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Religionskunde – Einblicke in einen verzwickten Diskurs

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Published/Copyright: June 30, 2025
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Zusammenfassung

Während der Mainstream der hiesigen Religionspädagogik das Konfessionalitätsprinzip perpetuiert, postuliert eine dominant auftretende Fraktion religionswissenschaftlicher Didaktik einen Unterricht, der an einer Eigenart des Religiösen nicht interessiert ist. In kritischer Auseinandersetzung mit beiden Positionen entwickelt der Artikel Konturen einer sach- und subjektorientierten Religionskunde, die Maßstäbe setzen kann für die Profilierung eines die Religion(en) erschließenden Schulfachs für sämtliche Schüler/innen, aber auch für die Fortentwicklung des jetzigen Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG.

Abstract

While the mainstream of religious pedagogy in Germany perpetuates the principle of confessionality, a quite assertive part of those in Germany practicing didactics rooted in religious studies postulates a kind of teaching that is not interested in the specific nature of religion. In a critical examination of these two positions, the article develops the contours of domain- and person-centered Religionskunde that can set standards for profiling a school subject that opens up religion(s) for all pupils, but also for the further development of the current religious education according to German Basic Law.

1. Anfragen an die religionspädagogische Fixierung auf einen konfessionellen Unterricht

Fast zehn Jahre ist es her, dass sich gut 150 Vertreter:innen der christlichen Religionspädagogik zur „Zukunft des Religionsunterrichts“ positioniert haben.[1] Entscheidender Auslöser war die unablässige Verschiebung religiöser Zugehörigkeiten, im Zuge derer der Bevölkerungsanteil von Christ:innen schmilzt, während jener von Muslim:innen, vor allem aber von Religionslosen zunimmt. Dieser Trend hat sich inzwischen zugespitzt, was sich etwa darin zeigt, dass die Quote der sich einer christlichen Kirche oder Gruppierung Zurechnenden laut ALLBUS-Umfragen zwischen 2016 und 2023 von 65 % auf unter 50 % gefallen ist.[2] Zugleich erodiert die Plausibilität bekenntnisorientierten Unterrichts. Beispielhaft verdeutlicht dies die 2022 erhobene Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung von EKD und DBK.[3] Ob die Kirchen den Religionsunterricht weiterhin „mitverantworten“ sollen, stößt hier auf ein gespaltenes Echo. Eine deutliche Mehrheit der Befragten spricht sich für ein Fach aus, das sich keiner „religiösen oder weltanschaulichen Richtung verpflichtet“ fühlt und somit eine konfessionelle Perspektivierung aufgibt. Ähnlich klar wird ein Unterricht befürwortet, in dem Schüler:innen „unterschiedlicher Religionszugehörigkeit gemeinsam unterrichtet werden“, was gegen eine konfessionelle Separierung spricht. Beide Items bejaht sogar die Mehrheit der Kirchenmitglieder. Offensichtlich hat das gegenwärtige Format des Religionsunterrichts also reichlich Kredit verspielt.

Solchem Plausibilitätsverlust zum Trotz votierte das genannte Positionspapier für einen „bekenntnisbezogenen, konfessionellen Religionsunterricht“, der allerdings in kooperative Formate umzuwandeln sei. Auch wenn sich somit Fenster zu einem ökumenischen oder gar interreligiösen Unterricht öffnen, hält der Mainstream der deutschsprachigen Religionspädagogik ungebrochen an einem Religionsunterricht fest, der gemäß Art. 7 Abs. 3 GG „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ wird. Zur Begründung wird angeführt, dass vermittels solch konfessionellen Unterrichts „religiöse Fragen und Themen […] in ihrer Eigenart als Lebensüberzeugungen“ und damit als Herausforderung für die „eigene religiöse Positionierung“ der Schüler:innen zutage träten.

