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Ann-Marie Moser: Negationskongruenz in deutschen Dialekten

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Published/Copyright: August 30, 2022
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Ann-Marie Moser: Negationskongruenz in deutschen Dialekten. Stuttgart: Steiner 2021 ( Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik – Beihefte 185 ). 202 Seiten.


Ann-Marie Moser geht in der vorliegenden Monografie auf die Negationskongruenz in den Dialekten des Deutschen ein. In den Dialekten können zwei (oder mehr) Negationsmarker (z. B. nicht, nie, nichts, kein-) in einem Satz auftreten, ohne sich gegenseitig aufzuheben. Dies steht im Gegensatz zum Standarddeutschen, in dem bei einer geraden Zahl an Negationsmarkern eine positive Lesart (= die Double Negation-Lesart) hervorgerufen wird. Die Monografie versteht sich „als weiteres Puzzleteil“ (S. 23) zur Erforschung der Negationskongruenz und ist in zehn Kapitel nebst einem Anhang mit Fragebogen und Ergebnissen einer Korpusanalyse gegliedert. Nach einer Einleitung wird in Kapitel 2–6 die Empirie behandelt. Daraufhin erfolgt in Kapitel 7 – in Abgrenzung zu bisherigen Analysevorschlägen im Rahmen des Minimalismus – eine eigene, optimalitätstheoretische Analyse. Anschließend behandelt Kapitel 8 die Funktion von Negationskongruenz. In Kapitel 9 wird schließlich der Frage nachgegangen, weshalb die Negationskongruenz in der Standardsprache fehlt. Kapitel 10 fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und bietet einen Ausblick in Form von Überlegungen zur Diachronie der Negationskongruenz im Deutschen.

Im ersten Kapitel werden der Gegenstand und die Terminologie eingeführt. Den Besten (1986) folgend unterscheidet Moser zwischen zwei Ausdrucksmöglichkeiten der Negationskongruenz: beim negative spread (= NINI) treten zwei (oder mehr) negative Indefinita (z. B. nie, nichts, kein-) im Satz auf, wohingegen beim negative doubling (= NINEG) die Satznegationspartikel nicht zusammen mit einem Indefinitum auftritt. Diese lassen sich unter dem Terminus „Negationskongruenz“ zusammenfassen. Ferner wird das Inventar an untersuchten negativen Indefinita eingeführt (S. 20–23). In Kapitel 2–4 werden die Daten für jeweils das Ober-, Mittel- und Niederdeutsche besprochen. Im Besonderen befassen sich die Kapitel mit der Verbreitung und Frequenz, den Ausdrucksmöglichkeiten sowie der Optionalität bzw. Obligatorizität der Negationskongruenz. Moser beruft sich dabei auf Dialektbeschreibungen in Form von Dialektgrammatiken und -wörterbüchern sowie auf (spontansprachliche) Korpusdaten aus der Datenbank für Gesprochenes Deutsch (DGD) (im Besonderen das Zwirner- und DDR-Korpus) sowie vom Südwestdeutschen Sprachatlas-, Ruoff- und Schweizer-SMS-Korpus für das Oberdeutsche. Die empirischen Kapitel sind allesamt gleich aufgebaut, was dazu führt, dass man sich m. E. im Text schnell zurechtfindet. Die Kapitel zeigen und besprechen zahlreiche Beispiele. Am Ende jedes Kapitels werden die Ergebnisse der Korpusauswertungen in Form von Sprachkarten dargestellt. Die Auswertungen erweisen sich als höchstergiebig und das untersuchte Material ist vom Umfang her beeindruckend. In Kapitel 5 werden die Ergebnisse synoptisch dargestellt und die acht wichtigsten Befunde herausgestellt: 1) Nach den Korpusdaten ist die Negationskongruenz zwar in allen deutschen Dialekten belegt, doch unterscheiden sich die Dialekte bezüglich der Auftretenshäufigkeit. Insbesondere zeigt sich eine räumliche Dimension in den Sprachdaten: von Süd nach Nord nimmt die Tokenfrequenz der Negationskongruenz ab. Dabei zeigen sich interessante räumliche Unterschiede bezüglich der Typen von Negationskongruenz: im Südwesten dominiert negative spread, im restlichen Sprachraum (v. a. im Südosten) ist negative doubling vorherrschend. Hinzu kommt, dass die Negationskongruenz insofern eine Minderheitsvariante darzustellen scheint, als sie nur bei etwa 14 % der in den Korpora untersuchten Sprecher:innen belegt ist (vgl. S. 89–92). 2) Aus sprachtypologischer Sicht wird zwar erwartet, dass in einer Varietät beide Ausprägungen der Negationskongruenz auftreten. Die räumliche Verteilung der Ausdrucksmöglichkeiten der Negationskongruenz zeigt allerdings, dass diese Erwartung – jedenfalls synchron – für die Dialekte des Deutschen nicht zutrifft. 3) In Übereinstimmung mit der makrotypologischen Forschungsliteratur zeigt sich, dass auch in mikrotypologischer Hinsicht negative doubling durchaus seltener verwendet wird. 4) Im Fall von negative spread haben die semantischen bzw. morphologischen Eigenschaften des Kopfnomens (etwa ±menschlich, ±belebt, ±plural) keinen Einfluss auf die Realisierung dessen. Ferner zeigt sich insofern eine lexikalische Präferenz, als negative spread fast ausschließlich mit dem negativen Indefinitum kein- realisiert wird. 5) Die Negationskongruenz beim negative spread ist zwar nicht obligatorisch, denn sie wird nicht in jedem möglichen Verwendungskontext realisiert, doch bei Topikalisierung des negativen Indefinitums (v. a. im Bairischen) scheint die zusätzliche Negationspartikel fast obligatorisch zu sein (vgl. S. 94). 6) Negative doubling lässt sich zwar verschieden ausdrücken, doch positionell stehen die Adverbiale (nie und nirgends) an erster Stelle und die (Ad)Nominale (kein-, niemand und nichts) an zweiter Stelle. 7) Beim negative spread ist die Abfolge nicht… kein- in wenigen Dialekten des Alemannischen, West- und Ostniederdeutschen sowie im Schlesischen zwar in der dialektologischen Literatur, jedoch nicht in den spontansprachlichen Daten belegt. 8) In den spontansprachlichen Daten ist die oben erwähnte Double Negation-Lesart der Standardsprache nicht belegt, d. h. keine der Sprecher:innen nutzen zwei Negationsmarker in einer intendierten positiven Lesart (vgl. S. 95).

