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Friedrich Niebergalls „Praktische Dogmatik“ – Eine Lektüre nach 100 Jahren

  • Knud Henrik Boysen
Published/Copyright: March 22, 2023

Abstract

Der vorliegende Aufsatz untersucht aus systematisch-theologischer Sicht den von dem Heidelberger und Marburger Praktischen Theologen Friedrich Niebergall (1866–1932) zwischen ca. 1900 bis 1925 ausgeabeiteten Ansatz einer „Praktischen Dogmatik“. Niebergall wollte damit primär eine pastoraltheologisch orientierte Dogmatik entwickeln, die dem christlichen Prediger Handwerkszeug für seine „Erziehungsarbeit“ an der Gemeinde bereitstellt, mit deren Hilfe er die Gemeindeglieder zur Integration christlicher Ideale in die Pluralität ihres sozialen Alltags anleiten soll. Der Aufsatz unternimmt eine kritische Sichtung von theologischen Voraussetzungen, Inhalt, Aufbau und Folgen von Niebergalls Ansatz und stellt auch die Frage nach der Möglichkeit einer heutigen Adaption.

Abstract

In this paper the theological approach of „Praktische Dogmatik“ (practical dogmatics), which was elaborated by Friedrich Niebergall (1866–1932) in Heidelberg and Marburg from 1900 to 1925, will be reviewed from a systematic-theological perspective. Niebergall meant to propose a dogmatics grounded in pastoral theology. In doing so, he hoped to provide the Christian preacher with all the tools needed to „educate“ parishioners and thereby guide them to integrate Christian ideals into the many-faceted social realities of their lives. Theological presuppositions will be critically reviewed within the paper, as will be content, structure and the consequences of Niebergall’s approach. The latter gives rise to the question of contemporary adaptions, which the paper will address.

1 Einleitung

Diese Studie möchte an den letzten programmatischen Entwurf unter dem Titel einer „Praktischen Dogmatik“ erinnern, wie ihn der Heidelberger und Marburger Praktische Theologe Friedrich Niebergall (1866–1932) zwischen 1900 und 1920 formuliert hat. [1] Dieser Ansatz ist dabei in der Vergangenheit bereits als Besonderheit von Niebergalls praktisch-theologischem Entwurf beschrieben worden. [2] Er wurde in seiner Durchführung jedoch bisher nicht inhaltlich und unter dezidiert systematisch-theologischen Gesichtspunkten betrachtet. [3]

Obwohl Niebergall in der zeitgenössischen Theologielandschaft in Deutschland einigen Einfluss besaß und teils auch im europäischen Ausland wahrgenommen wurde, [4] hat sein Entwurf zu Beginn und Mitte des 20. Jh. kaum Schule gemacht. [5] Zunächst fand sie in der damaligen theologiegeschichtlichen Situation der aufstrebenden Dialektischen Theologie, in der Niebergall selbst einen „neoorthodoxen Widerstand“ gegen den „modernen Menschen“ sah, [6] wegen ihres empirischen, psychologischen und anthropologischen Interesses zum Teil scharfe Ablehnung. [7] So ist von Karl Barth ein (dann allerdings nicht gedruckter) Satz aus dem Entwurf zum Vorwort der ersten Auflage seines Römerbriefs von 1919 überliefert, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: „Die Tatsache, daß die heutige Theologie über die historische Kärnerarbeit hinaus nichts Besseres zu bieten weiß als psychologische und pastorale Plattheiten à la Niebergall, halte ich für eines der bedenklichsten Symptome des geistigen Marasmus unsrer Zeit.“ [8] In Barths Vorwort zur zweiten Auflage ist der Hinweis auf Niebergall zwar weniger offen polemisch geraten, trägt den Spott aber dennoch in sich: „Meinen die Historiker denn wirklich, damit hätten sie ihre Pflicht gegenüber der menschlichen Gesellschaft erfüllt, daß sie re bene gesta im fünften Band – Niebergall das Wort erteilen?“ [9] Hier ist darauf angespielt, dass Niebergalls Praktische Auslegung des Neuen Testaments für Prediger und Religionslehrer zuerst 1909 als fünfter Band der historisch-kritischen Kommentarreihe Handbuch zum Neuen Testament (HNT) erschienen war. [10] Dabei handle es sich um nichts anderes als eine nachträgliche Verflachung der Exegese zur Anleitung einer bloßen Erbaulichkeit, welche nicht nur sowohl die Aufgabe der Exegese wie der Predigt verkennt, sondern in der sich auch die Auflösung der Schriftauslegung als gemeinschaftliche Aufgabe aller Theologie zeige. Besonders in diesem Sinne hat dann auch Rudolf Bultmann (der seit 1922 Niebergalls Kollege in Marburg war) die Kritik Barths an der „Praktischen Auslegung“ wörtlich aufgenommen. [11] Der Name Niebergalls gilt den Dialektischen Theologen also geradezu als Chiffre für diejenige Form von Theologie mit der sie nachhaltig zu brechen beabsichtigten. [12]

Nach dem wissenschaftsparadigmatischen Umbruch der 1960er Jahren erkannte man dann in Niebergall zunächst vereinzelt einen Vorreiter der eigenen zeitgenössischen Neuausrichtung in der Praktischen Theologie (sog. „zweite empirische Wende“), ohne ihn jedoch in breiterer Weise programmatisch heranzuziehen. [13] Weiterführend erschient an seinem überaus umfangreichen Werk [14] dabei vor allem, die von ihm angedachte soziologische („volkskundliche“) und psychologische Wahrnehmung der „Mehrdeutigkeit“ des menschlichen Lebens in der Moderne und die Aufnahme dieser Erkenntnisse für die praktische kirchliche Arbeit in Predigt und Unterricht. [15] In der gegenwärtigen Forschung gilt Niebergall dabei zwar noch immer eher als Größe der Disziplingeschichte denn als Wegbereiter, ist jedoch inzwischen in seinem Status als „Klassiker“ der Praktischen Theologie und Religionspädagogik unbestritten. [16]

2 Niebergalls Theorie der „Beeinflussung“

Niebergall Ansatz dreht sich insgesamt darum, eine „Gesamtanschauung“ derjenigen „Gedankenkreise“, „Systeme“, „Bruchstücke“ und „Werturteile“ zu gewinnen, welche als „Überzeugungen“ das „geistige“ und das „praktische Leben“ von Menschen prägen. [17] Ausgangspunkt ist es also, die geistige Verfassung jener Situation der Gegenwart zu verstehen, auf welche das Christentum mit seiner Botschaft trifft. Dieses Verstehen ist darum für die Praktische Theologie notwendig, weil der Pfarrer (zu Niebergalls Zeiten noch ohne weibliches Pendant) in eben diese vielfach geprägten Vollzüge „praktischen Lebens“ in seiner Gemeinde eintritt. Und dies geschieht eben mit der Aufgabe, nun seinerseits die christliche

„[...] Gesamtanschauung von Leben und Welt [...] lehrmäßig [...] jedem neuen Geschlecht nahe zu bringen, in der Hoffnung, daß sie nicht nur in sein Inneres [...] eindringe, sondern auch [...] mit dem Anspruch [...] ein Stück Einfluß auf das geistige Leben der Gesamtheit der einzelnen darzustellen.“ [18]

Die kirchliche Aufgabe besteht also darin, selbst Einfluss auf die vielfältigen prägenden Überzeugungen von Menschen zu nehmen. Aus diesem Grund ist auch die Praktische Theologie für Niebergall insgesamt „kirchliche Gemeindeerziehung“, [19] sie ist in ihrer Ganzheit Pädagogik bzw. Erziehung, [20] in dessen Zentrum der Pfarrer als Erzieher steht, der sowohl durch seine Persönlichkeit wie auch durch seine Lehre Einfluss auf das Leben der Gemeinde nimmt.

Diese dem Pfarrer aufgetragene „Beeinflussung“ stellt nun zugleich eine äußerst schwierige Angelegenheit und doch auch die „Hauptfrage aller Seelenleitung“ [21] dar. Grundsätzlich muss es sich bei ihr um eine „Vermittlung“ zwischen den Extremen eines „wenn auch noch so gläubigen Nichtstun[s], das alles dem Geist Gottes oder der Entwicklung überläßt“, und eines „Bekehrungstrieb[s], der alles meint erzwingen zu müssen“ [22] handeln. Inhaltlich vollzieht sich die „Beeinflussung“ darin, biblisch-dogmatisch und traditionell geformte und zugleich die praktische Arbeit organisierende „Ideale“ [23] einer Einheit von christlichem Leben, christlicher Gemeinschaft und christlichem Denken in die unüberschaubar diversen Lebensvollzüge der Gemeindeglieder einzubringen. Auf diese Weise soll dann schließlich „eine ideale Gemeinde angebahnt werde[n]“ [24] auch wenn diese zugleich empirisch „noch so unerreichbar“ [25] sei.

Niebergalls Ansatz geht dabei von der empirisch „gegebene[n] Gemeinde“ aus, wie sie einst „aus dem Brunnquell urwüchsiger christlicher Frömmigkeit hervorgegangen“ ist. Zugleich ist diese „empirische Gemeinde“ als solche aber auch das „Ziel der Arbeit und, soweit sie schon vorhanden ist, das wesentliche Mittel zu seiner Verwirklichung.“ [26] Es ist also stets das plurale „Vorhandene“ von dem in der kirchlichen Praxis je neu auszugehen ist, dieses Vorhandene soll jedoch zugleich durch die Arbeit des Pfarrers immer auch in die Richtung auf das nie vollends zu verwirklichende „Ideal“ gebracht werden. [27] Die pastorale Gemeindeerziehung ist in diesem Sinne dann zugleich immer auch als eine „Hilfe zur Lebensbewältigung“ [28] für die Gemeindeglieder innerhalb der empirischen Gemeinde zu verstehen, weil durch sie das vorliegende Leben, so wie es sich derzeit verhält, stets neu auf eine „ideale“ christliche Ausrichtung gebracht werden soll. Niebergall fasst diese Aufgabe so zusammen:

„Es kommt darauf an, Geist anzubieten, und zwar Geist als sittliche Kraft, als religiös christliches Lebensgut, und nicht ohne Gedanken darüber, woher er kommt und wohin er führt. [...] Wir können [...] nur Reize anbieten, die aufgenommen werden, wie es der Eigenart der andern entspricht.“ [29]

Dabei kann sich diese „Beeinflussung“ für Niebergall in keiner Weise als eine „erzwungene Gleichheit“ vollziehen, nach der am besten alle Christen eine konforme, stromlinienförmige Einheit werden sollten, die alle dasselbe denken und glauben, sondern sie besteht vielmehr in der Wahrnehmung, dass ihre „Stärke in der Mannigfaltigkeit“ liegt. [30]

„Das religiöse Ideal darf nicht und kann nicht einheitlich sein, wie wir alle immer gar zu gern unsere Eigenart als absolut und die der andern höchstens als Eigenart, wenn nicht als abnorm betrachten möchten. Haben wir uns all die verschiedenen Arten, Grade, Färbungen vor Augen führen lassen, wie sie aus Natur, Charakter und Geschichte kommen, [31] so werden wir darauf verzichten, allen Bäumen eine Rinde wachsen zu lassen. Freilich darf auch nicht alles so bleiben, wie es gewachsen ist [...]. Die mancherlei Gaben müssen von einem Geiste verbunden werden, wenn es denn eine leidliche Gemeinde geben soll; aber innerhalb dieses Geistes darf jeder seine Gabe haben und seine Sprache reden.“ [32]

Die Pluralität und Diversität der verschiedenen Lebensentwürfe hat also konstitutive Kraft für die Art und Weise, wie christliche Gehalte in sie eingebracht werden sollen oder können. Aus diesem Grund aber bestehe die eigentliche Aufgabe darin,

„[...] daß sich die Mannigfaltigkeit der gegebenen Naturen nicht üppig auswachse und alle Kräfte verliere, sondern daß sie sich von verschiedenen Punkten aus dem Einen nähere; nur so besteht wirklich der Leib Christi aus verschiedenen Gliedern, die seine Vollkommenheit ausmachen, welche ihnen allein nicht erreichbar ist.“ [33]

Weil der Leib Christi selbst aus vielfältigen Gliedern besteht, kann es keine Einheitsmethode und keine Einheitsideale des Christentums geben, auf deren Anerkennung hin man nun alle Glieder „einnorden“ müsste, sondern diese „idealen“ Gehalte des Christentums als solches gehen auf genauso vielfältige Weise in diesen Leib ein, wie er Glieder hat. Um diesem Grundsatz gerecht zu werden, habe die Theorie die korrespondierende Aufgabe,

„[...] aufWege zu sinnen, wie jenes Eine den vielen und mannigfaltigen Einzelnen wirklich zu eigen werde und ganz mit dem ich verwachse, mag auch dieses Ich einen starken Einschlag von Eigenheit mit dazu bringen. [...] Jedenfalls bedeutet [... es] eine Abwehr, und zwar gegen alle Versuche, [...] jene Strebungen nach dem Geistigen und der Gemeinschaft samt den sie tragenden Erkenntnissen des Glaubens einfach mit Gewohnheit oder Gewalt der Seele ‚überzuziehen‘, woraus noch lange keine Ueberzeugung wird.“ [34]

Die mannigfachen Antriebskräfte des christlichen Glaubens sollen also mit der kirchlichen Arbeit des Pfarrers so zusammengeführt werden, dass sie in ihrer Vielfalt erhalten und doch zugleich in Richtung auf das dieser Vielfalt zugrundeliegende christliche „Ideal“ gebracht und an diesem gehalten werden. Henning Luther hat diesen Ansatz Niebergalls treffend zusammengefasst:

„[O]bjektiver Gehalt der Religion und der christlichen Überlieferung einerseits und aktuelle kirchliche Tätigkeit andererseits [treffen] zusammen. Die äußere (extrinsische) Wirkungsaufgabe der kirchlichen Arbeit geht überein mit der inneren (intrinsischen)Wirkungstendenz von (christlicher) Religion und Religiosität (Frömmigkeit).“ [35]