Von vagen Forderungen abgesehen, die Kooperation mit den Alternativfächern des Ethik- bzw. Philosophieunterrichts zu suchen, lässt das Positionspapier von 2016 all jene Schüler:innen außer Acht, an denen der bekenntnisorientierte Unterricht vorbeigeht, weil sie keiner Religionsgemeinschaft zugehören. Bundesweit reicht die Quote der Religionslosen jetzt schon nahe ans Christentum heran (47,7 % versus 49,3 % der Gesamtbevölkerung lt. ALLBUS 2023[4]). Klar ist auf Zukunft hin absehbar, dass Religionslose zur Majorität werden, während der Anteil der Christ:innen – laut Freiburger Prognose zur Kirchenmitgliedschaft – bis 2060 auf ein Drittel der Gesamtbevölkerung stürzen dürfte.[5]

Im Sinne der positiven Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1–2 GG) garantiert Art. 7 Abs. 3 GG, dass jede:r Schüler:in an einem Unterricht teilnehmen kann, der von der je eigenen Religionsgemeinschaft mitverantwortet wird. Da solcher Bedarf aber immer seltener wird, entwickelt sich der im Grundgesetz noch als Regelfall angesehene konfessionelle Unterricht sukzessive zu einem Minderheitenprogramm. Die wissenschaftliche Religionspädagogik steht vor der Frage, ob sie ihre Energien auch künftig primär darauf richtet, dieses Minderheitenprogramm und damit die schwindende Klientel der dem Christentum zugezählten Schüler:innen zu bedienen, oder ob sie ihren Blick auf die gesamte Schülerschaft und dabei insbesondere auf die wachsende Gruppe der Religionslosen weitet. Ob ein solcher Paradigmenwechsel angesagt und notwendig ist, steht und fällt mit der Antwort auf die Frage nach einer universalen Bildungsrelevanz der Religion(en). Wird diese verneint, kann sich die Religionspädagogik guten Gewissens auf die Minorität derer konzentrieren, denen ein mit dem eigenen Bekenntnis verknüpfter Unterricht nahe liegt. Finden sich dagegen gute Gründe, allen Schüler:innen eine auf Religion(en) bezogene Bildung zuteil werden zu lassen, dann ist es unabdingbar, dass sich die Religionspädagogik als Wissenschaft vom religiösen Lernen und Lehren um verantwortete Unterrichtsformate kümmert, die Lernenden jedweder religiöser wie weltanschaulicher Prägung ermöglichen, sich bildend mit Religion(en) auseinanderzusetzen.

2. Religionskunde – Annäherungen an einen schillernden Terminus

Soll die konfessionelle Separierung auf einen die Religionen betreffenden Unterricht für sämtliche Schüler:innen aufgebrochen werden, ist solches nur denkbar durch ein bekenntnisunabhängiges Fach. Wie der konfessionelle Unterricht[6] darf dieses ein eigenes Bekenntnis der Lernenden weder voraussetzen noch einfordern oder anzielen. Die religiöse Freiheit der Schüler:innen ist unantastbar. Über dieses verbindende Merkmal hinaus unterscheidet sich ein bekenntnisunabhängiger Unterricht vom konfessionellen, insofern er (im Gegensatz zu Art. 7 Abs. 3 GG) ohne Mitentscheidungsrecht der Religionsgemeinschaften einzig vom Staat verantwortet wird und auch die Lehrkräfte auf kein bestimmtes Bekenntnis verpflichtet werden dürfen.

Worauf ein bekenntnisunabhängiger Unterricht zielt, welche inhaltlichen Schwerpunkte er setzt und wie er sich interaktionell und methodisch realisiert, entscheidet sich am Profil der ihm zugrunde gelegten Didaktik. Sofern diese Religion(en) in einer Weise zu thematisieren versucht, die sämtlichen Schüler:innen zugänglich und zuträglich ist, wird sie im deutschen Sprachraum als ‚Religionskunde‘ bezeichnet. Über den prinzipiellen Konsens hinaus, dass die besondere Perspektive einer bestimmten Religionsgemeinschaft nicht leitend sein darf, ist jedoch strittig, wie eine religionskundliche Didaktik verantwortet auszubuchstabieren ist.

