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Das Publikum stört

  • Jan von Brevern

    JAN VON BREVERN ist seit 2023 Professor für Kunst- und Kulturgeschichte an der Bauhaus-Universität Weimar. Jüngste Publikationen sind u. a. Das natürliche Kunstwerk: Zur Ästhetisierung von Natürlichkeit im 18. Jahrhundert (Konstanz 2024), »Museen und Opioide« (in: Merkur 77, 2023, Nr. 892) sowie das gemeinsam mit Anna Degler herausgegebene Themenheft »Distanz« von 21: Inquiries (2023, Nr. 3).

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Published/Copyright: November 15, 2024
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Bätschmann Oskar, Das Kunstpublikum: Eine kurze Geschichte Berlin: Hatje Cantz, 2023, 200 Seiten mit 54, teils farbigen Abbildungen, € 24,00, ISBN 978-3-7757-5527-6


Vor einigen Jahren bemerkte der Soziologe Christoph Behnke, dass die zeitgenössische Kunst »für kein externes Publikum konzipiert« sei.[1] Natürlich hat die zeitgenössische Kunst ein Publikum (und ein gar nicht mal so kleines). Aber sie braucht es nicht. Im Grunde, so könnte man die These weiterspinnen, reicht ein einziger Sammler, der das jeweilige Kunstwerk erwirbt. Ob es darüber hinaus betrachtet, interpretiert oder geliked wird, spielt dann keine Rolle. Die zeitgenössische Kunst scheine »von dem Wunsch getrieben, das Publikum aus der Kunst zu eliminieren«, hatte Susan Sontag schon 1967 geschrieben.[2] Ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen? Es wäre der wohl ultimative Triumph der Kunstautonomie. Nachdem sie sich vom Gegenstand und von gesellschaftlichen Pflichten befreit hätte, wäre die bildende Kunst endlich auch das Publikum los.

Wie anders hört sich da im Jahr 1830 der anonyme Kritiker im Schorn’schen Kunstblatt an, den Oskar Bätschmann in seiner äußerst lesenswerten »kurzen Geschichte« des Kunstpublikums zitiert. Das Publikum »übt den bedeutendsten Einfluss auf die vorhandene wie die werdende Kunst aus«, heißt es im Kunstblatt (88).

Ja, die Öffentlichkeit sei »die Seele der Kunst« und jeder Künstler möchte sein Werk von einem möglichst großen Teil dieser Öffentlichkeit »angeschaut, genossen, geschätzt wissen« (ebd.). Allerdings: zu weit entgegenkommen durfte man dieser Öffentlichkeit auch nicht, wenn sich »die Kunst um das Publikum« bemühte, drohte unweigerlich deren Verfall (89). Bereits dieser einen Quelle lässt sich die ambivalente Rolle der, so Bätschmann, »maßgebenden Instanz« (94) Kunstpublikum ablesen. In Verzahnung mit Markt, Kritik und Museum – den anderen entscheidenden modernen Kunstinstitutionen – nimmt das anonyme Publikum seit dem 17. Jahrhundert eine Schlüsselstellung in dem großen Transformationsprozess ein, der »Kunst« im modernen Sinne erst hervorgebracht hat. Und zwar durch den Druck, den es auf die Kunstproduzenten ausübte, die sich dem Geschmack des Publikums zwar nicht unterordnen, sich an dessen Erwartungen aber zumindest abarbeiten mussten.

Das ist, besonders für das 18. Jahrhundert, inzwischen gut untersucht, von Thomas Crows klassischer Studie über die französischen Salonausstellungen bis zu neueren Veröffentlichungen von Eva Kernbauer und Anja Weisenseel.[3] Das sich wandelnde Verhältnis von Kunstproduzenten und -rezipienten bis in die Gegenwart wiederum ist von der Kunstsoziologie behandelt worden,[4] und auch Wolfgang Kemp hat dazu unlängst noch einmal eine sehr ergiebige Studie vorgelegt.[5]Charlotte Klonk schließlich hat untersucht, welche Vorstellungen vom Publikum sich in Museumsinterieurs seit dem 19. Jahrhundert manifestiert haben.[6] Das meiste davon wird von Bätschmann rezipiert, weshalb seine einleitende Bemerkung ein wenig überrascht, dass die Kunstgeschichte »die Entdeckung des Publikums noch vor sich« habe (10). Aber natürlich stimmt daran etwas: Neben dem niemals versiegenden Strom an Künstlermonographien und den ebenfalls umfangreichen Untersuchungen zu den vermittelnden Institutionen der Kunst ist der Bereich der Rezeption in der kunsthistorischen Forschung unterrepräsentiert. Wir wissen immer noch viel zu wenig über das Publikum. Was also ist Bätschmanns spezifischer Zugriff auf dieses Thema?

