Zusammenfassung
Die numerische Inkongruenz zwischen einem Subjekt im Singular und einem Verb im Plural, die für das Nomen λαός häufig belegt ist, wird bei der Deutung von Lk 20,19 gemeinhin nicht berücksichtigt. Wenn diese numerische Inkongruenz der Übersetzung bzw. dem Textverständnis zugrunde gelegt wird, hat dies grundsätzlichen Einfluss darauf, wie das Handeln der beteiligten Personen bzw. Personengruppen verstanden wird.
Abstract
An incongruence in the numerus between the subject and the verb of a Greek sentence may occur when the subject represents a collective entity composed of many individuals. This applies, for instance, to λαός. This fact has not been considered in interpretations of Luke 20,19. The possibility of such a numerical incongruence has significant implications for the narrative and the perceived behavior of the individuals within the pericope.
Einleitung
Gemeinhin sieht man in Lk 20,19 die Schriftgelehrten und Hohepriester als das Subjekt des Satzes am Ende dieses Verses (ἔγνωσαν γὰρ ὅτι πρὸς αὐτοὺς εἶπεν τὴν παραβολὴν ταύτην). Die Satzstruktur des gesamten Verses wirkt dabei hölzern. Schließlich wird die Erkenntnis der jüdischen Autoritäten, dass Jesus dieses Gleichnis auf sie hin gesprochen habe, erst erwähnt, nachdem bereits deren Furcht vor dem Volk thematisiert worden ist. Diese wahrgenommene Unebenheit des Textes führt dazu, dass z. B. die Lutherbibel 2017 eine adversative Konjunktion bei der erwähnten Furcht in den Text einfügt, deren Ergänzung gegen den griechischen Ausgangstext erfolgt.[1] Andere Bibelübersetzungen gehen freier mit der biblischen Vorlage um und ziehen diesen letzten Satz zusammen mit der zu ihm gehörenden Hypotaxe einfach nach vorne.[2] In der New Revised Standard Version Updated Edition (NRSVUE) wird deutlich, wie eine solche Umstellung in den möglichen Sinn des Textes eingreift: „When the scribes and chief priests realized that he had told this parable against them, they wanted to lay hands on him at that very hour, but they feared the people.“ Bereits diese Umstellung wirft die Frage auf, ob es eine andere Möglichkeit gibt, den Text zu verstehen.
Auch in der exegetischen Literatur gilt meist als sicher, dass die Schriftgelehrten und Hohepriester anwesend sind[3] und deswegen dieses Gleichnis auf sich beziehen.[4] Michael Wolter betont, dass „das begründende (ἔγνωσαν) γάρ in 19c sich nur auf 19a beziehen kann.“[5] Und Christfried Böttrich bemerkt im Rahmen seiner Einleitung in die Passage: „Nun ist wieder das Volk Adressat und die Pharisäer sind die stummen Zuhörer.“[6] Folglich sind es für ihn auch die jüdischen Autoritäten, die den Text auf sich beziehen: „Die Schriftgelehrten und Hohenpriester begreifen, dass die polemische Spitze dieser Geschichte gegen sie gerichtet ist (20,19). In der Reihe der Streitgespräche nimmt das Gleichnis somit den Fehdehandschuh aus 20,1 auf und konfrontiert die Opponenten mit ihrer Verantwortung, der sie nicht gerecht werden.“[7] Dabei kann das Winzergleichnis allerdings auch dahingehend verstanden werden, dass die Hohepriester, Schriftgelehrten und Ältesten durch den Zwölferkreis ersetzt werden,[8] während die jüdischen Autoritäten als „verhärtet“ wahrgenommen werden.[9]
