Startseite Das Strafrecht nach Claus Roxin
Artikel Öffentlich zugänglich

Das Strafrecht nach Claus Roxin

  • Luís Greco EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 8. September 2025

I. 443Nachruf?

Am 18. Februar 2025 hat Claus Roxin (geb. am 15. Mai 1931 in Hamburg) sich im Alter von 93 Jahren von uns verabschiedet. Über mehr als sechs Jahrzehnte hinweg – sein wissenschaftliches Debüt erfolgte mit der 1959 publizierten Dissertation über „Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale“[1] – hat er wie niemand sonst das Strafrecht der Bundesrepublik begleitet und mitgestaltet. Für alle am Strafrecht Interessierten verkörperte er so etwas wie das weltweite Gesicht der deutschen Strafrechtswissenschaft, ihre beste Seite[2], so dass die Vorstellung, dass es in der Zukunft ohne ihn weitergehen muss, auch Monate später immer noch schmerzt.

Dem Wissenschaftler, dessen Werk und Wirken bereits zu Lebzeiten ungewöhnlich zahlreich gewürdigt worden sind (im In-[3] und Ausland[4]) und der vor nicht 444allzu langer Zeit seine eigene Bilanz vorgelegt hat[5], galten bereits erste literarische Nachrufe[6], wie zu erwarten nicht lediglich in Deutschland[7]. Angesichts dieser Fülle von Äußerungen, die schon für sich genommen sowohl die wissenschaftliche Bedeutsamkeit als auch die persönliche Beliebtheit von Claus Roxin bestätigen, fragt sich, was in einem weiteren Nachruf, der sich nicht in einem Pflichtgestus zum verabschiedeten Freund und Lehrer, Kollegen und Mitherausgeber erschöpfen soll und darf, noch gesagt werden kann[8].

Die Antwort findet man im Werk von Claus Roxin selbst. Denn Roxins Ablehnung der rückwärtsgewandten, metaphysischen Vergeltung zugunsten einer durch die Schuld begrenzten Präventionstheorie (näher u. II. 2.) ist nicht lediglich ein akademischer Standpunkt in einem fachinternen Streit, sondern Ausdruck einer Lebenshaltung. In ihr kommt eine Zukunftsorientierung zum Ausdruck, ein vorsichtiger, aber selbstbewusster Optimismus, vertrauens- und hoffnungsvolle Lebenszuversicht. Bei der Bestrafung wie sonst im Leben sollen wir, so Roxin, unseren Blick nach vorn richten. In diesem Geist soll der vorliegende Nachruf also verfasst sein, so paradox es sich nun anhören mag; nicht als tabellarische Nacherzählung von Vergangenem, sondern als provisorische Zwischenstandmeldung, die Vergangenes und Gegenwärtiges vor dem Horizont der Zukunft miteinander in Beziehung zu setzen sucht.

445Als ich, noch als brasilianischer Jurastudent im 8. Semester, Claus Roxin im September 1999 in München erstmals begegnete, um ihn zu fragen, ob ich bei ihm promovieren dürfte, sagte er zwar „ja“, nannte aber eine Bedingung: „Wenn ich noch lebe...“[9]. Vor dem nahezu zwei Meter großen, dynamischen, kräftigen Mann stehend (also aus einer Entfernung von nahezu 50 Zentimetern), verstand ich (trotz der Entfernung von nahezu 50 Jahren) die Bedingung als nicht ernst gemeint, die Zusage in der Sache also als bedingungslos. Dass es mir vergönnt war, Roxins Kreativität und Energie – die bei ihm noch in der persönlichkeitspsychologisch seltenen Gesellschaft von Bescheidenheit, Freundlichkeit und Großzügigkeit auftraten – über viele Jahre hinweg aus nächster Nähe zu beobachten, bestätigte noch diesen Glauben, Claus Roxin sei sowieso unsterblich.

Der vorliegende Nachruf soll also einen Streifzug durch das strafrechtliche Lebenswerk von Claus Roxin bieten, das sich aber nur als lebendiges Werk verstehen lässt, dessen authentische Darstellung sich deshalb nicht mit der komprimierten (und selbstverständlich selektiven[10]) Wiedergabe des einst Erdachten zufriedengeben kann, sondern immer zugleich seine Bedeutsamkeit für heute und seine Potenziale für morgen ausarbeiten muss[11]. Ich möchte also zeigen, weshalb das Ereignis vom 18. Februar 2025, so schmerzhaft es sich immer noch anfühlt, an dem Glauben, den ich seit der ersten Begegnung im Jahr 1999 hege, nichts zu ändern vermochte.

II. Grundlagen des Strafrechts

Seit über knapp sechs Jahrzehnten tritt Roxin für ein liberales Strafrecht ein, das auf zwei Grundsäulen ruht: der Rechtsgutslehre und der präventiven Vereinigungstheorie.

