Abstract
This paper deals with so-called “bracketing paradoxes” composed of an adjective and an NN compound, such as German katholisches Kirchenoberhaupt ‘catholic church.head’. In these constructions, the adjectival modifier seems to relate to the nominal non-head, thereby challenging the principle of compositionality. After summarizing some core empirical observations by Bergmann (1980) and reviewing relevant theoretical approaches (Larson 1998; Egg 2006; Beard 1991), the paper develops a novel formal semantic account that unmasks the alleged bracketing paradoxes as combinatorial illusions. The analysis developed here differs from Larson-style solutions in taking the adjective as point of departure (rather than the noun) and in adhering strictly to classic composition (rather than liberalizing the syntax-semantics interface). In short, there is no grammatically licensed linking of the adjectival modifier to the non-head of a nominal compound. What gives the impression of a syntax-semantics mismatch is a blending of compositional and pragmatic processes: Semantic composition warrants that the adjectival predicate is always linked to the referential argument of the nominal head. But, depending on the internal semantics of the adjective, semantic underspecification may emerge in the course of composition and call for a pragmatic specification of the adjectival predicate’s ultimate target. A general pragmatic parsimonity condition ensures that referents introduced by linguistic material will be chosen as best, “cheapest” target candidates whenever possible. This is why the non-head argument is identified as a preferred ultimate target for the adjectival predicate. This is spelled out in detail for relational adjectives on the one hand (e. g. katholisches Kirchenoberhaupt) and qualitative adjectives on the other hand (e. g. gehobene Preisklasse ‘upper price.class’). One of the merits of the advocated analysis is that it can account straightforwardly for the blocking of well-known caricature examples (e. g. *vierstöckiger Hausbesitzer ‘four-storeyed house.owner’) and it provides an explanation for the reduced acceptability of borderline cases such as ?ambulanter Versorgungsauftrag ‘ambulant supply.mandate’.
1 Der Konflikt
Was tun mit Klammerparadoxien? Wie umgehen mit offenbar widersprüchlichen Strukturzuordnungen, wie sie bei internationale Wettbewerbsgründe (Burkhardt 1999), ambulanter Versorgungsauftrag (Bergmann 1980), alkoholfreie Getränkeindustrie (Abramov 1992), milliardenhoher Verlustbringer (Bär 2007) oder namentliche Meldepflicht (Fabricius-Hansen 1993) vorzuliegen scheinen? Hier – so hat es den Anschein – bezieht sich das Adjektiv semantisch auf das Erstglied innerhalb des nominalen Kompositums (also dessen Nicht-Kopf) und sprengt damit die morphosyntaktischen Strukturvorgaben, welche den semantischen Bezug über den Kopf des Kompositums vorsehen. Mit ambulanter Versorgungsauftrag etwa ist nicht, wie dies die Morphosyntax vorgibt, ein ambulanter Auftrag zur Versorgung gemeint, sondern ein Auftrag zur ambulanten Versorgung. Wenn aber Syntax und Semantik solcherart aus dem Takt geraten, dann steht eine der Grundeinsichten zur Natur von Sprache auf dem Spiel, dass nämlich die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks sich aus der Bedeutung seiner Teile ergibt, nach Maßgabe ihrer syntaktischen Kombination. Dieses mit Frege (1892) verbundene Kompositionalitätsprinzip nimmt eine grundsätzliche Parallelität von syntaktischem und semantischem Strukturaufbau an, an deren Kern keine um formale Präzision bemühte semantische Theorie je rühren wird.
Wie dann also umgehen mit Klammerparadoxien vom oben illustrierten Typ? Man kann sie verdammen und verbieten. Dies ist die Position von Sprachkritik und Sprachpflege. Unter Hinweis auf analog aufgebaute Extrembeispiele wird die „Fehlattribuierung“ (Burkhardt 1999) vorgeführt und verurteilt. Gern zitierte Exempel hierfür sind vierstöckiger Hausbesitzer (Bergmann 1980), baumwollener Strumpfwarenhändler (Behaghel 1923), adliges Fräuleinstift (Wustmann 1891). Sie alle sind nach dem gleichen Schema wie die Adjektiv-Nomen-Kombinationen oben aufgebaut. Sie alle machen den Attribuierungsfehler augenfällig und unterstreichen letztlich die Gültigkeit des Kompositionalitätsprinzips, das den unmittelbaren Bezug des Attributs auf den Nicht-Kopf des Kompositums untersagt. Andernfalls sollte etwa die NP vierstöckiger Hausbesitzer klaglos zu deuten sein als Ausdruck für den Besitzer eines vierstöckigen Hauses. Ist sie aber nicht.
So weit herrscht Einmütigkeit zwischen Sprachkritik und linguistischer Theoriebildung. Was aber folgt daraus für die weniger krassen Fehlattribuierungskandidaten à la ambulanter Versorgungsauftrag? Sollten wir sie ebenfalls als Grammatikverstöße ahnden? Spätestens wenn wir uns vor Augen führen, dass eine Myriade ganz und gar harmloser und vertrauter Bildungen wie deutsche Literaturgeschichte, evangelisches Pfarrhaus, geheimes Wahlrecht, neutestamentliche Textforschung nach genau demselben Muster aufgebaut sind, wird klar, dass es mit einem pauschalen Bannspruch nicht getan sein wird. Sprachkritik und Sprachpflege ziehen sich hier in aller Regel zurück. Der Zweifelsfälle-Duden belässt es an dieser Stelle bei dem wenig besagenden Hinweis: „Bestimmte Fügungen dieser Art haben sich jedoch durchgesetzt und sind sprachüblich geworden.“ (Duden 2001: 508) Aber wie und warum konnte sich die vermeintliche Fehlattribuierung durchsetzen? Und warum hier und nicht bei den anderen Fällen?