Kapitel 6 geht den folgenden Fragen nach: 1) ist negative doubling obligatorisch oder optional, 2) in welcher Weise ist negative spread kontextgesteuert, 3) lässt sich die in den Spontandaten festgestellte räumliche Gliederung bestätigen, und 4) müssen sowohl negative spread als auch negative doubling in einer Varietät vorhanden sein? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde ein Fragebogen entworfen. Dabei lag der Fokus auf dialektkompetenten Sprecher:innen aus dem oberdeutschen Raum, weil dieser Raum sich bei der Auswertung der Korpusdaten als sehr variabel erwies. Die Ergebnisse zeigen, dass negative doubling sehr wohl optional ist (vgl. S. 108–109), und dass negative spread fast ausschließlich mit kein- auftritt (vgl. S. 110). Ferner ließ sich die in Kapitel 5 festgestellte diatopische Gliederung replizieren: Sprecher:innen aus dem Südwesten verwenden v. a. negative spread, während Sprecher:innen aus dem Südosten eher negative doubling nutzen (vgl. S. 105–107). Damit konnte gezeigt werden, dass keine Assoziation zwischen negative doubling und negative spread vorliegt, d. h. entgegen der Generalisierung in der sprachtypologischen Forschung müssen diese beiden Ausdrucksmöglichkeiten der Negationskongruenz in einer Varietät nicht vorhanden sein (vgl. S. 106–108). Zusammenfassend weist die Autorin drei mögliche Sprachsysteme (= „Grammatiken“) für oberdeutsche Varietäten aus, die für die optimalitätstheoretische Analyse in Kapitel 7 von Belang sind. Die drei Sprachsysteme weisen verschiedene Konstellationen von negative doubling und negative spread auf: Grammatik 1 (= „der bairische Typ“) mit optionalem negative doubling (v. a. bei kein-), Grammatik 2 (= „der alemannische Typ“) mit optionalem negative spread, Grammatik 3 (= „der standarddeutsche Typ“) ohne Negationskongruenz (vgl. S. 110–112).