3 Die Aufgabe einer „Praktischen Dogmatik“

An seine Bestimmung der kirchlichen Praxis als „Beeinflussung“ der Einzelnen und der Gemeinde im Sinne der christlichen „Ideale“ knüpft Niebergall nun eine heftige Kritik an der vorherrschenden historischen Ausbildung an den theologischen Fakultäten an, welche die Pfarrer in keiner Weise auf diese Aufgabe vorbereiten:

„Dieser Dienst [...] erfordert vor allem eines, daß der Mann, der so viel predigen und lehren muß, auch wisse, was er zu sagen hat. Dazu verhilft ihm aber nicht der übliche Betrieb der geschichtlichen Fächer [...]. Es ist [e]ine Gesamtüberzeugung nötig, die der Prediger haben muß, um einen festen Halt zu besitzen; und diese muß er im Lauf seiner Wirksamkeit in die Seelen seiner Pfleglinge hinüberzudringen suchen, wobei immer wieder vorbehalten werden muß, daß sie, fern davon ganz als solche aufgenommen, verstanden und behalten zu werden, in verschiedenem Grad von Klarheit Besitztum der Seelen zu werden bestimmt ist. Mit einem Wort:ein Prediger und Religionslehrer darf nicht nur Erlebnisse, Eindrücke und Stimmungen, sondern er muß auch eine Gesamtanschauung, kurz herausgesagt, eine Dogmatik haben. [... Ansonsten] entwickeln sich beide [sc. wissenschaftliche Theologie und kirchliche Praxis] auf die bekannte Weise auseinander: die Praxis lebt von ‚Erlebnissen‘ und von so oder so beschaffener Amtsgewohnheit, und die Theologie bleibt als totes Kapital im Geiste liegen, bis sie langsam dem Gedächtnis entschwindet.“ [36]

Niebergalls theologisches Interesse gilt also einer Dogmatik, die der Pfarrperson, die innerhalb professioneller Praxisaufgaben steht, dabei hilft, diese Praxisaufgaben in einer kohärenten Weise mit dem zu verbinden, was in legitimer Weise als genuin christlich gelten darf. So formuliert Niebergall schon 1901 programmatisch: „Die ganze Theologie ist doch für den Pfarrer da, der wieder für die Leute da ist, um ihnen Antriebe und Trost, Orientierung über das Ziel des Lebens und Gewissheit darüber zu geben. Darum brauchen wir eine Dogmatik.“ [37]

Wie gelingt es, in der Vielfalt des gelebten Lebens, innerhalb dessen die Pfarrperson ihre praktische Arbeit tut, zugleich eine feste Größe dessen zu etablieren, was als anerkanntermaßen „christlich“ in diese Vielfalt eingebracht werden kann? Nötig wäre dazu eine Dogmatik, die diese Praxisanforderungen ihrerseits in sich aufgenommen hat, so dass sie eben zu einer „Praktischen Dogmatik“ wird. Sie soll „den Raum zwischen theoretischer und praktischer Beschäftigung mit der Theologie auffüllen“ [38]. Dies bedeutet für Niebergall nicht, dass sie dogmatische Lösungen für konkrete Praxissituationen aufzeigen soll, sie sollte jedoch das Potential für eine praktische Auswertung in sich tragen, welche „die praktischen Wirkungen von Religion und Theologie bedenkt und religiöse Praxis auf ihre theologischen Voraussetzungen und Implikationen befragt“ [39], so dass diese in ihre Urteilsbildung einbezogen werden. Diese dogmatischen Urteile aber sollen dann von der Praktischen Theologie nicht einfach aus der Dogmatik übernommen werden, sondern diese sollen vielmehr so dargeboten werden, dass die Praktische Theologie sie ihrerseits selbst rekonstruieren und nutzbar machen kann. [40] Eine „Praktische Dogmatik“ müsste damit für Niebergall

„[...] ein System darbiete[n], daß auch praktisch wertvoll werden kann. [... Ihr] eigentliches Absehn muß nach wie vor darauf gerichtet bleiben, Erkenntnisse theoretischer Art zu geben, wie sie zwar mit [...] praktischen Beziehungen verwoben, [...] den Anspruch aufrecht erhält, ein Bild der göttlichen Dinge zu bieten, wie sie dem Glauben erscheinen. [...] Es kommt also darauf an, planmäßig und grundsätzlich darüber nachzudenken, wie dogmatisches Gut in homiletisches und katechetisches verwandelt werden kann. Dogmatik bleibt, was sie ist und behält ihren Eigenwert; aber es schließt sich an sie eine Arbeit eigener Art an, sie gleichsam für den wirklich praktischen Gebrauch weiterzubilden und fähig zu machen. [...] Aus einem Gefüge dogmatischer, also theologisch-logischer Art, das Wirklichkeitabbildet, soll dann ein teleologisch-pädagogisches werden, das Wirksamkeit unterstützt.“ [41]

Damit schließt sich Niebergall an seinen Lehrers Julius Kaftan an, für den die ganze Durchführung materialer Dogmatik letztlich dazu dient, „den Satz von dem praktischen Charakter der Religion [...] zu beweisen“ [42]. Zeitgenössisch trifft er sich aber eigentlich noch deutlicher mit Ernst Troeltschs bekannten Diktum, die Dogmatik sei „ein Stück der praktischen [sic!] Theologie, und zwar ihr wichtigstes“, da sie eben einen dezidiert „praktischen Zweck“ verfolge. [43] Dieser praktische Zweck liegt für Troeltsch

„[...] in der Unterweisung von Predigern und Lehrern einer Gemeinschaft und will dieser einen Leitfaden christlich-religiöser Gedanken zu freiem Gebrauch darbieten. Der einzelne Laie bedürfte eines solchen nicht, sondern kann sich mit einer etwas prinziplosen Mischung von praktischen Lebenserfahrungen, wissenschaftlichen Theorien und religiösen Aphorismen begnügen, wie er das ja auch in der Regel tut. Aber Predigt und Unterricht einer Gemeinschaft bedürfen einer solchen Anleitung, eines solchen Vorschlages zu geordnetem religiösem Denken, um eine klare Gedankenrichtung und eine zusammenhaltende Gemeinsamkeit der Grundlehren zu besitzen. Auch erklärt sich bei diesem Zweck der weitgehende Anschluß an die Formen, Worte und Lehren der Ueberlieferung, die [...] für das Ganze die Kontinuität festhalten [...].“ [44]

Dieser von Troeltsch und Kaftan skizzierte inhärente Praxischarakter der Dogmatik aber soll für Niebergall nun eben auch von praktisch-theologischer Seite mit eigener Methodik und Zielsetzung (als „Arbeit eigener Art“) fortgeführt und so erst zur wahren Erscheinung gebracht werden. Anders als Troeltsch ordnet er damit die Dogmatik nicht insgesamt der praktischen Seite der Theologie zu, sondern nur die Zielsetzung und Fortführung ihrer Theorien in der wirksamen Praxis des Pfarrers, während er ihr weiterhin zugesteht, auch Darüberhinausgehendes leisten zu können, welches jedoch dann im Bereich der „theoretischen“ Religionsphilosophie, Metaphysik oder der Theologiegeschichte liegt.

Die praktisch-theologische Aufgabe der „Praktischen Dogmatik“ möchte Niebergall dabei noch genauer als „religionspsychologisch“ fassen, indem sie auch klären soll, „wie man als Verkündiger die Worte und besonders die Bilder zu wählen hat, um die beabsichtigten Wirkungen zu erzielen“ [45]. Niebergall möchte also über Troeltsch hinaus in der Praktischen Dogmatik gerade auch jene „praktischen Lebenserfahrungen, wissenschaftlichen Theorien und religiösen Aphorismen“ miterfassen, und zwar eben weil sie das religiöse Leben der Laien prägen, denen ja gepredigt werden soll. Durch ihre praktisch-dogmatische Bearbeitung soll es dem Pfarrer dann ermöglicht werden, diese Anschauungen so weit wie möglich zu erfassen und seine gemeindeerzieherische Arbeit mit ihnen zu korrelieren. Um dies zu ermöglichen, solle eine Praktische Dogmatik etwa in der Lage sein, folgende Fragen zu klären:

„Womit etwa erweckt man die Ehrfurcht vor Gott, womit die Gewißheit, daß er unsere Schuld vergibt, womit die, daß der Herr der Welt auch der Inhaber der höchsten Werte ist und umgekehrt? So weit soll die praktische Dogmatik die Dogmatik an die Praxis heranführen: also neben dem Was auch noch etwas von dem Wie bieten, soweit es mit systematischen Erkenntnissen zusammenhängt; die Ausgestaltung, die Verteilung und Durchführung solcher Gedanken im einzelnen bleibt dann den technischen Fächern, der Lehre von der Predigt und dem Unterricht, überlassen.“ [46]

4 Die inhaltliche Durchführung der „Praktischen Dogmatik“

Der von ihm selbst programmatisch gestellten Aufgabe der „Praktischen Dogmatik“ hat sich Niebergall in seinem Lehrbuch der Praktischen Theologie nun ausführlich unter eben dieser Überschrift gestellt. [47] Im Durchgang durch die einzelnen Abschnitte fällt jedoch auf, wie sehr hier im Grunde bestimmte traditionelle dogmatische Topoi wirksam sind, aus denen dann Schlüsse für eine praktische Anwendung innerhalb der pastoralen Arbeit gezogen werden.

4.1 Die dogmatische Grundlegung des Erziehungsbegriffs

Zuerst macht Niebergall eine grundsätzliche Typologie auf zwischen seinem Verständnis der Praktischen Theologie als Gemeindeerziehung und einer biblischdogmatischen Grundlegung des Erziehungsbegriffs. [48] Das gegenwärtige Ziel dieser Erziehung ist es,

„[...] die Gemeinde, wie sie ist, immer mehr von jenen zwei Gestalten loszumachen, die [...] alles, was Mensch heißt beherrschen: es sind die Triebe der Selbstsucht und der Sinnlichkeit und es ist der Druck, der vom Mechanismus des sinnlich-seelischen Lebens, sowie von der Macht der Umstände und der Leute ausgeht. Für das erste können wir biblisch sagen Fleisch, für das zweite aber Gesetz [...]. [49]

Es fällt Niebergall hier nicht schwer, biblisch und dogmatisch hochvoraussetzungsreiche Begriffe auf die praktische Arbeit zu beziehen, indem er ihnen einen eindeutigen gegenwärtigen praktischen Sinn zuschreibt: Das „Gesetz“ wird so als äußerliche „Macht der Umstände“, die Sünde dagegen als psychologischer „Trieb“ erklärbar, die beide den Menschen an seiner Persönlichkeitswerdung im Sinne des christlichen Ideals hindern. Die ungleich größeren Zusammenhänge dieser Begriffe in Bibel und Dogmatik, z. B. die Gestalt des Gesetzes als Gotteswort und als Offenbarer der Sünde, werden dabei ausgeblendet.

In einem zweiten Schritt unterlegt Niebergall nun den Erziehungsbegriff selbst dogmatisch: [50]

„Wo eine Erziehung ist, da ist auch ein Erzieher. Gott der Erzieher der Menschheit, das ist der umfassende Rahmen für unsere Lehre von der Erziehung der Gemeinde durch die Gemeinde; wir sind Gottes Mitarbeiter. [...] Und es wird sich uns ergeben, daß wir am besten als Gegenstände und als Gehilfen des erziehenden Gottes in die Geschichte eintreten, die seine Erziehungsarbeit darstellt [...]. Mit den Mitteln, die wir ihr [sc. der Bibel] entnehmen, erfüllen wir unsere Aufgabe, die Menschen der Gegenwart für eine bessere Zukunft zu bilden.“ [51]

Niebergall überträgt also die Erkenntnis von Gottes heilsamen Wirken am Menschen gegen die Widerstände von Fleisch, Sünde und Gesetz recht einfach typologisch auf das Wirken der mit der kirchlichen Erziehung Beauftragten an den Gemeindegliedern.

„[Die] Erkenntnis der Erziehung der Menschheit durch Gott [wird] zu einer Hilfe, um andere wieder zu Gott zu erziehen. [... Wir] müssen [helfen], immer wieder jedes neue Volk und Geschlecht, wie das Gott in den Jahrtausenden mit der Menschheit getan hat, von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht emporzuheben, also von einem Leben der Sinnlichkeit und Bindung, das von Furcht und Bösem erfüllt war, zu einem Leben in dem Geist, voller Frieden und Freiheit.“ [52]

Dies erinnert an den Gedanken aus Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1780), [53] nach dem Gott einen fortschreitenden „Erziehungsplan“ (§ 54) verfolgt, der die Menschheit im Laufe ihrer natürlichen geschichtlichen Entwicklung zugleich über die Stufen des Judentums (mit dem Alten Testament als Lehrbuch) und des Christentums (mit Christus als Lehrer) schließlich in ein „drittes Zeitalter“ (§ 89) führt, in welchem die Erziehung im Ewigen zur Vollendung kommt und dabei alle religiöse Spekulation und alle Bedürfigkeit nach einem Lehrer und einem Lehrbuch abstreift. Diesen dritten Schritt freilich vollzieht Niebergall nicht mit, sondern bleibt auf der Stufe stehen, nach der das Christentum mit seiner Erkenntnis Gottes als Erzieher selbst bereits die höchste Stufe darstellt. Dabei handeln die Pfarrpersonen quasi als „Erfüllungsgehilfen“ in der direkten Fortführung dieses erzieherischen Handelns Gottes am Menschen in der Geschichte, jedoch unter den veränderten Voraussetzungen eines „modernen“ Verständnisses des Menschen, das durch den zeitlichen Abstand zur Bibel und nachfolgende historische Entwicklungen bedingt ist.