Das also ist die Herausforderung, vor die uns die hier präsentierten Klammerparadoxien stellen: Es gilt zu klären, was hinter der abgestuften Zulässigkeit steckt, mit der sich adjektivische Attribute auf den Nicht-Kopf eines Kompositums beziehen können. Diese reicht von vollkommen unauffälligen Bildungen (z. B. deutsche Literaturgeschichte) über fragwürdige, mehr oder weniger tolerierte Verbindungen (z. B. ambulanter Versorgungsauftrag) bis hin zu absurden Zerrbeispielen (z. B. vierstöckiger Hausbesitzer). Und es braucht eine Antwort auf die Frage, wie die angepeilte Erklärung mit dem Kompositionalitätsprinzip in Einklang zu bringen ist. Dies ist das Ziel des vorliegenden Aufsatzes. Ich werde hierzu zunächst in Abschnitt 2 die vorliegenden empirischen Erkenntnisse zusammenfassen und berufe mich dabei insbesondere auf die Beobachtungen von Bergmann (1980). In Abschnitt 3 gehe ich auf einschlägige semantische Analysevorschläge ein: Larson (1998), Egg (2006) und Beard (1991). Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie Attributen systematisch einen größeren Spielraum für die Identifikation ihres nominalen Ankerarguments einräumen. Wenn auch im Einzelnen unterschiedlich ausgerichtet, so setzen diese Theorien doch alle bei der Semantik des Nomens an. Larson (1998) spricht in diesem Zusammenhang von „N-Analysen“. Es wird sich zeigen, dass die Theorievorschläge im Hinblick auf die hier interessierenden Klammerparadoxien sehr weitreichende Eingriffe in die Syntax-Semantik-Schnittstelle mit sich bringen, dabei aber die offensichtlichen Kombinationsbeschränkungen kaum in den Blick nehmen. Ich schlage deshalb eine alternative „A-Analyse“ vor, die bei der Semantik des Adjektivs ansetzt. Kurz gesagt besteht mein Lösungsvorschlag in der Abschaffung der Klammerparadoxie: Es gibt keine Bezugnahme des Adjektivs auf den Nicht-Kopf eines Kompositums! Die Kombination von Adjektiv und komplexem Nomen erfolgt in allen Fällen kompositional, vermittelt über den nominalen Kopf. Was den Eindruck einer widersprüchlichen Strukturzuordnung erweckt, ist die Überblendung kompositionaler und pragmatischer Prozesse. In den Abschnitten 4–6 skizziere ich die notwendigen Grundannahmen zu regulärer Komposition bei adjektivischer Attribution (Abschnitt 4), der Semantik von NN-Komposita (Abschnitt 5) und der Semantik relationaler Adjektive (Abschnitt 6). Vor diesem Hintergrund widmet sich Abschnitt 7 der Kombination von NN-Komposita mit relationalen Adjektiven (deutsch, evangelisch, neutestamentlich, namentlich, ambulant usw.), die die Hauptquelle für die vermeintlichen Klammerparadoxien bilden und deren Nicht-Kopf-Bezug zumeist als unproblematisch bewertet wird. Abschnitt 8 diskutiert die weitaus selteneren Fälle mit qualitativen Adjektiven. Abschnitt 9 zieht Resümee.
Ich beschränke meine Untersuchung auf adjektivische Attribute in Verbindung mit NN-Komposita und berücksichtige, so dies die Theorie-Diskussion erfordert, auch die analoge Konstellation bei Derivation.[1] Auf ähnlich gelagerte Nicht-Kopf-Bezüge von präpositionalen Attributen (z. B. Reisemöglichkeit nach Bonn) und Genitivattributen (z. B. Entstehungsgrund der Demokratie) gehe ich nicht näher ein; s. hierzu insbesondere Fabricius-Hansen (1993) sowie Härtl (2013).
2 Die Datenlage
Eine wichtige Quelle für eine realistische Einschätzung des Nicht-Kopf-Bezugs von adjektivischen Attributen bei nominalen Komposita jenseits der von der Sprachkritik zumeist konstruierten Scherzbildungen bietet Bergmann (1980). Als Grundlage dient ihm ein Textkorpus von ca. 1000 gegenwartssprachlichen Belegen. Nach Ausschluss aller nicht mehr vollständig transparenten Nominalverbindungen (vgl. etwa Maßstab) untersucht Bergmann den Adjektiv-Bezug mithilfe eines Paraphrasetests und stellt für die weit überwiegende Mehrzahl der Fälle den Bezug auf den Kopf des Kompositums fest; s. z. B. (1). Dies entspricht dem kompositionalen Regelfall.
a. | frühere Erdepochen: | frühere Epochen der Erde |
b. | verkaufsoffener Adventssamstag: | verkaufsoffener Samstag im Advent |
Für etwas mehr als 50 Belege – Bergmanns Klasse A – stellt er alleinigen Bezug auf den Nicht-Kopf fest; s. z. B. (2).
a. | katholisches Kirchenoberhaupt: | Oberhaupt der katholischen Kirche |
b. | neutestamentliche Textforschung: | Forschung am neutestamentlichen Text |
c. | deutsche Literaturgeschichte: | Geschichte der deutschen Literatur |
Dies sind die kritischen Fälle, die das Kompositionalitätsprinzip aus den Angeln zu heben scheinen. Bergmann macht hier zwei wesentliche Beobachtungen: Erstens ist der Nicht-Kopf-Bezug offenbar nur akzeptabel bei grundsätzlich gegebener Verträglichkeit zwischen Adjektiv und Kopf; s. die Überprüfung in (3) für die Belege aus (2). Diese Auflage ist es, gegen die die von der Sprachkritik gern vorgeführten Scherzbildungen verstoßen; s. (4).
a. | katholisches Kirchenoberhaupt: | ✓ | katholisches Oberhaupt |
b. | neutestamentliche Textforschung: | ✓ | neutestamentliche Forschung |
c. | deutsche Literaturgeschichte: | ✓ | deutsche Geschichte |
a. | vierstöckiger Hausbesitzer: | ✗ | vierstöckiger Besitzer |
b. | verregnete Feriengefahr: | ✗ | verregnete Gefahr |
c. | achtköpfiger Familienvater: | ✗ | achtköpfiger Vater |
d. | geräucherter Fischladen: | ✗ | geräucherter Laden |
Zweitens finden sich innerhalb Bergmanns Korpus in der kritischen Klasse A ausschließlich relationale Adjektive.[2]
Für mehr als 100 Belege stellt Bergmann (1980) einen Bezug des Adjektivs sowohl auf den Nicht-Kopf als auch auf den Kopf fest. Dies ist seine Klasse B; s. z. B. (5).
gegenwärtiger Forschungsstand: gegenwärtiger Stand der Forschung / Stand der gegenwärtigen Forschung
absturzgefährdete Felspartien: absturzgefährdete Partien von Felsen / Partien absturzgefährdeter Felsen
morsche Holzverschalung:morsche Verschalung aus Holz / Verschalung aus morschem Holz
(Bergmann 1980: 242–243/261)
Auch in der Klasse B überwiegen die relationalen Adjektive; s. z. B. (5a). Für die zulässigen Kombinationen mit qualitativen Adjektiven stellt Bergmann (1980: 254–255) fest, dass der Informationsgehalt des Kopfnomens im Verhältnis zum Nicht-Kopf gering ausfällt [s. z. B. (5b)] oder ein Material-Produkt-Verhältnis vorliegt [s. z. B. (5c)].
