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Maintenance-(Art)Work und die Arbeit am eigenen Bild

  • Eva Kuhn

    EVA KUHN ist Kunst- und Filmwissenschaftlerin und vertritt seit Januar 2024 die Professur für moderne und zeitgenössische Kunst an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war sie Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg und am Kunsthistorischen Institut der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Kunst- und Filmtheorie/-geschichte und umfassen neben dem Experimental- und Avantgardefilm das Verhältnis von Blick- und Figurenkonzeptionen sowie von Kunst und (weiblicher) Arbeit.

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Published/Copyright: November 15, 2024
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Abstract

This paper confronts two traditions that seem to complement each other: the sociohistorical tradition of women as reproductive and care workers lacking public visibility, and the art-historical tradition of women as images, as silent and fixed show objects. This combination of women’s work made invisible and their objectifying hyperexposure, which in turn relies on the invisibilization of the media and ideological dispositive, is addressed in a 1975 film by Chantal Akerman, Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles, in a particularly eloquent way. The paper places this film, a time-based portrait of a woman and her work, at the center of the investigation and takes it as a model of showing how the systemic determination of maintenance work – to maintain the status quo – can be overcome by making this work visible. By demanding our physical presence and endurance in facing and caring about another, this film enables us to perceive the details that make the difference and shows how maintenance (art)work can bring about change. It pointedly emphasizes the notion of the contemporary and allows us to ask the question of what is contemporary art once again.

In ihrem Buch The Arcane of Reproduction: Housework, Prostitution, Labor and Capital beschreibt die italienische Autorin und Aktivistin Leopoldina Fortunati die Sorge- und Versorgungsarbeit als eine Art geheimer Technologie, die durch die Magie ihrer Unsichtbar- und Nutzbarmachung ein kapitalistisches und patriarchal strukturiertes System am Laufen erhält.[1] Jasmine Gibson spricht mit Fortunati vom »Zaubertrick des Kapitalismus«, der »offengelegt und zerstört«, sprich: desillusioniert werden muss, um die herrschenden Arbeits- und Geschlechtsverhältnisse zu demaskieren und die Sorge- und Versorgungsarbeit als Arbeit an den grundlegenden Bedingungen des Lebens und guten Zusammenlebens sichtbar zu machen.[2] Diesen Aufruf möchte ich im folgenden Text mit jenem koppeln, den die Kunst- und Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey als Abschluss ihrer berühmten Diagnose des konventionellen und Konventionen reproduzierenden Erzählkinos mit seinen in Bezug auf Geschlechtsverhältnisse perfiden Identifikations- und Verführungsmechanismen verfasst hat.

Um Frauen in der symbolischen Ordnung ihren eigenen Spielraum einzuräumen, müssen – so Laura Mulvey in ihrem Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema von 1975 – die illusionsstiftenden Verfahren Hollywoods offengelegt und zerstört werden. Denn diese Verfahren gehen mit den männlichen Handlungsträgern eine Komplizenschaft ein und unterstellen dem/der Zuschauer:in einen die weiblichen Figuren objektifizierenden Blick.[3] In einem »ersten Schlag« könne die Offenlegung dieses objektifizierenden Blicks durch die Befreiung des »Blicks der Kamera« geschehen, durch die Herstellung »ihrer Materialität in Zeit und Raum« und durch die Herbeiführung »einer leidenschaftlichen Trennung« zwischen Subjekt und Objekt des Blicks.[4] Mit der Befreiung der Kamera geht die Dekodierung der ›Frau‹ als ein durch den voyeuristischen Blick (›male gazex‹) konstruiertes Bild einher. Als dieses Bild verkörpert sie das Arkane, das geheimnisvolle Andere, das aus der symbolischen Ordnung gänzlich ausgeschlossen ist, und dient in erster Linie dazu, die durch den Filmkonstruierten Bedürfnisse des »unsichtbaren Gasts« – sein Begehren – zu befriedigen.[5] Es war derselbe Gast, der abends nach der Arbeit am Tisch jener Arbeiterin sitzt, die Gibson ironisch als »die hübsche Zauberin« bezeichnet hat.[6]

Reproduktive Tätigkeiten ähneln den visuellen Medien grundsätzlich dahingehend, dass ihr Dienst in erster Linie darin besteht, selbst zu verschwinden. Putzen wie visuelle Technologien vermeiden tunlichst, eine eigene Spur zu hinterlassen beziehungsweise Artefakte zu produzieren. Der Anblick eines Flecks, die Sichtbarkeit des Korns beziehungsweise Pixels ist zu verhindern – um die Brillanz von etwas anderem zu garantieren. Diesen Transparenzeffekt garantierten beispielsweise sogenannte china girls (Abb. 1) – posierende Frauen mit möglichst weißer Haut (wie Porzellan), deren Funktion darin bestand, als Bild beziehungsweise visuelle Information für den Qualitätsstandard eines 35 mm-Films zu sorgen, wie auch für einen möglichst ›sauberen‹ Transfer von analogem Film in Fernseh-, Video- und Digital-Formate.[7] Ihr Auftritt ist auf das Filmlabor beschränkt – denn der Raum, der einem china girl im Kino zukommt, sind einzelne Frames am austauschbaren Startband eines Filmstreifens. Die Eastman Kodak Company bedankte sich Anfang der 1970er Jahre in ihrer Werbung bei ihnen (Abb. 2): »Thanks Girls, for your splendid efforts in movies that will never put your names up in lights: But you knew all along: your roles were played only in the name of progress.«[8] Das Kuriosum china girl verdeutlicht nicht nur die white supremacy im damals dominantesten Repräsentationssystem der Welt, sondern auch die Diskrepanz zwischen dem Bild der Frau, das auf der Leinwand erscheint und der arbeitenden Frau hinter den Kulissen, die für das Repräsentationssystem des Kinos zwar konstitutiv, davon aber weitgehend getrennt war.

1 Beispiel für ein china girl
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Beispiel für ein china girl

2 “The Group” aus einem Werbefilm der Firma Eastman Kodak, 1967
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“The Group” aus einem Werbefilm der Firma Eastman Kodak, 1967

Zu dieser Einsicht kam auch die im Autoren- und Independent Kino zum Star gewordene Schauspielerin Delphine Seyrig mit ihren Verbündeten, die in den 1970er Jahren die Videokamera als ein Medium der Emanzipation und der Analyse geschlechtsbildender Traditionen entdeckten (Abb. 3). In ihrem dokumentarischen Video von 1975 Sois belle et tais-toi lässt Delphine Seyrig ihre Berufskolleginnen aus Frankreich und aus Hollywood einzeln zu Wort kommen und verbindet sie lange vor Social Media und Hashtag mittels der Montage.[9] Seyrigs Video realisiert den Prozess der gemeinsamen Bewusstwerdung davon, dass sie als Schauspielerinnen eine Reproduktionsarbeit betreiben, die jene symbolische Ordnung aufrechterhält, aus der sie und die Figuren, die sie verkörpern, gänzlich ausgeschlossen sind (Abb. 4). Die von den Guerilla-Girls Ende der 1980er Jahre aufgeworfene Frage, ob Frauen eigentlich nackt sein müssten, um ins Museum zu kommen, pointiert diese Geschlechterverhältnisse auf bewusst plakative Weise und stellt das Museum als Vorläufer Hollywoods und Ort männlich codierter Geschichtsschreibung/Historie, Imaginationen und Fantasien vor.