Das Problem, dass die jüdischen Autoritäten von Lukas nicht als Teil der Adressaten der Rede Jesu verstanden werden, löst Böttrich durch die Annahme, sie seien in Hörweite geblieben.[10] David Lyle Jeffrey nimmt an, dass die jüdischen Autoritäten die Rede Jesu als Blasphemie wahrnehmen würden.[11] Aufgrund der vorausgesetzten Anwesenheit kann dann auch der Wunsch, Jesus festzunehmen, als eine Reaktion auf den persönlichen Angriff verstanden werden.[12] Weil diese Aussagen die jüdischen Autoritäten treffen, „verscherzen“ sie nach Hans Klein „damit die ihnen angebotene Möglichkeit einer Umkehr.“[13] Somit ist es nur konsequent, dass eine ausdrückliche „Feindschaft der Schriftgelehrten“[14] und ein persönlicher „Hass“[15] als Folge dieser Rede Jesu wahrgenommen werden kann. Die Reaktion wird dahingehend beschrieben, dass die jüdischen Autoritäten Jesus „zerstören“[16] bzw. „ermorden“[17] möchten. Um überhaupt einen Mordvorsatz erkennen zu können, muss auf Lk 19,47 verwiesen werden.[18] In diesem Kontext ist festzuhalten, dass es sich bei diesem Verständnis des in Lk 19,47 begegnenden Verbs (ἀπόλλυμι) eindeutig um ein theologisches Interpretament handelt, das mittelalterlicher Judenfeindlichkeit geschuldet ist. Das Wort ἀπόλλυμι hat ein relativ großes Bedeutungsspektrum und ist keinesfalls ein terminus technicus für „umbringen“, wird es doch auch – negiert – dafür verwendet, dass Jesus niemanden „verliert“.[19] Noch Johannes Lang, der zeitgleich mit Martin Luther das Matthäusevangelium aus dem Griechischen verdeutschte, überträgt das Verb in vergleichbaren Zusammenhängen mit „verscheuchen“. Mit Martin Luthers prägender Übersetzung setzt sich der Mordvorsatz als Wortverständnis durch („umbringen“), wenn es um ein Verhalten der Vertreter des Judentums gegenüber Jesus geht, und prägt, wie auch dieses Beispiel zeigt, bis heute die Auslegung der entsprechenden Passagen.[20] In Lk 20,19 ist schließlich nur davon die Rede, dass sie Hand an ihn legen wollen. Dabei handelt es sich ganz offensichtlich um den Versuch, Jesus festzunehmen zu lassen – mit durchaus offenem Ausgang.[21]
Der Sinn der Passage wird also folgendermaßen verstanden: Weil die jüdischen Autoritäten Jesu Worte auf sich beziehen, wollen sie Jesus ergreifen bzw. ermorden. Damit wird die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den jüdischen Autoritäten in einer Form zugespitzt, die es möglich macht, dass negative Gefühle wie „Hass“ oder auch eine Verwerfung dieser Autoritäten aus diesen lukanischen Formulierungen abgeleitet werden können.
Gegen dieses durchaus mögliche Textverständnis kann man einwenden, dass grundsätzlich Wörter wie λαός oder auch ὄχλος und πλῆθος, die im Singular als eine größere Anzahl von Personen verstanden werden können, mit einem Verb im Plural konstruiert werden können.[22] In der Septuaginta ist nun folgendes Phänomen häufig belegt: Dort regiert λαός im Singular als logisches Subjekt vor allem dann ein Verb in der dritten Person Plural, wenn das Subjekt in der Verbalform impliziert ist.[23] Damit ist als erstes die numerische Inkongruenz zu diskutieren.