Schließlich identifiziert Bergmann eine kleine verbleibende Gruppe von ca. 20 Belegen (seine Klasse C), bei denen sich das Adjektiv nur auf das Gesamtkompositum nicht aber dessen Bestandteile beziehen könne; s. (6).
exotisches Kunsthandwerk: | ≠ exotisches Handwerk der Kunst / | ||
≠ Handwerk der exotischen Kunst |
antike Völkerkunde: | ≠ antike Kunde von den Völkern / | |||
≠ Kunde von den antiken Völkern |
(Bergmann 1980: 243)
So weit eine erste Sortierung von Klammerparadoxie-Kandidaten. Für die hier verfolgten Zwecke soll diese Übersicht genügen; s. Sandberg (1984) für eine kritische Auseinandersetzung insbesondere mit Bergmanns Paraphrasetests. Worauf es mir an dieser Stelle vor allem ankommt, ist Bergmanns Feststellung der grundsätzlich geforderten Verträglichkeit des Adjektivs mit dem Kopfnomen und sein Hinweis auf Unterschiede bei den Adjektiven: Relationale Adjektive scheinen durch die Bank leicht in der Lage zu sein, einen Nicht-Kopf-Bezug herzustellen; bei qualitativen Adjektiven hingegen entscheidet der Einzelfall, und die Auflagen sind hoch.
Dima et al. (2017) haben Bergmanns Hypothese der grundsätzlich geforderten Verträglichkeit zwischen Adjektiv und Kopfnomen im Rahmen einer computerlinguistischen Studie überprüft. Unter Rekurs auf ein frequenzbasiertes semantisches Plausibilitätsmodell konnten sie die Verträglichkeitshypothese bestätigen. Ferner erbrachte die Studie Evidenz für die zweite getestete Hypothese, dass ein Nicht-Kopf-Bezug des Adjektivs um so wahrscheinlicher ist, je höher die semantische Plausibilität von Adjektiv plus Nicht-Kopf im Vergleich zu Adjektiv plus Kopf ausfällt.[3] Dies sei anhand der Beispiele in (7) veranschaulicht; s. Dima et al. (2017: 64–65).
katholisches Tischgebet
katholisches Kirchenoberhaupt
katholisches Firmenoberhaupt
Der Ausdruck katholisches Tischgebet in (7a) erfüllt nicht die Verträglichkeitsbedingung. (Sprich: der Ausdruck katholischer Tisch kommt im zugrunde gelegten Korpus nicht vor.) Damit ist katholisches Tischgebet trivialerweise kein Klammerparadoxie-Kandidat. Bei katholische Kirche und katholische Firma in (7b), (7c) ist die Verträglichkeitsbedingung erfüllt. Im Fall (7b) erweist sich katholische Kirche als viel frequenter als katholisches Oberhaupt, damit ist katholisches Kirchenoberhaupt gemäß der Plausibilitätshypothese prädestiniert, als Klammerparadox gedeutet zu werden. Der entsprechende Frequenzvergleich für (7c) weist katholisches Firmenoberhaupt hingegen als Grenzfall aus, der prinzipiell sowohl den Kopf-Bezug des Adjektivs (‘katholisches Oberhaupt einer Firma’) wie auch den Nicht-Kopf-Bezug (‘Oberhaupt einer katholischen Firma’) zulässt.
3 Theorievorschläge
Für die hier zur Diskussion stehende Klammerparadoxie von Adjektiven in Verbindung mit NN-Komposita liegt bislang noch keine ausgearbeitete semantische Theorie vor. Es gibt allerdings Analyse-Vorschläge für Klammerparadoxie-Konstellationen, die unseren Fall mehr oder minder explizit mitabdecken bzw. unmittelbar darauf übertragbar sind. Auf diese gehe ich im Folgenden ein und beleuchte deren Position im Hinblick auf das Kompositionalitätsprinzip und ihren Ertrag für den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.
3.1 Larsons (1998) ereignisbasierter Ansatz
Große Resonanz innerhalb der einschlägigen semantischen Literatur hat Larsons (1998) Analyse des Nicht-Kopf-Bezugs von Adjektiven bei Agens-Derivationen ausgelöst. In (8) ist Larsons berühmtes Beispiel aufgeführt. Der Ausdruck beautiful dancer weist eine kompositionale Interpretation auf, wie sie in (8a) angegeben ist. Larson bezeichnet dies als die „intersektive Interpretation“: Das Denotat des Adjektivs wird mit dem des Nomens intersektiv verknüpft. Der semantische Beitrag des Adjektivs bezieht sich auf den Referenten des komplexen Nomens dancer. Daneben erlaubt beautiful dancer aber auch die nicht-kompositionale Interpretation in (8b), bei der sich das Adjektiv nicht auf das Nomen als Ganzes bezieht, sondern nur auf dessen Nicht-Kopf, den Verbstamm. Dies entspricht unserer Klammerparadoxie-Konstellation. Larson nennt dies die „nicht-intersektive Interpretation“; s. hierzu auch Bolinger (1967).
In (9a) sind weitere Beispiele aus dem Deutschen aufgeführt, die diesen Typ von Ambiguität aufweisen; (9b) listet Beispiele auf, bei denen die intersektive Lesart aufgrund von semantischen Selektionsbeschränkungen ausfällt. Es verbleibt allein die nicht-intersektive Interpretation, bei der sich das Adjektiv auf den Nicht-Kopf bezieht: Ein harter Arbeiter ist jemand, der hart arbeitet, ein generativer Syntaktiker jemand, der generative Syntax betreibt usw.
Im Falle der nicht-intersektiven Lesart entspricht der semantische Beitrag des Adjektivs gleichsam dem eines Manner-Adverbials. Dies ist der Ansatzpunkt für Larsons (1998) Analyse: Er nutzt das Instrumentarium der Davidsonschen Ereignissemantik und überträgt es in den nominalen Bereich. Zu den großen Vorzügen von Davidsons (1967) Innovation und deren späterer Weiterentwicklung gehört, dass sie u. a. eine einfache und elegante Analyse adverbialer Modifikation ermöglicht: Wenn Verben ein referenzielles Ereignisargument einführen, so kann dieses als Anker für den semantischen Beitrag von adverbialen Modifikatoren dienen; s. z. B. Maienborn und Schäfer (2011). Larsons Vorschlag läuft nun darauf hinaus, das vom Verb eingeführte Ereignisargument nach der nominalen Agens-Derivation weiterhin zugänglich zu halten und als Ankerargument für kompositionale Operationen auch innerhalb der nominalen Domäne vorzusehen. Ein Nomen wie dancer führt somit zwei Argumente mit sich, die beide als Anker für Modifikatoren in Frage kommen: das referenzielle Argument für die Person, die tanzt, und das referenzielle Ereignisargument des zugrundeliegenden Verbs dance; s. Larson (1998: 152). Die formale Umsetzung in (10) orientiert sich der Einfachheit halber an der Darstellung in Winter und Zwarts (2012: 2).[4] Schließlich modifiziert Larson die kompositionale Maschinerie dahingehend, dass er alle von einem Nomen angebotenen referenziellen Argumente als gleichberechtigte Modifikationsanker ausweist; s. die Schnittstellenregel (12c) in Larson (1998: 152). Das heißt, Larson behandelt die intersektive und die nicht-intersektive Lesart von beautiful dancer als kompositional gleichrangig.