Jahrzehntelang bedachte die theologisch verortete Religionspädagogik jegliche Religionskunde mit Abwertung. Ohne die allgemeinbildende Stoßrichtung geschweige denn differen(zier)te Positionen im religionskundlichen Diskurs zu würdigen, wurde jeder Zugang zu den Religionen, der nicht aus konfessioneller Perspektive erfolgt, als defizitär, weil relativierend und abstrakt diskreditiert.[7] Von Ausnahmen wie Otto Thimme[8], Gottfried Bitter[9] oder Gert Otto[10] abgesehen, der sich tatkräftig für das Brandenburger Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ einsetzte, scheute die Religionspädagogik eine gehaltvolle Auseinandersetzung mit religionskundlicher Hermeneutik und Didaktik. Erst in den letzten Jahren – und befeuert durch die sukzessive Einführung eines bekenntnisunabhängigen Religionsunterrichts in der Schweiz[11] – weicht diese Verweigerungshaltung auf, zumal immer offensichtlicher wird, dass es bis in die Kernklientel der formellen Christ:innen hinein weiten Teilen der Schülerschaft – wie der Bevölkerung überhaupt – an grundlegendstem Wissen wie Verständnis der Religionen, also an „religious literacy“[12], mangelt. Beteiligt sich die christliche Religionspädagogik nun am Diskurs um eine angemessene Religionskunde, liegt dem eine langjährige Verhärtung voraus, die im Postulat gipfelte, dass konfessioneller Unterricht per se „mehr als Religionskunde“[13] sei. Oft genug ersetzte solches Superioritätsgehabe eine kritische Auseinandersetzung mit den strittig gewordenen Prämissen des deutschen Konfessionalitätsprinzips. Jetzt allerdings, wo sich die religionspädagogische Community – zugegebenermaßen zaghaft – dem religionskundlichen Diskurs öffnet, haben sich weite Teile einer religionswissenschaftlich verorteten Didaktik (z. B. Wanda Alberts, Petra Bleisch oder Katharina Frank) auf ein dezidiert kulturorientiertes Verständnis von Religionskunde festgelegt, das in einem Grundsatzpapier der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft von 2023 gebündelt zutage tritt und im Habitus akademischer Expertise als unverrückbar – und somit dem Diskurs entzogen – definiert wird.[14] Einig ist sich die religionskundliche Szene freilich dennoch nicht, erkennbar abweichende Akzente setzen neben auf einer „Besonderheit des religiösen Phänomens“[15] beharrenden Wissenschaftler:innen (z. B. Wolfgang Gantke oder Udo Tworuschka) gerade auch Expert:innen, die an Schnittstellen zur Unterrichtspraxis arbeiten (z. B. Eva-Maria Kenngott oder Petra Lenz). Die angelsächsischen Religious Studies scheinen ohnehin pluraler als die zur Homogenisierung neigende deutschsprachige Religionswissenschaft.[16]

3. Konsense und Streitpunkte im religionskundlichen Diskurs

Wie angeführt, bezeichnet der Terminus ‚Religionskunde‘ die Didaktik einer bekenntnisunabhängigen Annäherung an Religion(en). Zum kleinen Einmaleins jeder Fachdidaktik gehört es, nicht geradewegs aus den korrespondierenden Fachwissenschaften abgeleitet werden zu können. Fachdidaktische Konzepte bedürfen der Reflexion, was im Lichte bestimmter Domänen warum bildungsrelevant sein und werden kann. Somit besitzt keine der mit den Religionen befassten Fachwissenschaften ein automatisiertes Anrecht, die Konturen eines bekenntnisunabhängigen Unterrichts zu bestimmen. Religionskundliche Didaktik ist nicht die verlängerte Werkbank von Theologie, Philosophie oder Religionswissenschaft. Was eine verantwortete Religionskunde ausmacht, muss vielmehr didaktisch reflektiert und entschieden werden. Unterricht als in sozialen wie kulturellen Kontexten sich vollziehende Kommunikation verstehend, im Zuge derer sich Subjekte mit als bildungsrelevant qualifizierten ‚Sachen‘ auseinandersetzen, sind Vorverständnisse und Einsichten der Fachwissenschaften ins Verhältnis zu setzen zu den Akteur:innen, Zielhorizonten und Gelingensbedingungen, die schulisches Lehren und Lernen präfigurieren und konstituieren.

