnern auch Freunde wie Altbürgermeister Rochus Ammann und die Nördlinger.[56]

Als entscheidbar betrachten wir, was als Entscheidung gedeutet, dargestellt bzw. praktisch so behandelt wird.[57] Ob eine Sache entscheidbar ist, hängt davon ab, dass zur Lösung einer Frage keine eindeutige Norm bereitgestellt wird[58]: Nur das prinzipiell Unentscheidbare, das heißt das nie abschließend Entscheidbare kann entschieden werden.[59] Der Ehrstatus der Supplikanten etwa war strittig, was beziehungsabhängig und situativ ausgenutzt werden konnte, indem mit diesem als Medium behauptetes Verhalten wie auch dessen Beurteilung dargestellt und zugleich hergestellt wurden.

Warum aber fehlen Ansuchen um Ehrrestitution der nachweislich vorhandenen[60] Delinquentinnen? Gilt hier Ute Freverts auf das 19. Jahrhundert bezogene Feststellung, dass Frauen Ehre lediglich besitzen und verlieren, nicht jedoch (zurück-)gewinnen konnten?[61] In der patriarchalen Gesellschaft standen Männer über den Frauen und fungierten in bestimmten Fällen als Geschlechtsvormünder[62], besaßen also asymmetrische Handlungsmöglichkeiten[63], wenn auch Frauen zumindest zu Beginn der Neuzeit in Abhängigkeit von Personenstand und Status über bestimmte Rechte und Rechtsansprüche verfügten.[64] Männer besaßen außerdem eine weit aufgefächerte Ehre, die sich etwa auf Beruf, Rechte und Ämter beziehen konnte, wohingegen Frauen vor allem eine körperbildbezogene Sexualehre besaßen[65]; daneben erstreckte sich der Ehrbegriff auf ihre Pflichterfüllung im Haushalt und auf ihre strafrechtliche Unbescholtenheit.[66] Doch konnte eine Frau, die durch Ehebruch ihre Ehre verloren hatte, kaum Ehre aus anderen Lebensbereichen anführen und damit auch nicht deren Relevanz herausstreichen. Vermutlich baten Ehebrecherinnen deshalb öfter um Interzessionen und Ähnliches.[67] Ferner wäre eine Restitutionsbitte auch gleichbedeutend mit einem Eingeständnis gewesen, außerehelichen Sex gehabt zu haben, und barg somit das Risiko, noch größeren Schaden zu erleiden.[68]

Wo Männer Frauen konkurrenzlos besitzen und das Erbe streng kontrollieren wollten, zählte voreheliche Jungfräulichkeit viel: An sich ambivalent konnte sie, je nach ‚Erhaltungszustand‘ und Lebensalter ihrer Trägerin, Grund und Zeichen von relativer Abhängigkeit/Ohnmacht oder Unabhängigkeit/Macht sein.[69] Sexuelles Verhalten wurde zudem äußerst kontextspezifisch beurteilt[70]: Mitunter ging weibliche Ehre verloren, obwohl ein Eheversprechen von Seiten des Mannes gebrochen wurde.[71] Da verlorene Ehre die Heiratschancen schmälerte und ökonomische Nachteile nach sich zog[72], baten manche Frauen um Einhaltung des Versprechens[73], manche um Schadensersatzzahlungen und Naturalrestitutionen[74], klagten in Injurienprozesse wegen Ehrverletzung[75] oder – seltener – supplizierten um eine symbolische, statusverändernde Ehrrestitution.[76] Und noch im 18. Jahrhundert konnten Dokumente, die den Restitutionsurkunden in ihrem Wortlaut erstaunlich ähnlich waren, eine restitutio famae vornehmen und die der Betroffenen „[…] anklebende Macul [...] abnehmen und vertilgen, dagegen sie alle Ehre des jungfräulichen Standes restituiren“[77].