a. | [[dancer]]: | λx λe [dance (e) & agens (e, x)] |
b. | [[beautiful]]: | λy [beautiful (y)] |
c. | [[beautiful dancer]]: | λx λe [dance (e) & agens (e, x) & beautiful (x)] |
λx λe [dance (e) & agens (e, x) & beautiful (e)] |
Elegant an Larsons Lösungsvorschlag ist, dass auch die vermeintlich nicht-intersektive Lesart von beautiful dancer nunmehr auf simple Intersektion zurückgeführt wird. Der semantische Beitrag des Adjektivs wird in diesem Fall intersektiv an das in der Semantik des Nomens angelegte Ereignisargument angeschlossen. Der Preis besteht in der Annahme einer komplexeren Argumentstruktur bei Nomen, deren Implikationen für die Komposition noch wenig durchleuchtet sind, und der es bislang auch an unabhängiger Motivation mangelt.[5] Dies zeigt sich auch bei der zentralen Frage, für welche Nomen Larsons Analysevorschlag eingesetzt werden sollte. Larson (1998: 159) diskutiert diese Frage am Beispiel der Paarungen in (11).
Bei den bisher betrachteten Fällen ist der zugrundeliegende Ereignisbezug jeweils morphologisch transparent. Die Nomen haben gemäß Larson (1998: 159) einen gleichsam verbalen Charakter.[6] Das – so Larson – legitimiere die Annahme eines zusätzlichen Ereignisarguments. Dies trifft etwa auch auf ruler in (11a) zu. Entsprechend kann sich das Adjektiv just auch bloß auf den verbalen Part beziehen; just ruler bezeichnet danach eine Person, die auf gerechte Weise regiert. Wie aber verhält es sich dann mit just king in (11b)? Auch hier gibt es die Lesart, dass es sich um eine Person handelt, die auf gerechte Weise ihr königliches Amt ausübt, ohne dass es allerdings ein entsprechendes Verb to king gäbe. Anknüpfend an Vendler (1967) schlägt Larson vor, dies als lexikalischen Zufall zu betrachten und auch für das Nomen king ein verstecktes verbales Ereignisargument anzusetzen. Dann aber stellt sich die Frage, bei welchen weiteren Nomen mit versteckten Ereignisargumenten zu rechnen wäre. Larson (1998: 160) betrachtet hierzu die Fälle in (12), bei denen sich das Adjektiv ebenfalls auf ein mit dem nominalen Referenten assoziiertes Ereignis zu beziehen scheint.
Larson nennt zwei Gründe, die gegen eine Ausweitung seiner Ereignisanalyse auch auf diese Fälle sprechen. Erstens bestehe keine systematische Verbindung zwischen Nomen und zu rekonstruierendem Verb. Bei fast horse in (12c) etwa beziehe sich die durch fast ausgedrückte hohe Geschwindigkeit nicht auf einen Zustand der Pferdhaftigkeit. Geschwindigkeit ist kein inhärentes Merkmal der Bedeutung des Nomens. Zweitens verweist Larson auf eine Differenz zwischen attributivem und prädikativem Gebrauch der betreffenden Adjektive: Während in der attributiven Konstellation z. B. beautiful dancer und old friend sowohl die intersektive wie auch die nicht-intersektive Lesart aufweisen, „überlebt“ bei prädikativem Gebrauch nur die intersektive Lesart; der Zugriff auf das eingebettete Ereignisargument ist laut Larson blockiert; s. (13a)/(13b). Im Falle von fast horse oder quick cup of coffee hingegen bestehe auch in prädikativer Konstellation Ereignisbezug; s. (13c)/(13d).
Larson folgert daraus, dass für Fälle vom Typ (13c)/(13d) eine andere Erklärung gefunden werden muss und reserviert seinen Analyse-Vorschlag für Fälle vom Typ (13a)/(13b); s. auch Winter und Zwarts (2012).
So weit die wesentlichen Aspekte von Larsons Analyse des Nicht-Kopfbezugs von attributiven Adjektiven. Die letzten Überlegungen deuten darauf hin, dass wir es – unter Larsons Blickwinkel – nicht mit einem einheitlichen Phänomen zu tun haben. Aber immerhin verspricht der Prädikationstest eine klare Diagnostik, für welche Fälle die Larson-Analyse konzipiert ist und für welche nicht. Bei genauerer Betrachtung sind hier allerdings Zweifel angebracht.
Es geht los damit, dass Larsons eigene Musterbeispiele nicht alle den Prädikationstest passieren. Für just ruler und just king etwa bzw. deutsch gerechter Regent und gerechter König gilt, dass der Ereignisbezug auch bei prädikativem Gebrauch möglich bleibt; s. (14a). Diese müssten also von der Larson-Analyse ausgeschlossen werden. Weitere Beispiele mit morphologisch transparenten Agens-Nominalisierungen sind in (14b)–(14d) aufgeführt.
Der Prädikationstest bietet also offenbar keine sinnvolle Entscheidungsheuristik für die Frage, ob innerhalb eines Nomens ein zusätzliches Ereignisargument à la Larson angenommen werden sollte oder nicht. Was auch immer hinter der Blockade des Ereignisbezugs bei Fällen vom Typ (13a)/(13b) steckt, es taugt nicht als Identifikationskriterium für Larsons Analyse.
Zweitens stellt sich die Frage, ob Larsons Analyse nicht auch auf andere deverbale Nominalisierungen zutreffen sollte. Wie verhalten sich etwa morphologisch transparente Patiens-Nominalisierungen? Betrachtet man zunächst die Paarung in (15a), so scheint es naheliegend, Larsons Analyse auch für -ling-Nominalisierungen vorzusehen. Ebenso wie ein eifriger Lehrer jemand ist, der seine Agens-Rolle in Lehrprozessen mit Eifer ausübt, so kann ein eifriger Lehrling als jemand betrachtet werden, der die betreffende Patiens-Rolle mit Eifer erfüllt. Dann sollte sich allerdings auch in (15b) der Ausdruck eleganter Prüfling auf eine Person beziehen können, die sich auf elegante Weise einer Prüfung unterzieht. Dies ist nicht der Fall. Anders als eleganter Prüfer hat eleganter Prüfling keine nicht-intersektive Lesart.
eifriger Lehrer – eifriger Lehrling
eleganter Prüfer – eleganter Prüfling
Wiederum zeichnet sich keine Systematik ab, wann innerhalb eines Nomens mit einem versteckten Ereignisargument à la Larson zu rechnen wäre und wann nicht.
