Rezensierte Publikation:
Kristin Börjesson / Jörg Meibauer (Hrsg.): Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2021 ( Studien zur Pragmatik 4 ). 265 Seiten.
„Und wo sind sie?“ [selbstgemachte Marshmallows, Anmerkung M.A.] Suchend sah Oda sich um.
„Da, wo sie hingehören!“ Das Einhorn tätschelte sich den prallen Bauch.
„Sag bloß, du hast sie aufgegessen?“ Fred sah ihn fassungslos an.
„Trinken ging nicht. Sie waren schon ausgehärtet.“
„Oh Mann, die waren doch nicht für dich! (…) Wie oft soll ich denn noch welche machen?“
„So oft wie möglich“, antwortete Magic in aller Unschuld.
(Charlotte Habersack, Bitte nicht öffnen: Magic!, S. 107. Hamburg: Carlsen, 2020)
Das Textbeispiel aus einem zeitgenössischen beliebten Kinderbuch (Altersempfehlung des Verlags: ab 8) verlangt seinen jungen Rezipient:innen einiges an pragmatischen Fähigkeiten ab. Neben der Interpretation zahlreicher indexikalischer Ausdrücke müssen konversationelle Implikaturen abgeleitet werden, außerdem setzt das Verständnis der humoristischen Aspekte eine fortgeschrittene pragmatische Kompetenz voraus.
Nach gängiger Lehrmeinung vollzieht sich der kindliche Pragmatikerwerb über viele Jahre und insbesondere der Erwerb pragmatischer Phänomene wie Metapher, Ironie, Lügen oder Humor erstreckt sich noch lange über die Grundschulzeit hinaus. Im Zuge dessen werden die sozialen und kognitiven Fähigkeiten erworben, die zur angemessenen Kommunikation in einem bestimmten Kontext notwendig sind. Kinderliteratur, von den Herausgeber:innen des Bandes definiert als von Erwachsenen für Kinder und Jugendliche verfasste Literatur, kann dabei vielfältige Möglichkeiten zur Anwendung und Schulung dieser Fähigkeiten bieten. Mehr noch, Börjesson und Meibauer betrachten Kinderliteratur sogar als spezifischen Input für den Pragmatikerwerb, da sie Kindern besondere Lernmöglichkeiten eröffnet: Zum einen bieten kinderliterarische Texte die Möglichkeit zur Konfrontation mit Aspekten, welche wie beispielsweise Reime ausschließlich in der literarischen Sprache auftreten. Zudem kommen bestimmte pragmatische Phänomene in literarischen Texten besonders frequent und in salienter Form vor. Dazu zählen u. a. bestimmte Sprechakttypen wie beispielsweise Prophezeiungen, Phänomene der lexikalischen Pragmatik wie die Verwendung kohäsiver Mittel, aber auch die zahlreichen Anlässe zur Perspektivübernahme, welche vor allem in der frühen Kindheit zur Ausbildung einer Theory of Mind beitragen können. Während es allerdings weitläufig akzeptiert ist, dass Kinderliteratur literarische Kompetenzen fördert, existiert bislang nur sehr wenig Forschung dazu, welche Rolle Kinderliteratur für den Pragmatikerwerb einnimmt. In diese Lücke stößt der in der Reihe „Studien zur Pragmatik“ erschienene Sammelband Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Aus unterschiedlichen Perspektiven wird hier der Einfluss vom Lesen bzw. Vorlesen von Kinderliteratur auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten untersucht, wobei der Pragmatikerwerb der späteren Kindheit bzw. Jugend miteinbezogen wird. Berücksichtigt werden sowohl Phänomene der internen als auch der externen Pragmatik: Während Phänomene der internen Pragmatik wie die eingangs genannten im kinderliterarischen Text selbst enthalten sind, ergeben sich externe pragmatische Aspekte wie Feinanpassungen oder Zeigegesten erst durch die spezifische Rezeptionssituation.