4.2 Methode und Aufbau der Praktischen Dogmatik

Als Grundgedanken für den Aufbau seiner Praktischen Dogmatik hält Niebergall fest, sie solle „eine Umrahmung für ein Ideal des religiösen Lebens“ bieten. Als solche umschließt sie

„Gedanken, die bestimmt sind, die Gläubigen frei und getrost zu machen [...].Wir stellen also [sc. in der Praktischen Dogmatik] zusammen, was uns das Wesentliche der christlichen Verkündigung zu sein scheint, die die Christen ruhig und stark machen will. [...] So ist es nun unsere Aufgabe, die praktisch wirksame christliche Gedankenwelt darzustellen, wie sie der Frömmigkeit als Ausdruck, als begleitendes Bewußtsein und als Mittel des Verkehrs zu dienen hat, wie sie sich niederschlägt in Stimmungen und Gewöhnungen in der Seele selbst und in Sitten und Einrichtungen in der Gemeinschaft.“ [54]

Die „Praktische Dogmatik“ soll also eine umfassende Darstellung von „Christentumskultur“ bieten, die sowohl die historisch gewordenen Prägungen durch christliche Inhalte, wie auch die gegenwärtigen Niederschläge des Glaubens in Individuum und Gemeinschaft umfasst. Ihr Stoff ist die Erhellung der christlichen Formung der Lebenswelt, nicht etwa indem nur überall christliche Gehalte identifiziert werden, sondern indem die kulturprägenden Kräfte der „Ideale“ des Christentums in verschiedenen Kontexten nachgezeichnet werden.

Um dies zu erreichen, möchte Niebergall an einen Ort „vor“ der eigentlichen dogmatischen Begriffsbildung zurücktreten, dorthin wo der „gedankliche Rohstoff [...] mit der Frömmigkeit in [...] Beziehungen steht, ehe er mit Hilfe der Philosophie zu festen theoretischen Sätzen mit eignem Erkenntniswert verarbeitet worden ist“. [55] Es geht ihm also um eine „Rekurrenz“ auf den Glauben affizierenden Größen, die den ausformulierten Bekenntnisse oder Dogmen der Kirche, in die sie schließlich einmünden, noch voraus liegen, d. h. es geht ihm um die Suche nach Beschreibungen dessen, was im Akt des Glaubens eigentlich psychologisch und erkenntnistheoretisch vor sich geht, bevor dieser nach außen tritt. Nicht der feste dogmatische Begriff und der ihm eigene Erkenntniswert, sondern sein ihm vorausliegende und ihn begründender „Rohstoff“ in Gestalt der „Frömmigkeit“ ist es, die hier interessiert. In Schleiermacherscher Diktion wäre dies das ahnende „Vorgefühl“ zu nennen, das zwar „zweifellos eine Bewußtseinsintention“, aber eben noch kein klar konturiertes „Bewußthaben“ ist, wie es sich dann in der festen Formulierung von Glaubensinhalten, Begriffen, Dogmen etc. niederschlägt. [56]

Um diese sozusagen „prä-dogmatische“ Frömmigkeit zu erhellen, muss aber nun auf die biblischen Schriften selbst zurückgegangen werden, durch deren „Grundstimmungen“ [57] für Niebergall ebenjene Persönlichkeit und Gemeinschaft prägende Frömmigkeit immer wieder aufs Neue stimuliert werden. Dies zeichnet er an zentralen Texten wie Ps 23, Röm 8,28–39, 1Joh 3,1, Vaterunser und Bergpredigt nach, aus denen Menschen durch alle Zeiten hindurch immer wieder neu einen „Optimismus“ in Gestalt von Halt, Trost oder individueller und gemeinschaftlicher Orientierung ziehen und in ihre Lebenswelt einbinden. [58] Bei diesen durch die biblischen „Grundstimmungen“ ausgelösten Affektionen unterscheidet Niebergall darum zwischen „Motiven“ und „Quietiven“. [59] D. h. es geht um „Gedanken, die einerseits zur sittlichen Tat anregen und die andererseits das Gewissen des Einzelnen beruhigen.“ [60]

Die architektonische Zusammenstellung dieser wesentlichen Hauptgedanken des Christentums ist in Niebergalls Entwurf wie folgt: [61]

Methodisches (313–316)
[I] Die ewige Welt(316–339)
[a] Der Himmel (316–324) [b] Gott (324–339)
[II] Das Heil (339–374)
[IIa Der erste Gedankenkreis: Das Lebens- und Weltziel in Gott]
[a] Gottes Leitung; Vorsehung und Wunder (339–348) [b] Schöpfung (348 f.)
[IIb Der zweite Gedankenkreis: Das menschliche Tun in Abkehr von und in Ausrichtung auf Gott]
[Einleitung:] Erlösung von Sünde und Schuld (349 f.)
[a: Die negative Triade (= Sünde, Schuld, Strafe)] [b: Die positive Triade (= Vergebung, Wiedergeburt, Erlösung)]
Die Sünde (350–362) Vergebung der Sünden (362–365) Wiedergeburt (366–368) Die Erlösung von der Welt (368–371)
[Zusammenfassung:] Kindschaft Gottes (371–374)
[III] Jesus Christus (374–392)
[a] Der Heiland (374–384) [b] Der Sohn Gottes (384–387)
[Anhang] [62]
[a] Heiliger Geist und Dreieinigkeit (387–389) [b] Die letzten Dinge (389–392)

Allein schon am Umfang der einzelnen Teile wird deutlich, wie Niebergall den aus einem subjektiven „Erlebnis“ der Verschränkung von Reich-Gottes-Gedanken („ewige Welt“, Teil I) und Erlösungsgedanken (Teil IIa) in Christus (Teil III) entstehenden Heilsglauben ins Zentrum seiner Dogmatik stellt. Diese erlebte, innere Welt des Glaubens ermöglicht durch die Überwindung ihrer negativen Gegensätze, die als Sünde beschrieben werden (Teil IIb), den subjektiven sittlichen Fortschritt hin zur ewigen Welt. [63] Niebergall will mit seiner Dogmatik dem Prediger bei der „praktischen“ Ausführung genau dieser Zusammenhänge in Predigt und Unterricht unterstützen. Dogmatische Zusammenhänge, die sich dem entziehen, werden dabei von ihm entweder nur kurz abgehandelt oder in den Anhang verschoben. Dies betrifft, darin Schleiermacher nachfolgend, v. a. die Trinitätslehre und die Eschatologie. [64]

Bei der inhaltlichen Durchführung der einzelnen Abschnitte folgt Niebergall dabei einem (allerdings eher impliziten und nicht immer durchgehaltenen) Dreischritt aus (1) der Formulierung des idealen christlichen Gehalts, (2) der Suche nach historischen, bildlichen oder symbolischen Anschauungsmöglichkeiten für dieses Ideal und (3) der Nachzeichnung des sich aus dem Ideal und seiner Anschauung ergebenden psychologischen Eindrucks und Folgerungen für die Praxisgestaltung.

4.3 Die materiale Durchführung

4.3.1 Abschnitt I: Die ewige Welt

(1) Der Himmel.Ideal: Ausgangspunkt der materialen Dogmatik ist für Niebergall der Begriff des „höchsten Gutes“ als eines „Wertes über allen Werten“ bzw. eines absoluten „Wertmaßstabs“. [65] Ohne diesen absoluten Wert habe „die ganze christliche Religion und kirchliche Verkündigung gar keinen Sinn und Zusammenhalt“, da das Evangelium in all seinen Teilen selbst Spiegel dieses ewigen und absoluten höchsten Gutes sei. [66] Das Vorgehen der Praktischen Dogmatik muss es darum, ganz in vermittlungstheologischer Absicht, sein, „daß wir uns aus unserer Grundstimmung heraus einen Begriff von diesem höchsten Gute machen, aber uns zugleich auf die Mittel und Wege besinnen, wie wir es Alt und Jung zur Kenntnis bringen können.“ [67] Symbol für dieses Gut aber sei der Himmel als „Ort der Werte, [...] da das Vollkommene wohnt“ [68]. Um ihn zu beschreiben, schlägt Niebergall dem Prediger die Methode der via negationis vor: Der Himmel solle nicht als der Ort „des Wiedersehns“ oder eines Nirvana-ähnlichen „Aufgehn[s] im Universum“ beschrieben werden, sondern als die Verwirklichung der höchsten Werte, welche alle Raum- und Zeitbegriffe sprengt und sich auch der bildlichen Spekulationen im, auch noch so hehren, irdischen Gleichnis (z. B. als Stadt, Licht, Heimat) entzieht. [69] Auch Jesu Himmelreichsgleichnisse, etwa vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle, zeigten eben keine Inhalte, sondern den absoluten Wert des Himmelreiches. [70]

Anschauung: Um aber trotz dieses Entzugs von fester Vorstellung für „Anschauung“ zu sorgen, rät Niebergall, und darin ist er als Adept der liberalen Theologie seiner Zeit deutlich erkennbar, dazu, das „Persönlichkeitsleben“ Jesu selbst als Gleichnis des höchsten Gutes zu wählen: [71]

„Diese eigenartige Weltüberlegenheit, diese Zusammenfassung aller seelischen Kraft, diese Eigentümlichkeit im Großen und Guten [...]. Das ist gleichsam der Stoff, aus dem unser Himmel gemacht ist. Darum ist es der Himmel, im Herrn, in Christus zu sein. Christus ist aus dem Himmel gekommen, wie er aus Gott oder aus der Wahrheit gekommen ist. Er ist in den Himmel zurückgegangen, weil er in die Sphäre der geistigen Weltzurückkehrt ist, aus der er kam. [...] Christus im Himmel und der Himmel in Christus – das gilt es nicht nur einmal, sondern immer und wieder zu sagen“ [72]

Deutlich ist hier ein, zwar in das „geschichtliche Gewand“ eines dieser Welt angehörenden Jesus gekleidetes, darin jedoch grundsätzlich unhistorisches, in gewisser Weise auch doketisch-gnostisierendes Jesusbild, das Christus als vom Himmel gesandten Erzieher zu ewigen, geistigen Werten zeichnet, welche in ihm auf geheimnisvolle Weise beschlossen sind. [73] Diese Werte sieht Niebergall im Stil der Zeit in Jesu „Weltüberlegenheit“ und „seelischer Kraft“ ausgedrückt. Von dieser Verbindung von Himmel und Jesus ausgehend kann Niebergall nun „gemäß unserer sinnbildlichen Glaubensauffassung“ den Blick aber auch weiten und den Himmel nicht nur durch Jesus, Gott und den Heiligen Geist erschlossen, sondern auch von einer „Gemeinschaft persönlicher Geister“ bevölkert sehen: Patriarchen, Propheten, Franz von Assisi, Luther, Eltern, Ehepartner „und was uns sonst immer teuer ist“. [74] Solange es darum geht, „mittels gefühlskräftiger Anschauungen die rechten Gefühle gegenüber“ [75] den himmlischen höchsten Werten zu wecken, sind für Niebergall all diese Vorstellungen über eine himmlische Gemeinschaft der Erlösten praktisch-dogmatisch durchaus zu begrüßen.

Eindruck: Um diese Ausrichtung auf die im „Himmel“ symbolisierten „Werte“ durch sinnliches Erleben zu verstärken, gibt Niebergall abschließend einige Hinweise, wie durch den sorgsamen Einsatz von Kunst und Musik, von bestimmtem Liedgut, von Rede, Feierlichkeit oder Stille „das Heilige und Hohe selbst dem Gefühl so unmittelbar nahe“ gebracht werden kann, „wie das überhaupt nur geht“. [76] In einer so gestalteten inneren und äußeren Einheit von „Erlebnis und Wort“ sollen die „Erlebnisse des Handelns, Erleidens und der Feier“ zusammengebunden, so dass schließlich „das Ewige“ selbst „erfahren werden“ kann. [77]

(2) Gott:Ideal: Im zweiten Unterabschnitt widmet sich Niebergall dem Problem der Gotteserkenntnis, und zwar in der speziellen Hinsicht, welches Bild von Gott die Verkündigung vor Augen malen müsse, um „dem christlichen Glaubensdenken [...] zu seiner Grundstimmung“ im Verhältnis zur Person Gottes zu verhelfen. [78] In der Haltung gegenüber Gott erweiterten sich wie von selbst die „Grundstimmung“ des „Optimismus“ zum „Vertrauen“, der „sittliche Grundzug“ zum „Gehorsam“ und der „transzendente zur Ehrfurcht“. [79] In dieser Haltung aber liege die Wurzel des christlichen Ideals einer frohen und friedlichen Persönlichkeit im vertrauensvollen und ehrfürchtigen Gegenüber zu Gott. Um dieses Ideal zu erreichen, müsse aber Gott korrespondierend zuallererst als „Wille“ gedacht werden, [80] der solch Vertrauen, Gehorsam und Ehrfurcht darum auf sich ziehen kann, weil sein Inhalt und Wesen eben „das Gute“ ist, das im Symbol des Himmels angeschaut wurde. [81] Dieser Wille kann darum nicht nur „Wunsch“ und „Sollen“, sondern muss vielmehr „Geschehen“ und „Sein“ sein, welches „Wert“ und „Wirklichkeit“ zugleich ist. [82]