Drittens schließlich geht Larsons Analyse davon aus, dass der semantische Beitrag des Adjektivs bei nicht-intersektiver Lesart identisch ist mit einer entsprechenden adverbialen Konstellation: Ein gerechter Prüfer ist jemand, der gerecht prüft. Dies mag in der Regel zutreffen, aber es gibt auch Fälle, bei denen der Ereignisbezug beim Nomen etwas vermittelter ist. Dies illustrieren die Beispiele in (16) und (17).
Otto war ein fairer Prüfer.
Otto hat fair geprüft.
Otto war ein fairer Verlierer.
#Otto hat den 100 m-Lauf fair verloren.
So bezeichnet der Ausdruck fairer Prüfer in (16a) jemanden, der auf faire Art und Weise prüft; vgl. (16b). Aber der Ausdruck fairer Verlierer in (16c) bezieht sich (in der nicht-intersektiven Lesart) nicht auf ein fair vonstatten gehendes Verlieren. Verlieren ist keine Handlung, über die man Kontrolle ausübt. Deshalb ist der adverbiale Gebrauch von fair in (16d) inakzeptabel. Ein fairer Verlierer ist vielmehr jemand, der auf einen Verlust, eine Niederlage, auf faire Art und Weise reagiert. Indem Larson das verbale Ereignisargument in die nominale Domäne übernimmt und kompositional als Anker für Attribute zugänglich macht, erzwingt er den unmittelbaren Bezug des Adjektivs auf das verbale Ereignis, identisch mit der adverbialen Konstellation. Das Beispiel fairer Verlierer zeigt, dass dies nicht adäquat ist.
Die Beispiele in (17) schließlich zeigen, dass es Adjektive mit nicht-intersektiver Interpretation gibt, die allerdings keinen adverbialen Ereignisbezug erlauben. Ein Adjektiv wie ausgebildet bezieht sich in (17a) nicht auf Olga – das wäre die intersektive Lesart – aber auch nicht auf die Art und Weise ihres Tanzens – das wäre Larsons adverbiale Deutung der nicht-intersektiven Lesart – sondern auf die von Olga eingenommene Tanzrolle.
Olga ist eine ausgebildete / fähige /... Tänzerin
*Olga tanzt ausgebildet / fähig.
Die betreffenden Adjektive beziehen sich also durchaus auf das verbale Ereignisargument, aber in einer weniger unmittelbaren Form als dies Larsons Gleichsetzung mit dem Adverbialfall vorsieht.
Meine wesentliche Kritik an Larsons Analyse ist also, dass zum einen kein systematisches Kriterium vorliegt, mithilfe dessen bei Nomen die Existenz eines zusätzlichen Ankerarguments für Attribute nachgewiesen werden könnte. Zum anderen führt die unmittelbare kompositionale Verrechnung zu falschen Ergebnissen (s. fairer Verlierer, ausgebildete Tänzerin) und birgt grundsätzliche, bislang noch ungelöste Kompositionalitätsprobleme.
3.2 Eggs (2006) Unterspezifikationsansatz
Einen zweiten Lösungsvorschlag für das Problem der Klammerparadoxien bietet Eggs (2006) Unterspezifikationsansatz. Egg schlägt eine gemeinsame Lösung für eine ganze Reihe von Fällen vor, bei denen Syntax und Semantik miteinander in Konflikt zu geraten scheinen. (Egg spricht hier von Anti-Ikonizität.) Darunter fällt u. a. der Adjektiv-Bezug bei Larsons Agens-Derivationen (oder unseren NN-Komposita), die repetitiv-restitutiv-Ambiguität von wieder (z. B. das Fenster wieder öffnen), bei der wieder entweder auf das Gesamtereignis des Öffnens oder den darin eingebetteten Nachzustand des Offen-Seins bezogen sein kann, oder die Modifikation von Indefinitpronomina (z. B. etwas in diesem Raum), bei der sich der Modifikator nur auf die Restriktion der vom Pronomen eingeführten Quantifikation bezieht. Egg analysiert diese Konstellationen als potenzielle Skopusambiguität zwischen dem Modifikator und einem Teil des Modifikanden und entwickelt eine Lösung, die den vermeintlichen Syntax-Semantik-Konflikt aufhebt und stattdessen strikt kompositional eine unterspezifizierte semantische Struktur herleitet, bei der der relative Skopus zwischen dem Modifikator und einem Teil des Modifikanden noch offen ist. Eigens konstruierte Syntax-Semantik-Schnittstellenregeln sind dann dafür verantwortlich, die in Frage kommenden Spezifizierungsoptionen zu generieren. Dies sei an Larsons Beispiel beautiful dancer veranschaulicht. Egg fasst die Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks als Skopusambiguität zwischen dem Adjektiv-Attribut und dem nominalen Affix auf. Bei Skopus des Modifikators über das Affix ergibt sich die intersektive Lesart; bei umgekehrtem Skopus hat der Modifikator nur Zugriff auf den verbalen Nicht-Kopf, und es ergibt sich die nicht-intersektive Lesart. Analog wäre der Nicht-Kopf-Bezug von Adjektiven bei NN-Komposita als potenzielle Skopusambiguität zwischen Adjektiv und nominalem Kopf zu erfassen. Ich verzichte hier auf eine eingehendere Darstellung der technischen Details des Unterspezifikationsansatzes. Wie Larson, so löst auch Egg den vermeintlichen Syntax-Semantik-Konflikt zugunsten einer strikt kompositionalen Bedeutungsberechnung auf. Ebenso wie Larson muss auch Egg dafür zusätzliche Schnittstellen-Regeln annehmen, die die kompositionale Maschinerie verkomplizieren. Anders als Larson kann Egg dabei allerdings auf eine unabhängig entwickelte – zudem sehr elegante – Unterspezifikationsanalyse für strukturelle Skopusambiguitäten (vom Typ Jeder Mann liebt eine Frau.) zurückgreifen und diese auf die vermeintlichen Konfliktfälle übertragen.