1 Die numerische Inkongruenz bei λαός als Merkmal der Sprache der Septuaginta
Das hier zu beschreibende Phänomen begegnet in zahlreichen Fällen in der Septuaginta.[24] Das Substantiv λαός ist ein Nomen Maskulinum, von dem man erwarten würde, dass es mit einem Verb in der dritten Person Singular kombiniert wird. Dies trifft auch meistens zu, wenn es das grammatikalische Subjekt des Verbs ist, wobei es auch hier Ausnahmen gibt. Dies ändert sich jedoch, wenn zwei parataktisch angeordnete Hauptsätze durch die kopulative Konjunktion καί verbunden werden. Eine ganze Reihe von Beispielen kann zeigen, dass λαός als logisches Subjekt Verben in der dritten Person Plural regiert, während es im direkt vorangehenden Syntagma als explizites Subjekt mit der dritten Person Singular steht. Ein Beispiel dafür bietet Ex 14,31cdLXX: ἐφοβήθη δὲ ὁ λαὸς τὸν κύριον καὶ ἐπίστευσαν τῷ θεῷ καὶ Μωυσῇ τῷ θεράποντι αὐτοῦ („Das Volk aber bekam Ehrfurcht vor dem Herrn und sie gewannen Vertrauen auf Gott und Mose, seinen Diener.“ Septuaginta Deutsch).[25] Das Verb ἐφοβήθη steht in der dritten Person Singular, das Verb ἐπίστευσαν ist jedoch eindeutig eine dritte Person Plural. Beiden Verben gemeinsam ist das grammatikalische Subjekt λαός, das jedoch nur im ersten Syntagma explizit erwähnt ist und im zweiten Syntagma im Verb impliziert ist. Bei längeren Perioden kann die Verwendung des Plurals auch erst später stattfinden.[26] Dies kann auch für ein participium coniunctum zutreffen. Während das Verb im Singular steht und vom grammatikalischen Subjekt λαός regiert wird, ist das dazugehörige und unzweifelhaft von λαός abhängige Partizip in einer ganzen Reihe von Fällen ein Nominativ Plural.[27] Ein vorangehendes participicum coniunctum im Nominativ Plural kann von einem im Singular stehenden Subjekt λαός abhängen, das dann ein Verb in der dritten Person Plural regiert.[28] Auch ohne Partizip kann λαός ein Verb in der dritten Person Plural regieren.[29] Ferner kann beides, participium coniunctum und λαός, im Singular stehen und trotzdem ein Verb in der dritten Person Plural regieren.[30] Dabei wird das Volk im Griechischen offensichtlich als Gruppe von Personen wahrgenommen, die durch ein Distributivpronomen in kleinere Einheiten unterteilt werden kann.[31] Eine Ausnahme hiervon bildet die Verwendung des Demonstrativpronomens im Nominativ Singular, das einem Relativsatz vorangeht, im welchem dann ebenfalls der Singular in der Verbalendung verwendet wird.[32] Interessant ist auch, dass ein Relativpronomen im Plural auf den Singular bezogen werden kann.[33]
2 Die numerische Inkongruenz bei λαός im Neuen Testament
Die häufige numerische Inkongruenz zwischen Subjekt im Singular und Verb im Plural lässt sich für das Wort λαός auch im Neuen Testament grundsätzlich nachweisen, es finden sich allerdings nur wenige Belege. Eine dieser sehr seltenen Belegstellen begegnet nun im Lukasevangelium: Καὶ ἦν ὁ λαὸς προσδοκῶν τὸν Ζαχαρίαν καὶ ἐθαύμαζον ἐν τῷ χρονίζειν ἐν τῷ ναῷ αὐτόν (Lk 1,21). Bei zwei parataktisch angeordneten Hauptsätzen, die mit der kopulativen Konjunktion καί verbunden sind, wechselt der Numerus des Verbs vom Singular zum Plural, während λαός das Subjekt beider Verben ist. Im ersten Hauptsatz findet sich eine periphrastische Konjugation, wobei sowohl das Partizip (προσδοκῶν) als auch die Kopula (ἦν) im Singular stehen, während das Verb des zweiten Hauptsatzes in der dritten Person Plural steht (ἐθαύμαζον).[34] Wenn man einmal die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass der Verfasser dieses Evangeliums die jüdischen Schriften in griechischer Sprache sehr gut kannte,[35] dann eröffnet dies die Möglichkeit, λαός als Subjekt für das Verb ἔγνωσαν in Lk 20,19 anzunehmen. Hierfür ist zuerst auf einen wichtigen Unterschied in der Erzählung zwischen den Synoptikern einzugehen.