1. 446Materieller Verbrechensbegriff: Rechtsgutslehre

Die Rechtsgutslehre – also die These, wonach das Strafrecht sich nicht um die Anforderungen einer höheren Moral oder um Bilder guten, gelungenen Lebens zu kümmern hat, sondern um Bedingungen eines friedlichen Zusammenlebens unter Freien und Gleichen – hat sich Roxin im Kontext der Strafrechtsreform der Nachkriegszeit zu eigen gemacht[12]. Dies erfolgte also zu einer Zeit, als der herrschende Standpunkt, der in dem von der Großen Strafrechtskommission vorgelegten Entwurf eines Strafgesetzbuchs von 1962 (E 1962) seinen klarsten Ausdruck fand, dahingehend lautete, dass es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sei, bestimmte Fälle „ethisch besonders verwerflichen und nach der allgemeinen Überzeugung schändlichen Verhaltens“[13] zu bestrafen. Der E 1962 konnte sich deshalb unter Berufung auf die „Reinheit und Gesundheit des Geschlechtslebens“[14] für eine Beibehaltung des Straftatbestands gegen männliche Homosexualität positionieren, sowie im Sinne einer Reihe weiterer Strafvorschriften wie künstlicher Befruchtung, Schwangerschaftsabbruch trotz kriminologischer Indikation und Ehebruch (§§ 203, 140, 193 E 1962), die alle unter Berufung auf die „sittlichen Grundanschauungen des Volkes“ legitimiert wurden[15].

Dem stellte Roxin entgegen, „dass dem Gesetzgeber die Befugnis, ein nicht rechtsgüterverletzendes Verhalten allein um seiner Unmoral willen zu bestrafen, überhaupt fehlt. ... Der Staat hat die äußere Ordnung zu wahren; den einzelnen moralisch zu bevormunden, hat er keinerlei Legitimation“[16]; und der von ihm mitverfasste Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs von 1966[17] hielt in einer unmittelbar nach dem nullum-crimen-Satz platzierten „Schlüsselnorm“[18] (§ 2 I) lapidar fest: „Strafen und Maßregeln dienen dem Schutz der Rechtsgüter und der Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft.“

447Der Standpunkt von Roxin, den er über Jahrzehnte bestätigt und vertieft hat[19] und der von so vielen mitgetragen wird[20], scheint vermehrt auf Unverständnis zu stoßen[21]. „Verhältnismäßigkeit“ und „Demokratie“ heißen die dagegen gerichteten Schlagworte, die auch von keinem Geringeren als unserem BVerfG in der Inzest-Entscheidung aufgegriffen wurden[22]. Einer Verhältnismäßigkeit jedoch, die die Androhung einer Strafe auf dieselbe Stufe stellt wie eine Volkszählung, entgeht etwas ganz Wichtiges: dass Strafe nämlich anders ist[23]. Und eine Demokratie, die Freiheiten mit dem Argument einschränkt, dies entspräche nicht der Moral der gerade tonangebenden Gruppe, untergräbt ihr eigenes Fundament, nämlich den Gedanken des freien und gleichen Bürgers, dem sein Bild des guten, gelungenen Lebens aufgegeben und nicht durch Strafzwang vorzugeben ist[24].

Hinter den zitierten Schlagworten dürfte sich nicht selten eine bestimmte Erwartungshaltung verbergen, die selten explizit zur Aussprache kommt. Man scheint anzunehmen, dass die Moral, gegen die Roxin und die AE-Bewegung auftraten, die 448repressive, verstaubte Moral der Adenauer-Zeit und des E 1962 sei, die, so glaubt man, in erster Linie aus Vorschriften über Sexualverhalten bestand. Unsere Moral dagegen sei die der Verantwortung und der Menschenrechte, der Nachhaltigkeit und Diversität. Die Rechtsgutslehre bräuchten nur diejenigen, die moralisch nicht so weit seien wie wir. Wir Aufgeklärten kämen bereits mit unserer aufgeklärten Moral aus.

Ich wage zu behaupten, dass sich die Rechtsgutslehre gerade in Zeiten wie den unseren bewährt – in Zeiten nämlich, in denen die eine herrschende Moral derart den öffentlichen Diskurs dominiert, dass sich eine freie im Sinne von ergebnisoffener Diskussion nur jenseits der Moral führen lässt[25]. Deshalb kann Claus Roxin den Straftatbestand gegen die Auschwitz-Lüge[26] ablehnen und dem strafbewehrten Verbot des Besitzes von Dopingmitteln[27] sehr kritisch gegenüberstehen, und dies mit derselben Entschlossenheit, mit welcher er in den 60er Jahren für die Abschaffung des Straftatbestandes über die männliche Homosexualität eintrat[28] – und dies wenige Jahre nachdem dasselbe Gericht, das heute für ein drittes Geschlecht[29] und Klimaschutz[30] eintritt, mit vergleichbarer Selbstsicherheit behauptet hatte: „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz“[31].

Erst die Rechtsgutslehre ermöglicht eine zeitgeistunabhängige und deshalb individuelle Freiheit ernstnehmende Kriminalpolitik. Ohne sie lässt sich die Selbstverständlichkeit, dass die Ablehnung eines Straftatbestands und die moralische Billigung des einschlägigen Verhaltens nicht ein und dasselbe sind, nicht mehr artikulieren, und ohne diese Selbstverständlichkeit ist gerade in einer Demokratie keine nüchterne Kriminalpolitik zu betreiben.