3 Maria Schneider, Delphine Seyrig und Carole Roussopoulos während des Drehs von Sois belle et taistoi! (Be Pretty and Shut Up!), F/USA 1975, R: Delphine Seyrig
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Maria Schneider, Delphine Seyrig und Carole Roussopoulos während des Drehs von Sois belle et taistoi! (Be Pretty and Shut Up!), F/USA 1975, R: Delphine Seyrig

4 Guerilla Girls, Do women have to be naked to get into the Met. Museum?, 1989
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Guerilla Girls, Do women have to be naked to get into the Met. Museum?, 1989

Mein Text konfrontiert zwei Traditionen, die einander scheinbar komplementär entgegenstehen: die sozialgeschichtliche Tradition der Frau als Reproduktions- und Carearbeiterin, der in vielfacher Weise keine öffentliche Sichtbarkeit zugekommen ist, und die kunsthistorische Tradition der Frau als Bild, als stumm- und stillgestelltes Schauobjekt.[10] Auf diesen Verbund aus unsichtbar gemachter Frauenarbeit und ihrer objektifizierenden Hyperexposition reagierte ein Film von Chantal Akerman aus dem Jahre 1975 auf besonders eloquente Weise. Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles wurde Ende 2022 von der Filmzeitschrift Sight and Sound zum »greatest film of all times« erkoren (Abb. 5). Von der Hauptfigur Jeanne Dielman werden Hausarbeiten präsentiert, in 35 mm-Breitbild, während mehr als drei voller Stunden. Unser Blick wird dabei monoperspektivisch auf diese Frau gerichtet. Die Darstellung der monotonen Arbeit durch eine rhythmisierte Anordnung perfekt komponierter filmischer Tableaus verschränkt sich mit einer narrativen Entwicklung, die diesen Film nicht nur als Porträt, sondern auch als klassisches Drama ausweist. Dabei bricht der Film mit dem fetischisierenden Blick und der Frau als Bild im Sinne einer erotisierend-exotisierenden Imagination – nicht, indem aus der Perspektive der weiblichen Figur geblickt, berichtet würde, wie eine Antwort auf den Befund von Laura Mulvey lauten könnte. Vielmehr negiert der Film das Prinzip des Gegenschusses und verweigert dadurch die mit dem psychoanalytischen Konzept der »Suture« verbundene Unterstellung von Sichtweisen.[11] An die Stelle von Sichtweisen stehen in Jeanne Dielman Bilder, die auf ihrer Bildhaftigkeit, auf ihrer Materialität und Oberflächlichkeit – und damit auf ihrer Opazität – insistieren, dem Publikum zwar Tiefe suggerieren, aber nicht mehr preisgeben, als was sie zeigen. Durch seinen tableauartigen Charakter und die monoperspektivische Fokussierung einer Frau knüpft dieser Film an die kunsthistorische Tradition der Frau als Bild an und bricht zugleich auf radikale Weise mit dem überlieferten Repräsentationssystem.

5 Still aus Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles, B/F 1975, R: Chantal Akerman
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Still aus Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles, B/F 1975, R: Chantal Akerman

An die Stelle eines intellektuellen Nachvollzugs der psychologischen Motivation von Handlungen setzt dieser Film auf seinen Vertrag mit der Echtzeit: auf die in der Zeit andauernden und verkörperten Aktivitäten und Passivitäten der Figur und die verkörperte Aus-Dauer des Zuschauers – »his persistence in time« in den Worten Ivone Margulies’.[12] Im Gegensatz zum klassisch gestrickten Spielfilm wohnen wir der physisch-sinnlichen Entfaltung der Dinge in ihrer ganzen Dauer bei und folgen den Figuren, Formen, Farben im rhythmisierten Schritt und Tritt. Ganz anders als durch die verkennende Identifikation, mit der laut Mulvey das klassisch narrative Kino arbeitet, wird so das Gefühl der Nähe zur Figur geschaffen und – als echte Alternative zur klassischen Suture – ein Eintauchen in die fiktive Welt ermöglicht. Die Schauspielerin Delphine Seyrig und die Figur Jeanne Dielman konstruieren durch ihr Spiel und ihre Arbeit ein eigenes filmisches Bild und halten es dem Publikum entgegen. Es ist ein Bild, das weder perspektivisch durchschaut noch psychologisierend verwertet werden kann, vielmehr ein opakes Bild, das eigensinnig und in der Dauer auf der sinnlich erfahrbaren Erscheinung insistiert. Durch dieses Andauern erzeugt wird das Gefühl einer Simultaneität, eine Art Kopräsenz mit der repräsentierten Figur und ihrer Welt oder aber einer gemeinsamen und gleichzeitigen Anwesenheit im Raum. Produziert wird eine Gegenwart, die der Film als Medium der Darstellung, ein dargestelltes Objekt als Subjekt und wir Betrachter:innen teilen.

Delphine Seyrig und Jeanne Dielman binden die mechanische Zeit des Films an ihre Gesten und Bewegungen und stehen damit ein – für ihr Bild und gegen die Enteignung von Zeit, die sowohl die Hausarbeit unter kapitalistischen Verhältnissen bestimmt als auch die schauspielerische Arbeit in den misogynen Produktionsverhältnissen des Mainstream- und Autorenfilms. Diese Arbeit an der eigenen Repräsentation als einer äußerst transitorischen Präsentation wird hier durch die Ausführung und Darstellung jener Arbeit geleistet, deren Stigma es ist, nichts hervorzubringen und eine »repetitive und sich selbst immer wieder auslöschende Plackerei«, in erster Linie Mühe, Mühsal, Last zu sein.[13] Indem sich die weibliche Figur (Jeanne Dielman), wie auch jene Frau, die sie verkörpert (Delphine Seyrig) in ihren jeweiligen Arbeiten realisieren – in Hausarbeit und Schauspiel – wird nicht nur die konventionelle Form des filmischen Illusionismus entzaubert, sondern auch der ›Zaubertrick des Kapitalismus‹ offengelegt. Jeanne Dielmans Aufstand gegen Hausarbeit und das konventionelle Erzählkino – ihr Streik – erfolgt vermittels Hausarbeit – ein komplexer Streich, der diesem Film gelingt.

Sechs Jahre vor dem Auftritt von Jeanne Dielman fragte die US-amerikanische Konzept-Künstlerin Mierle Laderman Ukeles 1969 in ihren Maintenance Art Performances (Abb.6a–c) unter Einsatz ihres eigenen Körpers danach, wer all die Jahre eigentlich die White Cubes weiß, die Lobby des Museums sauber und die Vitrinen transparent gehalten hat. Ukeles nutzte die prestigeträchtige Öffentlichkeit der Kunst, um nach Tätigkeiten und den mit diesen verbundenen Subjekten zu fragen, die sich jenseits jeder Sichtbarkeit und ohne jede Credits der Kunst für die idealen Bedingungen ihrer Präsentation und die Fiktion ihrer Autonomie garantieren. Die von Ukeles als Performances aus- und aufgeführten Arbeiten stellen eine Angleichung von work (Kunstwerk bzw. künstlerische Arbeit) und labor her (nichtkünstlerische Arbeit). Dadurch pointiert, wird das antithetische Verhältnis zwischen dem Ideal der freien Kunst als eine autonome und schöpferische Arbeit (und den damit verbundenen, von Linda Nochlin zeitgleich dekonstruierten Mythen des Genies[14]) und der im marxistischen Sinne entfremdeten Arbeit des Proletariers, der Proletarierin.