3 Zur narrativen Struktur von Lk 20 im synoptischen Vergleich
Grundsätzlich besteht das zwanzigste Kapitel des Lukasevangeliums aus mehreren Szenen. Für die vorliegende Fragestellung interessiert der Abschnitt Lk 20,1–26. Dieser beginnt mit einer Szene im Tempel und der bekannten Frage nach Jesu Vollmacht, die dieser mit den Hohepriestern, den Schriftgelehrten und den Ältesten verhandelt (Lk 20,1–8). Die sich anschließende Szene mit der Parabel vom Weinberg (Lk 20,9–19) findet wohl nicht mehr im Tempel statt, da Jesus ausdrücklich „zum Volk“ spricht.[36] Daran anschließend findet sich die „Zinsgroschenfrage“ (Lk 20,20–26). Dass die Vertreter der Autoritäten nach der lukanischen Erzählung nicht anwesend waren, während Jesus zum Volk spricht, wird noch einmal durch die Aussendung der Personen deutlich, die Jesus dann nach dem Bericht des Lukasevangeliums die Zinsgroschenfrage stellen (Lk 20,20).
Damit unterscheidet sich der Erzählstrang der Ereignisse bei Lukas leicht von den beiden anderen Synoptikern. Dort sind die Vertreter der jüdischen Autoritäten eindeutig beim Winzergleichnis zugegen. In der Version des Matthäusevangeliums steht zwischen der Frage nach der Vollmacht (Mt 21,23–27) und dem Winzergleichnis (Mt 21,33–46) noch die Erzählung von den ungleichen Söhnen (Mt 21,28–32). In keiner Weise wird ein Wechsel der Zuhörerinnen und Zuhörer Jesu thematisiert. Dies gilt auch für das Markusevangelium, wo die Abfolge der lukanischen Struktur entspricht (vgl. Mk 11,27–12,17), allerdings zeigt das Personalpronomen in Mk 12,1, dass die Adressaten von Mk 11,27 (Hohepriester, Schriftgelehrte und Älteste) weiterhin (mit-)angesprochen sind.[37]
Die Begründung dafür, dass Jesus nach dem Winzergleichnis nicht ergriffen wird, wird in den drei synoptischen Evangelien leicht unterschiedlich formuliert. Im Matthäusevangelium steht: καὶ ζητοῦντες αὐτὸν κρατῆσαι ἐφοβήθησαν τοὺς ὄχλους, ἐπεὶ εἰς προφήτην αὐτὸν εἶχον (Mt 21,46). Strukturell ist eindeutig, dass τοὺς ὄχλους als direktes Objekt des ersten finiten Verbs (ἐφοβήθησαν τοὺς ὄχλους) zum logischen Subjekt des sich anschließenden und mit der Konjunktion ἐπεί eingeleiteten Satzes (ἐπεὶ εἰς προφήτην αὐτὸν εἶχον) wird. Grundsätzlich könnte man angesichts der Tatsache, dass nicht explizit ein Subjektwechsel markiert wird, aus grammatikalischen Gründen auch dafür plädieren, dass das Subjekt von ἐφοβήθησαν auch das Subjekt von εἶχον sein könnte. Dagegen sprechen eindeutig logische Gründe. Moderne Bibelübersetzungen wählen meist für das direkte Objekt τοὺς ὄχλους ein Nomen im Singular und übersetzen mit „Volk“ oder „Menge“, wobei dann auch εἶχον – formal gegen die Verbform im Plural – als Singular übertragen wird.[38] Damit wäre anhand einer direkten Parallele zu Lk 20,19 nachgewiesen, dass ein direkt vorangehendes Objekt zum logischen Subjekt eines sich anschließenden Satzes werden kann.
Im Markusevangelium ist die Sachlage – auf den ersten Blick – etwas anders. Dort steht: Καὶ ἐζήτουν αὐτὸν κρατῆσαι, καὶ ἐφοβήθησαν τὸν ὄχλον, ἔγνωσαν γὰρ ὅτι πρὸς αὐτοὺς τὴν παραβολὴν εἶπεν. καὶ ἀφέντες αὐτὸν ἀπῆλθον (Mk 12,12). Grundsätzlich ist es möglich, die jüdischen Autoritäten als das Subjekt aller Verben der parataktischen Hauptsätze zu verstehen, die jeweils durch die kopulative Konjunktion καί bzw. die kausale Konjunktion γάρ verbunden sind (ἐζήτουν, ἐφοβήθησαν, ἔγνωσαν, ἀπῆλθον).[39] Die Tatsache, dass sie weggehen (Mk 12,12d: καὶ ἀφέντες αὐτὸν ἀπῆλθον), macht es dann möglich, einige „von den Pharisäern und den Anhängern des Herodes“ zu Jesus zu schicken.[40]
Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass ὄχλος als im Verb impliziertes Subjekt – ähnlich wie λαός – mit der dritten Person Plural konstruiert wird. In diesem Fall könnte man auch hier den Text so verstehen, dass das Volk Jesu Rede auf die jüdischen Autoritäten bezieht. In diesem Fall würde sich auch hier das Volk hinter Jesus stellen, weil es versteht, dass er sich mit dem Winzergleichnis klar und deutlich gegen die jüdischen Autoritäten wendet.