Anschauung: Im Folgenden gibt Niebergall nun Beispiele, an welchen Orten diese Wirklichkeit Gottes zu erkennen sei. Er tut dies jedoch in einer stark entdifferenzierenden Vereinerleiung: Natur und Geschichte, Gewitter und Weltkrieg sind für ihn im Grunde dieselbe Art der Offenbarung göttlicher Wirklichkeitsmacht und Machtwillens. „[S]ittliche Gestalten wie Mose und Kant“ ließen Gottes Reich des Guten, „tiefe“ Persönlichkeiten wie „Jesus, Augustin oder Plato“ dagegen seine „geistige Welt persönlichen, weltüberlegenen Lebens“ erahnen. [83] Diese verschiedenen Orte aber bieten Niebergall nun zugleich auch jenen „Vorrat von Bildern oder genauer von Modellvorstellungen“, mit welchen man die Abstrakta von Gottes Wirklichkeit wiederum in die Anschaulichkeit hineinziehen kann. [84] In diesem Sinne wird Gott dann einerseits in Begriffen wie Universum, Macht, das Unendliche, das Ungeheure, das Weite, die Weltseele, die Natur, das Leben, der Grund zugänglich, die nicht von einem „bewußte[n] Willen“, sondern von der Vorstellung einer gewaltiger Übermacht ausgehen oder aber andererseits in personalen Begriffen wie König, Herr, Richter, Vater, die von Modellbildern für sittliche Persönlichkeiten und ihrem „Wertwillen“ ausgehen. [85] Beide Arten von Bildern sind für Niebergall notwendig, damit sie sich in ihren jeweiligen Einseitigkeiten gegenseitig erhellen und korrigieren können: „Ausdehnung und Kraft ohne Wille ist blind, Wille aber ohne Ausdehnung und Kraft ist schwach.“ [86] Und für Gott müsse eben beides, Wille und Macht, gegeben sein. [87]

Diesen Bildern stellt Niebergall dabei nun jedoch noch zusätzlich sein eigenes Bild des Erziehers für Gott an die Seite, obwohl es nicht biblisch sei: [88]

„Daß man dabei Gott nicht im Geist der alten Prügelpädagogik oder in dem der alten vergewaltigenden Erziehungsweise faßt, versteht sich von selbst. [... E]s ist [stattdessen] der Geist eines Verfahrens, das Leben des Zöglings so zu gestalten, daß er sich unter der Nötigung, diesen so zum Guten gestalteten Verhältnissen anzupassen, entwickelt, damit die in ihm steckenden Anlagen ganz herausgearbeitetwerden. [...] Erziehung zur Lebensfähigkeit durch Lebensgestaltung.“ [89]

Eindruck: Aus der Anschaulichkeit dieses Gottesgedankens soll sich für Niebergall nun ein religionspsychologisch wirksamer „Untergrund unseres Innenlebens“ ergeben, die Gott in allen Lebenssituation „immer dicht unter der Schwelle des Bewußtseins“ hält. [90] Er versteht darunter ein stetiges „an Gott denken“:

„An Gott denken – in freudigen und schweren Erlebnissen und angesichts großer Entscheidungen und Aufgaben; an Gott denken, also ihn mit Willen als Motiv und Quietiv in das Seelenleben hereinziehen, um seinen Einfluß gegen niederdrückende oder niederziehende seelische Mächte aufzubieten. Ist so Gott erschienen auf dem Felde unsres Bewußtseins, dann muß er sich selbst mit seiner Macht geltend machen [...]. Das höchste Ziel bleibt freilich die volle Kraft und der tiefe Friede der Seele [...], die Gelassenheit und Gehaltenheit des innern Lebens [...].Wer Gott einmal in seiner Verzweiflung gefunden, geht nicht mehr von ihm ab. Nur das ist wirklich Gott, die Macht, die einen Menschen von der Verzweiflung zu erretten und wieder auf einen festen Stand zu stellen vermag.“ [91]

Die Gesamtheit des Glaubens als Lebensvollzuges in Passivität und Aktivität, Handeln und Verantworten, Erleben und Vertrauen in Ausrichtung auf Gott findet so seine Zusammenfassung in diesem stetigen „an Gott denken“.

Zur „höchsten Stufe“ dieses Lebensvollzuges erklärt Niebergall dabei das Gebet, „und zwar in seinem ganzen Umfang als Gebetsleben. Wer an den persönlichen Gott glaubt, betet; wer nicht betet, glaubt auch nicht wirklich trotz aller Theorie an den persönlichen Gott.“ [92] Dabei lehnt er allerdings die vor allem mit dem Bittgebet verbundene „unpersönliche“ Vorstellungen von Gott als einer Art

„[...] Automat [...], der auf den Einwurf eines Gebets herausgeben muß, was der Beter verlangt“ ebenso ab wie „die in manchen überfrommen Kreisen herrschende anmaßende Vorstellung [...], als müßte Gott erhören, wenn nur recht viele Beter ihre geistige Kraft auf ein Ziel vereinigen, um etwa das Ziel der Weltmission zu beschleunigen“. [93]

Stattdessen müsse man Gott im Gebet

„[...] nach dem Modell eines heiligen menschlichen Willens [...] denken, mit dem man sprechen kann [...] Beten heißt ihm alles sagen, was durch unsere Seele geht; oder psychologisch ausgedrückt, Beten umfaßt alle auf Gott beziehbaren Affekte.“ [94]

Im letzten Unterabschnitt geht Niebergall nun abschließend auf die Verknüpfung des Wortes „Gott mit dem Bild von Jesus Christus“ ein. Dabei will er die „altgriechische Denkweise“ ablegen, „die wesentliche Einheit beider vermöge der Trinität und der Menschwerdung“ zu denken. Vielmehr soll die Einheit dadurch hergestellt werden „daß in Jesus der Wille erkannt werden, der Gott beherrscht. So ist tatsächlich Gott der in die Allmacht erhobene Jesus Christus, oder Jesus das Modell für den Willen Gottes, der nur der Erhebung in die Allmacht bedarf“. [95] Diese Auffassung der traditionellen Christologie dient für Niebergall nun aber überraschenderweise nicht einer eigentlichen Dogmenkritik, sondern soll einer vereinseitigten Jesusfrömmigkeit wehren, die Gott nur das Unheimliche, Zornige und Untergründige, Jesus dagegen die Gnade und die Versöhnung zuschreibt. Diese Abwehr geht nun aber umgekehrt so weit, dass Jesus bei Niebergall sozusagen zur bloßen „Ableitung“ von einer vorgängigen, und auch für die Praxis „wertvolleren“ Gotteserkenntnis wird:

„Wir dürfen eher von Jesus schweigen als von Gott. Wir müssen lernen, ganz naiv und sicher von Gott zu reden als von der sichersten Wirklichkeit. Der Gedanke ‚Gott‘ muß unbedingt den begleitenden Ton für alle unsere Aussagen bilden [...]. Für einen Kult von Jesus oder auch von Christus sind unsere Kirchen nicht gebaut. Das beherrschende Leitwort muß unter allen Umständen das paulinische ‚Gott in Christus‘ sein. Dabei muß auf der einen Seite das erste der beiden Wörter betont werden, um ja einen bloßen Christuskult auszuschließen, auf der anderen Seite aber auch das zweite; denn damit wird Gottes Art und Wille bezeichnet.“ [96]

Während die praktisch-dogmatische Aufgabe für Niebergall nun genau an dieser Stelle der Erkenntnis endet, „daß wir von Gott nur in Aussagen über seine Affekte sprechen“ können, wie sie sich im Glauben niederschlagen, so sieht er für die eigentliche Systematische Theologie darüber hinaus weiterhin die Aufgabe, „diese affektvolle Erkenntnis des affektvollen Gottesbildes durch Spekulation metaphysisch zu stützen“. [97] Auf solche „spekulativen“ Gehalte der Gotteslehre will er selbst aber nicht mehr eingehen, da die Frage danach in der Praxis nur höchst selten aufkäme.

4.3.2 Abschnitt II: Das Heil

(1) Gottes Leitung: In diesem Abschnitt geht Niebergall zunächst von dem grundsätzlichen Gegenüber von Sein und Sollen aus. Die ganze den Menschen umgebende, unüberschaubar plurale Welt, das „Sein“, begegnet ihm im Lichte des Glaubens nämlich immer wieder als Aufruf zu einem tätigen „Sollen“. Die Welt ist so „voll von Gelegenheiten zur Liebe; wir können auch sagen, zu jeder andren Tugend, zur Geduld, zur Selbstverleugnung, zum Bekenntnis der Wahrheit und was es sonst immer sei. Das Geschehen bekommt eine Beziehung auf das Soll, die Wirklichkeit auf den Wert. Gaben werden zu Aufgaben aber auch Versagungen werden zu aufgaben. Das ist praktisch erlebbarer teleologischer sittlicher Optimismus.“ [98] Dieser Aufruf zum Sollen aber ist wiederum durch Gottes „Willen“ motiviert, der Menschen zu einem „sittlichen“ und „rechtlichen“ Leben anhält, wie es dem Handeln Gottes als selbst sittlich und rechtlich entspricht. [99] Als den „psychischen“ Ort, an dem sich diese Wahrnehmungen von Sein und daraus folgendem tätigem Sollen abspielen, beschreibt Niebergall dabei das Gewissen, in dem sich „der größte Teil unsres Erlebens gleichsam aus seinem [...] chaotischen Zustand zu einem organischen Ganzen zusammenordnen“ [100]. Dieses sich ordnende Erleben aber ist wiederum „der Anfang zu einem umfassenden Verständnis des Lebens [...], weil sich ein Wert ergibt, der als Sinn dienen kann“ [101]. Diesen sinnproduktiven „Wert“ nennt Niebergall „Reich Gottes“. [102] Dieser Wert vermag es, das ganze umfassende menschliche Leben und Erleben neu zu orientieren, so dass aus ihm „dann langsam in dem bekannten Vorgang der Heterogonie der Zwecke alles [wird], was gut und tief und fromm heißt. [...] So schafft das Leben von außen, was der heilige Geist Gottes von innen anbahnt: geistige Freiheit und Liebe.“ [103] Diese Lebensorientierung als Produktion von Wert und Sinn innerhalb der Pluralität des umgebenden Seins ist es, das Niebergall nun mit Gottes Vorsehung und Leitung im persönlichen Leben wie innerhalb des Weltgeschehens identifiziert. [104] Kurz streift Niebergall dazu auch die Frage des Wunders. Diese versteht er als Durchbrechung des von Menschen als Naturzusammenhang konstruierten Seins durch Gott, die für den Glauben seine unberechenbare Schöpferkraft und Vorsehung bestätigen und zugleich die Relativität der menschlichen Weltwahrnehmung aufzeigen. [105]

(2) Schöpfung: Nur sehr kurz hält sich Niebergall mit dem Komplex der Schöpfungslehre auf. [106] Sie ist für ihn nichts weiter als eine christliche Betrachtungsweise des gegebenen Daseins:

„Wir haben hier nichts weiter zu sagen, als daß wir unsere Grundüberzeugung auch in einem Glauben ausdrücken können, der die Entstehung der Welt wie ihr gegebenes Dasein dem Willen, der Werte gibt und Werte nimmt, unterworfen denken muß. [...] So haben wir es also weder mit einem Wissen noch mit einer Spekulation noch mit einem Urteil über die Entstehung der Welt, sondern mit einer Beurteilung durch den Glauben zu tun, wie sie als Erfordernis und als Voraussetzung zu dem [...] praktischen Glauben des Lebens gehört.“ [107]

Damit hat für Niebergall die ganze Schöpfungslehre schon ihr Bewenden. [108]

(3) Erlösung von Sünde und Schuld: In diesem Abschnitt erklärt Niebergall mit dem Schöpfungsglauben zunächst den ersten „praktischen Gedankenkreis“ für „abgeschlossen“ (eine Einteilung, die er zuvor nirgends deutlich machte), in dem es darum gegangen sei, „alle gefühlsbetonen, also wichtiger[e]n Erlebnisse [...] auf das große Lebens- und Weltziel, das Reich Gottes und höchste Gut“ zu beziehen. [109] Diesen Gedankenkreis fasst er jetzt so zusammen:

„Gott gestaltet sie [sc. die Erlebnisse] als der Leiter von Leben und Welt so, daß sie als Wege zu jenem Ziele führen müssen. Damit bekommen sie einen einheitlichen Sinn, im Geist unsres zugrundegelegten Optimismus, also in jenem des Glaubens, werden sie bewältigt und verarbeitet. Am besten wird man ihrer Herr, wenn man sie als Reize zu allem Guten auffaßt und so auf sie reagiert. Aus Erlebnissen werden also Taten Gottes und wieder Handlungen des Menschen.“ [110]

Daran schließt Niebergall nun den zweiten Gedankenkreis an, der „weniger unser Erleben als unser Tun“ zum Inhalt habe und zwar „[b]esonders [...] das abnorme Tun, also was wir mit Sünde und Schuld bezeichnen“. [111] Darunter versteht er die nachträgliche Neubewertung eines Tuns als „Unlust“, auch wenn es selbst „aus Lust und mit Lust geschehen sein“ mag. [112] Es geht in diesem Gedankenkreis also sowohl um das menschliche Tun selbst als auch um seine (nachträgliche) Bewertung und die sich aus diesem Tun und seiner Bewertung ergebenden weiteren „Erlebnisse“. Darum müsse auch der Begriff der „Strafe“ noch hinzugezogen werden, um „die entscheidende ethische Dreiheit voll“ zu machen. [113]

Dieser negativen Triade von Sünde, Schuld und Strafe stellt Niebergall nun die positive Triade von Erlösung, Vergebung und Wiedergeburt gegenüber. Diese Gegenüberstellung kennzeichnet er als Ausdruck einer „zweifache[n] Erfahrung“, dass „jenes abnorme Tun zu Erlebnissen hingeführt [wird], die das Erleben der Strafe überwinden“ und „zugleich [...] auch wieder die Fähigkeit zu neuem besserem Tun“ herstellen. [114] Die optimistische Grundstimmung des Glaubens soll durch die Überwindung ihrer Hinderung und immer erneute Ausrichtung auf das höchste Gut wieder hergestellt werden. [115] Diese „positive[n] Vorzeichen“ seien dann wiederum auch für die Predigt zu beachten. [116]

(4) Sünde, Schuld, Strafe:Ideal: Niebergall unterscheidet zunächst grundsätzlich zwischen „Sünde“ und „Sünden“ auf der einen und „Schuld“ und „Schulden“ auf der anderen Seite.