6a Mierle Laderman Ukeles, Hartford Wash: Washing Tracks, Maintenance Inside, 1973, Performance, Hartford, CT, Wadsworth Atheneum; b – c Transfer: 'I he Maintenance of 'Ike Art Object, 1973, Performance Hartford, CT, Wadsworth Atheneum
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Mierle Laderman Ukeles, Hartford Wash: Washing Tracks, Maintenance Inside, 1973, Performance, Hartford, CT, Wadsworth Atheneum; b – c Transfer: 'I he Maintenance of 'Ike Art Object, 1973, Performance Hartford, CT, Wadsworth Atheneum

Das Arbeitsfeld, das Ukeles durch ihre Kunst vergegenwärtigt, ist spezifisch jenes der maintenance, der Pflege-, Instandhaltungs- und Wartungsarbeiten. Es sind Praktiken, die sich dadurch auszeichnen, dass sie keinen materiellen Output beziehungsweise nichts Neues produzieren, sondern die bestehende Welt der Dinge – Infrastruktur und Mobiliar – im Gange und im Stande halten. Und zwar durch je spezifische Gesten der Zuwendung, die eine potentiell unendliche Wiederholung erfordern. Denn wie Hannah Arendt in Bezug auf die zwölf Taten des antiken Helden Herakles anführt: Nur der Rinderstall des Königs Augias hat die wunderliche Eigenschaft, sauber zu bleiben, wenn er einmal geputzt worden ist.[15] In Vita activa oder: Vom tätigen Leben definierte Arendt Arbeit (labor) als Gegensatz zum Herstellen (work) und erklärte, dass Arbeit – Reproduktionsarbeit avant la lettre – nicht von einem Endergebnis abhängig ist: »Im Gegensatz zum Herstellen, das zu Ende ist, wenn der Gegenstand die ihm angemessene Gestalt erhalten hat und nun als fertiges Ding der Dingwelt eingeführt werden kann«, sei das Arbeiten niemals fertig, sondern »dreht sich in unendlicher Wiederholung in dem immerwährenden Kreise, den der biologische Lebensprozess ihm vorschreibt.«[16] Auf diese Weise definierte Arendt Arbeit (labor) als maintenance, wobei nicht nur die Erhaltung der Welt die oftmals »mühevolle, eintönige Verrichtung täglich sich wiederholender Arbeiten« erfordert, sondern auch die Erhaltung des Körpers.[17] Lisa Baraitser, die Autorin von Enduring Time, beschreibt maintenance als die zeitliche Dimension von care – »this disavowed durational activity that gives the lie to being as conatus, Spinoza’s supposedly innate inclination for a thing to go on being, or to somehow enhance itself.«[18] Maintenance beruhe auf der Gewissheit um unsere Verletzlichkeit und Abhängigkeit, wobei diese an verschiedenen Punkten in unserer individuellen Geschichte auftauchen würden und sich in Bezug auf die Geschichte von Unterdrückung und Widerstand sowie Macht und Handlungsfähigkeit unterschiedlich entwickelt hätten.[19] »Maintenance […] deals with states of dependency, with vulnerable states in which we are reliant on both – the practices and good will of other people, beings and things to survive and thrive.«[20]

In ihrem Post Partum Document (Abb. 7) aus den Jahren 1973–1979 hat die US-amerikanische Konzeptkünstlerin Mary Kelly gezeigt, dass es neben der Welt der industriellen Produktion, auf welche Carl Andres und Donald Judds Minimal-Art-Arbeiten referieren, noch andere Arbeitsbereiche gibt, die die Struktur der Serialität nahelegen: Windeln wechseln, Fläschchen geben, Brei und Mahlzeiten zubereiten, auf den Boden geworfene Dinge aufheben, immer wieder, wenn das Kleinkind die Gesetze der Schwerkraft erprobt, mit ihm sprechen, ihm zuhören, Laute sprechen, repetieren, Sprechen praktizieren, sich Zeichnungen anschauen, kommentieren, sortieren, Kleidung waschen, flicken und so weiter. Im maximalen Gegensatz zur zeitgenössischen, an die Industrie delegierten Minimal-Art fällt in Kellys Dokumentation der Beziehung zum Kind die Zeit der künstlerischen Produktion mit ihrer Lebenszeit zusammen. Mit den an der Wand aufgereihten Einheiten gleichen Formats – Zeichnungen, Tabellen und Diagrammen, die ihre Tätigkeiten als Mutter und den In- und Output des Kindes protokollieren – und Ready-mades wie unterschiedlich gefärbter Stuhl auf Papier oder obsolet gewordene Babykleider hinter Glas, macht Kelly einen kritisch-feministischen Beitrag zur zeitgenössischen Kunst.

7 Mary Kelly, Post-Partum Document, 1977: a Dokumentation VI, Vor-schriftliches Alphabet, Inschrift und Tagebuch; b Dokumentation I, Analyse von Fäkalienspuren und Nahrungstabellen; c Dokumentation V, Klassifizierte Objekte, proportionale Diagramme, statistische Tabellen; d Postscriptum
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Mary Kelly, Post-Partum Document, 1977: a Dokumentation VI, Vor-schriftliches Alphabet, Inschrift und Tagebuch; b Dokumentation I, Analyse von Fäkalienspuren und Nahrungstabellen; c Dokumentation V, Klassifizierte Objekte, proportionale Diagramme, statistische Tabellen; d Postscriptum

Doch die Kritik bleibt nicht auf die Sphäre der Kunst beschränkt. Durch die Übersetzung der gesellschaftlich naturalisierten »Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit«[21] in eine Ästhetik der Administration unterzieht sie diese Arbeit einer Denaturalisierung und zielt auf jene fundamentale Kritik am herrschenden System, die zeitgleich zur Entstehung von Kellys Arbeit rund um den Planeten volle Fahrt aufgenommen hatte. Es war die Kritik an einem System, das Wertschöpfung allein in der Warenproduktion denkt, die Idee des unbegrenzten Wachstums des Kapitals für absolut erklärt und alle sozialen, ökologischen und kreativen Prozesse diesem Interesse unterordnet. Unter den aktuellen Vorzeichen einer »Erde am Limit«[22] und des allseits dämmernden Bewusstseins um die verheerenden Konsequenzen des kapitalistischen Weltbezugs, stellt sich die Frage nach neuen sowie alten Formen des Haus-Haltens und zirkulären Wirtschaftens mit neuer Brisanz. Auch Kellys Arbeit leistet einen Beitrag zur Sichtbarkeit jenes Arbeitsfeldes, das sich aufgrund seiner zeitlichen Intensität und Verbindlichkeit für das System nicht (schnell genug) auszahlt und daher als Privatsache getarnt wird. Leopoldina Fortunati spricht vom Arcane of Reproduction und Nancy Fraser von einer Sphäre Behind Marx’s Hidden Abodes.[23]