Dieses Verständnis wird durch eine ähnliche Situation in Mk 11,32 gestützt, wo die Menge (τὸν ὄχλον) gefürchtet wird, weil diese Johannes für einen Propheten hält: ἐφοβοῦντο τὸν ὄχλον· ἅπαντες γὰρ εἶχον τὸν Ἰωάννην ὄντως ὅτι προφήτης ἦν. Dass ein Verb im Plural auf einen vorangehenden Singular von ὄχλος verweisen kann, wird auch aus Mt 13,2c–3a wahrscheinlich. Dort heißt es: καὶ πᾶς ὁ ὄχλος ἐπὶ τὸν αἰγιαλὸν εἱστήκει. Καὶ ἐλάλησεν αὐτοῖς πολλὰ ἐν παραβολαῖς λέγων. Ganz offensichtlich bezieht sich das Personalpronomen in Mt 13,3a (αὐτοῖς) auf das Subjekt von 13,2c (ὁ ὄχλος). Die Inkongruenz im Numerus ist offensichtlich.[41] Dies gilt ganz offensichtlich auch für Mt 14,5: καὶ θέλων αὐτὸν ἀποκτεῖναι ἐφοβήθη τὸν ὄχλον, ὅτι ὡς προφήτην αὐτὸν εἶχον. Es ist die Menge, die Johannes für einen Propheten hält – und das Verb der Hypotaxe, dessen Subjekt das direkte Objekt des vorangehenden Hauptsatzes ist (τὸν ὄχλον), steht im Plural (εἶχον).[42] Dies gilt auch, wenn ὄχλος als Subjekt des Hauptsatzes ein Verb im Singular regiert, während das auf ὄχλος bezogene Verb in der Hypotaxe im Plural steht.[43] Auch bei Partizipien kann beobachtet werden, dass der Numerus im Plural ist, wenn das Nomen ὄχλος im Singular steht.[44] Wenn das erste Verb im Singular dem Numerus von ὄχλος als Subjekt entspricht, kann trotzdem das zweite Verb bei parataktischen Hauptsätzen im Plural stehen.[45] Dies gilt auch für den Genitivus absolutus.[46] Selbst als direktes Subjekt im Singular kann ὄχλος ein Verb im Plural regieren.[47] Dies gilt selbst dann, wenn das attributiv gestellte Partizip ebenfalls im Singular steht.[48] Die Ursache für diese grammatikalische Besonderheit kann aus Lk 12,13a abgeleitet werden: Εἶπεν δέ τις ἐκ τοῦ ὄχλου αὐτῷ „Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm.“ Das Volk (ὄχλος) wird als „Menge von Einzelpersonen“ (τις ἐκ) begriffen, die dann entsprechend auch ein Verb im Plural regiert bzw. regieren. Dies gilt, das sei am Rande bemerkt, auch für „die Menge“ (τὸ πλῆθος).[49]
Unter Berücksichtigung dieser Besonderheit könnte man für Mk 12,12 auch folgende Übersetzung vorschlagen: „Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn es hatte verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.“
Gerade weil nun in der erzählten Welt des Lukasevangeliums die jüdischen Autoritäten nicht als anwesend erwähnt sind, während Jesus das Winzergleichnis erzählt, stellt sich selbstverständlich die Frage nach den logischen Subjekten der einzelnen Verben in Lk 20,19.[50] Auch hier werden gemeinhin die Hohepriester und Schriftgelehrten als Subjekt von ἔγνωσαν wahrgenommen.[51] Ausdrücklich ist in diesem Kontext darauf hinzuweisen, dass der Versuch der Schriftgelehrten und Hohepriester, die Hand an Jesus zu legen, keinesfalls notwendig ihre Anwesenheit erfordert. Die eigentliche Festnahme geschieht vielmehr auch bei der Verhaftung am Ölberg durch Personen, die zuerst als „Schar“[52] und dann als weisungsgebundene Tempelsoldaten (στρατηγοὶ τοῦ ἱεροῦ) bezeichnet werden, die von den jüdischen Autoritäten den Befehl bekommen hatten, Jesus festzunehmen. Bei der Festnahme am Ölberg waren dann auch Vertreter der Autoritäten zugegen,[53] deren Anwesenheit durch die im Vergleich ungefährlichere Situation erklärt werden kann: Am Ölberg ist Jesus zusammen mit seinen Jüngern; das Volk, das sich hätte schützend vor ihn stellen können, ist jedoch nicht anwesend.