Anders etwa als Kemp, der sich dafür interessiert, wie sich die Betrachterrolle in der Nachkriegsmoderne vom Rezipienten zum Mitproduzenten wandelt, und der deshalb vor allem die Kunst(werke) im Blick hat, nimmt Bätschmann das Publikum selbst ins Visier – aber weniger als empirische Größe, denn als eine von den historischen Akteuren des Kunstfeldes imaginierte Instanz. Diese Akteure, also Künstler, Kritiker, Museumsleute, Theoretiker, sind fast ausschließlich männlich, und sie stellen sich in der Mehrheit das Publikum als etwas vor, vor dem die Kunst geschützt werden muss.

Zwei Kapitel am Anfang des Buches entfalten die historische Konstellation, um die es Bätschmann geht. Eines ist mit »Das Apelles-Problem« betitelt (26–36), es handelt von einer Anekdote, die Plinius d. Ä. über den antiken Maler berichtet. Apelles habe seine Werke öffentlich ausgestellt, sich selbst aber hinter ihnen verborgen, um die Meinung des Volkes in Erfahrung zu bringen, das er »als einen sorgfältigeren Richter betrachtete als sich selbst« (26). Das klingt zunächst nach Wertschätzung des Publikums. Allerdings hat Apelles klare Vorstellungen von dessen eingeschränkter Kompetenz. Einem Schuster wird zugestanden, eine gemalte Sandale zu kritisieren, nicht jedoch die Darstellung eines Beins. »Damit kommt«, so Bätschmann, »bereits in einem der ersten Texte über das Kunstpublikum das Problem der Urteilskonkurrenz zwischen Künstler und Publikum zum Ausdruck« (ebd.).

Dieser Antagonismus prägt die Geschichte des Kunstpublikums, wie Bätschmann sie erzählt. In dem zweiten grundlegenden Kapitel (»Teilung des Publikums«; 37–44) wird nämlich deutlich, dass der entscheidende move von Anfang an darin bestand, das Publikum zu spalten: in ein »kunstsinniges«, gebildetes, »wahres« Publikum auf der einen Seite, und in die unverständigen Massen auf der anderen. Für die erste Kategorie hat man nur lobende Worte übrig, sie ist auch im Zitat oben gemeint, wenn vom Publikum als der »Seele der Kunst« die Rede ist. Für das breite Volk – den »großen Haufen« (Klopstock) – hingegen entwickelt sich eine ganze Tradition der Verachtung. Die Unterscheidung ist ganz einfach: Das kunstsinnige Publikum erkennt man daran, dass es den Produktionen der Künstler mit Ehrfurcht begegnet und sie lobpreist. Wer hingegen Kritik an hoher Kunst äußert, dem mangelt es logischerweise an Sachkenntnis und Verstand, vor allem aber an Kunstgefühl, der gehört zu den »Neidern und Verleumdern« (Alberti), zu den Philistern, zum »Plebs« (Kandinsky). Diese Teilung ermöglichte es, den Joker »Publikum« je nach Bedarf ganz unterschiedlich einzusetzen. Das alles hat Christian Demand in seiner furiosen Studie von 2003 ausführlich beschrieben.[7] Bätschmann geht anekdotischer, auch selektiver vor und kann so herausarbeiten, was ihn an der Geschichte besonders fasziniert: dass es sich bei dem viel gescholtenen unwissenden Publikum um eine »freche Fiktion« handelt, die von gebildeten Provinzadeligen wie Roland Fréart de Chambray schon im 17. Jahrhundert aus Distinktionsgründen in die Welt gesetzt wurde (41).