In Die Reproduktion der Arbeitskraft im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution beschreibt Silvia Federici, wie ihr und den anderen Initiatorinnen der internationalen Kampagne Wages for Housework zu Beginn der 1970er Jahre zunehmend klar geworden sei, dass es »noch nie einen Generalstreik gegeben« habe.[24] Und Streik ist wohlverstanden eine paradoxe Form der Sichtbarmachung dessen, was für gewöhnlich selbstverständlich und dadurch unsichtbar geworden ist. »We’ve only seen men, generally men from the big factories, come out on the streets«, so Maria Dalla Costa »while their wives, daughters, sisters, mothers, went on cooking in the kitchens.«[25] Für diese Erkenntnis zentral war laut Federici eine in den 1960ern überwiegend von Afroamerikanerinnen gegründete Bewegung namens Welfare Mothers Movement sowie die für das antikoloniale Denken wichtige Einsicht, dass »die Produktion von Mehrwert historisch nie auf die Fabrik beschränkt geblieben ist«, sondern auch auf »Baumwoll-, Gummi- und Zuckerrohrplantagen, auf Reisfeldern und vielen anderen, von den klassischen Schauplätzen industrieller Ausbeutung zu unterscheidenden Orten« stattgefunden hat.[26] Wages for Housework sei weniger eine realpolitische Forderung gewesen, als vielmehr der Beginn einer Diskussion, durch den diese Tätigkeiten überhaupt erst als Arbeit sichtbar gemacht werden sollten.[27] Durch politische Kämpfe, Kunst und Theorien wurde zu Beginn der 1970er Jahre das Bewusstsein dafür geschaffen, dass die unbezahlte, naturalisierte und in den Privatbereich abgeschobene Hausarbeit das unsichtbar gemachte Fundament einer langfristigen, kapitalistischen Strategie darstellt. In einer der bis heute »ergiebigsten Kritiken des Marxismus« wurde aufgezeigt, inwiefern die Ausbeutung des Lohnarbeiters, der Lohnarbeiterin durch die ursprüngliche Akkumulation auf der Ausbeutung derjenigen beruht, die die gesellschaftliche Arbeitskraft reproduzieren und durch körperliche, geistige und emotionale Investitionen aufrechterhalten.[28] Der private Haushalt wurde damit als ein Ort erkennbar, an dem Produktion stattfindet und zwar nicht die Produktion von Waren, sondern – in der kapitalistischen Systemlogik gedacht: die Produktion von Arbeiter:innen für den Arbeitsmarkt. Auf diese Weise ist das Private zu Beginn der 1970er Jahre politisch geworden.[29]

Ein Blick auf das Paradox – Produkte der Kunst, die »unproduktive« Arbeit sichtbar machen – macht deutlich, dass die feministische Kunst jene Charakteristik aufweist, die Juliane Rebentisch der Gegenwartskunst als solches attestiert: ein kritisches Bewusstsein um die Ideologien der Moderne und eine dezidierte Abgrenzung von der programmatisch anti-traditionellen und der Idee eines linearen Fortschritts verschriebenen Moderne.[30] Laut Rebentisch zeige sich in den seit den 1970er Jahren verbreiteten künstlerischen Praktiken der Wiederverwertung und der Re-Lektüre von bestehendem Material (und der damit verbundenen Bedeutung des Erinnerns) die kritische Haltung der zeitgenössischen Kunst gegenüber der Abwertung und radikalen Abtrennung des Alten als Obsoletes, was die Moderne als Bedingung der Möglichkeit eines Neubeginns gesetzt hat.[31] »The sourball of every revolution: after the revolution, who’s going to pick up the garbage on Monday morning?«,[32] fragt Mierle Laderman Ukeles in ihrem 1969 verfassten Manifesto for Maintenance Art, das in Rebentischs Junius-Einführung in die zeitgenössische Kunst ebenso wenig erwähnt wird wie die Tatsache, dass sich die Kritik am Fortschrittsgedanken zu einem großen Teil den in Kunst und Theorie beziehungsweise Kunst als Theorie geführten antikolonialen und (queer-) feministischen Diskursen verdankt, die sich seit den späten 1960er Jahren entwickelt haben.

Wie aber kann nun maintenance zum Mittel der Kritik oder selbst revolutionär werden, wenn doch gerade diese reproduktiven Tätigkeiten dazu bestimmt sind, die bestehenden Dinge am Laufen oder in einem stabilen Zustand zu halten, einen Status quo aufrechtzuerhalten? Wie Mierle Laderman Ukeles betont auch Lisa Baraitser, dass maintenance keine Eruption des Neuen sei, sondern »the lateral time of ›on-go‹ that tries to sustain an elongated present. […] Maintenance requires an attachment to now-time that is not so much the time of the Benjaminian flash (Benjamin 1940), but of the slow burn of one moment looking much like the next.«[33] Dabei ginge es bei maintenance aber auch um die Aufrechterhaltung von Lebendigkeit: »to maintain one’s mood could be described as buoying oneself up, keeping oneself or someone else afloat during difficult times. […] To maintain is to underpin, or prop up from below, to hold up when something or someone is flagging.«[34] Für Lisa Baraitser liegt maintenance als die spezifische Zeitlichkeit von Care am Schnittpunkt zweier Achsen – »a lateral axis of stumbling blindly on and a vertical axis of holding up, orientating us towards a future, even when that future is uncertain, or may not be our own.«[35] Während der maintenance ein konservativer und sogar rückwärts gerichteter Impuls innewohnt, gäbe es auch einen zeitlichen Modus, der in Richtung Zukunft reicht: »Maintenance as the name for an ongoing relation or attachment to the promise of time.«[36]

Für meine Argumentation möchte ich den Schnittpunkt dieser beiden Zeitachsen hervorheben und auf dem (transitorischen und zugleich andauernden) Moment der Gegenwart bestehen. Besteht die spezifische Leistung von Sorge- und Versorgungsarbeit nicht darin, im Hier und Jetzt präsent zu sein? Dem sinnlich manifesten Geist und Körper – Mensch, Tier, Pflanze, Ding – ein umsichtig, aufmerksames Gegenüber zu sein, das kleinste Differenzen wahrnimmt, einspringt und handelt, wenn Not tut? Dabei möchte ich an jene Konzeption von Gegenwart erinnern, die Boris Groys für die Gegenwartskunst beschrieben hat:

I would like to mobilize somewhat different meaning of the word ›contemporary‹. To be contemporary does not necessarily mean to be present, to be here and now; it means to be ›with time‹ rather than ›in time‹. ›Contemporary‹ in German is »zeitgenössisch«. As Genosse means ›comrade‹, to be contemporary – zeitgenössisch – can thus be understood as being a ›comrade of time‹ – as collaborating with time, helping time when it has problems, when it has difficulties. And under the conditions of our contemporary product-oriented civilization, time does indeed have problems when it is perceived as being unproductive, wasted, meaningless. Such unproductive time is excluded from historical narratives, endangered by the prospect of complete erasure. This is precisely the moment when time-based art can help time, to collaborate, become a comrade of time – because time-based art is, in fact, art-based time.[37]

Als comrades of time oder in Kammergemeinschaft[38] sondergleichen finden wir uns wieder mit dem eingangs erwähnten Werk von Chantal Akerman (Abb. 8), das 1975 im Internationalen Jahr der Frau erschien und auf dem Edinburgh International Film Festival uraufgeführt wurde. Dort hat es, so mein Verdacht, eine Reihe Kunsthistoriker:innen beeinflusst – Peter Wollen, T. J. Clark, Griselda Pollock unter anderen, denen wesentliche Impulse zur Formung einer New Art History zu verdanken sind, einer Ausrichtung der Kunstgeschichte, die eine sozialpolitische Verantwortung des Faches forderte und die zudem wesentlich zur Integration des Films in die Disziplin beigetragen hat.[39]