In Kapitel 7 wird die Negationskongruenz in deutschen Dialekten in einen theoretischen Zusammenhang eingeordnet. Die Autorin zeigt, dass bisherige Analysen im Rahmen des Minimalismus weder die empirisch festgestellte Optionalität der Negationskongruenz noch die lexikalischen Beschränkungen beim negative spread adäquat zu modellieren vermögen. Jüngeren, dialektologisch-variationslinguistischen Arbeiten folgend schlägt die Autorin deshalb eine Analyse im Rahmen der Optimalitätstheorie vor, die die Grammatik als eine Funktion von Inputs und Outputs betrachtet. Dabei wird die Beziehung zwischen Input und Output durch die Hierarchisierung von sogenannten Beschränkungen geregelt. Ihre Analyse setzt an der Beobachtung an, dass eine Satznegationspartikel sprachtypologisch universell ist, während negative Indefinita nicht in allen Sprachen vorkommen. Damit wäre der Ausdruck von Negation syntaktisch mit einer Satznegationspartikel weniger markiert als morphologisch mit einem negativen Indefinitum (vgl. S. 126–127). Moser formuliert vier Beschränkungen, um die beobachtete Variation zu erfassen: FNeg, eine Treuebeschränkung zur overten Realisierung der Negationspartikel, Neg-Op, eine Markiertheitsbeschränkung zur Realisierung der Negationspartikel als koverter Operator, Scope-Max, eine Markiertheitsbeschränkung zur Spezifizierung aller Indefinita im Skopus der Negation, und schließlich Scope-First, eine Markiertheitsbeschränkung, die festlegt, dass mindestens und maximal nur das erste Indefinitum im Skopus der Negation spezifiziert sein darf. Mit diesen Beschränkungen sowie mit der Kopplung von Beschränkungen innerhalb eines Stratums gelingt es der Autorin, korrekte Vorhersagen zu treffen und die beobachtete Variation und Optionalität zu erfassen. In Kapitel 8 wird aufgrund der Ergebnisse einer Sprecherbefragung die Hypothese aufgestellt, dass negative spread – womöglich – eine pragmatische Funktion innehat, d. h. Negationskongruenz wird bei einem „positiven Erwartungshorizont“ geäußert, bei dem man beim Gegenüber eine „Bestätigung“ oder „Zustimmung“ erwartet. Diese Hypothese wird qualitativ mit Belegen aus der Korpusanalyse untermauert und diskutiert. Beim negative doubling hingegen konnte keine dergleichen Motivation konstatiert werden, sodass von syntaktischer Kongruenz ausgegangen werden kann.

Kapitel 9 beschäftigt sich mit der Frage nach dem Fehlen der Negationskongruenz im Standarddeutschen vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Negationskongruenz historisch belegt ist und in Dialekten des Deutschen vorkommt. Von der Forschungsliteratur ausgehend hält Moser (S. 151–153) fest, dass die Negationskongruenz um 1730 in der geschriebenen Standardsprache verschwand. Interessanterweise setzen die ersten präskriptiven Äußerungen gegen die Negationskongruenz nicht vor 1758 an, d. h., dass die Negationskongruenz nicht in der Folge präskriptiver Normen aus der Schriftsprache verschwunden ist. Stattdessen vermutet Moser (S. 153–157), dass dem Schwund der Negationskongruenz aus der Schriftsprache eine Phase der „konventionalisierten konzeptionellen Schriftlichkeit“ (KOKOS) vorausging. Die KOKOS sei eine von einer sozial einflussreichen Gruppe genutzte Distanzsprache, die der kodifizierten Standardsprache vorausgegangen sei, und die sich durch eine konzeptionelle Verschiebung in Richtung Schriftlichkeit auszeichnet. Moser nimmt an, dass eine sozial einflussreiche Personengruppe – bedingt durch den Einfluss der lateinischen Grammatik – die einfache Negation in kommunikativer Distanz nutzte. Im Rahmen dieser konzeptionellen Schriftlichkeit wird die Negationskongruenz verdrängt und daraufhin erfolgt die Kodifizierung der einfachen Negation. Obwohl dieser Vorschlag plausibel erscheint, stellt sich die Frage nach der Motivation für die Übernahme der einfachen Negation aus der lateinischen Grammatik. Unbeantwortet bleibt auch die Frage nach der Ausbreitung der Innovation, die schließlich zur Verdrängung der Negationskongruenz führte. Kapitel 10 umfasst eine Zusammenfassung und einen Ausblick, in dem die Ausdrucksmöglichkeiten der Negationskongruenz und ihr Verhältnis zueinander im Deutschen betrachtet werden. Moser zufolge liegt kein zyklischer Wandel im Sinne eines „Jespersen-Zyklus“ in der Sprachgeschichte des Deutschen vor, sondern verschiedene Wandelpfade.