Offenbar benötigte das moderne Kunstsystem diese Publikumsfiktion – als dumpfe Masse von Konventionalisten, gegenüber der die Kunst leicht auftrumpfen konnte. Die Massen, schreibt Bätschmann, seien zwar willkommen für Jubel und Beifall, »andererseits sind sie Objekt der sozialen Verachtung« (112). Die historische Kontinuität dieser Verachtung ist erstaunlich. Das (fiktive) breite Publikum steht immer im Verdacht, dem Kitsch zu verfallen, von falschen Künstlern getäuscht zu werden, und zwar aufgrund der »leichten Empfänglichkeit des Volkes für alles Seichte«, so Julius Meier-Graefe 1904 (153). Folglich muss sich die Kunst ihr Publikum erziehen – das hatte um 1800 schon Johann Georg Fichte gefordert –, ein paternalistisches Programm, das Bätschmann vielfältig nachzeichnet, und das auch das Fach Kunstgeschichte in seinen Anfängen geprägt hat. Hermann Grimm legte 1865 dar, dass sich die Kunstgeschichte nicht an Künstler wende, sondern an das Publikum: »Dieses will sie belehren und dadurch allein der Kunst nützen.« (143) Sowohl die Rolle als Dienstleister des Kunstbetriebs als auch die Geringschätzung des Publikums sind tief in die Fach-DNS eingeschrieben.

Das Publikum wiederum antwortet mit Geringschätzung gegenüber den Künstlern und ihren Produkten. In den bekannten Salon-Karikaturen Honoré Daumiers wird »eine neue, aggressive Spezies« sichtbar, die sich über die Kunst lustig macht (106). Zugleich, und darin liegt die spannende Paradoxie, beginnen die Künstler schon im 19. Jahrhundert kaum etwas so sehr zu fürchten wie den Zuspruch des Publikums. Sich »um das Publikum zu bemühen« wird zu einem verbreiteten Vorwurf, bedeutet es doch Anbiederung an den schlechten Geschmack. Ablehnung durch das Publikum kann hingegen legitimierend wirken.[8] Dann allerdings funktioniert die alte Einteilung in Kunstkenner und Philister nicht mehr so richtig, weil eben auch Zuspruch als Ahnungslosigkeit gedeutet werden kann.

Aus all dem wird deutlich, wie sehr die Kunst bis ins 20. Jahrhundert ihr Publikum gefürchtet hat. Arthur C. Danto hatte eines seiner hellsichtigen Bücher Die philosophische Entmündigung der Kunst genannt. Es handelt von der Unterdrückung der Kunst durch die Philosophie, eine Unterdrückung, die, so Dantos Pointe, allerdings in einer tiefsitzenden Angst der Philosophie vor der eigentlich viel mächtigeren Kunst begründet liege.[9]Sind all die Versuche der Herabwürdigung und Delegitimierung des Kunstpublikums also ebenso ein verdecktes Eingeständnis von dessen Macht? Oder könnte es sein, dass es ab einem bestimmten Punkt das Publikum ist, das vor der Kunst und den zahlreichen Versuchen zur ästhetischen Erziehung – die Bätschmann an einer Stelle »zynisch« nennt (147) – hätte geschützt werden müssen? Bei Susan Sontag klingen solche Überlegungen an, denn bei ihr tritt die Kunst als Aggressor auf: Eines der wichtigsten Ziele von Happenings sei das des »Angriffs auf das Publikum«. Dieses aber fügt sich brav in die Opferrolle, ist »ein treues, empfängliches« Publikum.[10] Es ist schade, dass Bätschmann solche Überlegungen nicht mit aufnimmt und überhaupt das 20. Jahrhundert in seiner »kurzen Geschichte« nur am Rande steift, hat sich hier doch, trotz aller gegenläufiger Anstrengungen, das grundlegend antagonistische Verhältnis von Produktion und Rezeption offenbar in ein affirmatives verwandelt.[11]Affirmation würde aber nicht nur bedeuten, dass die Kunst keine Angst mehr vor dem Publikum haben müsste, sondern auch, dass das Publikum machtlos geworden wäre.

Neben den unzähligen Stimmen, aus denen Herablassung gegenüber der Kunstöffentlichkeit spricht oder sogar Verhöhnung, macht Bätschmann nur wenige Quellen aus, die das Publikum wertschätzen. Dazu zählen auch einige Zeichnungen und Gemälde, etwa von Adolph Menzel oder Édouard Manet, die große Sympathie für das Kunstpublikum im Theater, im Konzert oder in der Ausstellung erkennen lassen. In seiner Zeichnung Au paradis von 1877 stellt Manet Theaterzuschauer im billigsten Rang dar, aber nicht mit der üblichen Häme, sondern als aufmerksame Beobachter, die nicht ehrfürchtig, sondern interessiert sind. Hier liegt eine der Stärken des Bandes, denn Bätschmann entwickelt seine Geschichte des Kunstpublikums nicht nur aus Text-, sondern auch aus zahlreichen Bildquellen heraus. In William Powel Friths Gemälde A Private View at the Royal Academy, 1881 etwa stehen die prominenten Besucher der Vernissage – unter anderem Oscar Wilde – im Mittelpunkt, »die ausgestellten Gemälde sind gleichgültig« (71). In den zeitgenössischen Reproduktionen des Bildes wurde keines der Gemälde der Ausstellung benannt, wohl aber die zweiunddreißig wichtigsten Personen. Erzählen die Bilder also noch mal eine andere Story, eine, in der das Publikum wichtiger ist als die Kunst?