Nüchterne Kriminalpolitik ist nur zu einem geringen Teil Strafrechtspolitik. Roxin betont deshalb immer, dass der strafrechtliche Rechtsgüterschutz ultima ratio bzw. subsidiär sein muss, was zugleich bedeutet, dass man die Option Entkriminalisierung nicht aus den Augen verlieren darf[32]. Gerade wenn Teile der Wissenschaft häufig im Namen einer bundesverfassungsgerichtspositivistischen Zurückhaltung 449dabei sind, diese Forderungen beiseite zu legen[33], und wo sich die Praxis mit den wenig aufrichtigen prozessualen Notlösungen insbesondere der §§ 153, 153a StPO abgefunden hat, sollte der Impetus, den diese Maximen vor nicht allzu langer Zeit befeuerten und der zeitweilig wieder aufzukommen schien[34], im Roxin’schen Geist nicht aufgegeben werden.

2. Straftheorie: dialektische bzw. präventive Vereinigungstheorie

Die Straftheorie von Claus Roxin ist die geniale Lösung eines zentralen Dilemmas des liberalen Strafrechts, das sich nach einem Ausweg zwischen kompromissloser Vergeltung und politikfügiger Sozialverteidigung sehnen muss[35]. Der Einfall lautet, dass die Strafe durch Prävention begründet, durch die Schuld begrenzt wird[36]; wegen der gegenseitigen Begrenzung von Schuld und Prävention spricht Roxin von einer dialektischen[37] oder schlichter von einer präventiven Vereinigungstheorie[38]. Auch dieser Standpunkt wurde im AE 1966 festgehalten, der die Schuld nicht als „Grundlage“ für die Zumessung der Strafe bezeichnete (so der auf § 60 Abs. 1 E 1962 zurückgehende heutige § 46 Abs. 1 S. 1 StGB), sondern eine alternative Formulierung bevorzugte: „Die Tatschuld bestimmt das Höchstmaß der Strafe“ (§ 59 Abs. 1). Wir strafen, um künftigen Straftaten vorzubeugen; dabei beachten wir aber, dass wir niemanden über seine Schuld bestrafen. Wir strafen also, weil wir es leider nicht besser wissen, aus „bitterer Notwendigkeit“[39], mit „schlechtem Gewissen“[40], und nicht, weil Schuld bestraft gehört bzw. damit „die Blutschuld nicht auf dem 450Volke hafte“ (Kant)[41], und erst recht nicht, damit wir unsere moralische Überlegenheit gegenüber dem Rechtsbrecher öffentlich inszenieren.

Gerade aber aus einer solchen Inszenierung bestehen im Kern die neueren straftheoretischen Bemühungen im Sinne sogenannter expressiver Straftheorien[42]. Insbesondere in der Spielart, die ein „Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters“[43] postuliert, sprechen sie sich für ein Strafrecht aus, das seine Bitterkeit nicht mehr empfindet, sondern sich über sich selbst freut[44]. Roxins Bestehen auf Prävention in sorgfältiger Abgrenzung von Lehren, für die Strafe „an sich Vergeltung“ bzw. ein „sozialethischer Vorwurf“ sei[45], erinnert uns daran, dass der sog. Expressivismus in der Sache nur alter Wein in neuen, jetzt angloamerikanischen Schläuchen ist; es handelt sich um den Wein, den man seit der AE-Bewegung mit dem proklamierten Abschied von Kant und Hegel[46] nicht mehr trinken wollte, auf den man heute wieder eifrig deshalb zugreift, weil er mit dem Etikett eines feinen Importprodukts serviert wird.

Roxins Plädoyer für eine durch die Schuld begrenzte Prävention bleibt gerade auch gegenüber den zahlreichen Anläufen, den Vergeltungsgedanken wiederzubeleben[47], richtungsweisend. Denn dieses Plädoyer ist nicht nur, wie oben I. gesehen, Ausdruck einer Lebenshaltung, sondern zugleich eines Straf- und letztlich Staatsverständnisses, wonach die Strafe und auch der Staat den Menschen etwas zu geben haben, aber sie unseretwegen da sind, und nicht irgendeiner trüben, vergötzten Idee willen, wie beschönigend man sie auch nun benennen und raffiniert auch nun begründen mag – als Wiederherstellung eines Anerkennungsverhältnisses[48], als Bestätigung der Normgeltung[49], als Zwangserfüllung einer staatsbürgerlichen Mitwir451kungspflicht[50] oder als Resonanz[51]. Auch hier darf man sich nicht den Luxus der Geschichtsvergessenheit leisten: Die Vorauflagen dieser Lehren, die Roxin sein Leben lang bekämpfte, waren es, die etwa so lange die Strafaussetzung auf Bewährung blockierten[52] und das Zuchthaus stützten[53], und sie sind es allein, die die lebenslange Freiheitsstrafe immer noch zu tragen vermögen[54]. Ein Strafrecht mit menschlichen Zügen braucht auch eine andere, auf die Menschen gerichtete Rechtfertigung.