Nach einer ausführlichen Einführung in die Thematik durch die beiden Herausgeber:innen folgen acht Beiträge, die das Thema im Wesentlichen aus drei Perspektiven beleuchten: Neben Aspekten der inneren und der äußeren Pragmatik und deren Einfluss auf die Ausbildung pragmatischer Fähigkeiten wird in einigen Beiträgen außerdem die Förderung von pragmatischer Kompetenz durch den Schulunterricht, insbesondere durch schulische Vorlesesituationen, untersucht.
Im Zentrum der ersten drei Beiträge stehen Aspekte der internen Pragmatik, also der charakteristischen pragmatischen Eigenschaften von Kinderliteratur. Bettina Kümmerling-Meibauer und Jörg Meibauer untersuchen mit dem Erwerb der Griceschen Maxime der Art und Weise und der damit verbundenen Implikaturen ein zentrales Thema der Pragmatik. Die Frage, die dabei im Zentrum des Beitrags steht, lautet: Inwiefern wird der Erwerb der Maxime durch Kinderliteratur, insbesondere durch sogenannte herausfordernde Bilderbücher, unterstützt? Herausfordernde Bilderbücher (challenging picturebooks) zeichnen sich durch das Auftreten von Markiertheit auf der Text- und/oder Bildebende aus, indem sie beispielsweise herausfordernde Themen aufgreifen oder besondere ästhetische Strategien verwenden. Anhand zahlreicher Beispiele aus Kinderbüchern diskutieren die beiden Autor:innen, dass ein derartiger literarischer Input die Fähigkeit schult, Markiertheit zu erkennen und zu interpretieren. Ist ein Text beispielsweise ambig oder zeichnet sich eine Text-Bild-Kombination durch einen Konflikt aus, muss sich das Kind fragen, warum diese Merkmale gewählt wurden und welche Bedeutung diese absichtliche Erwartungsverletzung für die Narration hat. Entsprechend kommt das Autorenduo zu dem Schluss, dass herausfordernede Bilderbücher von der Lesedidaktik stärker berücksichtigt werden sollten.
Im zweiten Beitrag vergleicht Kristin Börjesson das Auftreten von humoristischen Stellen und Humormarkern in Texten für jüngere Kinder mit dem in Texten für ältere Leser:innen. Die Ergebnisse der Pilotstudie zeigen, dass die humoristischen Aspekte der ausgewählten Texte an den jeweiligen Entwicklungsstand der Zielgruppe angepasst sind: Während in Texten für jüngere Kinder vermehrt einfachere Arten von Humor wie Ingruenzen oder Erwartungsabweichungen verwendet werden, zeichnen sich Texte für Selbstleser:innen durch komplexere Humorkategorien wie Wortspiele, Ironie oder rhetorische Fragen aus, die komplexe pragmatische Kompetenzen voraussetzen. Abschließend spricht sich die Autorin dafür aus, dass Kinderliteratur einen spezifischen Input für den Humorerwerb darstellt.
Wie der Humorerwerb vollzieht sich auch der Erwerb von Lügen über einen langen Zeitraum. Lügen sind ein alltägliches Phänomen und bereits Grundschulkinder setzen sich mit Lügen, Täuschungsabsichten und deren moralischen Bewertungen auseinander. In ihrem Beitrag zum Zusammenhang zwischen Kinderliteratur und Erzähl- und Lügenerwerb untersuchen Juliane Stude und Olga Fekete einen mündlichen Teilkorpus, in dem siebenjährige Kinder eine ihnen vorgelesene Geschichte nacherzählen. Die Untersuchung zeigt, dass Kinder Muster und Strukturen, mit denen Lügen in literarischen Texten kenntlich gemacht werden, variantenreich und aktiv in ihren eigenen Produktionen verwenden. Daraus lässt sich u. a. schließen, dass derartige gattungsspezifische Muster, allen voran die Verwendung der Redewiedergabe, Kindern helfen, Lügen zu identifizieren. Das Potential von kinderliterarischen Texten für den Narrations- und Lügenerwerb wird herausgestellt.