Die wesentliche Frage lautet auch hier: Wann ist von einer entsprechenden Skopusambiguität auszugehen? Wann hat ein Modifikator wortintern Zugriff auf einen Teil des Modifikanden? Wie Larson setzt auch Egg hier beim Modifikanden an. Soll es einem Modifikator möglich sein, lediglich auf einen Teil des Modifikanden zu applizieren, so muss dieser Teil im Lexikoneintrag des Modifikanden vorab getrennt ausgewiesen sein. Egg (2006) spricht in diesem Zusammenhang von „Hauptfragment“ – dies ist der semantische Beitrag des Kopfs – und „Nebenfragment“ – dies ist der semantische Beitrag des kompositional zugänglichen Nicht-Kopfs. Egg rekonstruiert also Larsons Analyse für beautiful dancer, indem er bei Agensderivationen den semantischen Beitrag des -er-Affixes als Hauptfragment ausweist und den verbalen Stamm als Nebenfragment. Kompositional verbleibt der Skopus zwischen Adjektiv und Affix unterspezifiziert; die Schnittstellenregeln leiten beide Abfolgen als kompositional gleichrangige Interpretationsoptionen ab; s. Egg (2006: 15–21). Analog wäre das Vorgehen bei NN-Komposita. Egg erbt damit die Probleme für Larsons Analyse, auf die ich oben hingewiesen habe. Und im Hinblick auf den Nicht-Kopf-Bezug von Adjektiven bei NN-Komposita – auf diese „Baustelle“ weist Egg (2006: 29) im Ausblick selbst hin – bleibt offen, wie in seinem Unterspezifikationsrahmen die beobachteten Beschränkungen à la *vierstöckiger Hausbesitzer oder ?ambulanter Versorgungsauftrag zu erfassen wären.
3.3 Beards (1991) konzeptueller Ansatz
Der dritte Vorschlag zur Behandlung von Klammerparadoxien stammt von Beard (1991) und ist konzeptueller Natur. Auch Beards Credo lautet: Es gibt hier gar keinen Konflikt zwischen Syntax und Semantik. Und auch er nimmt – wie Larson und Egg – dafür Eingriffe in das Funktionieren der kompositionalen Maschinerie vor und setzt dabei zentral beim Nomen an. Beard nutzt Jackendoffs (1983; 1987) Framework der Konzeptuellen Semantik. Seine zentrale These lautet, dass ein adjektivisches Attribut sich auf genau eines der konzeptuellen Merkmale seines Bezugsnomens bezieht. Dies formuliert Beard (1991: 216) als „Prinzip der dekompositionalen Komposition“.[7] Die vermeintlichen Klammerparadoxien – Larsons (1998) nicht-intersektive Lesarten – zeichnen sich durch den Status der involvierten konzeptuellen Merkmale aus: Bei intersektiver Lesart wird der Beitrag des Adjektivs zu dem zentralen Merkmal des Nomens hinzugefügt, das die ontologische Kategorie des nominalen Referenten festlegt, bei nicht-intersektiver Lesart zu einem der anderen inhärenten Merkmale des Nomens. Die Flexibilität des Attributbezugs ist damit laut Beard keine Frage unterschiedlicher Strukturzuordnungen an der Syntax-Semantik-Schnittstelle (und schon gar nicht eine Frage von widersprüchlichen Strukturzuordnungen), sondern sie ergibt sich daraus, dass das Adjektiv kompositional unmittelbaren Zugriff auf die konzeptuelle Binnenstruktur des Nomens hat und seinen semantischen Beitrag mit einem der dort zugänglichen Merkmale verbindet.
Interessant an Beards Analyse ist, dass er für qualitative und relationale Adjektive unterschiedliche Instanziierungen dieses allgemeinen Prinzips vorsieht. Qualitative Adjektive behandelt er als Prädikate (vom logischen Typ
Relationale Adjektive besetzen also laut Beard offene Argumentpositionen innerhalb der konzeptuellen Struktur des Nomens. Dies zeigt sich besonders deutlich bei deverbalen Nominalisierungen wie in (18a). Hier bietet die Argumentstruktur des zugrundeliegenden Verbs naheliegende offene Lücken, die durch ein relationales Adjektiv gefüllt werden können; s. Beard (1991: 219). Als problematisch für seine Analyse identifiziert Beard allerdings Fälle wie in (18b). So wird die konzeptuelle Struktur von clock etwa keine offene Position aufweisen, die durch musical oder electric besetzt werden könnte. Ebenso wenig gehört zur Definition von dancer oder wine inhärent die Angabe eines Aufführungs- oder Herkunftsortes.
regional support, departmental maintenance, managerial discovery, congressional investigation, institutional review, presidential oversight, American destruction, foreign investment
(Beard 1991: 219)
musical clock, electric clock, theatrical dancer, presidential matter, Dalmatian wine
(Beard 1991: 220)
Als provisorische (und wenig belastbare) Lösung schlägt Beard (1991: 222) angesichts dieser Fälle vor, dass relationale Adjektive grundsätzlich Argumentpositionen besetzen; diese werden durch Funktionen eröffnet, die entweder dem Nomen inhärent sind, oder es handelt sich um sogenannte „virtuelle Funktionen“, die durch eine äußere Quelle induziert werden.[8]
Indem Beard dem Adjektiv bei der Komposition mit dem Nomen unmittelbaren Zugriff auf einzelne konzeptuelle Merkmale einräumt, stellt sich die Frage nach den kombinatorischen Beschränkungen in verschärfter Form. Beard diskutiert dies abschließend anhand der Beispiele in (19).
In all diesen Fällen gilt es zu verhindern, dass sich das Adjektiv auf das konzeptuelle Merkmal ‘Flöte’ bezieht, obwohl es sich hierbei unzweifelhaft um ein inhärentes Merkmal handelt: Die Definition von flutist (analog im Deutschen: Flötist oder Flötenspieler) involviert notwendigerweise den Rekurs auf das Musikinstrument. Warum also sollten die Ausdrücke in (19) nicht bedeuten können, dass es sich dabei um den Spieler einer silbernen, verkratzten, geliehenen oder teuren Flöte handelt? Das Beispiel zeigt, dass Beards konzeptueller Lösungsvorschlag sich das Problem der Übergenerierung bis hin zu den eingangs erwähnten Scherzbildungen à la vierstöckiger Hausbesitzer einhandelt. Beard selbst vermutet hier verschiedene Präferenzen und zusätzliche Kriterien am Werk; s. Beard (1991: 224–226). Bei deren Einbeziehung dürfte sich die Spezifikation der kombinatorischen Maschinerie in Gestalt des Prinzips der dekompositionalen Komposition weiter verästeln und verkomplizieren. Dies ist der Preis für den unmittelbaren Zugriff auf die konzeptuelle Struktur im Zuge der Komposition der Bedeutungen von Adjektiv und Nomen.