Darum wissend, dass keine der die Religion(en) betreffenden Wissenschaften uniform ist und simplifizierende Kontrastierungen an der inneren Pluralität von Theologie, Philosophie oder Religionswissenschaft ebenso vorbeigehen wie an den jeweils verknüpften Fachdidaktiken, gilt es mit Blick auf einen bekenntnisunabhängigen Religionsunterricht nach Konsensen und Streitpunkten Ausschau zu halten. Welche Varianten gibt es also und welche Weichenstellungen stünden an, wollte man „den heranwachsenden Generationen“ in einem obligatorischen Fach für alle „eine religiöse Grundbildung zukommen […] lassen“[17]?

3.1 Worum geht es in der Sache?

Spontan mag man annehmen, dass sich Religionskunde (analog zu vielen anderen Schulfächern wie Literatur-, Musik-, Kunst- oder Mathematikunterricht) an einer besonderen Domäne und deren eigener Sachlogik abarbeitet. Genau dieses aber, eine Eigenart des Religiösen, interessiert eine Didaktik nicht, die sich einer „sich kultur- und sozialwissenschaftlich verstehende[n] Religionswissenschaft“[18] verpflichtet weiß. Im Bestreben, Religion(en) „aus einer säkularen Perspektive“[19] zu erfassen, konzentriert sich solche Didaktik auf empirische Beobachtungen, die religiöse Traditionen als vielfältig, historisch wandelbar sowie kulturell geprägt erweisen[20], was ja zweifellos der Fall ist. Unter der Prämisse, dass Religion „beständig neu sozial konstruiert und individuell wie gesellschaftlich angeeignet“[21] wird, wird als Kernziel eines bekenntnisunabhängigen Unterrichts ausgegeben, besagte „Konstruktionsprozesse von Religion“[22] zu erkennen, zu vergleichen und zu analysieren. Dass religiöse Insider in dergestalt beobachteter Religion bei aller Vielfalt, Wandelbarkeit und Kulturalität weit mehr zu erfahren meinen als „von Menschen hervorgebrachte“[23] Konstruktionen, nämlich eine (wie auch immer deklinierte) „alles bestimmende Wirklichkeit“ (Wolfhart Pannenberg), ist für eine streng kulturwissenschaftlich orientierte Religionskunde irrelevant. Entscheidender Gesichtspunkt, unter dem Religionen in den Blick rücken, ist deren soziale Konstitution und Kontingenz. Insofern Religion einzig als Epiphänomen sozialer, geschichtlicher und kultureller Entwicklungen angesehen wird, ist das in den Religionen Gesagte, die fides quae, belanglos. Mit religiösen Lehren befasst sich der Unterricht nur, insofern darin die kontingente Vielfalt der Religionen entgegentritt, nicht aber, weil diesen auch nur verdachtsweise ein epistemischer Wert zugetraut würde, den es zu realisieren und reflektieren lohne.[24]