Die Monografie ist aufgrund der übersichtlichen Gliederung, Diagramme und Zusammenfassungen, der zahlreichen objektlinguistischen Beispiele sowie einer verständlichen Ausdrucksweise durchaus leserfreundlich gestaltet. Ferner ist die optimalitätstheoretische Analyse sogar für weniger theorieaffine Leser:innen nachvollziehbar. Schließlich seien im Folgenden eine Handvoll kritischer Aspekte thematisiert, die keineswegs der Qualität der Monografie Abbruch tun.

Bei der Präsentation der (spontansprachlichen und eigens erhobenen) Daten wird zwar Bezug auf die Sprecher:innen genommen, doch stellte sich bei der Lektüre oft die Frage nach der Vorkommenshäufigkeit der Negationskongruenz im Verhältnis zur ausbleibenden Negationskongruenz insgesamt. Leser:innen müssen sich mit weniger konkreten, qualitativen Aussagen wie z. B. „NINI hingegen scheint im Vergleich dazu deutlich weniger optional“ (S. 52), „NINI ist fast schon obligatorisch“ (S. 60) und „NINI scheint tendenziell eher obligatorisch denn optional zu sein“ (S. 94) begnügen. In terminologischer Hinsicht fehlt zudem eine Reflexion eines für die Arbeit zentralen Begriffs „Dialekt“. In Fussnote 6 merkt Moser an, dass die Termini „Sprache“, „Varietät“ und „Dialekt“ synonym verwendet werden, und dann später auf S. 148 wird die „Standardvarietät“ als ein „Dialekt“ bezeichnet. Erstens liegt also in terminologischer Hinsicht Doppeldeutigkeit vor und zweitens ist die fehlende terminologische Klärung insofern ungünstig, als das Zwirner-Korpus bekanntlich nicht nur dialektale Sprachdaten enthält, sondern auch solche, die dem Zwischenbereich zwischen Standardsprache und Dialekt zuzuordnen sind (vgl. z. B. Lenz 2007).

Ungeachtet der geäußerten Kritik zeichnet sich die Monografie Mosers auf exemplarische Art und Weise durch die Verbindung empirischer Sprachdaten mit theoretischer Tiefe aus. Sie stellt damit einen höchst interessanten Beitrag zur Erforschung der Negationskongruenz im Deutschen dar.

Literatur

Den Besten, Hans. 1986. Double negation and the genesis of Afrikaans. In Pieter Muysken & Norval Smith (eds.), Substrata versus universals in Creole genesis. Papers from the Amsterdam Creole Workshop, April 1985, 185–230. Amsterdam & Philadelphia: Benjamins.10.1075/cll.1.10besSearch in Google Scholar

Lenz, Alexandra N. 2007. Zur variationslinguistischen Analyse regionalsprachlicher Korpora. In Werner Kallmeyer & Gisela Zifonun (eds.), Sprachkorpora – Datenmengen und Erkenntnisfortschritt, 169–202. Berlin & Boston: De Gruyter.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-08-30
Erschienen im Druck: 2022-11-30

© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter

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Downloaded on 20.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zfs-2022-2004/html
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