Als Sünde bestimmt er primär ein grundsätzliches und in den Tiefen der Seele liegendes „Unrecht gegen Gott oder Unrecht [...] unter dem Gesichtspunkt Gottes“. [117] Sie ist alles, „was gegen das Ideal der Persönlichkeit und der Gemeinschaft verstößt“, und sei es nur die feinste „Regung des Widerwillens gegen das Gute“. [118] Dieser grundsätzliche Widerstand gegen Gott findet seinen Ausdruck in den einzelnen Tatsünden (als Beispiele nennt er Mord, Ehebruch, Meineid, Habsucht, Ehrgeiz, Wollust). [119]

Als Schulden bestimmt er hingegen „einzelne Taten, die uns aufs Gewissen fallen, weil wir uns damit gegen unsre Pflicht verfehlt haben“. [120] Diese Einzeltaten gerinnen zur „Schuld“ als einem „Vergehen gegen Gottes Gebot und unsere Pflicht“, welches aber aus „eignem Wissen und Willen [geschieht], für das wir also verantwortlich sind“. [121] Als Ergebnis dieser Gegenüberstellung hält Niebergall fest:

„Ueberwiegt also bei dem Wort Sünde die Beziehung auf Gott und seine Maßstäbe, so bei dem Wort Schulden die auf unser eigenes Ich und seine von uns verletzte Pflicht. [...] Ist die Voraussetzung der Sünden der ewige Maßstab Gottes, so die der Schulden das menschliche Gewissen und die Freiheit, also die Fähigkeit, die Pflicht zu erkennen und zu tun. So kann es Sünde geben, die keine Schuld ist, aber jede Schuld ist Sünde. [...] Unrecht wird Sünde, weil es einem Willen widerspricht, der hinter den Gesetzen und Idealen steht; Sünde wird Schuld, weil sie Tat oder Ausfluß eines menschlichen Willens ist, der etwas dafür kann.“ [122]

Den dritten Begriff der Strafe ordnet Niebergall den beiden anderen nun im Sinne des (von ihm jedoch nur implizit beschriebenen) Tun-Ergehens-Zusammenhanges zu. Das eigene schuldhafte oder sündige Verhalten wird nämlich über kurz oder lang zwangsläufig „üble Folgen“ zeitigen, welche dann „als Strafe empfunden werden müssen. Leichtsinn macht krank, Ehrgeiz lächerlich, Faulheit arm, Eitelkeit nervös; irgendeine Folge übler Art hat die Sünde immer.“ [123] Dass dieser inhärente Zusammenhang der Erfahrung nach nicht überall sofort ins Auge springt, muss seiner Wahrheit für Niebergall keinen Abbruch tun. [124]

Anschauung: Niebergall verwendet breitere Passagen darauf, Anschauungsmöglichkeiten für die Manifestation von Sünde und Schuld im menschlichen Lebensvollzug der Hörer zu finden. [125] Er nennt hierfür: (1) die Erfahrung des „Rückschlags“ oder der „Gegenwirkung“ des Bösen gegen das Gute, wo das Gute gewollt, aber Böses bewirkt wird; (2) die Erfahrung des schnellen Umschlags von positiven in negative Gesinnungen und Verhaltensweisen (Sparsamkeit in Geiz, Klugheit in List, Charakter in Eigensinn); (3) die Erfahrung des „Motivwandels“ in der Ausführung von Zwecken, der hierzu je nach Widerstand gegen das eigene (und vielleicht zuerst in den besten Absichten geschehenden) Handeln schließlich bis auf die bösesten und bis zur Selbstzerstörung reichenden Mittel zur Erreichung des eigenen Zwecks zurückgreift. [126] All dies ist in je gradueller Steigerungsmöglichkeit Ausdruck für das grundsätzlich Böse, welches sich des menschlichen Tuns, seiner Ansprüche, Zwecke, Mittel und Ziele bemächtigen kann. [127] Niebergall greift hier auch auf die augustinische Definition des Bösen als privatio boni zurück und beschreibt es als „Mangel an Wertschätzung“ gegenüber „Gütern und Werten“. [128] Wo dieser Mangel schließlich jedes „Vertrauen zu dem Wert und des Kraft des Guten“ ergreift, „da herrscht Verzweiflung in der schlimmsten Form“. Diesen Zustand bezeichnet Niebergall mit dem Begriff der „Hölle [...], wo die Menschen nicht nur Elend werden aus Bosheit, sondern immer böser werden auf Verzweiflung“ [129].

Aufgrund entwicklungspsychologischer Erwägungen erklärt Niebergall den Umfang von Schuld für „kleiner als de[n] der Sünde, weil sich unser sittlicher Wille nur langsam klärt und wächst.“ [130] Dabei wird Schuld von ihm primär als eigene Schuldwahrnehmung verstanden, die an die Bedingungen Selbsterkenntnis, Selbstreflexion und Selbstbestimmung geknüpft ist. Aus diesem Grund sind Handlungen, die temporal vor einer solchen Einsicht oder vor der Möglichkeit ihres Erlernens liegen, für Niebergall „schuldfrei“. Das Leben wird jedoch umso mehr „schuldhaft“, je weiter man sich von diesem unreflektierten Zustand zum „sittlich empfindenden Menschen“ fortentwickelt. [131] Diese Handlungen sind dann schuldhaft, „weil wir uns selbst durch eigne Tat oder Unterlassung [...] unsrer Freiheit, d. h. der Herrschaft über uns beraubt haben.“ [132] Auch wenn schuldhaftes Handeln also mit dem Lebensfortschritt progressiv ansteigt, so gehört für Niebergall noch eine weitere Steigerung dazu, dies auch tatsächlich als eigene Schuld anzuerkennen. [133] Diese Anerkennung ist für Niebergall höchst selten und deutlich von Formen wie einem lamoryanten Klagen über die Umstände, die einen zum schuldhaften Tun getrieben hätten, von pharisäischer Selbstbezichtigung als Selbstüberhöhung oder von zwanghaften Schuldkomplexen zu unterscheiden. [134] Echte Schuldanerkennung ermöglicht neue Freiheit und eine erneuerte „Wertschätzung des innersten Ich“, welches durch die Schuldanerkennung die Ideale der eigenen „Lebens- und Weltanschauung [...] bejaht und rechtfertigt“. [135]

In ähnlicher Weise hebt Niebergall auch für die Anschauung der Strafe auf ein Strafbewusstsein ab. Dieses bestehe darin, dass jeden „ernsten und gewissenhaften Menschen“ Schuldgefühle plagen, die negative Auswirkungen auf seinen Lebensvollzug und sein Glaubensleben haben müssen:

„[S]ie müssen mit sich unzufrieden sein und sich verachten [...]. Es fehlt ihnen an dem sonnigen Vertrauen, das das Wesen unsrer religiösen Grundauffassung [...] ist. Ein Schatten fällt aus ihrer trüben Grundstimmung in ihr Leben hinaus, und macht die Vergangenheit zur Strafe, die Gegenwart zur Qual und die Zukunft voll Sorge und Angst. [...] Wer damit unzufrieden ist, weil das ja ‚bloß‘ eine Strafe für das Bewußtsein sei, der weiß nicht, wie wir weniger in den Dingen als in den Gedanken über die Dinge leben und darin unser Glück und unser Unglück finden. Die Strafe liegt also darin, daß uns Christen jene Grundstimmung des Vertrauens zu Gott abhanden kommt; ihr Mangel ist beides, Ursache und Strafe der Sünde [...]. Es ist also diese Strafe eine Beeinträchtigung unsres Rechtes, mit Gott zu verkehren und zu leben, wie es seine lieben Kinder dürfen. Ist doch überhaupt die Strafe eine Beraubung gerade des Gutes, an dem einem etwas liegt.“ [136]

Ausdrücklich bezeichnet Niebergall dies nur als Auffassung „für Christen, denen etwas an Frieden und Gemeinschaft mit Gott [...] gelegen ist [...]. Sie empfinden dann diese innern Folgen ihrer Abweichung von Gott [...] als Auswirkung des Zornes Gottes, der aber nicht aufhört, ihr Vater zu bleiben. Es sind also Erziehungsstrafen [!], die sie erleiden müssen.“ [137] Den Makel, dass sich aus einem solchen subjektiven Bewusstsein nun keine umfassende theologische Theorie über den Zusammenhang von Bösem, Sünde, Schuld und Strafe gewinnen lässt, begründet Niebergall mit dem Zweck der Praktischen Dogmatik: Es gehe in ihr ja nicht um eine „sittliche oder juristische“, sondern allein um „eine religiöse Auffassung für die Gläubigen“ selbst. [138]

Eindruck: Zuletzt gibt Niebergall einige ausführlichere Hinweise darauf, in welcher Weise und mit welchem Ziel diese Zusammenhänge in der Predigt zur Sprache kommen sollen. Dazu sei es erst einmal nötig, den Hörern zu einer Erkenntnis von Sünde und Schuld zu verhelfen, die sich im Bekenntnis der eigenen Sünde ausdrückt, bevor dann das eigentliche Ziel ihrer Überwindung in Angriff nehmen könne. [139] Dazu stellt Niebergall mehrere Möglichkeiten vor: Anhand des Spiegels der Gebote Gottes könne zuerst das entsprechende Ideal dargestellt werden, so dass den Predigthörern ihr eigener Abstand zu diesem deutlich würde. [140] Da aber viele Menschen von sich selbst nur zu gern Gutes denken und sich so über sich selbst täuschen, hält Niebergall es zweitens für nötig, die Sünde in der Tat „beim Namen zu nennen“ und ihre innerweltlichen Ausdrucksformen zu beschreiben, ohne dabei aber spezifisch auf Personen oder aktuelle Probleme als Anschauungsmaterial einzugehen. Die Sünde soll dabei nicht als „größte Verderbtheit“, sondern als allgemeine Möglichkeit zum Bösen beschrieben werden, die wie „Fetzen vom Gewand des alten Menschen“ auch „an den Besten und Frommsten“ und zuerst auch am Prediger selbst hängen bleiben. [141] Dazu könne es drittens hilfreich sein, die Gemeinde zur Selbstbeobachtung anzuhalten, um so ihre Schuldeinsicht zu fördern oder aber (im Sinne der aus dem Tun folgenden Strafe) aus der Beobachtung eines aktuellen Übels in ihrem Leben auf ihre zugrundeliegende Sünde zu schließen. [142]

Schwieriger sei es nun, von dieser allgemeinen Erkenntnis der Sünde zu der Erkenntnis eigener Schuld zu kommen und dazu die allfälligen Selbstgerechtigkeiten und den Selbstbetrug zu überwinden. Ganz im Sinne der oben genannten Anschauungen solle dazu zunächst der Widerspruch zwischen einer freudigen Schuldidentifikation bei anderen und der Abwehr eigener Schuld aufgezeigt und die befreiende Wirkung des Schuldeingeständnisses hervorgehoben werden, während zugleich dem Abschieben der eigenen Schuld auf „die Umstände“ ein Riegel vorgeschoben werden soll. [143] Das Gewissen und die Schuldeinsicht sollen dabei aber nicht etwa durch Drohung mit Höllenstrafen geweckt werden, sondern gerade im Spiegel des Angebotes der Gnade und Vergebung deutlich werden. [144] Wie auch in der Seelsorge kann das Schuldeingeständnis nicht erzwungen werden, sondern der Prediger soll vielmehr darauf hinwirken und dazu verhelfen, dass dieses Bekenntnis aus freier Einsicht erfolgt und darum nach der Gnade verlangt. Dies korrespondiert damit, dass als Ziel dieses Bekenntnisses nicht die Erkenntnis des Menschen als „reuigem Sünder“, sondern die Wiederherstellung des Christenmenschen als mit sich und Gott in Ruhe und Frieden lebendem Individuum ausgegeben wird. [145]

(5) Vergebung der Sünden/Wiedergeburt/Erlösung von der Welt/Gotteskindschaft: Während Niebergall die negative Triade von Sünde, Schuld und Strafe als einen einzigen ineinandergreifenden Komplex behandelte, so teilt er die diesen Komplex überwindende positive Triade von Vergebung, Wiedergeburt und Erlösung im Folgenden auf drei eigene Abschnitte auf, die er schließlich in einem vierten Abschnitt im Begriff der ‚Gotteskindschaft‘ zusammenfasst. Da sich die Gedanken in diesen Unterabschnitten allerdings in großen Teilen überschneiden, werden sie hier zusammen behandelt, auch da sich Niebergall hier weitgehend auf die Darstellung des ‚Ideals‘ beschränkt.