Die jüngere straftheoretische Diskussion, gerade in der erstaunlichen Vielfalt vergeltungsorientierter Konzepte, scheint das aus den Augen verloren zu haben, was für Roxin immer selbstverständlich war: Dass die Reflexion über die Straftheorie immer zugleich Praxis der Strafrechtsreform ist. Es ist bemerkenswert, wie sich die neueren Konzepte für die reelle Gestalt des strafrechtlichen Sanktionensystems bestenfalls marginal interessieren, während es für Roxin immer zugleich und wohl sogar primär um diese Implikationen geht – nach dem biblischen Motto „an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“[55]. Für uns heißt es, dass man sich auch mit den keineswegs als gering zu veranschlagenden Erfolgen der Abschaffung des Zuchthauses[56] und der weitgehenden Zurückdrängung der Freiheitsstrafe nicht zufrieden geben darf; die von Roxin und der AE-Bewegung auf dieser theoretischen Grundlage gewonnenen Forderungen im Sinne der vollständigen Abschaffung der kurzzeitigen Freiheitsstrafe[57], einer Erweiterung der Möglichkeiten der Ersetzung der Freiheitsstrafe durch Geldstrafe sowie der Bewährung[58] sollten nicht in Vergessenheit geraten. Der nächste notwendige Schritt zu einer im Roxin’schen Geist fortzuführenden Humanisierung der Strafe besteht darin, dass man die lebenslange Freiheitsstrafe wieder ins Visier nimmt und sich nicht durch die Beschwichtigungslösung des § 57a StGB beruhigen lässt[59].

III. 452Strafrechtsdogmatik

Das solide Fundament bewährt sich im Überbau – in den raffinierten Strukturen des dogmatischen Gebäudes, dem beeindruckenden System der Verbrechenslehre, das Roxin in Fortführung der deutschen Tradition in die Stufen Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld einteilt. In der Art und Weise, wie Roxin diese drei Kategorien mit Inhalt füllt, kommt ein klares methodisches Verständnis zu Tage, dessen Grundzüge vorab in Erinnerung zu rufen sind.

1. Methode: Kriminalpolitik und Strafrechtssystem[60]

Der Kerngedanke hinter Roxins Methode liegt darin, dass zwischen der allgemeinen, abstrakten Legitimation der Strafe einerseits und der konkreten Verhängung der legitimen Strafe im Einzelfall andererseits keine Lücke klaffen darf. „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“[61] haben Hand in Hand zu gehen. „Aus alledem wird klar, daß der richtige Weg nur darin bestehen kann, die kriminalpolitischen Wertentscheidungen in das System des Strafrechts so eingehen zu lassen, daß ihre gesetzliche Fundierung, ihre Klarheit und Berechenbarkeit, ihr widerspruchsfreies Zusammenspiel und ihre Auswirkungen im Detail hinter den Leistungen des formal-positivistischen Systems Lisztscher Provenienz nicht zurückstehen“[62]. Die straftatsystematischen Kategorien sind die juristische Operationalisierung kriminalpolitischer Legitimationsgrundsätze, d. h. insbesondere der o. II. beschriebenen Vorgaben, also dass es im Strafrecht um durch die Schuld begrenzten, präventiv ausgerichteten Rechtsgüterschutz gehen muss[63]. „Das Strafrecht ist vielmehr die Form, in der kriminalpolitische Zielsetzungen in den Modus des rechtlichen Geltens überführt werden“[64].

Roxin führte dieses methodische Verständnis in expliziter Auseinandersetzung mit dem seine Abhandlung eröffnenden Zitat von Franz von Liszt ein, der bekanntlich das Strafrecht als unüberbrückbare Schranke der Kriminalpolitik bezeichnet 453hatte[65]. Sein primärer Gegner war aber ein Konzept, das die Begriffe der Straftatlehre als Widerspiegelung einer vorrechtlichen Realität verstand, das insbesondere glaubte, aus einem vorrechtlichen, ontologischen Handlungsbegriff Rückschlüsse vor allem für die Lehre vom Tatbestand, damit zugleich für die Vorsatz- und Irrtumslehre herleiten zu können[66]. Dem hielt Roxin entgegen: „Solche Versuche sind deshalb prinzipiell aussichtslos, weil man mit Begriffen, die den rechtlichen Bedeutungsgehalten vorgelagert sind, um eben dieses Umstandes willen keine rechtlichen Probleme bewältigen kann. ... Was in einem Begriff nicht darinsteckt, kann man aus ihm auch nicht herausholen. ... Wenn man aus einem vermeintlich ontologischen Begriff wirklich einmal praktische Ergebnisse gewinnen kann, so liegt das daran, daß man unbemerkt die Rechtsinhalte in ihn hineinprojeziert hat, die man später wieder aus ihm ableitet“[67].

So radikal war die in diesen Passagen deklarierte Hinwendung zum „Normativen“[68] aber nicht gemeint. Vielmehr ging es Roxin immer um eine Synthese von Wertung und Wirklichkeit, Deduktion und Induktion, System und Problem[69], wie bereits in seiner Ausarbeitung des Systems der Beteiligungsformen erkennbar, bei der er sich maßgeblich von einer Realitätsstruktur, nämlich der Tatherrschaft in ihren verschiedenen Manifestationsformen, orientieren ließ (näher u. 2. b]), und auch darin, dass er offen im Sinne einer Sensibilität gegenüber dem „Widerstand der Sache“[70], also gegenüber der Eigenlogik des „Rechtsstoffs“[71] aussprach. „Wenn man dagegen den Phänomenen beschreibend nachgeht, ergibt es sich ganz von selbst, daß zwischen ihnen obwaltende Zusammenhänge sich von Schritt zu Schritt immer deutlicher enthüllen und zum Schluss ein aus der Sache gewonnenes System erkennen lassen, das den Rechtsstoff als eine sinnvoll gegliederte Einheit begreift“[72]. Auch die Entstehung einer Richtung, die in ihrer Ablehnung eines ontologischen Rückhalts der strafrechtsdogmatischen Begriffsbildung kompromisslos 454verfuhr[73], war für Roxin[74] sowie für seine Schüler[75] ein Anlass, den eigenen Standpunkt zu präzisieren. Von oben und von unten zugleich hat man zu arbeiten[76].