II. Entscheidbarmachen

Die Entscheidungstheorie ist hier mit dem Konzept des „sozialen Dramas“[78] zu verbinden, wonach Ehrkonflikte den Ehrstatus in Frage stellten, ehe es zu einer Entscheidung kam. Als Ehrkonflikt soll ein von den Betroffenen entsprechend gedeutetes Ereignis verstanden werden[79], in dem die Involvierten über den künftigen Status eines oder mehrerer Betroffener unterschiedlicher Meinung waren. Das von Arnold van Gennep und Victor Turner vorgeschlagene Konzept der Liminalität, das den Schwellenzustand zwischen zwei Sozialstatus beschreibt[80], und besonders dessen Adaption durch Hans de Waardt, der es wiederum auf (Face-to-face-)Ehrhändel angewendet hat, lässt sich auch auf weitere Konfliktsfälle umlegen, indem es erlaubt, jede Phase, in der über den Ehrstatus neu entschieden werden musste, als liminale Situation zu begreifen. Bei gewaltsamer Ehrverteidigung war der Ehrstatus in der Zeit zwischen Beleidigung und Konter unentschieden[81], bevor er im kommunikativen Dreieck von Betroffenem*r, Gegner*in und dem entscheidenden Publikum im praktischen Gebrauch[82] festgelegt wurde.[83] Im Fall von Injurien wurde der Status sogar reliminalisiert und der Ehrverlust reversibilisiert, indem eine vorangegangene Beschuldigung zu Beginn und während des Prozesses als Verleumdung benannt wurde.[84] Ähnlich liminalisierten die Obrigkeit und das soziale Umfeld als Entscheidungsinstanzen den Ehrstatus eines Delinquenten, ehe der Supplikant ihn reliminalisierte. Immer musste es zur Liminalisierung seines Status kommen, damit dieser aufgrund der dadurch entstehenden Notwendigkeit zur Neuentscheidung entscheidbar wurde.

III. Entscheidungsressourcen

Entscheidungen verbinden stets Allgemeines und Besonderes, Normen und Praxis[85] und zeigen Normen in ihrem regelinterpretierenden[86] Gebrauch. Behauptungen über das Geschehene und Normen als Maßstab zu dessen Deutung und Beurteilung waren daher in allen Fällen die wichtigsten Entscheidungsressourcen. Die Soziologie und mittlerweile auch die Geschichtswissenschaft haben den grundlegenden sozialen Zusammenhang von Werten, Normen, die Verhaltenserwartungen erzeugen, und Sanktionierungen konkreten Verhaltens, die ja selber eine Form von Verhalten darstellen, beschrieben.[87] Ehre als Ausdruck performativ produzierter und vorgebrachter Fakten über bisheriges Verhalten einzusetzen, war eine praktische Handlungsoption, die allen Betroffenen wiederum weitere Möglichkeiten schuf – man denke nur an Martin Dinges’ zweideutigen Vermögensbegriff, der sowohl Fähigkeit als auch Möglichkeit mit einschließt.[88] Auf kulturell bedingte Normkonkurrenz, Ordnungsvorstellungskonflikte[89] und -konkordanzen verweisende Ausdrücke erzeugten Möglichkeitshorizonte und machten Alternativen sagbar, sodass Neuentscheidungen und Normselektion durch eine höhere Instanz durchführbar wurden.

Injurierte konnten sich auf das Diffamationsrecht berufen[90], Delinquenten auf kaiserliche Reservatrechte. Die ausgewählten Normen bedingten dabei die Ehrkonzepte: etwa jenes des Straftäters, der meinte, nach Verbüßen seiner ‚ordentlichen‘ Strafe für das Weiterleben in der Gesellschaft der sozialen Reintegration zu bedürfen[91] („Notdurft“[92]), oder jenes der lokalen Obrigkeit, die meinte, eine Restitution würde einen Präzedenzfall schaffen, dem Ehrverlust die Bedeutung nehmen und nicht vertrauenswürdige Leute in Ämter bringen. Gerade die Verteidigung der Ehre war, mit Lars Behrisch gesprochen, der kritische Punkt, an dem horizontale Sozialkontrolle versagen und vertikale Konfliktbewältigungsmechanismen notwendig werden konnten.[93]

In letzter Instanz konnte kaiserliche Macht eine von anderen vorgenommene Sanktionierung aufhalten[94]; performativ-symbolische Benennungsmacht vermochte als Definitions- bzw. Entscheidungsmacht für sozialen Status das symbolische Kapital anderer gnädigerweise zu erhöhen[95]. Das Reichsoberhaupt, „Brunnquell der Ehre“[96], durfte laut Römischem Recht als Kaiser – wie seine Hofpfalzgrafen, der Papst und andere Fürsten in Nachfolge ihrer antiken Vorgänger – Ehre restituieren.[97] Zwar überzeugten – je nach Zustandekommen – selbst die in der Restitutionsurkunde angekündigten Strafen für Zuwiderhandeln[98] nicht zwangsläufig jeden, sonst wäre Stumpf nicht weiterhin verspottet worden, allerdings konnten Kassationsbitten nur mit Kritik am Supplikanten, nicht aber mit einer am Reichshofrat begründet werden.