So ist Vergebung für ihn definiert als „Erleben der Gnade Gottes. Sie wird erlebt als Aufhebung der Schuld und als Wiedergeburt des ganzen Wesens; sie ist also Erlösung in einem ernsten, tiefen Sinn.“ [146] Sie ist

„[...] der Triumph des sittlichen Personalismus, der Gottes freie Macht allen Bedenken zum Trotz festzuhalten weiß [...]. Gott, der persönliche sittliche Wille [...] hebt gewisse Folgen unseres bösen Tuns einfach auf, und wir dürfen uns darauf verlassen.“ [147]

Dies bedeutet nicht, das tatsächlich alle innerweltlichen Folgen des eigenen Tuns aufgehoben oder abgebrochen werden, vielmehr geht es darum, dass der innerliche Druck und die innerliche „Verdüsterung“ aufgrund des eigenen schlechten Gewissens durch die „unableitbare“ Botschaft der gnädigen Vergebung überwunden werden, so dass ein neues „freies und sicheres Streben zum Guten möglich“ wird. [148] Das Leiden aufgrund der eigenen Verfehlungen werde durch die Vergebung erträglicher, während die aus ihm folgenden Strafen als bleibende Mahnungen und Erziehungsbeispiele Gottes bestehen bleiben. [149] Da Niebergall die Vergebung als „innerliche“ Besserung des schlechten Gewissens begreift, ist es nur konsequent, dass er sie auch nur als „Bedürfnis gewissenhafter Menschen“ beschreibt. Diese „Voraussetzung“ des Gewissens sei jedoch in der Gegenwart mehr und mehr abhandengekommen, so dass sie in der Predigt der Sündenvergebung eine besondere Betonung erhalten müsse. [150]

Die Wiedergeburt wird von Niebergall nun in dem Sinne der Vergebung zugeordnet, als das sie auch deren aktive Seite betont. Während die Vergebung auf reinem Empfangen im Vertrauen beruht, ist dies bei der Wiedergeburt anders:

„Wiedergeburt ist der passive Ausdruck für das Ganze, der auch [...] die eigene Arbeit umfaßt. [... S]ittliches Neuwerden [...] kann nicht rein geschenkt, sondern es muß auch erworben werden, weil gemachtes Sittliches kein Sittliches mehr ist. Dadurch wird aber die religiöse Auffassung des Ganzen als Wiedergeburt nicht beeinträchtigt. Gott gibt wirklich das Wollen und Vollbringen, denn er gibt uns die höchsten Beweggründe zu den höchsten Aufgaben und ihm dankt der Glaube alles Gelingen. So tritt diese Gabe und das zu ihr gehörige Erlebnis neben die Vergebungsgnade.“ [151]

Auf diese Weise mündet die Vergebung in der Wiedergeburt als einer völligen Erneuerung des Sünders. Sie ist der religiöse Ausdruck für eine „gründliche und dauernde Umwertung der Dinge in Leben und Welt“, die zu einer völligen Neubesetzung aller „Gedanken, Worte und Werke“ in Hinblick auf „die ganze Fülle der idealen Güter und Lebensgewohnheiten“. [152] Darin ist die Wiedergeburt ein lebenslanger Prozess, der den Charakter des Menschen neu prägt. Diesem Prozess soll nun durch die Predigt geholfen werden, indem sie die erstrebenswerten christlichen Werte immer wieder anbietet und vorführt: „geistiges Leben, Innenleben, Frieden und Kraft, Gemeinschaft, [...] Liebe, geistige Haltung des Lebens usw.“ [153]

Dem dritten Begriff der „Erlösung von der Welt“ widmet Niebergall einen eher problemgeschichtlichen Abschnitt. Diese Erlösung soll nämlich weder mit theosophischer oder buddhistischer Erlösungslehre, noch mit Weltflucht oder Mystik verwechselt werden. [154] Stattdessen müssten die Erlösung von der Welt und die sittliche Wiedergeburt zum Leben in der Welt einander komplementär zugeordnet werden, denn dies allein entspreche dem Wesen des Protestantismus:

„[E]s muß erkannt werden, daß die sittliche Wiedergeburt zu einem reinen und guten Leben in der Welt abhängt von der Erlösung von der Welt. [... N]icht nebeneinander, sondern ineinander sollen beide Seiten des Lebens gerückt werden; durch das ewige Gut frei von der Welt, als ob es sie gar nicht gäbe, in der Kraft dieser Freiheit aber ganz auf den Dienst Gottes in der Welt gerichtet, als wenn wir nichts kennten als die in ihr gestellte Aufgabe. [...] Der Christ ist der Welt innerlich los und selig in Gott; aber umso mehr wird er geschickt, in der Welt den Willen des Vaters zu tun.“ [155]

Alle drei Begriffe bzw. ihre Anschaulichkeit finden nun für Niebergall in einem übergeordneten Wertbegriff zusammen, und zwar dem der Kindschaft Gottes. [156]

„Kind Gottes ist der Ausdruck für eine Stimmung und Gesinnung Gottes und der Welt gegenüber [...]. Es ist die Stimmung ruhigen Vertrauens auf Gott und einer Selbsteinschätzung des Menschen, die jener im armen Sünder vorausgesetzten gerade entgegengesetzt ist. Man weiß, daß man sehr weit hinter dem Ideal zurückgeblieben ist und noch dahinter bleibt; aber zugleich weiß man, daß man sich auf Gott verlassen und sich zu ihm rechnen kann, wie er uns vertraut und sich zu uns rechnet. [...] Das ist die Normallage des Christen.“ [157]

Dieser „Normallage“ der Kindschaft ordnet Niebergall nun abschließend drei Kennzeichen zu: [158] (1) Das Gebet als Ausdrucksform von Vertrauen und Gehorsam gegenüber dem Vater und seinem Willen; (2) eine Selbständigkeit gegenüber Gott, welche das Vorrecht der Kinder Gottes als Träger des göttlichen Geistes ist (vgl. Röm 8,14–17) und die sich im christlichen Gewissen als „Verbindung von Selbständigkeit und Bindung“ ausdrückt; (3) die Heilsgewissheit als eine Gewissheit der Erwählung zu Kindern Gottes im Glauben. [159]

4.3.3 Abschnitt III: Jesus Christus

(1) Der Heiland:Ideal: Nachdem Niebergall die Betrachtung des Heils abgeschlossen hat, will er nun im dritten Abschnitt die Frage angehen, wie „alle Verkündigung des Heiles mit Jesus Christus in Zusammenhang“ [160] steht. Niebergall stellt die Titulatur Jesu als Heiland an die Spitze, da sie seine helfende Funktion aufzeige, uns die „Erlebnisse“ des Heils so zu vermitteln, wie sie eben allein „auf dem Wege des Erlebens empfangen werden“ können. [161] Allerdings hat dieses Erlebnis des Heils für Niebergall nichts mit einer Offenbarung des Mittlers Christus zu tun, sondern sie ist vielmehr eine Frage der individuellen psychologischen Veranlagung:

„Wer z. B. das Ewige in der Gestalt der pantheistischen Mystik zu erleben veranlagt ist, wird es nicht leicht in der des personalistischen sittlichen Lebens erleben. Wer es aber darin zu erleben berufen ist, für den wird Jesus der Mittler werden können. Zugleich aber wird er uns in den Stand setzen, jede andre Art, bei aller Achtung für die Wahrheit des persönlichen Erlebens, als nicht christlich abzulehnen.“ [162]

Niebergall verwendet den Hauptteil dieses Unterabschnittes im Folgenden darauf, eine triadische Typologie der Zusammenstellung von Jesus und Heil zu entwerfen. [163] Dabei will er jedoch keiner der drei Typen (zumal nicht der orthodoxen Satisfaktionslehre) den Vorzug geben, denn einerseits seien sie alle zugleich „nun einmal feste Typen in dem Neuen Testament, die wohl gewisse gemeinsame Züge und Uebergänge zeigen, die sich aber doch ziemlich deutlich voneinander [sic!] abheben. Ebenso ziehen sie sich [...] auch durch die Kirchengeschichte hindurch [...].“ [164] Andererseits aber sei es gerade diese Pluralität der Zugänge zur Verbindung von Jesus und Heil welche „der Fülle der Herrlichkeit Jesu und der Fülle der seine Gestalt aufnehmenden Jünger entspricht“ [165].

Typus „synoptisch“ „paulinisch“ „johanneisch“
Leitsatz „Jesus verkündigt das Heil“ „Jesus erwirbt das Heil“ „Jesus ist das Heil“
innerkirchliche Wirkung Rationalismus, Moderne Orthodoxie, Apostolicum, Katechismus, Gesangbuch, Kirchenjahr Ältere und neuere Mystik
Verknüpfung von Jesus und Heil Jesu Verkündigung versichert uns des Heils durch sein Wort und sein Tun, dem eine „Kirche des Wortes“ nur vertrauen kann. Jesus als der menschgewordene Sohn versöhnt Gottes Zorn indem er durch sein Opfer im Drama von Leiden, Tod, Auferstehung, Erhöhung und himmlischer Fürbitte für uns objektive „Heilstatsachen“ erwirbt. [166] Die Persönlichkeit Jesu selbst ist die Fülle, aus der wir unerschöpfliche Gnade und neues Leben empfangen.
Anschauung der Erlösung Jesu Worte und Taten kämpfen gegen die Sünde als den Menschen ergreifende Macht (Gleichnisse und Wunder). Jesus vergibt die Schuld, welche sich in Sorge, Gewissensnot und Herzensangst zeigt durch Wort und Tat und tröstet Leidende durch sein eigenes Leiden. Das von Jesus verkündigte eschatologische Reich Gottes ist Ausdruck der kommenden Erlösung von der Welt. Befreiung von der Sünde durch Anteilhabe an der Auferstehung Jesu, die den neuen Menschen heraufführt. Befreiung von der Schuld durch die Rechtfertigung aus Gnade. Diese erzeugt eine Heilsgewissheit, der alles dienen muss (Röm 8). Erlösung von der Welt durch Anteilhabe am Neuen Aion durch Gottes Geist. Versenkung in Christus ist Wiedergeburt zum neuen Leben und darin Weltüberwindung. [167]

Anschauung: Niebergall will aus dieser Zusammenordnung nun keine „Erlösungstheorie“ ableiten, sondern vielmehr „eine Anleitung zur Verkündigung“, die zur „Anbahnung wirklicher Erlösung“ verhelfen soll. [168] Ein solcher „Besitz der Erlösung“ beruhe eben nicht auf einer bestimmten theoretischen Lehrform, sondern dazu

„[...] muß [man] Kräfte empfangen haben, die den Sinn und die Wertschätzungdauernd und wirklich [...] frei machen von allem, was bindet und niederhält, von dem Druck der Not, [...] des bösen Gewissens, den Fesseln für unseren Willen, dem Druck der Welt auf unsere Seele. Daß es solche Kräfte anbietet, ist das Göttliche und Ewige am Evangelium. Solche Kräfte sind vor allem in Jesus zu gegeben und in ihm anschaulich und gewinnend zu finden.“ [169]

Eindruck: Die Anschaulichkeit dieser Kraft der Erlösung in Jesus ist es also, die es in der Predigt vor allem zu vermitteln gilt und auf ihr liegt der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen. Dazu schlägt Niebergall vor, hier grundsätzlich im pädagogischen Sinne „vom Bekannten zum Unbekannten, von dem Anschaulichen zum Gedanken fortzuschreiten“ [170]. Dieses Anschauliche aber seien eben die Taten und Worte Jesu, sein Leiden und sein Kreuz und von diesen „feste[n] Punkte[n]“ aus gelte es nun

„[...] die ganze Fülle von hohen und erhabenen Eindrücken zu entbinden, die in jenem Bild und Lebensgang [sc. Jesu] verborgen sind. Dabei wird sich herausstellen, daß jeder weiß und spürt, daß diese erhebenden Eindrücke in dem Maße zunehmen und stärker werden, als es in die Leidensgeschichte hineingeht. Hier haben wir das Heilige an sich, in einer so hehren Gestalt, wie wir es in unserm ganzen Kulturzusammenhang nicht mehr finden. [...] Man merkt es, so oft man sie [sc. die Leidensgeschichte] nur auch vor einer stumpfsinnigen Gemeinde oder einer wilden Schulklasse behandelt, hier sind die stärksten Mächte gebunden und durch einfache herzliche Darstellung zu entbinden, die des tiefsten, in oft heiliger Stille spürbaren Einflusses sicher sind.“ [171]

Als besonders geeignet, diesen Eindruck hervorzurufen, führt Niebergall die Darstellungsform des dramatischen Kampfes vor. Diese führe vor Augen, wie Jesus „mit der Sünde in all ihren Formen“ im Streit liegt und beide Seiten im Verlauf der Passion immer klarer zu Tage treten. Dabei gehen bei Niebergall emotionale, dramatische oder ikonische Annäherungen fließend ineinander über, in denen ein zeitgenössischer frommer Sentimentalismus und ideologischer Pathos in der Darstellung Jesu überaus deutlich werden.

„Jesus allein angewiesen auf die geistige Macht, die er von Gott her besitzt, und auf der anderen Seite die Gegner aber mit der Macht zu schaden und zu vernichten, wie sie Parteien undObrigkeiten innewohnt. Je mehr sich der Kampf zuspitzt, umso größer wird die Teilnahme [sc. der Hörer], auch wenn man den Ausgang weiß. [...] Der tragische Untergang, den der Träger des Lichtes durch die Mächte der Finsternis erleidet, muß das Tiefste an Erregung und Mitgefühl aufrühren. So kann sich der Eindruck festsetzen von dem Verderben, das Heuchelei und Bosheit über den Wahrhaftigen bringen, also etwas Aehnliches, wie es die antike Tragödie mit Furcht und Mitleid erwecken wollte. – So kann das Herz dem Heiland zufliegen und damit dem Bösen abgewandt werden, das ihn so jämmerlich mißhandelt hat.“ [172]

Diese Darstellung des heroischen Dramas [173] Jesu könne dann für diejenigen, „die über die von uns sogenannte religiöse Grundkategorie verfüg[en], um hinter heilsamen Eindrücken und Einflüssen Gott zu schauen“ [174] zur Ausgangsbasis für eine eigene Art von Erleben werden:

„Dann kann sich der Eindruck der beugenden und erhebenden, der brechenden und heilenden Macht Gottes in einem Erlebnis anbahnen, das immer mehr zu dem Mittelpunkt alles Erlebens von Gottes Kraft und Gnade wird. [...] Denn der Gott, der uns das getan hat, daß er unsern Willen bricht und erneuert durch die Hingebung Jesu in den Tod, wird uns auch die Schuld vergeben in dem Heiland, der mit Wort und Tat in seinem Leben manches betrübte Gewissen bestärkt und beruhigt hat. Dann geht die tiefste Auffassung von dem Kreuz des Herrn in das Tiefste ein, was wir von Gott überhaupt zu sagen wissen: daß er unser Erzieher ist, der uns aus aller Not und aus allem Druck herauszieht und in ein neues Leben versetzt, das als ein Leben der Gemeinschaft mit seinem Sohn und mit ihm selbst, ein Leben der Freiheit und des Friedens ist.“ [175]

In diesen Sätzen kann man die Zusammenfassung von Niebergalls Praktischer Dogmatik erblicken – und ebenso ihre nicht reflektieren, und darin ideologischen Engführungen auf bestimmte Begriffe und Ziele.