Gegen dieses methodische Verständnis wird immer wieder Kritik geäußert[77]; für eine Replik verweise ich auf bereits Geschriebenes[78]. Vorliegend begnüge ich mich, daran zu erinnern, dass Roxins Methode auf der Einsicht in die Komplexität der zu lösenden Sachprobleme selbst beruht. Angenehm wäre es, wenn sich diese im Wege einer Berufung auf eine „gesellschaftliche Bedeutung“[79] oder auf eine staatsbürgerliche Mitwirkungspflicht[80], auf eine Verhaltensnorm[81] oder gar auf einen „Tatbegriff“[82] von selbst lösen ließen. In Roxins Methode erkennt man nichts anderes als das nüchterne Eingeständnis, dass es nicht einfacher geht, und deren Ablehnung dürfte nicht selten als Selbstüberschätzung zu begreifen sein, die die Ergebnisse, die als Folgerungen aus den eigenen Prämissen präsentiert werden, in Wahrheit doch von woanders herhat.

2. Tatbestandslehre (und Täterschaft)

Die Tatbestandslehre, so wie wir sie heute kennen und tagtäglich handhaben, beruht geradezu doppelt auf Roxins Genie. Denn seinen Beiträgen ist es maßgeblich zu verdanken, dass uns Begriffe wie objektive Zurechnung und Tatherrschaft geläufig sind.

a) 455Objektive Zurechnung

Während Vertreter der ontologischen Richtung gegen frühere Entwürfe geltend machten, dass sich bloße Kausierungen nicht verbieten ließen[83], bewegt sich Roxin in dieselbe Richtung, aber von einem anderen Ausgangspunkt aus[84]. Denn Roxin denkt die strafbewehrten Verbote vom Anfang an von der Aufgabe des Rechtsgüterschutzes her. Aus dieser Perspektive befriedigt es ebenso wenig, dass man anstelle der Kausalität die ebenfalls ontologische Struktur der Finalität setzt; denn ein rechtsgüterschützendes Strafrecht richtet seine Verbote auf Verhaltensweisen, die für Rechtsgüter Gefahren schaffen. Tatbestandsmäßig handelt also allein derjenige, der (unerlaubt) eine Gefahr schafft, welche sich auch im Erfolg realisiert[85].

Diese Überlegungen, deren Implikationen von Roxin[86] und vielen anderen[87] bis ins Feinste ausgearbeitet wurden, haben sich durchgesetzt[88]. Wichtiger erscheint mir deshalb im vorliegenden Zusammenhang die Erinnerung, dass die Verwirklichung der unerlaubten Gefahr nicht erst dort bejaht werden sollte, wo ein hypothetisches rechtmäßiges Verhalten den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden hätte, sondern bereits dann, wenn es das Risiko des Erfolgseintritts vermindert hätte (so die von Roxin formulierte Risikoerhöhungslehre[89]). Zwar sieht dies die h. M. bekanntlich anders, unter Berufung auf zwei Argumente, die aber beide das zu Beweisende erst voraussetzen: Man meint, die Risikoerhöhungslehre verwandle Verletzungsdelikte in Gefährdungsdelikte und missachte den in-dubio-pro-reo 456Grundsatz. Ob Verletzungsdelikte eine Vermeidbarkeit oder eine Risikoerhöhung benötigen, ob Vermeidbarkeit des Erfolgs oder Risikoerhöhung Gegenstand des Beweises sind, das sind aber just die strittigen Fragen.

b) Tatherrschaft

aa) Zu den bleibenden und bekanntesten Leistungen von Claus Roxin gehört zudem seine Ausarbeitung des bis dahin kaum mehr als ein Schlagwort konstituierenden Begriffs der Tatherrschaft zu einem wahrhaften System der Täterschaftsformen. Seine Habilitationsschrift über „Täterschaft und Tatherrschaft“, deren elf Auflagen ein verlegerisches Unikum bleiben[90], ist das Lehrstück für eine von oben und unten zugleich arbeitende Strafrechtsdogmatik, die sich der Deduktion bedient, ihrer Grenzen aber immer gewahr bleibt. Denn Tatherrschaft als Kontrolle über das Ob und Wie der Tatbestandsverwirklichung kommt in verschiedenen Gestalten vor, in Entsprechung zu den verschiedenen im Strafrecht anerkannten Täterschaftsformen: als Handlungsherrschaft hinter der unmittelbaren Täterschaft, als funktionelle Herrschaft hinter der Mittäterschaft und als Willensherrschaft hinter der mittelbaren Täterschaft[91]. Und was diese Begriffe genau bedeuten, lässt sich nicht deduktivistisch runterberechnen, sondern nur am Rechtsstoff entfalten.