Ohne Zweifel kommt einer kulturwissenschaftlich definierten Fachdidaktik das Verdienst zu, für die innere Pluralität der Religionen zu sensibilisieren und als Essentialisierung gebrandmarkten Stereotypen entgegenzuwirken. Obgleich besagte Strömung die deutschsprachige Didaktik eines bekenntnisunabhängigen Unterrichts zu monopolisieren sucht, kann der ‚Gegenstand‘ religionskundlicher Bildung auch ganz anders gefasst werden. Zentrale Prämisse solch alternativer Konzeptionen ist es, dass sich Religion gerade nicht darauf beschränke, soziale, historische und kulturelle Entwicklungen widerzuspiegeln. Vielmehr verkörpere Religion einen ureigenen, nicht austauschbaren ‚Modus der Weltbegegnung‘[25], vermittels dessen sich Menschen (wie durch die Philosophie) den letzten, unbeantwortbaren und doch beantwortet werden wollenden Fragen ihres Daseins stellen, indem sie (im Gegensatz zur Philosophie) auf eine uneinholbare, göttliche Transzendenz ausgreifen. Eine von kulturwissenschaftlicher Fixierung sich abgrenzende Religionskunde hegt den Optimismus, dass der durch seinen radikalen Transzendenzbezug gekennzeichnete Wirklichkeitszugang der Religion(en) Erkenntnispotenziale berge, die keineswegs nur gläubige Insider, sondern jedweden Menschen bereichern können. Weil Religionen solch bildungsrelevante ‚Ressourcen‘[26] bergen, müsse sich der bekenntnisunabhängige Unterricht über soziale, historische und kulturelle Rahmenfaktoren hinaus dem Religiösen selbst zuwenden:

„Das aus bildungstheoretischer Sicht entscheidende Argument besteht darin, die Eigenlogik des Religiösen zu betonen und in der Religion eine Reflexion auf und eine Erfahrung mit Transzendenz zu lokalisieren, die nicht substituierbar ist. Zunächst steht also im Zentrum religiöser Bildung, diese Besonderheit von Religion und religiöser Erfahrung verstehbar zu machen […]. Im Mittelpunkt religionskundlichen Lernens steht […], Religion und Religionen verstehen zu lernen, also eine hermeneutische Kompetenz.“[27]

Verstehen kann religiöse Eigenlogik nur, wer ihr authentisch begegnet. Zwingend bedarf eine auf Verständnis des Religiösen zielende Religionskunde somit der Rückkopplung an den gelebten wie gelehrten Glauben konkreter Menschen und ihrer Gemeinschaften. Deren Binnenperspektiven sind wohl bedacht zu verschränken mit den Außenperspektiven jener, die das in mannigfaltigen Traditionen und Strömungen sich manifestierende Religiöse begreifen wollen.

3.2 Worum geht es bei den Subjekten?

Bei allem Zwist über die ‚Sache‘ des Unterrichts sind sich religionskundliche Ansätze jeglicher Couleur darin einig, dass Schüler:innen im bekenntnisunabhängigen Unterricht die Religion(en) betreffende Kenntnisse erwerben sollen (learning about religion). Was Schüler:innen nun damit anfangen und inwiefern sie das über die Religionen Gelernte in bildendem Sinne mit ihren eigenen Weltsichten korrelieren sollen, darüber herrscht Uneinigkeit. Insofern sich eine auf die Wandelbarkeit, Vielfalt und Kulturalität von Religionen fixierte Religionskunde erst gar nicht dafür interessiert, wie Religionen die ‚großen Fragen‘ des Menschseins bearbeiten und bewältigen, scheidet für solche Ansätze aus, dass Schüler:innen die Akte und Aussagen der Religion für ihre solch ‚große Fragen‘ betreffende Wahrheitssuche nutzbar machen. Unterricht dieser Prägung dispensiert sich von Lernprozessen, welche die eigene Selbstvergewisserung und Lebensorientierung berühren (learning from religion), was so weit reicht, dass persönliche (Glaubens-)Überzeugungen der Schüler:innen ausgeblendet werden sollen:

„Der Religionskundeunterricht schliesst die Behandlung von Fragen nach dem Lebenssinn, nach dem richtigen Handeln in der Welt, nach eigenen Werten und der Identität der Schülerinnen und Schüler aus und verweist diese an die Philosophie und den Ethikunterricht oder an die Theologien und den jeweiligen religiösen Unterricht.“[28]