Als generelles Fazit kann festgehalten werden, dass jede der drei hier vorgestellten Analysen eine kompositionale Lösung für unseren Klammerparadoxie-Fall anbietet. Der grundsätzliche Lösungsweg, den alle drei Ansätze dabei einschlagen, besteht darin, den unmittelbaren Bezug des adjektivischen Modifikators auf einen Teil des nominalen Modifikanden zuzulassen. Dies verlangt deutliche Eingriffe in die kompositionale Maschinerie. Die Diskussion der Vorschläge von Larson, Egg und Beard hat zudem gezeigt, dass dabei die offenbar bestehenden kombinatorischen Beschränkungen nicht angemessen erfasst werden. Ich werde im Folgenden einen alternativen Vorschlag entwickeln, der insofern radikaler ist, als er ganz konservativ am ursprünglichen Kompositionalitätsprinzip festhält: Es gibt hier keine Klammerparadoxien, und es gibt auch keinen kompositional lizenzierten Bezug des Adjektivs auf den Nicht-Kopf eines komplexen Nomens. Die kompositionale Verrechnung erfolgt ausschließlich zwischen Adjektiv und Gesamtnomen. Der vermeintliche Nicht-Kopf-Bezug entpuppt sich als kombinatorische Illusion. Den Ansatzpunkt für meinen Vorschlag bietet eine differenziertere Betrachtung der involvierten Adjektive.
4 Bedeutungskomposition von Adjektiv und Nomen
Betrachten wir zunächst den Standardfall der Bedeutungskomposition von Adjektiv und Nomen.[9] Nichts anderes als dieser – so lautet meine These – liegt auch bei unseren vermeintlichen Klammerparadoxien vor. Zur Illustration diene ein Beispiel wie rote Treppe in (20a). In (20b), (20c) sind die Lexikoneinträge für das Adjektiv und das Nomen angegeben. Selektionsbeschränkungen sind hier als semantische Typanforderungen eines Prädikats an seine Argumente mittels Doppelpunkt an die jeweilige λ-gebundene Variable angefügt. Diese vereinfachte Darstellungsvariante möge für unsere Zwecke genügen; s. Asher (2011) sowie Bücking und Maienborn (2019) für Details.[10]
Die Darstellung in (20b) drückt aus, dass das referenzielle Argument des Nomens Treppe auf ein Artefakt verweisen muss (semantischer Typ: artifact). Sagt man dann beispielsweise über ein Garagentor aus: ‘Dies ist eine Treppe’, so wäre danach die semantische Selektionsanforderung von Treppe erfüllt – Garagentore sind Artefakte –, aber die Aussage ist falsch. Trifft man diese Aussage hingegen über einen Kolibri (oder gar den Flügelschlag eines Kolibris), so scheitert die Anwendung des Prädikats. Der Ausdruck ist weder wahr noch falsch, sondern es handelt sich um eine semantische Anomalie.[11] Analog lässt sich ein Farbadjektiv wie rot gemäß (20c) (bei wörtlichem Gebrauch) nur auf physikalische Objekte anwenden (semantischer Typ: phys_obj) und nicht etwa auf Abstrakta. (20d) zeigt das Ergebnis der Komposition bei adnominaler Modifikation: Der Bedeutungsbeitrag des Adjektivs wird auf das referenzielle Argument des Nomens bezogen und als zusätzliche Bedingung zur Bedeutung des Nomens hinzugefügt; s. die entsprechenden Kompositionsregeln PM bei Heim und Kratzer (1998) oder MOD in Maienborn und Schäfer (2011).[12] Dies entspricht Larsons (1998) intersektiver Interpretation. Voraussetzung ist, dass die semantischen Typanforderungen der beiden Prädikate miteinander kompatibel sind. Dies ist bei (20) der Fall: artifact ist ein Subtyp von phys_obj (artifact ⊑ phys_obj).[13]
Das Adjektiv morsch in (21a) beinhaltet spezifischere Selektionsanforderungen an sein Argument. Dessen Referent muss aus Holz sein (semantischer Typ: wooden). Für den Ausdruck morsche Treppe ergibt sich daraus der komplexe semantische Typ ‘Artefakt aus Holz’ (artifact ⊓ wooden); im Falle von morscher Baum ist die kompositional errechnete semantische Typanforderung ‘Pflanze aus Holz’ (plant ⊓ wooden); s. (21d). Bei morscher Saft in (21f) hingegen scheitert die Komposition, denn für die semantischen Typanforderungen ‘Flüssigkeit‘ und ‘aus Holz’ gibt es keinen gemeinsamen Nenner (liquid ⊓ wooden = ⊥).
Soviel zum Standardfall adnominaler Modifikation: Der Modifikator leistet einen zusätzlichen semantischen Beitrag über das referenzielle Argument des Nomens – vorausgesetzt die semantischen Typen sind miteinander kompatibel. Im Zuge der Komposition werden dabei auch die semantischen Typenforderungen des Modifikators an den Modifikanden weitergereicht.
5 Semantik von NN-Komposita
Als allgemeines Schema für die Semantik von NN-Komposita lege ich für die folgenden Überlegungen die Struktur in (22) zugrunde; s. hierzu das “Compound Template” in Olsen (2004: 20; 2012: 2138) sowie ähnlich bei Fanselow (1981), Bell und Schäfer (2013). Danach erbt das Kompositum den semantischen Gehalt und das referenzielle Argument des Kopfes N2, und es besteht eine unterbestimmte Relation R zu dem vom Nicht-Kopf N1 eingebrachten Konzept. Für dieses setze ich in (22) eine Konstante (markiert durch Fettdruck) mit entsprechendem N1-Prädikat an.[14] Das referenzielle Argument von N1 ist damit kompositional nicht mehr zugänglich.
[[N1N2]]: λx:typ2 [N2 (x) & R (x, y) & N1 (y:typ1)]
In (23) sind zur Illustration einige Instanziierungen dieses allgemeinen NN-Schemas aufgeführt.
Zur Spezifizierung der jeweils vorliegenden Relation R zwischen x und y braucht es – zumal bei Neubildungen – konzeptuelles Wissen. Im Falle von Kellertreppe handelt es sich hierbei aller Wahrscheinlichkeit nach um die Zielrelation ‘goal’, bei Marmortreppe um die Materialrelation ‘material’. Bei Schlosstreppe wird es sich um eine Treppe im Schloss (Relation: ‘loc’) oder zum Schloss (Relation: ‘goal’) handeln. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass es für die Interpretation von NN-Komposita klare Präferenzen für die Spezifizierung von R gibt, die möglicherweise auch bereits lexikalisch fixiert sind,[15] dass es aber auch – bei geeigneter kontextueller Stützung – einen erheblichen pragmatischen Spezifizierungsspielraum gibt. Fanselow (1981: 215) formuliert als entsprechende Auflage, dass die Belegung von R zu einer Interpretation des Kompositums führen muss, die „im Kontext sinnvoll ist“. Allerdings kommt jenseits dieser kontextuellen Plausibilitätsbedingung nicht jede beliebige Relation als mögliche Instanziierung von R in Frage. Dowty (1979) illustriert dies am Beispiel des Kompositums house tree, das z. B. nicht die Deutung erhalten kann: ‘Baum zwischen zwei Häusern’. Unter Berufung auf Zimmer (1972) formuliert Dowty (1979: 316) als konzeptuelle Beschränkung, dass das resultierende komplexe Konzept geeignet sein muss, Entitäten zu klassifizieren. Bücking (2009) präzisiert dies (im Rahmen seiner Untersuchung von AN-Komposita) als besondere Benennungsfunktion von Komposita und rekurriert dabei auf das von Olsen (2004) formulierte Prinzip der ontologischen Kohärenz:[16]
Prinzip der ontologischen Kohärenz:
Die semantischen Bestandteile eines Kompositums müssen zu einem kohärenten Gesamtkonzept integrierbar sein.