Die bewunderungswürdige Sorge um das Große wie das Kleine, die im Großen das Kleine und im Kleinen das Große sich immer zugleich vor Augen hält, zeigt sich nirgendwo besser als in der Präzisierung dieser Willensherrschaft, insbesondere bei der damals noch von vielen kaum als denkbar erachteten Konstellation eines Täters hinter dem vollverantwortlichen Täter[92]. Derselbe Roxin, der vor der Kleinarbeit am von ihm so genannten „Irrtum über den konkreten Handlungssinn“ (wobei es sich weniger um reelle als um erdachte Schulfälle handelt[93]) nicht zurückschreckt[94], entwickelt auch den internationalen Exportschlager mittelbare Täter457schaft kraft Organisationsherrschaft[95] (bei der es doch auf Realitäten ankommt, die man wohl lieber als gar nicht denkbar beiseiteschieben würde[96]).

Selbstverständlich sind auch all diese Konstruktionen Gegenstand wissenschaftlicher Kritik[97]. Soweit aber die Kritik für eine Überwindung der Figur der Tatherrschaft plädiert, leidet sie darunter, dass sie nichts Besseres anbieten kann, welches an deren Stelle den hinter § 25 StGB stehenden Gedanken zu widerspiegeln vermag. Deshalb muss jeder angebliche Verzicht auf die Tatherrschaft den Verdacht hervorrufen, man bediene sich doch ihrer, leugne es aber im Nachhinein. Man darf auch nicht vergessen, dass Täterschaft materiell nichts anderes ist als Tatbestandsverwirklichung[98]. Die Täterschaftsformen sind nur Explikationen dessen, was es heißt, jemanden zu töten oder eine Sache wegzunehmen[99].

bb) Die fundamentale Richtigkeit des von Roxin vorgelegten Täterschaftssystems heißt aber nicht, dass für die Zukunft lediglich eine Abwehrhaltung gegen Kritik oder haarspalterische Detailarbeit übrig blieben. Es finden sich nämlich drei Bereiche, in denen das Roxin‘sche Gebäude einer Erweiterung bzw. Vervollständigung zugänglich sein dürfte; zu zwei von ihnen hat Roxin selbst in den letzten zehn Jahren seiner Lebenszeit erste Impulse gegeben. Nebenbei: Die Bereitschaft, selbst 458nach nahezu 50-jährigem Nachdenken zu neuen Einsichten zu gelangen, ist ein weiterer Beleg für eine nur der Sache selbst verpflichtete wissenschaftlichen Redlichkeit[100].

(1) Die erste Erweiterung betrifft die Figur des sog. Pflichtdelikts, das in Roxins „Täterschaft und Tatherrschaft“ als Delikt verstanden wird, bei dem der Gesetzgeber das tatbestandsmäßige Verhalten als Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht umschreibt[101]. Wie Schünemann[102] aber überzeugend dargelegt hat, beruht die Figur des Pflichtdelikts auf der in der Nachkriegszeit noch herrschenden formellen Rechtspflichttheorie der Unterlassungsdelikte, die aber inzwischen und auch von Roxin selbst im zweiten Band seines Lehrbuchs[103] zugunsten einer materiellen, dem Rechtsgüterschutz verpflichteten Betrachtungsweise überwunden wurde. Auf Grundlage dieser durchweg Roxin‘schen Prämissen wird jede strafbewehrte Pflicht auch unabhängig von ihrem vermeintlichen Ursprung als Ausprägung einer tieferliegenden Herrschaft zu begreifen sein, freilich nicht einer allein der Begehung zugrunde liegenden Tatherrschaft, sondern einer „Herrschaft über den Grund des Erfolgs“, an der neben der Begehungs- auch die Unterlassungstäterschaft Anteil hat[104]. Erst nach diesem Schritt, den Roxin[105] in letzten Publikationen selbst zum größeren Teil vollzogen hat, wird sich das Strafrecht vom Pflichtverletzungsdenken, das in der Lehre vom Pflichtdelikt (aber nicht allein dort[106]) noch fortlebt, verabschieden können.

(2) Das zweite Feld, in dem Roxin selbst seine ursprüngliche Täterschaftsarchitektonik zu erweitern angeregt hat, betrifft die Straftatbestände, deren Tathandlung sich als eine persönliche Äußerung erweist. Hierzu hat Roxin in der Festschrift für Rengier vorgeschlagen, die strafbare persönliche Äußerung selbst als täterschaftsbegründend anzusehen[107]. Nicht der Sekretär also, der die Beleidigung oder Steuererk459lärung abtippt, bei der Post abgibt oder per E-Mail absendet, soll die einschlägigen Strafvorschriften der Beleidigung oder der Steuerhinterziehung täterschaftlich verwirklichen, sondern derjenige, dem diese Erklärungen im Rechtsverkehr „gehören“.

c) Zum Verhältnis von Gefahrschaffung und Tatherrschaft

Das dritte Feld führt über die Beteiligungslehre hinaus und verdient deshalb einen eigenständigen Abschnitt. Tatbestandsmäßig ist erst (unerlaubt) gefährliches Verhalten (o. a]); Täterschaft ist materiell Tatbestandsverwirklichung (o. b] aa]). Dort Schaffung (und Verwirklichung) einer unerlaubten Gefahr (innerhalb der Reichweite des Tatbestands), hier Entscheidung über das Ob und Wie der Tatverwirklichung. Sind diese Kriterien aber nicht womöglich mindestens teilweise dasselbe?