So wichtig es einer am religiösen Proprium interessierten Religionskunde ist, vielfältige Formen und Gehalte der Religionen zu erkunden, lässt sie es doch nicht mit deren Beschreibung und Analyse (learning about religion) bewenden. Zielpunkt bekenntnisunabhängigen Unterrichts sei vielmehr, dass sich Schüler:innen mit Blick auf die ‚großen Fragen‘ in ein eigenes, bestmöglich begründetes Verhältnis zu dem setzen, was ihnen im gelebten und gelehrten Glauben anderer Menschen begegnet (learning from religion). Religionskunde gestaltet sich somit (analog zur Theologie und Philosophie) als hermeneutisches Projekt, in dem Eigenes mit Fremdem konfrontiert wird, und als Ringen um eigene Erkenntnis, was damit konvergiert, dass Religionen überhaupt als potenzielle und kritisch zu prüfende Erkenntnisquelle wertgeschätzt werden.

3.3 Wie Pluralitätsfähigkeit fördern?

Alle religionskundlichen Ansätze eint das Bestreben, durch die Befassung mit Religion(en) zu einem friedlichen Zusammenleben in einer (auch religiös) pluralen Gesellschaft beizutragen. Der kulturwissenschaftliche Approach setzt dabei offensichtlich auf die Einsicht, dass es sich über (und zwischen) Religionen nicht zu streiten lohnt, da sie in formaler Hinsicht allesamt zeit-, gesellschafts- und kulturbedingt seien. Diese Strategie einer „säkular-wissenschaftlichen“[29] Parallelisierung wirft allerdings die Frage auf, ob reflektierte Toleranz unter Ausklammerung existenzieller und inhaltlicher Aspekte möglich ist. Lässt sich mit Anderen tatsächlich gut zusammenleben, indem man sich darum drückt, was diesen wichtig ist? Für eine am Religiösen interessierte Religionskunde können religiöse (wie säkulare) Lebensorientierungen nur geachtet werden, wenn deren je besondere Sprachen, Gedanken und Überzeugungen Beachtung finden. Reflektierte Toleranz bedarf somit materialen Verstehens, auch wenn sie sich darin längst nicht erschöpft.[30]

3.4 Was bedeutet es, die Religionsfreiheit zu achten?

Zweifelsohne kann ein die Religionen betreffendes Schulfach nur dann obligatorisch sein, wenn es die Religionsfreiheit der Lernenden und Lehrenden achtet. Wie der konfessionelle muss auch der bekenntnisunabhängige Unterricht die Bekenntnisfreiheit der Schüler:innen respektieren. Anders als im konfessionellen Unterricht darf aber auch den Lehrkräften kein Bekenntnis abgefordert werden. Tabu bleibt schließlich jede rechtliche Zuständigkeit der Religionsgemeinschaften.

Um eine strikt kulturorientierte Religionskunde als alternativlos zu legitimieren, interpretieren deren Vertreter:innen die Religionsfreiheit in restriktiver Weise. Das Recht auf negative Religionsfreiheit wird demzufolge nicht erst verletzt, indem Lernende zu einem Bekenntnis genötigt werden. Als unzumutbar gilt vielmehr schon, wenn sich Lernende substanziell mit Religion(en) befassen sollen, indem sie sich in die Perspektive gläubiger Menschen versetzen, um das dabei Erfasste dann aus eigener Sicht zu reflektieren.[31] Wird aber Perspektiveneinnahme und eigenes Urteil aus dem Lernen ausgeschlossen, dann katapultiert sich Religionskunde gegenüber jeder anderen Domäne schulischen Unterrichts in eine Sonderrolle.[32] Niemand käme auf die Idee, es sei übergriffig, wenn sich Schüler:innen in ein literarisches Werk, in ein Musikstück, in eine geschichtliche Quelle oder einen mathematischen Lösungsversuch hineinversetzen, um aus solcher ‚Entfremdung‘ heraus zur eigenen Identität zurückzukehren. Die Annäherung an fremde Sinnbestände zum Zwecke der kritischen Prüfung und eigenen Positionierung ist konstitutiv für jegliche Bildung – auch und gerade in der Schule. Diese bildende Grundbewegung als Verletzung der negativen Religionsfreiheit zu brandmarken, mutet somit waghalsig an, sofern Schüler:innen nicht – und auch nicht performativ! – zu Identifikationen gedrängt werden. Eine am Religiösen interessierte Religionskunde erachtet die Vertiefung in religiöse Sinnwelten nicht als Verletzung persönlicher Rechte, sondern als Bedingung der Möglichkeit sachgerechten Verstehens, das „auch den Verstehenden nicht unberührt lässt“[33]:

„Wenn das Neutralitätsgebot auf Inhalte angewendet wird, die für das Verständnis des Zusammenhangs zentral sind, wird die Religion auf unsachgemässe Weise ‚didaktisch zivilisiert‘. […] Man gerät so tatsächlich in die Sackgasse einer sterilen Religionskunde. Vor allem aber widerspricht die Eliminierung zentraler Glaubensgehalte dem Ansatz einer sachorientierten Religionskunde.“[34]

Während der kulturfixierte Approach die negative Religionsfreiheit überdehnt, lässt er kaum Raum für positive Religionsfreiheit.[35] Religiöse Überzeugungen (auch der Schüler:innen) finden nämlich allenfalls Beachtung, insofern sie in die analytische „Metaperspektive“[36] säkularer Wissenschaften gerückt werden. So aber werden sich als gläubig verstehenden Menschen innerhalb wie außerhalb des Klassenzimmers exmanente Denkmuster übergestülpt, denen gegenüber religiöse Binnenperspektiven als inferior und irrelevant erscheinen:

„The insider/outsider dichotomy is an unhelpful consequence of a modernist view of self and society […] in which ‚secular reason has been placed in a position of supervision in respect of any possible inquiry into religion‘“[37].

Mit der „Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ (Art. 4 Abs. 1 GG) scheint solche Abwertung nur schwerlich vereinbar.

4. Auf dem Weg zu einem integrativen Fach, das Lebensorientierungen mehrperspektivisch beleuchtet

Wie aufgezeigt, beharrt der Mainstream theologisch verorteter Religionspädagogik darauf, die schwindende Klientel religiös gebundener Schüler:innen auch zukünftig mit konfessionellen Unterrichtsformaten zu versorgen. Billigend wird in Kauf genommen, dass dem rasant wachsenden Anteil religionsloser Schüler:innen am Orte der öffentlichen Schule eine religiöse Grundbildung versagt bleiben wird, die eines bekenntnisunabhängigen Faches für alle bedürfte. Mag dessen reale Etablierung zum jetzigen Zeitpunkt auch unwahrscheinlich sein, ist es einer über zerbröselnde Selbstverständlichkeiten hinausblickenden Religionspädagogik doch aufgetragen, sich hier und jetzt zu vergewissern, wie eine verantwortete Religionskunde aussehen kann und sollte. Kritisch gilt es sich dabei mit den Versuchen auseinanderzusetzen, einen Ansatz zu monopolisieren, der Religion(en) auf soziale, historische und kulturelle Bedingtheiten verengt. Betrachtet man Religion(en) einerseits als eigenständige Option, das kontingente Dasein deutend zu bewältigen, und erachtet man sie andererseits in Ausdruck und Gehalt als kennens- wie prüfenswert, so bedarf es religionskundlicher Zugänge, die Religionen in ihren besonderen Gestalten und Gehalten gleichermaßen rekonstruieren wie reflektieren – und somit religiöse Binnen- und Außenperspektiven in bildender Absicht verknüpfen.