IV. Entscheidungsmodi

Verschiedene Instanzen entschieden in unterschiedlichen Modi über den Ehrstatus einzelner Personen: Während der obrigkeitliche Gerichtsprozess samt Begnadigung oder die Vergleichsverhandlung abhängig von der Aktenlage rekonstruiert werden kann[99], ist dies für die inoffizielle Entscheidungspraxis kaum möglich[100]. Wenn für Letztere die von der Forschung als Entscheidungsmodi genannten Verfahren und Verhandlungen wegfallen, bleiben lediglich Einzelentscheidungen[101], die durch bestimmte Intentionen und Normen legitimiert wurden: Die Untertanen, die anderen Ehre aberkannten, hatten in ihrem horizontalen Wirkungskreis die relative „Benennungsmacht“, um über den Ehrstatus ihrer Mituntertanen zu entscheiden[102], solange sich keine Obrigkeit in die daraus folgende „Aushandlung“ des Status einmischte.

Auch der Entscheidungsprozess am Kaiserhof kann nur bedingt nachgezeichnet werden: Der Reichshofrat entschied durch in der Reichshofratsordnung relativ grob geregelte (stilus curiae) formale Entscheidungsverfahren[103], die einen Niederschlag in den Akten und Protokollen fanden. Die seit 1579 überlieferten Exhibitenprotokolle[104] und seit 1544 vorhandenen Resolutionsprotokolle geben dabei Einblicke: Das Exhibitenprotokoll[105] übernahm die zusammengefassten Bitten der Supplikanten, den Rubrumvermerken ganz ähnlich, annähernd wörtlich. Zu Stumpf finden sich jedoch keine Einträge. Im Resolutionsprotokoll[106], übrigens mit unvollständigem Register[107], zeigt sich etwa die Bedeutung der „Freundschaft“, welche in mehreren Fällen, etwa bei Rodenburger[108] und Stumpf, als ein Argument angeführt wurde, obwohl sie in den Suppliken nicht genannt worden war. Dieses Protokoll belegt somit, dass die Akten keineswegs alle für die Entscheidung wesentlichen Informationen beinhalten.[109]

Aufgrund ihres fehlenden Rechtsanspruchs[110] und der fehlenden Appellationsmöglichkeit in Strafsachen[111] führten die Supplikanten abgesehen von verbüßten Strafen, nachträglich vorgebrachten Schuldrelativierungsgründen oder Unschuldsbehauptungen und kaiserlicher Gnadengewalt[112] kaum rechtliche Argumente für die Restitution an und pochten stattdessen auf ihre prinzipielle Gnadenwürdigkeit[113] (früherer guter Leumund, unschuldige Kinder etc.). Auch ging es in keinem der näher untersuchten Fälle darum, am Reichshofrat einen Zivilprozess mit Streitgegnern, Klage, Schriftsatzwechsel und Urteil – wie am Reichskammergericht[114] – anzustrengen. Die Funktionen des Kaisers als oberster Richter und als Inhaber der Gnadengewalt waren grundsätzlich miteinander verbunden[115] – und dennoch wurde sein Hofrat nicht in seiner Funktion als oberstes Gericht für Zivilsachen[116], sondern in anderer, gleichsam administrativ-exekutiver Funktion für „Gnadensachen“[117] aktiv.[118] Gnade demonstrierte und legitimierte Herrschaft[119], war also von zweifachem Nutzen.

Sofern eine kaiserliche Restitution und kein Fürbittschreiben erbeten wurde, folgten den Suppliken zumeist (wie bei Stumpf) ein Verweis auf die lokale Obrigkeit oder (wie in mehreren anderen Fällen) eine Nachfrage bei derselben mit der Bitte um einen Bericht; doch erst, wenn dieser positiv ausfiel, erging eine entsprechende Verfügung. Hierin zeigen sich gewisse Muster der Entscheidungspraxis.[120] Gleichwohl waren die endgültigen Schiedssprüche offen bzw. unvorhersagbar aufgrund der unterschiedlichen Darstellungen und Deutungen durch Supplikanten und andere Akteure[121], aufgrund der Wahrscheinlichkeit, dass sich die Parteien missverstanden, sowie aufgrund der Prozesshaftigkeit und Unwägbarkeit des Verfahrens mit allen unvorhersehbaren Einflussfaktoren und Folgen[122], weshalb die Kategorisierung als Entscheidungen entscheidungstheoretisch legitim ist.