Offensichtlich nur teilweise: Denn auch der Teilnehmer und der Fahrlässigkeitstäter, die beide die Tat nicht beherrschen, schaffen eine unerlaubte Gefahr. Dass sich objektive Zurechnung und Täterschaft, Gefahrschaffung und Tatherrschaft dennoch berühren, wird spätestens daran erkennbar, dass es Konstellationen[108] gibt, am klarsten diejenigen, die unter der Rubrik der Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung kursieren[109], die sich sowohl mit der Gefahrschaffungs- als auch mit der Tatherrschaftssemantik lösen lassen.

Die Zukunftsaufgabe lautet m. E., diese zwei zentralen Gedanken der materiellen Tatbestandslehre Claus Roxins, die sich aber nicht lediglich bei ihm, sondern auch in der allgemeinen Diskussion und in den systematisch angelegten Darstellungen parallel und folglich auch getrennt voneinander entwickeln haben, doch materiell zusammenzuführen, insbesondere auszuarbeiten, was begründungslogisch primär ist, ob die objektive Zurechnung oder die Täterschaft, die Gefahr oder die Herrschaft[110].

3. 460Rechtswidrigkeit

a) Zu den einzelnen Rechtfertigungsgründen

Die Rechtswidrigkeitslehre von Roxin ist seit jeher in erster Linie Arbeit an einzelnen Rechtfertigungsgründen, zuerst an der Notwehr[111] und an der mutmaßlichen Einwilligung[112], getragen von einer Skepsis gegenüber monistischen Ansätzen zugunsten einer aufgeschlossenen Suche nach einer Vielzahl „sozialer Ordnungsprinzipien“, die sich ihrerseits hinter den jeweiligen Rechtfertigungsgründen manifestieren[113]. Diese Skepsis kann noch vertieft werden, und dies auf Grundlage einer Roxin’schen These, die in der gegenwärtigen Diskussion an Bedeutung verloren haben mag, aber auf eine tiefere Einsicht Licht wirft: Roxin besteht nämlich darauf, dass bei Rechtfertigungsgründen die strengen Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips, insbesondere ein auf der Wortlautgrenze basierendes Analogieverbot nicht gelten würden, was vor allem damit begründet wird, dass die Rechtfertigungsgründe keine strafrechtseigene Materie seien, sondern der gesamten Rechtsordnung entstammen[114].

Dieser über das Strafrecht hinausragende Blick zeigt letztlich, dass Rechtfertigungsgründe eigentlich archimedische Punkte in einem umfassenden System von Rechtspflichten bilden, das letztlich artikuliert, was wir dem Staat und vor allem den anderen alles schulden[115] – wann wir dazu verpflichtet werden können, Hausrecht und Eigentum, Leib und sogar Leben preiszugeben. Mein Plädoyer geht also in die Richtung, die Rechtfertigungslehre insbesondere von der Pflicht und das heißt zugleich (bei Individualrechtsgütern) vom Opfer her neu zu denken[116], dessen Freiheitssphäre durch den ihm eine Duldungspflicht auferlegenden Rechtsfertigungs461grund umdefiniert wird. Was dies konkret bedeutet, kann, ganz nach dem Vorbild Roxin’scher Skepsis, erst durch mühsame Arbeit an jedem einzelnen Rechtfertigungsgrund ergründet werden[117].

b) Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit

Mit dem Gesagten wird zugleich klar, wieso sich Roxin trotz seiner dezidierten Verteidigung eines zweigliedrigen, auf der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen basierenden Straftatmodells in seiner Dissertation[118] weniger Jahre später – bereits in der hier wiederholt zitierten Schrift über „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ – hiervon zugunsten des Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit trennenden, herrschenden Modells (wenn auch etwas zögerlich[119]) verabschieden musste[120]. Mit der Erkenntnis, dass Rechtfertigungsgründe Duldungspflichten begründen bzw. Freiheitssphären umdefinieren, geht die Einsicht in die eigenständige Bedeutung der einzelnen Rechtfertigungsgründe einher und damit zugleich das Bedürfnis nach einer Aufwertung der Rechtswidrigkeit als einer von der Tatbestandsmäßigkeit sich verselbständigenden Wertungsebene.

4. Schuld bzw. Verantwortlichkeit

Gerade bei der Kategorie der Schuld muss sich die Zusammenführung von Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik vollenden: „Die dritte unserer systematischen Grundkategorien – die Schuld – wird kriminalpolitisch von der Strafzwecklehre geprägt“[121]. Wenn die Schuld schon für die allgemeine Legitimation der Strafe nur notwendig, aber nicht hinreichend ist, müssen im konkreten Einzelfall neben einer Schuld des Täters noch zwingende präventive Gründe in dem Sinne bestehen, ihn zu bestrafen. Die Schuld wird deshalb erweitert zur Verantwortlichkeit; neben der Schuld im herkömmlichen Sinne betont Roxin die Bedeutung präventiver Belange[122].