4 Konsequenzen für das lukanische Narrativ
Die Einleitung in das Winzergleichnis (Lk 20,9) erwähnt – auch in den handschriftlichen Varianten – nur das Volk. Die Antwort derer in Lk 20,16, die Jesus zuhören, ist, dass dies nicht geschehen möge (ἀκούσαντες δὲ εἶπαν· μὴ γένοιτο). Diese Antwort setzt ebenfalls voraus, dass hier das Volk spricht, während die Schriftgelehrten und die Hohepriester abwesend sind. In Lk 20,20 sind die jüdischen Autoritäten dann so weit vom Geschehen entfernt, dass sie andere Personen schicken, um Jesus eine Frage zu stellen. Damit darf es grundsätzlich als möglich, wenn nicht sogar als wahrscheinlich angesehen werden, dass die Nichterwähnung der jüdischen Autoritäten in Lk 20,9 dahingehend zu verstehen ist, dass die Schriftgelehrten und Hohepriester nach der lukanischen Version nicht anwesend waren, während Jesus dem Volk das Winzergleichnis präsentierte. Damit wäre jedoch in Lk 20,19b ein Subjektwechsel der im Verb implizierten Subjekte vorauszusetzen: καὶ ἐφοβήθησαν (Subjekt: Schriftgelehrte und Hohepriester) τὸν λαόν, ἔγνωσαν (Subjekt: Volk) γὰρ ὅτι πρὸς αὐτοὺς (Objekt: Schriftgelehrte und Hohepriester) εἶπεν τὴν παραβολὴν ταύτην.
Falls das Volk das Subjekt von ἔγνωσαν in der lukanischen Erzählung sein sollte, akzentuiert dies die Erzählung in grundsätzlicher Weise anders. Bereits im Tempel beginnt die Situation nach dem Bericht des Lukasevangeliums zu eskalieren. Nur das Lukasevangelium berichtet davon, dass die jüdischen Autoritäten angesichts der Frage nach der Vollmacht mit einer Steinigung rechnen.[54] Eine Steinigung im Rahmen eines Volksaufstandes – noch dazu innerhalb des Tempels, wo den jüdischen Autoritäten die alleinige Polizeigewalt zustand[55] – hätte einem totalen Kontrollverlust eben dieser Autoritäten entsprochen. Schließlich stand die aus Juden bestehende Tempelpolizei unter der Kontrolle der jüdischen Autoritäten. Eben diese Tempelpolizei hätte dabei versagt, im Tempel befindliche Juden an einer Steinigung jüdischer religiöser Autoritäten zu hindern. Angesichts dieser Eskalation scheint es naheliegend, dass die „Rede zum Volk“ (Lk 20,9) so zu verstehen ist, dass Jesus auch tatsächlich zum Volk spricht, während die jüdischen Autoritäten abwesend sind.[56] Für eine reine Gleichzeitigkeit der Geschehnisse, ohne dass die jüdischen Autortäten anwesend gewesen wären, als Jesus das Winzergleichnis erzählte, spricht auch die Zeitangabe ἐν αὐτῇ τῇ ὥρᾳ. Es sei auch nur auf den Emmausgang verwiesen, der ἐν αὐτῇ τῇ ἡμέρᾳ stattfindet (Lk 24,13). Mit der Formulierung „an diesem Tag“ wird ebenfalls eine Gleichzeitigkeit zweier getrennter Ereignisse zum Ausdruck gebracht: Der Emmausgang (Lk 24,13–35) findet an dem Tag der Entdeckung des leeren Grabes statt (Lk 24,1–12).[57]
Damit würde die Parabel vom Weinberg stärker zu einer Erzählung, bei der es um ein innerjüdisches Thema geht. In einer sich zuspitzenden Auseinandersetzung kommt es zuerst zu einer Situation im Tempel, die um ein Haar zu einem vollständigen Autoritätsverlust der jüdischen religiösen Führungspersönlichkeiten führt. Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, ziehen sich diese Führungspersönlichkeiten in den Hintergrund zurück, während Jesus vor dem Volk eben diese Autoritäten im Rahmen der Parabel als falsche Autoritäten beschreibt.