(2) Der Sohn Gottes: Seine Vorordnung Jesu als des Heilandes und Helfers zum eigenen religiösen Erleben will Niebergall nun im Sinne Melanchthons verstanden wissen, die beneficia Christi seiner „Wesensbestimmung“ vorzuziehen. Aus diesem Grund folgt jetzt erst die Behandlung der Person Christi als des Sohnes Gottes. [176] Allerdings geht es hier jetzt nicht, wie zu erwarten wäre, um Fragen der Personchristologie, das Verhältnis von Vater und Sohn oder ähnliches, sondern Niebergall will einen Jesus vor Augen führen,

„[...] der weder Gott noch Mensch [sic!], sondern der er selber war, der sich durchringt zu dem höchsten Willen Gottes in der Versuchung, der dann Jünger sammelt und um das Volk wirbt, der lehrt und heilt, der den Sündern Mut macht zu einem neuen Leben und der die eingebildeten Pharisäer in den Staub beugt; der seine Jünger erzieht und umbildet, indem er ihnen ganz neue Ideale und ganz neue Gedanken über Gott nahebringt; der dann den Kampf mit den herrschenden Gewalten im Volk aufnimmt und in ihm unterliegt, aber doch in seines Geistes und Lebens Kraft die Zukunft bestimmt.“ [177]

Die Predigt solle Christus so darstellen, dass

„[...] das, was Jesus gebracht hat und was in Christus war und ist, [...] mit dem höchsten Sinn und Ziel der Welt in die engste Verbindung gebracht“ wird, so dass der Glaube „hinter oder über Jesus die Fülle der Gewalt über die Welt und den Sinn des Daseins erblickt, von wo aus alles Licht und Zusammenhang bekommt [...].“ [178]

Dies bringt Niebergall nun wieder auf die drei von ihm unterschiedenen Typen der neutestamentlichen Christologie, die jedoch darin übereinstimmen, „daß Jesus und der höchste Sinn der Welt zusammengehört.“ [179] Darum sei es auch einerlei, auf welchen Typus der Schwerpunkt gelegt werde oder auf welche psychologische Verfasstheit von christlichen „Lieblingsauffassungen und Grundanschauung[en]“ die Verkündigung stößt, solange nur diese Zusammengehörigkeit deutlich werde:

„Es muß praktisch ein enger Zusammenhang zwischen Gott und Jesus hergestellt werden. Diese beiden Begriffe [sic!] müssen sich so innig miteinander im Denken und vor allem im unbewußten Empfinden [...] verknüpfen, daß sofort Jesus als Anschauung vor Augen steht, wenn das Wort Gott erschallt, und daß sofort an Gott gedacht werden kann, wenn von Jesus die Rede ist.“ [180]

4.3.4 Der Anhang

(1) Heiliger Geist und Dreieinigkeit: Nur aus traditionellen Gründen will Niebergall überhaupt noch etwas über „diese blassen und recht unbekannten Dinge“ sagen. Zuallererst müsse jedoch festgehalten werden, „daß der ‚Glaube an sie‘ nichts Notwendiges sein darf“. [181] So sei über die Trinität „spekulativ [...] nichts zu sagen“ [182]. Sie ist vielmehr nur ein weiterer lehrmäßiger Ausdruck für die Zusammengehörigkeit von Gott und Christus, [183] bei der gleichzeitigen Möglichkeit, bestimmte Glaubensaussagen nur einem der Beiden zuzuschreiben, so dass z. B. der Patripassianismus ausgeschlossen werden könne. [184] Auch auf die Pneumatologie sei im Grunde gänzlich zu verzichten. „Geist“ sei stattdessen ein Wechselbegriff für die gegenwärtige Kraft Jesu oder Gottes im geistigen Wort oder im Erleben, die zu der Wirkung der beiden jedoch nichts hinzufüge oder wegnehme. Damit könne auch aller „schwärmerischen Ausdeutung“ des Geistes gewehrt werden, denn das Erleben des Geistes Gottes und Jesu müsse „verstanden und gefühlt werden [...], um zu wirken, nicht magisch, sondern organisch, auch nicht im Sturm, sondern zumeist langsam, nicht mit dem Geschrei der Pfingstleute, sondern in aller Stille und Echtheit.“ [185]

(2) Die letzten Dinge:Ideal: Im Grunde ganz ähnlich verhält es sich für Niebergall mit der Eschatologie. Zwar handelt es sich bei ihren Aussagen um „echte religiöse Aussagen, [...] deren Kennzeichen die Verbindung von Gefühlen mit ihnen entsprechenden ‚Dichtungen‘“ sind, welche „eine höhere Welt und einen überweltlichen Willen zum Gegenstand haben“. [186] Jedoch handelt es sich eben um „Dichtungen“, die nichts anderes aussagen, als jene „optimistische Grundstimmung“ des Christentums auf die Zukunft und das Transzendente hin auszurichten, zu ihr also nichts Eigenes hinzufügen, sondern sie nur bekräftigen. [187]

Eindruck: Die Gewissheit darüber, dass das vom „gläubigen Optimismus“ erwartete, auch eintreten werde, mache die Eschatologie jetzt immerhin zu einem „starken Mittel des Trostes“, welche über alles irdische Leiden hinweghelfen könne. [188] Und in diesem Sinne sei darum auch die Verkündigung zu gestalten, wobei die biblischen eschatologischen Symboliken, vor allem bei Johannes, klar als „Bilder“ benannt werden sollen. [189] Eigens hebt Niebergall zuletzt noch die Rede vom Gericht, von der Auferstehung und von der Hölle hervor. Während man das Gericht „aus der biblischen Verbindung mit dem Gedanken der Wiederkunft“ Christi lösen müsse, um stattdessen aufzuzeigen „wie es in der Weltgeschichte und in unserm Gewissen wirksam ist“ [190], so solle der Auferstehungsgedanke nur als „Eingang“ in das ewige Leben betrachtet werden und darum zu Gunsten dieses Ausdrucks zurücktreten. [191] Die Hölle sollte schließlich „angesichts unsrer buddhistischen Gegenwartsstimmung“ nicht als Vernichtungsort dargestellt werden, sondern „im Anschluß an die [...] möglichen Erfahrungen von der Unseligkeit des [...] Gewissens, als das ins Unendliche gesteigerte Schuldgefühl“ [192].

5 Zusammenfassung und Kritik

Es war kein Geringerer als Friedrich Schleiermacher, der in seiner Glaubenslehre das (zu seiner Zeit theologisch gängige) Unternehmen einer „populären“ bzw. „praktischen Dogmatik“ gänzlich zurückgewiesen hat. Seiner Meinung nach handele es sich bei diesen Versuchen teils um „Mitteldinge zwischen einem Lehrgebäude und einem Katechismus, teils schon [um] Bearbeitungen der Dogmatik für die Homiletik“ [193]. Diese nutzten zwar teilweise auch die dogmatische Fachsprache und einen systematischen Aufbau, dennoch seien sie außerhalb des Bereichs dessen zu stellen, was man im eigentlichen Sinne als Dogmatik bezeichne. Es handle sich bei ihnen vielmehr um Verfallsformen der Dogmatik, durch die bei Laien „mehr Verwirrung angerichtet und Oberflächlichkeit befördert [...] als wahrer Nutzen erzielt“ [194] werde. Die auf die Homiletik ausgerichteten praktischen Dogmatiken sind für Schleiermacher Ausdruck einer Schwäche der Praktischen Theologie, den Pfarrern „die nötigen allgemeinen Vorschriften über den Stoff der religiösen Mitteilung wie über [... seine] Form“ [195] beizubringen. „Praktische Dogmatik“ fungiert also schon bei Schleiermacher als Ausdruck für die Krise Systematischer und Praktischer Theologie, ihre Erkenntnisse sachgemäß sowohl an die christlichen Laien wie auch die Predigenden zu vermitteln. Diese Schwäche aber führe dazu, sie durch unangemessen verflachende Formen zu substituieren.

Nun zielt auch Niebergalls Praktische Dogmatik vor allem darauf, dem Pfarrer Handwerkszeug für die von ihm geforderte „moderne Predigt“ und den „neuen Unterricht“ zu geben. [196] Mit Hilfe religionspsychologischer und volkskundlicher Korrelationen soll dabei die Aktualität christlich-dogmatischer Inhalte für die Gemeindeglieder erschlossen werden, um die Predigt für sie „verständlich, interessant und wirksam“ [197] zu machen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Prediger jedoch zuerst wissen, in welcher Weise dogmatische Inhalte für den „modernen Menschen“ so verständlich und interessant werden können, dass sie schließlich eine prägende Wirksamkeit im Lebensumfeld entfalten können. [198] Erst wenn diese Inhalte dann in entsprechender Form auf die Kanzel oder in den Unterricht gebracht werden, kann auch die gewünschte „beeinflussende“ Wirkung auf die Gemeinde erzielt werden.

„Niebergalls praktische Dogmatik impliziert die Forderung, daß der Pfarrer und Gemeindeerzieher theologisch einen festen Standort bezieht, den er erst einmal kennen, sich aneignen, dann aber auch entfalten und verteidigen können muß. [...] Die Gemeindeglieder können zu selbständigen Urteilen in Glaubensdingen nur unter der Voraussetzung erzogen werden, daß der Gemeindeerzieher zuerst selbst zu einem eigenen Urteil gelangt ist.“ [199]

Die „Praktische Dogmatik“ hat also insgesamt eine pastoraltheologische Zielsetzung, da sie Dogmatik für die Hand des Pfarrers im Vollzug seiner Arbeit ist. [200] Diese Zielsetzung zieht sich durch alle Veröffentlichungen Niebergalls zur praktischen Bedeutung der Dogmatik seit der Besprechung von Julius Kaftans Glaubenslehre von 1901 hindurch. Sie wirkt sich dabei aber zugleich nicht wie in der alten Pastoraltheologie des 19. Jh. bis in die private Lebensführung des Pfarrers aus, dessen ganze Existenz bestimmte christlich-dogmatische Grundsätze spiegeln sollte, [201] sondern beschränkt sich primär auf ihre „handwerkliche“ Anwendung in Homiletik und Katechetik. Es geht dabei nicht darum, eine bestimmte vorgeführte Dogmatik einfach für die Gemeinde absolut zu setzen, [202] sondern die Dogmatik soll durch den Pfarrer so in die Mannigfaltigkeit der religiösen Lebenswelten, Gottesbilder und Christusbilder der einzelnen Gemeindeglieder hineingesprochen werden, dass sie Relevanz für deren eigene Glaubenspraxis gewinnen kann. [203] Nicht die Kenntnis und die Zustimmung zu einer dogmatischen Theorie, sondern das Bewusstsein des geistigen Besitzes ihres Inhaltes sei dabei das Ziel. [204] Dabei dient Niebergalls „Praktische Dogmatik“ implizit auch als Fundus für die Lehrpredigt, indem sie dem Prediger bestimmte Ausdrucksweisen, Beispiele oder Methodiken nahelegen will. Diese Beispiele zeigen heute jedoch ihre Zeitgebundenheit oft überdeutlich und ergehen sich in ihren Versuchen, bestimmte christliche Wahrheiten unter die sprichwörtlichen Leute zu bringen, zudem in „pastoralklugen“ Banalitäten oder in Vorurteilen über die geistige und seelische Verfasstheit der Hörer. Wie leicht dieses Vorgehen zudem in eine Form von Versöhnungsideologie kippt, zeigt sich besonders da, wo, wie in der Predigt der Passion, durch affektive Rede direkt auf die Psyche der Hörer eingewirkt werden soll, um so ganz bestimmte religiöse Erlebnisse hervorzurufen, welche ein christliches Leben in Frieden und Vertrauen auf Gott in Gang setzen und dann auch sichtbare soziale Folgen zeitigen sollen. [205]

Niebergalls Ansatz könnte nun im besten Sinne als eine Anwendung von Schleiermachers Verständnis der Kirchenleitung als Kunst der „Seelenleitung“ verstanden werden, die dazu dienen soll, das Christentum durch „Einwirkungen auf die Gemüter“ je und je „reiner darzustellen“ [206]: „Nicht ein mechanischen Bewirken also, sondern eine Kunst des richtigen Handelns (der Einwirkung auf Menschen), die auch das theologische Verhalten zu prüfen hat.“ [207] Dieses einwirkende Vorgehen wird allerdings von Niebergall in keiner Weise von psychischer Suggestion, ideologischer Propaganda oder autoritärer Behauptung durch den Prediger abgegrenzt, sondern ist für ihn allein jene Beeinflussung im Sinne der christlichen Glaubensideale, wie sie für ihn in Gottes Erziehungsarbeit am Menschen selbst grundgelegt ist. [208]

In der Durchführung der Praktischen Dogmatik fällt zudem auf, dass Niebergall sein phänomenologisches Programm, die Grundgedanken der sich im Glaubensakt selbst zeigenden christlichen Frömmigkeit nachzuzeichnen, nicht wirklich methodisch durchführt. Die Lehrbestände werden im Zuge seiner Darstellung und im Geist der liberalen Theologie um die vorletzte Jahrhundertwende zwar zum Teil drastisch reduziert und erheblich umgebaut, jedoch ohne dass dieses Vorgehen im Einzelnen methodisch oder theologiegeschichtlich abgesichert oder in seinen Folgen für den Zusammenhang der Dogmatik insgesamt recht bedacht wäre. Gewährsleute wie Luther, Schleiermacher, Albrecht Ritschl oder besonders Julius Kaftan (Niebergalls Dogmatik ist teils die Kaftan’sche Dogmatik, nur in besondere Ausrichtung auf die Predigt gebracht) werden summarisch genannt, ohne dass aus ihnen gezielt dogmatische Aussagen entwickelt würden. [209] Stattdessen werden bestimmte Zusammenhänge der traditionellen Dogmatik von Niebergall auf andere, in sich höchst anspruchsvolle Begriffe gebracht, die jedoch angeblich gerade die sich noch vor der begrifflichen Festlegung befindliche Frömmigkeit ausdrücken sollen. So wird etwa der Himmel zum religiösen Wechselbegriff für das „höchste Gut“ als jenes „Ziel, [...] auf das Gott alles hinaus lenken will“; „Gott“ wird umgekehrt zum Wechselbegriff für jenen unbedingten „Willen, [...] der jenes Ziel erreichen wird“ [210]. „Christus“ wird zum Wechselbegriff für die personale Anschauung und Vermittlung dieses Vorgangs; „Reich Gottes“ zum Wechselbegriff für die Einheit der Lebensorientierung; „Sünde“ zum Widerstand gegen das göttliche Ideal und höchste Gut; „Wiedergeburt“ zur Umwertung aller Lebensorientierung auf dieses Ideal und Gut hin, etc. In diesem Stil setzt es sich fort. Zusammenhänge wie die Trinität und die Eschatologie dagegen werden als „nicht glaubensnotwendig“ in den Anhang der in der Praxis unbrauchbaren Traditionen verbannt. [211] Mit anderen Worten: Schleiermachers Kritik, in der „Praktischen Dogmatik“ werde hinsichtlich der dogmatischen Begrifflichkeit Verwirrung gestiftet und theologischer Oberflächlichkeit das Wort geredet, hat Niebergall hier wenig entgegenzusetzen.