8 Still aus Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles, B/F 1975, R: Chantal Akerman
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Still aus Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles, B/F 1975, R: Chantal Akerman

Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles ist das dreistündige Porträt einer Hausfrau, doch auch ein Thriller, der in enger Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Delphine Seyrig und der Kamerafrau Babette Mangolte entstanden ist.[40] Durch eine einzigartige Verklammerung von Film(-arbeit) und Hausarbeit widersetzt sich dieser Film – 2024 dringlicher denn je – der kapitalistischen Entzeitlichung oder jener (konzeptuellen) Beschleunigungstendenz des herrschenden ökonomischen Systems, die in ihren realen Auswirkungen längst manifest geworden ist.[41] Indem der Film drei Eigenzeiten aufs Engste verklammert – die Zeit der Figur und ihrer Arbeit/Darstellung/Performance, die Zeit des Films als zeitbasiertes Medium und die Zeit der Erfahrung der Betrachter:innen – bildet er ein Bollwerk gegen die Kapitalisierung von Lebenszeit und ermöglicht im geteilten Kinoerlebnis nicht nur die subjektive Bindung, die Aneignung von Zeit, sondern auch den Fokus auf jene Dinge zu lenken, die den feinen (und schließlich großen) Unterschied machen. Insofern hat der Film von seiner Schlagkraft – »It felt as though there was a before and after Jeanne Dielman just as there had once been a before and after Citizen Kane«,[42] so etwa Laura Muley – nichts eingebüßt, im Gegenteil: Die stille Revolution, die der Film anstößt, scheint ihr volles Potential erst in der Zwischenzeit entwickelt zu haben.[43]

Der Film stellt eine stille Revolution dar, er führt sie auf und aus und leitet sie auch an: indem er den Nachvollzug seiner Geschichte – die Befreiungsgeschichte einer Hausfrau? – an die Bedingung knüpft, die feinen Unterschiede wahrzunehmen. Damit fordert er sein Close-Reading förmlich ein: eine Haltung der Präsenz und Aufmerksamkeit gegenüber der sinnlichen Gegenwart, die der Film durch seine explizit inszenierenden Verfahren anbietet. Durch das in der Dauer insistierende Bild und den Blick auf die Figur wird filmische Zeit durch sie gebunden und eine Nähe zu ihr hergestellt, die sie im Sinne einer gelungenen Figur der Fiktion lebendig werden lässt – ohne dass wir viele Informationen oder Wissen über sie besitzen. Ebendiese aufmerksame Hinwendung zum hier und jetzt Präsenten, das gar mit einer Lust verbunden werden kann, gehört – wie bell hooks in ihrem Kapitel Rethinking the Nature of Work deutlich macht[44] – zu den grundlegenden Qualifikationen jener Arbeit, die die Tage von Jeanne Dielman für eine lange miterlebte Weile strukturieren: die Hausarbeit beziehungsweise Sorge- und Versorgungsarbeit, die ich hier fern vom Versuch einer Renaturalisierung dieser Arbeit ernst nehmen und mit Blick auf alternative Ökonomien stark machen möchte.[45]

Wenn die Politik, so Rancière, »in der Erzeugung von Subjekten besteht, die den Namenlosen eine Stimme verleihen, dann besteht die Politik der Kunst in der Ausarbeitung der sinnlichen Welt der Namenlosen, der Arten des Dies und des Ich, aus denen eigene Welten des politischen Wir hervortreten. Insofern diese Wirkung sich durch den ästhetischen Bruch vollzieht, dient sie keinem bestimmten Kalkül.«[46] Eine solche Namenlose war Jeanne Dielman, ehe sie und ihre Arbeit durch die Zusammenarbeit des kleinen Filmteams rund um Chantal Akerman eine konkrete Sichtbarkeit erhielt. Durch Aufzeichnung von Jeannes Handgriffen und Haushaltsaktivitäten in Echtzeit und durch die rhythmische Wiederholung und allmähliche Verschiebung des Immergleichen mit dem Effekt eines Suspense hat der Film Jeanne Dielman, so lässt sich mit Rancière behaupten, die »Koordination des Darstellbaren« verändert.[47] Durch das großangelegte Format dieses Films und seinen Aufbau in drei Akten wird, wie Ivonne Margulies beschreibt, ein Anspruch formuliert: Jeanne invertiert die Hierarchie der Bildgattungen (Stillleben, Genrebild, Porträt bis Historie) und misst sich mit den Dramen Hollywoods, den dominanten Repräsentationsformen des Kinos.[48] Ihre alltäglichen Gesten der maintenance und der darin implizierte Weltbezug ersetzen jenen Weltbezug, der sich in den großen Gesten Hollywoods beziehungsweise Heldentaten zeigt; in Taten, die die Kunst- sowie Kulturgeschichte seit der Antike dominieren.

Im Sinne eines Kammerspiels formuliert der Film in einer Abfolge fixierter Einstellungen ein Zuhause: 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles – beziehungsweise, wie auch der Straßenname nahelegt: einen Arbeitsplatz. Hier wohnt Frau Dielman mit ihrem Sohn und betreibt ein kleines Universum, das sie sorgsam und mit Hingabe in Stand hält. Ein Stillleben – die Suppenschüssel auf dem Esstisch – ist der Dreh- und Angelpunkt ihrer Arbeit und der tänzerisch ausagierten, betont physischen Bewegungen, die diese Arbeit motivieren. In die Suppenschüssel nämlich wandert Geld – hinein, hinaus, hinein – in einem Rhythmus, der die erste Hälfte dieses Films bestimmt und die hier herrschende Ordnung – das ›Gesetz des Hauses‹ (Ökonomie, altgriechisch: oĩkos, ›Haus‹, und nómos, ›Gesetz‹) – etabliert und die Routine bildet. Frau Dielman verdient ihr Geld mit Sexarbeit und gibt es aus als Hausfrau. Ökonomisch ist sie autonom, und ihr System ist optimiert: Sexarbeit ist gut entlohnt und schnell erledigt, während Hausarbeit und Mutterschaft sich in die Länge ziehen, den ganzen Tag, den ganzen Film, das Leben lang andauern.[49]