Jesus würde folglich in der lukanischen Erzählung als durchaus schillernd dargestellt: Er gießt bei der Frage, wer die legitimen Führungspersönlichkeiten Israels sind, in einer Weise Öl ins politische Feuer, dass den jüdischen Autoritäten eigentlich nichts anderes übrig bleibt, als den Versuch zu unternehmen, ihn verhaften zu lassen. Die Verhaftung scheitert, weil sich das Volk vor Jesus stellt, der direkt zuvor die jüdischen Autoritäten mit theologisch bedeutsamen Begriffen, die der prophetischen Tradition entnommen sind, angegriffen hat.[58] Was sich bei diesem Narrativ als Bild ergibt, ist eine Verschiebung von einer rein religiösen Frage hin zu einer machtpolitischen Auseinandersetzung, die im Falle eines nicht nur drohenden, sondern tatsächlichen Aufstands zu einer deutlichen Reaktion der römischen Besatzungstruppen geführt hätte. Die lukanische Beschreibung des Verhaltens Jesu müsste man bei diesem Textverständnis wohl als changierend zwischen dem eines prophetischen Predigers und dem eines Aufrührers beschreiben: Das Volk nimmt ihn als Propheten wahr, die jüdischen Autoritäten sehen in ihm einen Aufrührer.[59] In diesem Fall wäre es ein Bericht darüber, dass Jesu Botschaft zu seiner Zeit politische Implikationen hatte, die für die jüdischen Autoritäten problematisch waren. Bei diesem Textverständnis muss man das Winzergleichnis nicht auf den Übergang von Israel zur Kirche beziehen, da es sich erst einmal um eine innerjüdische Auseinandersetzung handelt.[60] Damit wäre Christfried Böttrich zuzustimmen, der bezüglich der Weinbergparabel festhält: „Dass aus dieser Geschichte später die Verwerfung Israels herausgelesen wird, zeugt von dem aufkommenden Antijudaismus der frühen Christenheit. Lk lässt hier noch eine sehr viel differenziertere Sicht erkennen.“[61] Bei dem hier vorgeschlagenen Textverständnis wäre von der frühen Kirche keinesfalls die Rede.[62]
5 Konsequenzen für die Übersetzung von Lk 20,19
Es wäre wohl der griechischen Syntax angemessen, an dieser Stelle – wie auch beispielsweise bei Mk 12,12 – eine Übersetzung zu wählen, die dem Leser und der Leserin zumindest die Entscheidung überlässt, ob „das Volk“ oder die jüdischen Autoritäten das Subjekt von ἔγνωσαν sind.[63] Auch sollte man überlegen, das direkte Objekt zum participium coniunctum am Beginn von Lk 20,20, also im direkten Anschluss an Lk 20,19, nicht bzw. ohne Präjudiz hinsichtlich des Textsinns zu ergänzen (παρατηρήσαντες). Das Verb παρατηρέω beschreibt erst einmal polizeiliche Aufgaben.[64] Wenn man das im Griechischen fehlende und im Deutschen nötige direkte Objekt neutraler übersetzt und die ausgesandten Personen weniger negativ beschreibt, als dies gemeinhin üblich ist, erhält man folgende Übersetzung des Syntagmas καὶ παρατηρήσαντες ἀπέστειλαν ἐγκαθέτους am Beginn des Verses: „Und (das) beobachtend, sandten sie treu ergebene Anhänger.“[65] Intratextuell würde diese Überleitung zur Zinsgroschenfrage die für den vorangehenden Vers gemachte Beobachtung bestätigen: Die jüdischen Autoritäten sind, während Jesus dem Volk das Winzergleichnis darlegt, nicht anwesend, sondern beobachten diese Situation aus der Ferne und reagieren aus der Distanz auf die von ihnen beobachtete Situation. Damit könnte man die Situation durchaus auch als eine politische Auseinandersetzung beschreiben.[66]