Auch sind z. B. die von Niebergall aufgemachten Begriffe zumeist keine biblischen Begriffe, obwohl er selbst anfangs davon schreibt, auf die der konkreten Frömmigkeit vorgängigen und sie orientierenden biblischen „Grundstimmungen“ zurückgehen zu wollen. Hier wäre genau der Ort gewesen, die Dogmatik als Anwalt des Laien ins Gespräch zu bringen, der aus der Lektüre der biblischen Schriften heraus nach einer Praxis seines Glaubens fragt. [212] Aber anstatt diese biblischen Begriffe zu Grunde zu legen, wählt Niebergall Begriffe, die aus dem Geiste des deutschen Idealismus geschöpft sind. Dies gibt er auch unumwunden zu, da er den deutschen Idealismus als „jene Richtung des Geisteslebens“ versteht, welche „die großen überweltlichen Autoritäten und Wirklichkeiten nicht in einer mehr oder weniger massiv gedachten äußeren Welt, sondern im menschlichen, geschichtlich-geistigen Leben findet [...].“ [213] Niebergall meint also, gerade über diese idealistischen Begriffe (und nicht etwa über die Metaphysik) an die eigentliche „innere Welt“ des Menschen heranzukommen, in der sich die Frömmigkeit als Rohstoff bildet. Doch bleibt von dieser Abwehr der Metaphysik zu Gunsten der lebendigen Frömmigkeit nicht mehr viel übrig, wenn man sie im Vollzug auf idealistische Konstrukte und sterile Begriffe wie den des „höchsten Gutes“ bringt, die dann auch noch zur Grundlage einer dem religiösen Erleben der Gemeinde möglichst nahekommenden Predigt werden sollen. Niebergalls eigentlich fruchtbar zu machender Ansatz, die Grundstrukturen christlicher Frömmigkeit aus der Korrelation einer spezifisch prä-dogmatischen religiösen Existenzverortung des Menschen und einer Rekurrenz auf die diese Existenz erhellenden biblischen Traditionen zu erheben, wird so von ihm nicht eingelöst. Multiperspektivische biblische und religiöse Bilder wie z. B. das überaus reiche Bild des Himmels [214] werden von ihm vielmehr allesamt auf eine einzige idealistische Bedeutung, nämlich die des „höchsten Wertes“ eingeengt. Und es ist dann auch allein diese zugeschriebene, eine und feste Bedeutung, die in der Predigt (wenn auch gekleidet in mehrere Aussagemöglichkeiten) anschaulich werden soll, anstatt umgekehrt das stimulierende Potential dieser verschiedenen Bilder für die Frömmigkeit zu entwickeln. So aber bleibt Niebergalls „Praktische Dogmatik“ im Grunde nur die Fortsetzung der von ihm abgewehrten „griechischen“ Begrifflichkeit der traditionellen Dogmatik mit anderen Mitteln. Die Dogmatik wird gerade nicht aktualisiert und auf die praktische Frömmigkeit des Einzelnen hin orientiert, sondern bestimmte Begrifflichkeiten werden im Geiste des Idealismus durch andere, vermeintlich zeitgenössisch klarere oder aktuellere Begriffe ersetzt, ohne aber zu prüfen, ob sie der Darstellung der Frömmigkeit oder gar den biblischen Traditionen wirklich näherstehen oder diese besser erfassen. So werden von Niebergall letztlich nur auf anderer Ebene steile Begrifflichkeiten vorgesetzt, zu deren rechter Anschauung ein Christ angeblich erzogen werden müsse, um einem bestimmten Ideal des Christlichen besser zu entsprechen.

Wie unreflektiert Niebergall dabei mitunter bestimmten Begrifflichkeiten anhängt, zeigt sich etwa in seiner Verwendung von „Erlebnis“ als integrativem Begriff für den Glauben und seine Einzelaussagen. Himmel, Sünde, Vergebung, Erlösung sind für ihn allesamt innerliche Erlebnisse, die sich in der Seele, im Gewissen oder in der Psyche abspielen und von daher das praktische Leben des Glaubens im Sinne des Erlebten formen. Die dogmatischen Aussagen über Gott und Christus, über Kreuz und Auferstehung sind dann jeweils Bilder oder Begriffe, um diesem innerlichen Erlebnis Anschaulichkeit zu verleihen. [215] Darin, diese inneren Erlebnisse und Erfahrungen allesamt als Selbstvollzüge des subjektiven Glaubensaktes zu verstehen, in denen dieser sich der Glaubende selbst reflexiv deutet und in seinen Gottesvorstellungen selbst versteht, kommt Niebergall aktuellen subjektivitätstheologischen Ansätzen nun erstaunlich nahe. Der Begriff des Erlebnisses selbst wird dabei bei ihm (wie schon bei Kaftan) jedoch nirgends eigens definiert oder von Fehlformen abgegrenzt, so dass auch hier eine ideologische Verwendungsweise droht.

Damit bleibt eine grundsätzliche Spannung zwischen der von Niebergall immer vorausgesetzten pluralen Frömmigkeitspraxis der Gemeindeglieder und ihren auf vielfältige Weise geprägten fragmentarischen Anschauungen des Christlichen auf der einen und einer von ihm als dogmatisch richtig vorgeführten Ideal-Frömmigkeit, durch dessen Predigt der Pfarrer die religiöse Praxis der Hörer auf dieses eindeutige Ideal hin normieren soll, auf der anderen Seite. Ziel dieser Dogmatik ist das „feste Kerygma“ als „Erziehungsmittel“ für die gegebene Pluralität der Gemeinde. [216] Konsequenterweise müsste dann am Ende solcher Erziehung die eine Gemeinde der reinen christlichen Einheits-Anschauung des Guten, Wahren und Schönen stehen, also sozusagen eine Gemeinde der aristotelischen Theoria des höchsten christlichen Gutes. Zwar ist sich Niebergall bewusst, dass sich solch ein Ideal angesichts der faktisch pluralen religiösen Lebenswelten nie verwirklichen lässt und darum auch alle Versuche, es herbeizuzwingen, zu unterlassen sind, [217] dennoch ist es für ihn zugleich überall anzustreben und bildet die Grundlage aller Gemeindearbeit. [218] Wenn aber, wie schon Gerhard Sauter richtig gesehen hat, hier ein bestimmtes „Soll der Religion“ zum Ziel und Gegenstand der Praxis erhoben wird, in dessen Sinne ein gegenwärtiger Zustand auf die „vollendete Religion hin zu verändern“ ist, wenn also „das Reden von Gott, die Wahrheit des Glaubens und die Zuversicht der Hoffnung“ letztlich „am Erfolg und Mißerfolg der weltverändernden Praxis abgelesen werden soll, [dann] wird die Wahrheit der Theologie aufs Spiel gesetzt“, da hier letztlich eine bestimmte erwünschte Form christlicher Praxis und die christliche Wahrheit, welche im Ideal angeschaut wird, ununterscheidbar in eins gesetzt werden. [219] Damit aber wird die Dogmatik sozialtechnologisch instrumentalisiert. Und genau aus diesem Missverständnis heraus kommt es dann bei Niebergall zu den aus heutiger Sicht schlicht peinlichen Moralisierungen, welche den Glauben mit der Erziehung hin zu einem bestimmtem erwünschten Sozialverhalten identifizieren und verwechseln. So wird letztlich die im Glauben geschenkte christliche Freiheit, die zur freien Lebensgestaltung vor Gottes Angesicht ermächtigt, moralistisch untergraben. [220]

Problematisch ist dabei vor allem das basale, religiös aufgeladene und letztlich autoritäre Einheits-Ideal, welches den faktischen Pluralismus menschlicher Lebensformen und Lebensvorstellungen in Individuum und Gemeinschaft zuletzt doch teleologisch durch die Uniformität einer bestimmten Anschauung und einer bestimmten christlichen Lebensform („die christliche Persönlichkeit“) überwinden soll und diese zugleich zur einzig wahren Gestalt des Christentums erklärt, [221] zu der hin der Pfarrer die Gemeinde möglichst erziehen soll. [222] An einer Stelle spricht Niebergall gar davon, dass man durch diese Erziehung zum Ideal, „Christen erster Klasse heranreifen lassen“ [223] könne, als handle es sich beim Christentum um eine Norm zur Züchtung von Gemüsespargel. In der Tat besteht hier die nicht nur latente Gefahr, „diejenigen abzuwerten, die diesem vorgeordneten Wertsystem [sc. der christlichen Ideale] nicht entsprechen“. [224] Die Vorordnung des Ideals führt bei Niebergall nämlich zu einer eklatanten Verwechslung von Ursache und Wirkung wie auch die folgenden Zitate zeigen: „Nicht der Glaube ist das Prius und das Ideal die Folge, sondern [...] das Ideal [ist] das Prius und der Glaube ist eine Summe von Mitteln zu seiner Erreichung.“ [225] Und an anderer Stelle heißt es entsprechend:

„Ist es die in Gott gegründete Persönlichkeit, die als höchstes Ideal [...] über jedem Einzelnen leuchten soll, so haben wir nun dasselbe Ideal auf dieselbe Weise für die Allgemeinheit zu suchen. [...] Die Kirche ist als das Mittel gedacht, um solche Ideale zu erreichen.“ [226]

Bei Niebergall korrelieren also Glaubensinhalte nicht in dem Sinne mit dem Glaubensvollzug, dass sie sich gegenseitig beeinflussen und so die Persönlichkeit des Glaubenden individuell prägen, sondern die Inhalte liegen stets im Bereich einer jenseitigen Idee, zu deren wahrer Erreichung der Glaube erst durch Beeinflussung gebracht werden muss, so dass der Glaube schließlich „als idealer Ausdruck des normalen Christen erkannt wird“ [227]. Die idealen Glaubensinhalte des vermeintlichen Idealchristen und der reale Glaubensvollzug des so verstandenen Normalchristen verschwimmen so ineinander, dass am Ende bestenfalls so etwas wie der „ideal genormte Christ“ stünde. [228] Die Pluralität der praktischen religiösen Lebenswelten mit ihren vielfältigen Ausdruckweisen des Christlichen in der Moderne soll zwar nach Niebergall ausdrücklich zu einer konstitutiven Voraussetzung der Dogmatik erhoben werden (und darin ist er durchaus progressiv). [229] Er will in der Tat „mehr Raum für die Mannigfaltigkeit der Geister“, „mehr freie Bewegung für die in religiösen Dingen für den Einzelnen in der Gemeinschaft“ und im Ausdruck ihrer Frömmigkeit und ihres christlichen Bekenntnisses schaffen, weil genau diese Vielfalt „von Gott in der Natur und der geistig geschichtlichen Bewegung bereitet ist“ [230]. Diese theologisch legitimierte Pluralität wird jedoch im Folgenden kaum in die Inhalte oder die Zielsetzung der Dogmatik aufgenommen oder durch sie eingeholt, sondern am Ende steht das Ideal einer wiederum durch ideale dogmatische Begriffe beeinflussten universalen christlichen Einheits-Praxis, einer idealen christlichen Persönlichkeit und einer idealen christlichen Gemeinschaft. [231] Dogmatisch formuliert steht also hinter Niebergalls Herangehensweise weiterhin die orthodoxe Fiktion einer absoluten und idealen pura doctrina, welche abgelöst von den Lebenszuständen der Glaubenden besteht und zu deren rechter Wahrnehmung die im Grunde religiös unmündigen „Pfleglinge“ durch den Pfarrer erst „erzogen“ werden müssen. [232] Wenn die Dogmatik aber, wie Niebergall es möchte, eine alltägliche, praktische Relevanz für die Gemeindeglieder gewinnen soll, so muss sie diese Relevanz innerhalb ihrer und für ihre pluralen Frömmigkeiten und Lebenswelten gewinnen und darf nicht unter der Hand versuchen, diese Pluralität letztlich durch ein Einheitsideal zu überwinden. Vor allem aus diesem Grund stößt Niebergalls Konzeption einer auf die pastorale Praxis als Gemeindeerziehung durch christliche Idealismen ausgerichteten Dogmatik in der Postmoderne und ihrem forcierten Individualismus an ihre Grenze.

Published Online: 2023-03-22
Published in Print: 2022-10-26

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 22.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/znth-2022-0013/html
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