Der Gelderwerb wird stets ins Licht gerückt. Sie fordert nach der Sexarbeit, die selbst nicht sichtbar ist, ihren Kunden zur Bezahlung auf, er zählt die Scheine, sie nimmt das Geld entgegen. Im Sinne der Selbstversorgung zielt der Gelderwerb in diesem Haushalt direkt auf Jeanne Dielmans Leben mit dem Sohn – Frau Dielman geht nicht auf die Bank, und in der Suppenschüssel wird Geld nur vorübergehend aufbewahrt. Die von Akerman kuratierten Aktivitäten werden von Delphine Seyrig als kunstvoll reibungslose Abläufe vorgeführt und betonen, wie Heike Klippel herausgearbeitet hat, den radikal transitorischen Charakter von reproduktiver Arbeit.[50] Durch diese Darstellung wird sie in ihrem maximalen Kontrast zur Güterproduktion – dem Herstellen im Sinne Arendts – erkennbar. Niemals sehen wir, wie etwas auf Vorrat gekocht wird.[51] Eingekauft wird das, was darauffolgend zubereitet und dann auch gleich gegessen wird. Das Geschirr, das so beschmutzt, wird kurz darauf gewaschen und zur nächsten Mahlzeit wieder sauber aufgedeckt. Der beim Sex befleckte Körper wird gleich darauf geschrubbt und danach auch die Wanne – vor der Tapete, die Jackson Pollocks Actionpaintings persifliert und durch Jeannes ausladende Gesten des Putzens kommentiert wird (Abb. 9). Gerade keine Spuren zu hinterlassen ist das Credo ihrer ästhetischen Perfektion. Im Gegensatz zu Pollocks kontrolliertem Zufall[52] wird bei Frau Dielman nichts dem Zufall überlassen: In enger Kooperation des kleinen Teams um Chantal Akerman entsteht hier ein perfekt kontrolliertes ästhetisches Regime. Dieses stellt Jeannes Herrschaftsbereich nicht nur dar, vielmehr ist sie an seiner Bildung selbst aktiv beteiligt. Durch die Art und Weise, wie sie ihren Haushalt führt, bestimmt sie über die filmische Form. Licht an, wenn sie den Raum betritt, Licht aus, wenn sie den Raum verlässt. Hausarbeit und Filmarbeit zeigen sich in ihrer gegenseitigen Durchdringung und verzahnen sich in der sinnlichen Gegenwart des bewegten Bildes, das als eine Art Flow erlebbar wird (Abb. 10).[53]

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Still aus Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles, B/F 1975, R: Chantal Akerman

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Still aus Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles, B/F 1975, R: Chantal Akerman

Der Film Jeanne Dielman und die Sorge- und Versorgungsarbeit teilen ihre zeitliche Verbindlichkeit – die Eigenschaft, dass sie ohne einschneidende Qualitätseinbußen in ihrer Dauer nicht zu kürzen sind und sich in vollen Widerspruch zur kapitalistischen Logik der Zeiteinsparung stellen.[54] In Bezug auf den Film bedeutet dies, dass das Timing von Jeanne Dielmans Handlungen nicht durch die Akkumulation von Informationen zur Rekonstruktion einer Geschichte oder zur psychologischen Dekodierung der Handlungsträgerin erfolgt, sondern durch die Produktion eines Naheverhältnisses zur Figur, das nur dadurch entsteht, dass wir mit ihr viel Zeit, die Zeit des Films, verbringen. Jeanne Dielman (die Figur wie auch der Film) nimmt sich wiederum die Zeit, die ihre Arbeit erfordert, oftmals auch mehr, etwa dann, wenn sie für den Abwasch von zwei Tellern übertrieben viel Zeit (und Wasser) braucht, wie auch für das ausladende Putzen ihrer Wanne. Auf diese Weise produziert der Film eine qualitative Beziehung zu seinem Publikum als Gegenüber, die durch seine zeitliche Verkürzung nicht zustande käme.

Den modernistisch selbstreflexiven Strukturellen Film, den Chantal Akerman rund um das Anthology Film Archive in New York studiert hat – ein experimentelles Filmgenre, das die technisch-materialistische Substruktur der filmischen Erscheinung offenlegt, die serielle Taktung des analogen Filmstreifens als materielle Bedingung zum Inhalt macht – verbindet sich in Jeanne Dielman mit reproduktiver Arbeit, die in ihrer potentiell unendlichen, repetitiven Struktur mit der Substruktur des Mediums korrespondiert. Auf diese Weise wird auch der Strukturelle Film politisch unterwandert. Im Rückgriff auf die Zeittheorien von Julia Kristeva hat Heike Klippel herausgearbeitet, dass die serielle, an der ewigen Wiederkehr des Immergleichen ausgerichtete Zeitlichkeit der Hausarbeit in Jeanne Dielman über- oder unterformt wird von einer komplementären zeitlichen Struktur: einer teleologischen, entwicklungs- oder fortschrittsorientierten Struktur in aristotelischen drei Akten, die nicht unabschließbar ist, sondern auf ein Ende zielt und mit einem solchen schließt.[55] Die zwei Grundsysteme, die Ukeles in ihrem Manifesto for Maintenance Art unterschieden hat – »Two basic systems: Development and Maintenance« – schließen sich im ökonomischen System, das dieser Film beschreibt, nicht gegenseitig aus.[56]

Die Erfahrung, wie Jeanne Dielman den ersten Akt des Filmes und damit ihren Arbeitstag choreografiert, wie sie als souveräne Tänzerin des Alltags komplexe ineinandergreifende Abläufe arrangiert und virtuos ein ökonomisches sowie ästhetisches Regime erzeugt, ist die Bedingung der Erfahrung dessen, was in der zweiten Hälfte dieses Films geschieht. Erlebbar wird die Differenz zum etablierten Status quo und das Auseinanderfallen einer Ordnung. Durch die vieldiskutierte Absage dieses Films an das kausallogische Prinzip und das entsprechende Schnittsystem, demzufolge eine Einstellung die vorangegangene erklären würde, bleibt der Grund des Einbruchs für uns unergründlich.[57] Sichtbar sind bloß Konsequenzen: Nach ihrem Espresso in der Stadt und dem Besuch des zweiten Freiers vergisst Jeanne Dielman die Suppenschüssel zuzudecken und verkocht die Kartoffeln, was wiederum bedeutet, dass der Umgang mit der Zeit unökonomisch war. Nun gerät der Tagesablauf durcheinander, die Abläufe stocken, und das Geschehen nimmt seinen Lauf. Der Film endet mit Jeanne Dielmans Mord an einem Kunden und einer siebenminütigen Schlusssequenz, in welcher Akermans Ethos der Darstellung des Anderen pointiert zum Ausdruck kommt. Jeanne sitzt als opakes Gegenüber da, beinahe regungslos, und verkörpert Zeit, produziert die Gegenwart als eine widerständige Figur der Präsenz, die ihre Geschichte impliziert.

Durch seine partielle Teilhabe an der laut Julia Kristeva in der patriarchalen Ordnung und abendländischen Kultur vorherrschenden entwicklungsorientierten Zeitlichkeit schleicht sich der Film Jeanne Dielman in den Mainstream des Erzählens ein und macht gleichzeitig eine Alternative geltend.[58] Die Teilhabe an einer gerichteten Zeit zielt auf das Bewusstsein um die radikale Begrenztheit des Lebens, sofern dieses Leben mit den Begriffen Arendts nicht auf den »Kreislauf der Natur« und dessen todlose Wiederkehr bezogen »vom Standpunkt des Natürlichen« aus betrachtet wird, sondern »vom Standpunkt der Welt«.[59] Von diesem aus wird nach Arendt die individuelle Biografie bedeutsam: die Ereignisse der Geburt und des Todes eines Menschen, und die verbrachte Zeitspanne dazwischen.[60] Darüber hinaus wird aus dieser Perspektive deutlich, dass Zeit keine unendlich zur Verfügung stehende unerschöpfliche Ressource ist, sondern sich auf diese oder andere Weise an Leben und Lebendigem ausdifferenziert, sich körperlich-geistig manifestiert. Unter diesen Vorzeichen stellt sich sowohl die Frage nach der Dauer eines menschlichen Lebens – für die sich nach Marx’ Analyse das Kapital nicht interessiert[61] – wie auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit des (eigenen) Lebens und dem Stellenwert der zu Lebzeiten mit Arbeit verbrachten Zeit. Dass der Film Jeanne Dielman die Frage nach dem Sinn auf spezifisch filmische Weise aufkommen lässt – durch die Loslösung der filmischen Zeit von ihrer Handlungsgebundenheit – haben Heike Klippel und Ivone Margulies auf ihre Weise deutlich gemacht und durch ein Bestehen auf der Offenheit dieser Frage gegen alle psychologisierend-vereinnahmenden Deutungsversuche verteidigt.[62] Insbesondere die in der Dauer insistierende Schlussfigur konfrontiert das Publikum (wie auch die Hauptfigur) mit der existenziellen und für eine Filmproduktion zugespitzten Frage nach der Produktion von Sinn/ Unsinn, der Produktion von Dringlichkeiten, inneren Notwendigkeiten. Alltagsstrukturen, Routinen, Rituale, aber auch das Drama offenbaren sich in diesem Film als Gestaltungen der Zeit, die nicht nur dem Gefühl ihres sinnlosen Verstreichens entgegenhalten, sondern auch einer Aushöhlung von Lebenszeit durch ihren Ausverkauf ans Kapital.