In zwei weiteren Beiträgen liegt der Fokus auf der externen Pragmatik und den Fragen, worin die spezifischen pragmatischen Eigenschaften von Vorlesesituationen liegen und welchen Einfluss diese auf den kindlichen Pragmatikerwerb, insbesondere den Referenz- und Deixiserwerb, besitzen. Mit Text und Bild verfügen Bilderbücher über zwei Kommunikationsebenen, welche aufeinander verweisen, da Personen oder Gegenstände, die im Text genannt werden, in den Bildern identifiziert werden müssen. Die Identifikation der entsprechenden Personen und Gegenstände ist dabei insbesondere für kleinere Kinder in Vorlesesituationen fordernd, da derartige referentielle Akte nicht nur lexikalisches und grammatisches Wissen, sondern auch Weltwissen sowie u. a. die Fähigkeit, Text und Bild miteinander zu verknüpfen, voraussetzen. Linda Stark erforscht derartige referenzherstellende Akte in Vorlesesituationen, indem sie Auszüge aus einem videobasierten Korpus mit Eltern-Kind-Vorlesegesprächen untersucht. Sie zeigt, dass die vorlesende Person mit Zeigegesten und Bennungen sowie Feinabstimmungen das Kind bei der Referenzherstellung aktiv unterstützen kann.
Auch Lisa Porps diskutiert videobasierte Datensätze aus Vorlesesituationen mit textlosen Bilderbüchern. Sie zeigt, dass die Verwendung von Vokativen, mit denen das Kind in Vorlesesituationen direkt angesprochen wird, die Interpretation deiktischer Ausdrücke erleichert, indem sie den Adressaten sichtbar macht und bei der Differenzierung sich überlagernder Redehintergründe unterstützt.
Im Zentrum von zwei weiteren Beiträgen steht der Zusammenhang zwischen Kinderliteratur und der Ausbildung von Erzählfähigkeiten. Benjamin Jakob Uhl zeigt anhand von Daten aus Vorlesesituationen auf, wie mithilfe textloser Bilderbücher der Erwerb narrativer Kompetenzen gefördert werden kann. Daran anknüpfend untersuchen Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden sogenannte Einpassungen, also Fälle, in denen Kinder sprachliche Konstruktionen und Wendungen, die sie aus Büchern kennen, in ihren Nacherzählungen verwenden. Der Sammelband schließt mit einem Beitrag von Sebastian Schmideler, der anhand einer korpuslinguistischen Untersuchung ausgewählter Kinderbücher aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert zeigt, dass es sich für die pragmatische Disziplin lohnt, auch eine historische Dimension einzubeziehen.
In der Gesamtbewertung handelt es sich um einen kohärenten, gut strukturierten Band zu einem Thema, zu dem bislang sehr wenig Forschung existiert. Insbesondere der einleitende Beitrag der beiden Herausgeber:innen eignet sich sehr gut als Einstieg in das Thema, da er einen Überblick über zentrale Tendenzen und Fragestellungen in der Forschung zu interner und externer Pragmatik von (Vor)Lesesituationen liefert. Auch die einzelnen Beiträge enthalten neue, interessante Ergebnisse, die größtenteils in Relation zu der im Eingangsbeitrag formulierten These – Kinderliteratur als spezifischer Input für den Pragmatikerwerb – gestellt werden. Der Band ist nicht nur für die Sprachwissenschaft, sondern auch für angrenzende Disziplinen von Interesse. Außerdem können die Beiträge einzeln oder im Verbund gelesen werden und auch als Grundlage für ein Seminar eignet sich der Band gut.
Aspekte, die im Band nicht oder nur am Rande behandelt werden, umfassen den Einfluss anderer Medien (wie Hörbücher oder Filme) auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten; zudem wird der gestörte Pragmatikerwerb weitestgehend ausgeklammert. Beides ist verständlich und mindert nicht den positiven Gesamteindruck des Bandes, der thematisch Neuland betritt. Etwas schade dagegen ist, dass einige Kernthemen der Pragmatik wie Präsuppositionen oder Sprechakte in keinem der Einzelbeiträge untersucht werden. Aber auch so eröffnet der Band vielseitige Perspektiven auf eine bislang wenig untersuchte Schnittstelle und es bleibt zu hoffen, dass die Veröffentlichung der Beiträge andere Forscher:innen dazu anregt, etwas zu dem Themenfeld beizutragen.
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