V. Entscheidungszeit

Entscheidungen weisen prinzipiell eine Zeitdimension auf, die es wiederum nur in einer kulturspezifisch als fortschreitend wahrgenommenen Zeit geben kann[123], da etwas zuerst als entscheidbar gelten muss, um danach mit Auswirkungen auf die Zukunft entschieden werden zu können. Eine Entscheidung stellt dadurch eine Zäsur in der Zeit dar, die behauptetes Vergangenes in zukünftige Handlungsspielräume transformiert.[124]

Auf die Zeitdimension von Ehre verweisen die Ehrforschung[125] und die Soziologie der Reziprozität[126]. Sowohl als Bedeutung (und Bedeutungsüberschuss)[127] als auch als (Speicher-)Medium des sie reproduzierenden und transformierenden, Beziehungen und Vertrauen performativ herstellenden[128] Gabentauschs von Gnade gegen Gnadenwürdigkeitsgründe, die Entscheidungen begründen und damit legitimieren halfen, verfügte der Ehrstatus über eine jeweils bedeutungsstiftende Sachdimension (Verweis auf Sachen), Sozialdimension (Verweis darauf, wie Personen sich auf einen gleichen Sinn beziehen) und Zeitdimension (Verweis auf zeitlich Entferntes).[129] Während sich Beleidigungen auf vermeintlich vorangegangene Taten bezogen, vermeintlich Injurierte mit ihrer Unschuld und der Verleumdung durch ihre Gegner argumentierten oder Unehrliche auf frühere ehrliche Tätigkeiten und Berufschancen aufmerksam machten, verwiesen Delinquenten auf ihren früheren guten Leumund als Entscheidungsfolge und -ressource, weswegen man ihnen Vertrauen schenken könne[130], und versprachen künftig gutes Verhalten.[131] Ehre, bekanntlich eine Gabe bzw. ein Kredit in weiterem Sinne (Pierre Bourdieu)[132], erzeugte und demonstrierte wie Entscheidungen generell Sicherheit bei vorliegender Unsicherheit über Vergangenes und Zukünftiges. Aufgrund von erwartungserzeugenden Garantien oder „Sicherheiten“[133], die als Quidproquo die Entscheidung überhaupt wahrscheinlich machten, schrieb Ehre mehr zu, als bisher unter Beweis gestellt wurde[134]. Bitten um Neuentscheidung und die Temporalisation[135] des Ehrstatus bedingten einander wechselseitig. Das Entscheidbarmachen des Ehrstatus wurde also neben konkurrierenden Normen auch durch die Zeitdimension der Ehre bedingt. Dabei galt eine komplexe Vergangenheit der Delinquenten als plausibel.

Den Supplikanten ging es nicht um eine Urteilsrevision, sondern um die Beseitigung andauernder Sanktionen – um eine „Begnadigung“[136], allerdings von der Straftat und ihren Folgen. Denn allein die Erinnerung an einen Straftatsvorwurf konnte zu weiteren Gerichtsprozessen[137] und Exklusion führen.[138] Erbeten wurden nicht nur restitutiones famae, sondern mitunter auch eine absolutio ab infamia oder ab homicidio.[139] Die Absolution oder Erledigung (Befreiung)[140] gehörte somit zur „Semantik der Begnadigung“[141]. In der Causa Lukas Brenneisen erging gar als künftige Entscheidungsgrundlage die explizite Bitte, so zu tun, „alß ob er In ainicherlay verleumbdung, durch sollichen Vnfall nie khommen noch gerhaten were“[142]. Ein nicht erwartungskonformes vergangenes Verhalten sollte vergessen werden, wobei ironischerweise das Geschehene nochmals erwähnt wurde.[143] Da der Rechtsstatus vom makellosen Verhalten eines Mannes abhängig war und es immer darum ging, sich auf eine Erinnerung zu beziehen, brauchte es offizielles Vergessen, um jemandem vergeben zu können. Ehrrestitutionsverfahren verfügten dabei weniger über Entscheidungsnarrative[144], als sie mittels Geschichten Entscheidungen herbeiführen und qua Entscheidungen Geschichte verändern halfen.

Auch aus persönlichem Verhalten verlorene weibliche Ehre ließ sich durch die Erneuerung des „jungfräulichen Stands“ wiedererlangen, damit nota bene die „Schwängerung nicht vorgehalten“ werden könne; ebenso mit Schuldrelativierung und versprochener Besserung als „Sicherheiten“.[145]

VI. Geltung und Grenzen der Entscheidbarkeit

Der persönliche Ehrstatus, auch wenn er in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit wichtig war, war nicht in jeder Situation, allerdings oftmals entscheidbar. Der Blick auf seine kulturspezifische Entscheidbarkeit erlaubt den Vergleich verschiedener bisher zumeist getrennt behandelter Phänomene (berufsbedingte Unehrlichkeit, deliktsbedingte Ehrlosigkeit, Injurien) und schafft ein Verständnis für die sozialen Handlungsmöglichkeiten vormoderner Menschen, die, wenn es um einzelne andere und die eigenen Interessen ging, kaum versuchten, Entscheidungen zu vermeiden[146]:

Einzelne Personen konnten aufgrund von Entscheidungen über die Deutung berufsbedingten oder devianten Verhaltens ihre Ehre verlieren, dann aber mit Geschichten über entsprechende Normen und Zukunftsaussichten und mit obrigkeitlichen Entscheidungen Unehre abschütteln bzw. Ehraberkennung revidieren[147]; Frauen gelang es als Gruppe jedoch nicht, das außer Frage gestellte geschlechtsspezifische Vertrauensdefizit zurückzuerlangen. Denn humoralpathologisch betrachtet, würden Frauen ‚von Natur aus‘ über kältere und feuchtere Säfte verfügen als Männer, was sie weniger vertrauenswürdig und rechtsfähig mache.[148] Nur ein mehr oder minder ereignishaft-individualverhaltensbezogenes Ehrkonzept schloss aufgrund der Zeitdimension des resultierenden Ehrstatus und konkurrierender Verhaltensnormen die Möglichkeit mit ein, neu über den persönlichen Ehrstatus zu entscheiden und diesen zu verändern.

Zusammenfassung

Die diversen frühneuzeitlichen Fälle gewaltsamer (Raufhändel) und gerichtlicher Ehrverteidigung (Injurienprozesse) sowie der Ehrlichsprechung berufsbedingt unehrlicher oder devianzbedingt ehrloser Personen lassen sich mithilfe entscheidungstheoretischer Analysekategorien vergleichen und damit zusammenführen. Trotz geschlechterspezifisch unterschiedlicher Ehrkonzepte konnten sowohl straffällig gewordene Männer als auch entjungferte Frauen um Ehrrestitution bitten. Beleuchtet werden die Entscheidbarkeit des persönlichen Ehrstatus in verschiedenen Phasen eines Konflikts, seine Entscheidbarmachung, die Entscheidungsressourcen, die Entscheidungsmodi sowie die Entscheidungszeit. So zeigt sich, dass die entsprechende Benennungsmacht der den Ehrstatus Beurteilenden und konkurrierende Normen, die eine Kritik an der vorangegangenen Ehrzuschreibung erlaubten, zu den Entscheidungsressourcen zählten. Entscheidungsmodi konnten obrigkeitlich durchgeführte Verfahren, aber auch Einzelentscheidungen der Mituntertanen sein, die dabei keineswegs entscheidungsfaul erscheinen. Der persönliche Ehrstatus galt in all den Fällen als entscheidbar, in denen es um die auf das individuelle Verhalten bezogene Ehre ging, in der er also über die entsprechende Zeitdimension verfügte. Unter diesen Umständen konnte er durch liminalisierende Temporalisation, Gabentauschpraktiken und das Erzählen von Geschichten erneut entscheidbar gemacht werden.

Online erschienen: 2024-08-01

© 2024 Walter de Gruyter, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Aufsätze
  3. Die Entscheidbarkeit des persönlichen Ehrstatus frühneuzeitlicher Männer und Frauen. Konfliktsfälle im Vergleich
  4. Der Kaiser, das Berliner Schloss und der deutsche Kolonialismus
  5. „Trauer um die Juden“ Chinesische Intellektuelle und der Diskurs über den nationalsozialistischen Antisemitismus (1933–1949)
  6. John C. G. Röhl (1938–2023)
  7. Rezensionen
  8. Dipesh Chakrabarty, The Climate of History in a Planetary Age. Chicago, IL, University of Chicago Press 2021
  9. Peter Frankopan, Zwischen Erde und Himmel. Klima – eine Menschheitsgeschichte. Reinbek, Rowohlt 2023
  10. Christian Pfister / Heinz Wanner, Klima und Gesellschaft in Europa. Die letzten tausend Jahre. Bern, Haupt Verlag 2021
  11. Wolfgang Maderthaner, Zeitenbrüche. Sozialrevolutionäre Aufstände in habsburgischen Landen. Frankfurt am Main, Campus 2023
  12. Charlie Taverner, Street Food. Hawkers and the History of London. Oxford, Oxford University Press 2023
  13. Irina Marin, Kleine Geschichte des Banats. Umkämpfte Grenzen im östlichen Europa. Regensburg, Pustet 2023
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  65. Eingegangene Bücher
  66. Eingegangene Bücher
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