Angesichts der Sorge- und Versorgungsarbeit stellt sich die Frage nach dem Sinn pointiert und paradox: weil die Unentbehrlichkeit dieser am Leben orientierten Arbeiten eher selbstverständlich als offensichtlich ist, und weil das Transitorische, das diese Tätigkeiten ausmacht, immer wieder als sinnlos beschrieben wird. Weggewischt, schon sammelt sich wieder Staub; was kaum gekocht, ist schon gegessen; was kaum geboren, ausgeflogen… Diese Beurteilungen zeugen jedoch eher von der gedrückten Stimmung, die den gesellschaftlichen Umständen geschuldet sind, unter denen diese Tätigkeiten ausgeführt werden. Es kann ›an sich‹ kaum sinnversprechender sein, Kund:innen über Finanzprodukte zu beraten, als ein schönes Essen zu bereiten – gerade weil es dann gegessen wird. Maria Mies hat in ihrem Buch Patriarchat und Kapital: Frauen in der internationalen Arbeitsteilung darauf aufmerksam gemacht, dass es angesichts der offensichtlichen Sinn- und Zwecklosigkeit eines Großteils der heutigen Warenproduktion nicht an der Zeit sei, an der Sorge- und Versorgungsarbeit zu verzweifeln.[63] Vielmehr plädiert sie dafür, diese in Bezug auf die Vorstellung dessen, was in Anbetracht der verschiedensten Symptome eines ausgeplünderten Planeten eine sinnvolle, weil die Umgebung wertschätzende und nicht am Mehrwert des Kapitals, sondern am Mehrwert des Lebens orientierte Arbeit sein könnte, zum Vorbild zu nehmen.[64]

Für einen neuen Arbeitsbegriff muss nach Maria Mies die Unterscheidung zwischen gesellschaftlich notwendiger Arbeit und Freizeit genauso zurückgewiesen werden wie die Ansicht, dass »Selbstverwirklichung, Freiheit und Glück nur jenseits der Sphäre der notwendigen Arbeit zu erreichen seien, und dass die Voraussetzung dafür die […] Abschaffung der notwendigen Arbeit sei.«[65] Diese Vorstellung impliziere den Arbeitsbegriff des weißen Industriearbeiters.[66] Stattdessen führt sie am Beispiel der Arbeit einer Mutter oder jener eines Bauern aus, dass Arbeit sowohl Last wie auch Lust sei, die Quelle von Frust, aber auch von Kraft und Glück.[67] Falls man auf der Suche nach dem Grund für Jeanne Dielmans Einbruch der »Orgasmusthese« Glauben schenkt,[68] bliebe immer noch die Frage: Wieso ist es am zweiten Tag zum sexuellen Höhepunkt gekommen, der ihre Ordnung außer Rand und Band versetzt? Was hat die Bereitschaft zur Empfängnis des Empfindens freigesetzt? Ich bin der Überzeugung, dass sich der Espresso und die Gegenwart der netten Kellnerin im Café als herausgehobener Moment ihrer griffigen Choreografie des Alltags perfekt angefühlt haben muss (Abb. 11).

11 Still aus Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles, B/F 1975, R: Chantal Akerman
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Still aus Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles, B/F 1975, R: Chantal Akerman

In ihrem Kapitel Rethinking the Nature of Work von 1984 unternimmt bell hooks mit Blick auf Schwarze Frauen, die als Working Poor stets bezahlter Arbeit nachgegangen sind, eine Kritik an jenen weißen feministischen Stimmen, die aufgrund ihrer Indifferenz gegenüber Ethnizität und Klasse Lohnarbeit per se verklären, und reagiert auf die weitgehende Abwesenheit von Studien über die Qualität von Sorge- und Versorgungsarbeit.[69] Auf erfrischende Weise kehrt sie die Abhängigkeitsverhältnisse um und führt die These an, dass gut ausgeführte Hausarbeit zum eigenen Wohlbefinden und jenem anderer beiträgt, die Herausbildung von Kreativität und ein Gespür für Ästhetik fördert, wie auch zur Reduktion von Stress geeignet sei:

By learning housework, children and adults accept responsibility for ordering their material reality. They learn to appreciate and care for their surroundings. Since so many male children are not taught housework, they grow to majority with no respect for their environment and often lack the know-how to take care of themselves and their households. They have been allowed to cultivate an unnecessary dependence on woman in their domestic lives and as a result of this dependence are sometimes unable to develop a healthy sense of autonomy.[70]

Chantal Akermans Film Jeanne Dielman führt vor, wie die Sorge- und Versorgungsarbeit zum Mittel der Kritik werden und zu einem Umsturz führen kann – obwohl doch ebendiese Arbeit dazu bestimmt ist, einen Status quo aufrecht zu erhalten. Entscheidend ist das Moment des Unterbrechens einer reibungslosen Funktionalität durch einen Überschuss an Sichtbarkeit. Erst durch die Überführung vom Funktionalen in den Bereich des Wahrnehmbaren wird nicht nur die Bedeutung dieser Tätigkeiten und die damit verbundene Sprengkraft erkennbar, sondern auch deren vielfältige Eigenschaften und Qualitäten, die weit über die vielzitierte Mühsal und die Notwendigkeit hinausreichen. Reproduktionsarbeit war seit jeher in der Lage, nicht nur konforme arbeits- oder lebensfähige, sondern auch nonkonforme, resiliente, kompetente und/ oder zufriedene Menschen zu schaffen. Die aufgrund ihrer transitorischen Qualität und zeitlichen Intensität systemisch unsichtbar gemachten Tätigkeiten produzieren nicht nur das Leben, sondern einen Überschuss an Leben. Dieserträgt der Begrenztheit der Lebenszeit auch in einer qualitativen Hinsicht Rechnung – weil durch die Hingabe an den Lauf der Zeit, die Fähigkeit zur Affektion, Genuss und Sinnlichkeit, durch Hinwendung und zwischenmenschlichen Beziehungen jenes Leben entstehen kann, das meist für lebens- und liebenswert gehalten wird.