462Um jeder Versuchung im Sinne einer Rückkehr zur Vergeltung vorab einen Riegel vorzuschieben, konzipiert Roxin die Schuld (im engeren Sinne) als innerweltlich-nüchterne „normative Ansprechbarkeit“[123] in der Tradition von Franz v. Liszt[124]. Insbesondere verzichtet Roxin auf jedes anspruchsvollere Bekenntnis zur Willensfreiheit, ohne welche aber eine Vergeltungstheorie kaum auskommen dürfte, vor allem weil er die Willensfreiheit als empirisch unbeweisbar ansieht[125]. Demgegenüber sei die normative Ansprechbarkeit, also die Fähigkeit, sein Verhalten nach Normen zu orientieren, eine „normative Setzung“[126], also eine konstitutive Komponente unserer gelebten sozialen Realität.

Auch hier gibt es keinen gangbaren Weg zurück hinter Roxin, was spätestens an dem vor nicht allzu langer Zeit entbrannten, inzwischen bereits beruhigten Streit über die Implikationen der Hirnforschung für das Strafrecht ersichtlich wurde[127]. Roxin muss sich von der angeblichen empirischen Widerlegung nicht lediglich der Willensfreiheit, sondern des Strafrechts nicht beeindrucken lassen[128], denn sein Strafrecht beruht nicht auf einer solchen in der Tat zweifelhaften Annahme. Vielmehr übersteht der Roxin’sche Standpunkt die Herausforderung sogar gestärkt durch die in der wünschenswerten Klarheit erst im Rahmen dieser Diskussion hervorgehende, Merkel und Bröckers zu verdankende Einsicht, dass sich Willensfreiheit nicht lediglich nicht beweisen, sondern wohl nicht einmal denken lässt[129].

463Auch im vorliegenden Bereich der Schuld bzw. Verantwortlichkeit bietet der Roxin’sche Rahmen Raum für Fortentwicklungen. Insbesondere ließe sich die Norm, um die es bei der „normativen Ansprechbarkeit“ geht, im Sinne der Strafandrohungsnorm präzisieren, also die nicht lediglich Liszt’schen, sondern letztlich Feuerbach’schen Wurzeln wiederfinden unter gleichzeitiger Überwindung der Binding’schen Fixierung auf eine von der Strafe losgelösten Verhaltensnorm[130]. Eine Lehre von der normativen Ansprechbarkeit als Ansprechbarkeit durch die Strafdrohung[131] könnte neue Einsichten bei der Schuld- bzw. Verantwortlichkeitslehre gelangen: etwa dass der Gegenstand des (nach Roxin ohnehin teilbaren und tatbestandsbezogenen[132]) Unrechtsbewusstseins die Strafbarkeit sein muss[133]; oder dass größere Teile des entschuldigenden Notstands in der Tat auf mangelnder Schuld und nicht lediglich auf einem Entfallen eines Präventionsbedürfnisses beruhen[134].

Aber selbst nach einer solchen vorsichtigen Anreicherung der Schuld wird man bei der Handhabung der gesetzlichen und gerade übergesetzlichen herkömmlich sog. Entschuldigungsgründen ohne präventive Belange nicht auskommen. Hierauf hat Roxin nicht lediglich hingewiesen, sondern auch konstruktive Vorschläge zur Artikulierung dieser Belange beim Notwehrexzess[135], zudem etwa bei der Gewissenstat[136] oder beim sog. übergesetzlichen entschuldigenden Notstand (den er zur Bewältigung problematischer Konstellationen wie der sog. Rettungsfolter[137] und des Abschusses gekaperter Flugzeuge[138] aktiviert) unterbreitet, an denen keine tiefere Reflexion in diesem Grenzbereich vorbeizukommen vermag.

IV. 464Anstelle eines Fazits

Der Streifzug ließe sich fortsetzen; denn vom Vorsatz als „Entscheidung für die Rechtsgutsverletzung“[139] und als „Planverwirklichung“[140], von der „konkretisierten Zwischenakttheorie“ (mit den Kriterien der Berührung der Opfersphäre und des engen zeitlichen Zusammenhangs[141]) als Maßstab für das unmittelbare Ansetzen und von der Verbrechervernunft[142] als Maßstab für die Freiwilligkeit des Rücktritts, von der „Unterlassung durch Tun“[143] und der „Kontrollherrschaft“[144], von der Wiedergutmachung als „dritter Spur“ des Strafrechts[145] war hier nicht die Rede[146]. Kaum ein Bereich unseres materiellen Strafrechts lässt sich benennen, der nicht von Roxin weiterführende Impulse erhalten haben wird.

Roxin hat die Geschichte der besten Seiten des Strafrechts der Bundesrepublik mitgeschrieben. Seine Impulse sind aber nicht lediglich Geschichte, sondern gegenwärtig. Denn das Strafrecht nach Claus Roxin ist ein Strafrecht für den Menschen, das in seiner kriminalpolitischen Dimension der eigenen, fortwährenden Reformbedürftigkeit gewahr bleibt, und in der dogmatischen Dimension sich vor dem 465Reichtum und Komplexität der Sachfragen nicht drückt. So sehr wie wir – Leser, Schüler, Freunde – ihn bereits vermissen und vermissen werden, bleiben Claus Roxin und sein Strafrecht uns erhalten, lebendiges Vorbild, nicht nur Erinnerung, sondern sichtbare, fühlbare Präsenz.

Denn Claus Roxin ist sowieso unsterblich.

Online erschienen: 2025-09-08
Erschienen im Druck: 2025-09-08

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 20.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zstw-2025-2009/html?lang=de
Button zum nach oben scrollen