Damit bleibt festzuhalten: Es ist selbstverständlich, dass die „Schriftgelehrten und Hohepriester“ das Subjekt der Verben ἐζήτησαν und ἐφοβήθησαν sind. Syntaktisch ist es grundsätzlich möglich, dass sie auch das Subjekt von ἔγνωσαν sind. Dafür, dass sie hier das Subjekt sind, könnte der Numerus sprechen. Dagegen spricht, dass sie nicht als anwesend erwähnt werden. Da der Verfasser des Lukasevangeliums auch an anderer Stelle ein von der Septuaginta beeinflusstes Griechisch verwendet, liegt es eigentlich nahe, λαός hier als logisches Subjekt eines Verbs im Plural (ἔγνωσαν) anzusehen. In diesem Fall müsste man folglich übersetzen: „Und die Schriftgelehrten und die Hohenpriester trachteten danach, Hand an ihn zu legen noch in derselben Stunde, und sie fürchteten sich vor dem Volk; denn dieses verstand, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte.“
6 Ergebnis
Als Ergebnis darf festgehalten werden, dass die nachweisbare numerische Inkongruenz zwischen Subjekt und Verb bei λαός und ὄχλος ein geändertes Textverständnis für Stellen wie Lk 20,19 oder Mk 12,12 ermöglicht. Dies hat Einfluss auf die Übersetzung dieser Stellen, die Wahrnehmung der handelnden Personen in den entsprechenden Passagen und damit auch einen Einfluss auf die Auslegung der betroffenen Passagen. Im Narrativ steht das Volk auf der Seite Jesu, während dieser die möglicherweise nicht einmal anwesenden Führungspersönlichkeiten angreift. Die einzige Emotion, die in dieser Passage erwähnt wird, ist die „Furcht vor dem Volk“. Damit wäre zu überlegen, dass die in den Text hineingelegten Emotionen, die in der Kommentarliteratur begegnen – es sei nur auf „Hass“ verwiesen –, möglicherweise ein Verständnis in den Text hineinlegen, das vom Narrativ her nicht gerechtfertigt ist. Falls das „lukanische Doppelwerk“ tatsächlich von ein und demselben Autor stammt, könnte man die Predigt des Petrus in Apg 3 dahingehend verstehen, dass nach dieser Deutung der Ereignisse die jüdischen Autoritäten von ihrer Seite subjektiv berechtigt – aber im Rückblick fälschlich – Jesus für einen Aufrührer gehalten haben. Schließlich wird ausdrücklich der Begriff der „Unwissenheit“ als Entschuldigungsgrund auch für die religiösen Führungspersönlichkeiten verwendet.[67] Dass Aufruhr strafbar ist, ist – dies zeigt auch das Urteil über Barabbas[68] – innerhalb des Narrativs unbestritten. Im Gegensatz dazu unterstellen die in den Text gelegten Emotionen den jüdischen Autoritäten niedrige Beweggründe. Ferner wäre zu überlegen, ob angesichts der erzählten Welt – das Lukasevangelium setzt ja eindeutig die jüdischen Schriften als Bezugsrahmen voraus – das Winzergleichnis nicht ähnlich wie die prophetische Rede von Hosea zu sehen ist. Da die Aussage „nicht mein Volk“ (Hos 1,9: לא עמי) ein dringlicher Ruf zur Umkehr ist, könnte man überlegen, auch das Winzergleichnis im Munde Jesu als vergleichbaren Aufruf zu verstehen. Dieser würde dann überhaupt erst in der christlichen Rezeption als Verwerfung gedeutet.[69]
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