Dringlich wäre ein Schulfach, welches die ‚großen Fragen‘ des Menschseins – im korrelativen Sinne[38] – aus pluralen Perspektiven beleuchtet, um Schüler:innen zur verantworteten Bearbeitung und Bewältigung eigener Lebensherausforderungen zu befähigen. Wie in den vom Europarat initiierten „Signposts“ gefordert, müssten dabei religiöse und säkulare Lebensorientierungen gleichermaßen zur Geltung kommen.[39] Zur wissenschaftlichen Flankierung wäre neben der Philosophie auch ein breites Bündnis von sich mit Religion(en) befassenden Disziplinen hilfreich, das – analog zu den Religious Studies – unterschiedliche Strömungen der Religionswissenschaft und einer (von konfessionellen Zwängen entschlackten!) Theologie einschließt.

Sollte sich der Alleinvertretungsanspruch einer die Binnenlogik der religiösen ‚Sache‘ ebenso wie die Positionierungen der lernenden Subjekte ausklammernden Fachdidaktik durchsetzen, ist sicherlich zu fragen, ob es nicht letztlich verantwortbarer ist, keinen bekenntnisunabhängigen Unterricht vorzusehen als ein Fach, das an einer verständigen Urteilsbildung vorbeigeht. Den Versuch aber ist es allemal wert, jetzt endlich auch religionspädagogisch um einen obligatorischen Unterricht zu ringen, der es ausnahmslos jedem Schüler und jeder Schülerin ermöglicht, Religion(en) in ihrer ureigenen Gestalt und Inhaltlichkeit kennen und verstehen zu lernen, um sich daraus selbst einen begründeten Reim zu machen. Solange kein allgemeiner Unterricht solchen Zuschnitts in Sicht ist, sollte sich zumindest der konfessionelle Religionsunterricht am religionskundlichen Anspruch messen, die ‚Sache‘ von Christentum und anderen Lebensorientierungen in einer Art und Weise authentisch darzubieten, die alle Schüler/innen guten Willens erreichen und bereichern kann.

Online erschienen: 2025-06-30
Erschienen im Druck: 2025-05-27

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Beiträge
  4. Religionskunde – Einblicke in einen verzwickten Diskurs
  5. Religionskunde – Status Quo und Potential im deutschen Kontext
  6. Religionskunde – Kann sie die gegenwärtigen Herausforderungen des Religionsunterrichts lösen?
  7. Religious Education in Sweden – Current Developments and Challenges
  8. Religionsunterricht in der Schweiz – religionskundlich oder religionsbezogen? Ein religionswissenschaftlich-theologischer Dialog
  9. Aus der Forschung
  10. The Theological Turn of Gert Biesta – Towards an Eschatological Education
  11. Aktuelle Perspektiven und Herausforderungen der Promotion in der Gemeindepädagogik. Eine Untersuchung der Studierenden an konfessionellen Hochschulen für angewandte Wissenschaften
  12. Rezensionen
  13. Evelyn Krimmer: Das Schülerbild der Religionspädagogik. Eine kritische Analyse der Konstruktion von Schüler:innen im Religionsunterricht, Paderborn: Brill Schöningh 2024, 412 S., € 99.00.
  14. Christiane Caspary / Daniela Zahneisen (Hg.): Wenn der Tod im Klassenzimmer ankommt. Tod und Trauer in der Schule – (religions-)pädagogische Perspektiven. Stuttgart: Kohlhammer 2022, 298 S., € 24,00.
  15. Dorothea M. Salzer: Mit der Bibel in die Moderne. Entstehung und Entwicklung jüdischer Kinderbibeln. Studia Judaica; 122, Berlin/Boston 2023, 367 Seiten, e-book und gebundene Ausgabe je 109,95 Euro.
  16. Arnulf von Scheliha/Hinnerk Wißmann, Religionsunterricht 4.0. Eine religionspolitische Erörterung in rechtswissenschaftlicher und ethischer Respektive. Tübingen (Mohr Siebeck) 2024, 182 S., € 19,00.
Downloaded on 20.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zpt-2025-2015/html
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