Aus einer aktuellen Perspektive kritisiert Akermans künstlerische Bildproduktion die Informatisierung der Gesellschaft, die, wie Silvia Federici aufzeigt, keinesfalls zu einer Entmaterialisierung von Arbeit, schon gar nicht von reproduktiver Arbeit geführt hat. Breit verwendete Begriffe wie ›Wissensgesellschaft‹ und ›Informatikrevolution‹ lassen vergessen, dass die arbeitsintensiven Abläufe in den globalen Süden ausgelagert worden sind.[71] Oder aber von jenen unsichtbar gemachten Menschen übernommen werden, die die Grenzen überqueren und dabei, wie die Putzfrau, keine Spuren hinterlassen dürfen. In ihrer dokumentarischen Videoinstallation De l’autre coté von 2002 führt uns Akerman nach Aqua Prieta an die Grenze Mexikos.[72] Zwischen langen Travellings sprecen Bewohner:innen dieser Zone im Angesicht der Kamera – zum Beispiel David Rodriguez, der von seiner Mutter erzählt. Ihr ist der Übertritt gelungen, im Gegensatz zu vielen anderen, die in der Wüste gestorben sind. In den USA verdient sie nun ihr Geld als Nanny, von dem sie regelmäßig einen Teil nach Hause schickt. Am westlichen Ende derselben Grenzlinie liegt Tijuana, eine transnationale Freihandelszone, die in Maquilapolis, einem Dokumentarfilm von Vicky Funari und Sergio De La Torre, der in enger Zusammenarbeit mit den Protagonistinnen entstanden ist, die Matrix des globalisierten Kapitalismus offenlegt (Abb. 12).[73] Im Namen des Fortschritts werden junge mexikanische Mütter von amerikanischen Konzernen in die so genannten Maquiladoras, die Montagefabriken, gelockt, wo sie – zu unterirdischen Löhnen und jenseits jeder Sichtbarkeit – die mediale Technologie zusammenlöten, die eine mobile, digitale und vor allem obsessiv visuelle Gesellschaft für ihr reibungsloses Funktionieren braucht.

12 Stills aus Maquilápolis: City of Factories, MEX/USA 2006, R: Vicky Funari and Sergio De La Torre; a Lupita Castañeda filmt ein Videotagebuch (links); b Fabrikarbeiterin Carmen Durán
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Stills aus Maquilápolis: City of Factories, MEX/USA 2006, R: Vicky Funari and Sergio De La Torre; a Lupita Castañeda filmt ein Videotagebuch (links); b Fabrikarbeiterin Carmen Durán

Mit Hilfe der Parole »Our House is on Fire!«,[74] die das lokale Zuhause als ein globales denkt, kann die in Jeanne Dielman vielfältig angedeutete Isolation der Hausfrau zumindest konzeptuell überwunden werden. Dazu gilt es, mit bell hooks jene kolonialisierten und marginalisierten Bereiche ins Zentrum zu verschieben, die sich nicht in erster Linie am Gelderwerb, sondern an der Produktion von Leben und Lebensqualität orientieren.[75] In diesem Sinne war es an der Zeit, den fünfzehnminütigen Dokumentarfilm Fannie’s Film von Fronza Woods aus dem Jahre 1981 einer Restaurierung zu unterziehen und einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.[76] Im Jahr 2022 verschwistern sich Jeanne Dielman und Fannie Drayton als zwei Figuren der Gegenwart. Durch die Weise, wie sie im filmischen Bild ihre eigene Präsenz und Gegenwart erzeugen, implizieren sie Geschichte, die in Bezug auf die Figur Jeanne Dielman mit der Erfahrung des Holocaust in Verbindung gebracht wird,[77] in Bezug auf Fannie Drayton mit der Erfahrung der Sklaverei.

Fannie’s Film zeigt die fünfundsechzigjährige afroamerikanische Putzfrau aus Georgia – Fannie Drayton –, die in einem New Yorker Studio für professionelle Tänzer:innen ihre Arbeit ausführt, während sie im Voice Over aus ihrem Leben und von ihrer Arbeit erzählt (Abb. 13). Das mit Kraftmaschinen, Spiegeln und Pflanzen bestückte Studio, das sie durch ihre Arbeiten in Stand hält, ist der Ort, an dem tagsüber die Tänzer:innen ihren Körper bilden und für ihren choreografierten Auftritt in der Öffentlichkeit die adäquaten Gesten üben. Einen solchen Auftritt hat die Filmemacherin Fronza Woods Fannie Drayton durch die Produktion des Films ermöglicht. Fannie Drayton knüpft – wie auf ihre Weise Delphine Seyrig als Jeanne Dielman – die Zeit des Films an ihre eigenen Bewegungen, an ihre Gesten des Putzens, an ihre Worte, ihre Stimme, ihren gospelartigen Gesang, und konstituiert auf bildende Weise ein Subjekt, das allen Stereotypen, Vorurteilen und Vorstellungen eine Persönlichkeit entgegensetzt. Es sei dies das »ausdruckstarke Porträt eines voll verwirklichten Individuums«, schreibt die criterion collection.[78] Eigentlich ist Fannie’s Film genauso Selbstportrait: Die Bewegungen des Putzens macht Fannie Dayton zur Bedingung ihrer eigenen Sichtbarkeit, insofern, als dass sie jene Spiegel putzt, in denen sie selbst erscheint. Damit entmystifiziert sie – wie Delphine Seyrig als Jeanne Dielman – jenes Arcane of Reproduction oder den ›Zaubertrick des Kapitalismus‹, der die Welt, Kulturbetriebe inklusive, am Laufen hält und steht ein für ihr Bild und für die Zeit, die ihre Arbeit benötigt.

13 Still aus Fannie’s Film, USA 1981, R: Fronza Woods
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Still aus Fannie’s Film, USA 1981, R: Fronza Woods

About the author

Eva Kuhn

EVA KUHN ist Kunst- und Filmwissenschaftlerin und vertritt seit Januar 2024 die Professur für moderne und zeitgenössische Kunst an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war sie Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg und am Kunsthistorischen Institut der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Kunst- und Filmtheorie/-geschichte und umfassen neben dem Experimental- und Avantgardefilm das Verhältnis von Blick- und Figurenkonzeptionen sowie von Kunst und (weiblicher) Arbeit.

  1. Bildnachweis: 1 © Courtesy Rebecca Lyon / Chicago Film Society. — 2 Reproduziert nach Genevieve Yue, Girl Head: Feminism and Film Materiality, New York 2021, 39. — 3 © Seyrig Archives. — 4 Reproduziert nach Tracey Warr (Hg.), The Artist’s Body, London 2000, 87. — 5, 811 Filmstills aus Jeanne Dielman 23, Quai Du Commerce 1080 Bruxelles, B/F 1975, R: Chantal Akerman. — 6 Reproduziert nach Miwon Kwon, In Appreciation of Invisible Work: Mierle Laderman Ukeles and the Maintenance of the “White Cube,” in: Documents 1997, no. 10, 11. — 7a–d Reproduziert nach Sabine Breitwieser (Hg.), Mary Kelly: Rereading Post-Partum Document (Ausst.-Kat. Wien, Generali Foundation), Wien 1999, 24, 42, 52, 58. — 12a © Darcy McKinnon. — 12b © David Maung. — 13 Filmstill aus Fannie’s Film, USA 1981, R: Fronza Woods.

Published Online: 2024-11-15
Published in Print: 2024-12-15

© 2024 Eva Kuhn, published by De Gruyter

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Downloaded on 6.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zkg-2024-4003/html?srsltid=AfmBOopCoJ8axeSAB7m0Df-NJ3wHe4H4qTOXZPdrxCeTTx1qL8jWfSaS
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