Bätschmann lässt das offen, wie er überhaupt nur selten aus dem reichen Material Schlüsse zieht. Starke Thesen sind nicht seine Sache. Seinen bekannten eigenwilligen Schreibstil – den man einen Stil der »hängenden Absätze« nennen könnte – perfektioniert der Autor in diesem Buch noch: Ein neuer Absatz markiert oftmals unvermittelt einen neuen Gedanken, der mit dem vorhergehenden nicht unbedingt in Kontakt steht. Auch die Kapitelenden hängen in der Luft: Mit dem strengen Hinweis des französischen Malers André Lhote etwa, man müsse dem Publikum »beibringen«, dass die Künste nicht zum Vergnügen existierten, sondern im Gegenteil »Quellen unendlicher Qualen« (155) seien, wird man am Ende des vorletzten Abschnitts allein gelassen. Wäre da nicht etwas herauszuholen gewesen über Künstler, die sich ihre Rezipienten offenbar als gelehrige Schüler vorstellen, denen man noch die flachsten Kunstplattitüden andrehen kann? Andererseits nimmt Bätschmann sein Publikum eben ernst, traut diesem einiges zu. Ein wenig hat das Buch die Struktur eines guten Kunstwerks: Es gibt zu denken, aber es gibt nicht vor, was man denken soll. In den angeblichen Worten Duchamps über die Rolle der Betrachter: »Half of the creation is done by these onlookers.«[12] Hier sind es die Leserin und der Leser, die tüchtig mitarbeiten müssen.

Im letzten Kapitel, das von der Aufmerksamkeitsökonomie der Gegenwartskunst handelt, stößt dieser leicht erratische Stil aber an seine Grenzen. Bätschmann springt, mit kulturkritischem Unterton, von den Unappetitlichkeiten des Kunstmarktes zu Selfies vor der Mona Lisa zu schalen Vernissagen zu Banksy und NFTs – da hätte man sich dann doch mal eine kleine Synthese gewünscht. Bedeutet es etwas, dass Banksys Shredder-Aktion bei Sotheby’s dreiundvierzigtausend Likes auf YouTube hat? Ist die Kunst hier auf das Publikum angewiesen oder hat sie einfach nur eines? Ist die »Entfremdung« von Kunst und Publikum, über die noch Kandinsky gejammert hatte, mit Besucherrekorden in Ausstellungen und der weltweiten Anteilnahme an sensationelle Auktionsergebnissen endlich überwunden? Oder dient hier ein willenloses Publikum als Legitimationsinstanz von reichen Sammlern, für die Kunst ein ideales Geldwäscheinstrument ist?

Stören jedenfalls, so viel ist sicher, tut das Publikum schon lange nicht mehr. Im Gegenteil, man wird nach der sehr anregenden Lektüre von Bätschmanns Buch den Eindruck nicht ganz los, dass sich die Protagonisten im Feld der Kunst das Publikum endlich nach ihrem Ideal geformt haben: als allzeit dankbare Empfänger von kunstpädagogischen Maßnahmen, als kritiklose Bewunderer und Claqueure. Schön, wenn sie da sind. Aber auch egal, wenn nicht.

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JAN VON BREVERN ist seit 2023 Professor für Kunst- und Kulturgeschichte an der Bauhaus-Universität Weimar. Jüngste Publikationen sind u. a. Das natürliche Kunstwerk: Zur Ästhetisierung von Natürlichkeit im 18. Jahrhundert (Konstanz 2024), »Museen und Opioide« (in: Merkur 77, 2023, Nr. 892) sowie das gemeinsam mit Anna Degler herausgegebene Themenheft »Distanz« von 21: Inquiries (2023, Nr. 3).

Published Online: 2024-11-15
Published in Print: 2024-12-15

© 2024 Jan von Brevern, published by De Gruyter

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Downloaded on 9.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zkg-2024-4011/html
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