Komposita müssen danach ein kohärentes Gesamtkonzept herausbilden, mit dessen Hilfe eine Klasse von Entitäten benannt werden kann; s. auch Schlücker (2014). Dabei kann es sich auch um ad hoc-Kategorien im Sinne von Barsalou (1983) handeln, solange die Schaffung und Benennung einer solchen Kategorie einen im jeweiligen Kontext salienten Zweck erfüllt; s. Bücking (2009: 14ff)[17] sowie Olsen (2012) zu weiteren kognitiven und sprachspezifischen Beschränkungen für die Bildung von NN-Komposita.
Wenn es sich beim Kopfnomen eines NN-Kompositums um ein relationales Nomen handelt, so ist es – bei gegebener Typenkompatibilität und kontextueller Stützung – naheliegend, dass die unterbestimmte semantische Relation R aus dem allgemeinen Schema in (22) durch die vom Kopf lexikalisch eingebrachte Relation instanziiert wird. Dies folgt aus einem allgemeinen Ökonomie-Prinzip zur pragmatischen Spezifikation semantisch unterbestimmter Strukturen: Wähle immer die einfachste Lösung mit den wenigsten sprachlich nicht gestützten Zusatzannahmen! Dies ist in (25) angelehnt an Maienborn (2003: 496) als Präferenzprinzip für die pragmatische Spezifizierung von freien Variablen formuliert.[18]
Präferenzprinzip für die pragmatische Spezifizierung freier Variablen:
Freie Variablen werden präferiert durch sprachlich explizit eingeführte Konstanten instanziiert, sofern diese die gegebenen Auflagen erfüllen.
Zur Illustration diene das Beispiel Hausbesitzer in (26). Das Nomen Besitzer drückt gemäß (26a) eine Besitzrelation ‘poss’ zwischen Menschen oder Institutionen (semantischer Typ: human ⊔ inst) und ihrem Besitz aus. Nehmen wir hier der Einfachheit halber an, dass Besitz konkreter physikalischer oder geistiger Natur sein kann (semantischer Typ: phys_obj ⊔ mental_obj). Als Lexikoneintrag für Haus diene (26b). Das Kompositum Hausbesitzer erhält auf der Grundlage des allgemeinen Schemas in (22) die Semantische Form in (26c): Es bezeichnet danach Menschen oder Institutionen x, die etwas besitzen (o), und die in einer unterbestimmten Relation R zu einem Haus y stehen. Das Präferenzprinzip (25) liefert als einfachste, sparsamste Auflösung dieser semantischen Vorgaben eine Spezifizierung, bei der die unterbestimmte Relation R als die vom Kopfnomen lexikalisch eingebrachte Besitzrelation ‘poss’ identifizert ist. Damit geht die Gleichsetzung der existenziell gebundenen Variable o mit der Konstante y einher. Die resultierende konzeptuelle Struktur ist in (26d) angegeben und bezeichnet Menschen oder Institutionen, die Häuser besitzen.
Nicht immer wird sich bei relationalen Kopfnomen ein solches pragmatisches „Zusammenschnurren“ der semantischen Bedingungen wie in (26c)/(26d) bewerkstelligen lassen. Wenn wir beispielsweise für das relationale Nomen Unterricht in (27) der Einfachheit halber annehmen, dass hier eine Relation zwischen Ereignissen e des Unterrichtens und ihrem Gegenstand, dem Unterrichtsfach (semantischer Typ: domain), ausgedrückt wird, so eignet sich im Falle von Chemieunterricht der Nicht-Kopf Chemie (27b) zur Spezifikation des Unterrichtsgegenstandes; s. die SF in (27c) und deren durch (25) legitimierte sparsame Spezifikation CS in (27d).[19] Für das Kompositum Schulunterricht trifft dies nicht zu. Der semantische Typ von Schule ist hier nicht kompatibel mit der semantischen Typanforderung von Unterricht an seine Argumentposition d; (domain ⊓ inst = ⊥). Das heißt, das Präferenzprinzip aus (25) unterstützt keine ökonomische Spezifizierung der SF in (27f). Die pragmatische Spezifizierung der unterbestimmten Relation R zwischen Kopf und Nicht-Kopf muss hier auf weitergehendes konzeptuelles Wissen ausweichen. Es bietet sich z. B. an, R pragmatisch als Trägerschaft zu spezifizieren; s. (27g).
Diese Annahmen zur Semantik und Pragmatik von NN-Komposita mögen für unsere Zwecke genügen: Komposita verweisen auf kohärente Gesamtkonzepte und dienen darüber zur Benennung von Klassen. Sie drücken eine Relation zwischen Kopf und Nicht-Kopf aus, die entweder bereits lexikalisch fixiert ist oder mit einem Minimum an sprachlich nicht lizenzierten Zusatzannahmen pragmatisch spezifiziert wird.
6 Semantik von relationalen Adjektiven
Relationale Adjektive drücken eine Relation zu dem von ihrer in der Regel nominalen Basis bezeichneten Konzept aus. Ein relationales Adjektiv wie chemisch etwa stellt eine Relation zwischen seinem designierten Argument a und dem Relatum b, der Chemie, her, schulisch stellt eine Verbindung zu Schule, katholisch zur katholischen Religion her, neutestamentlich zum Neuen Testament, preußisch zum Land Preußen, das Stadtadjektiv Tübinger drückt eine Verbindung zur Stadt Tübingen aus, usw. Aus diesem relationalen Charakter folgt eine Reihe morphologischer und semantischer Besonderheiten relationaler Adjektive; s. Anmerkung 2. Wie im Fall der NN-Komposita ist auch bei relationalen Adjektiven die betreffende Relation semantisch unterbestimmt. Für relationale Adjektive lässt sich damit eine semantische Repräsentation annehmen, die weitgehend parallel zu derjenigen von NN-Komposita ist; s. (22). Eine Besonderheit der Adjektive ist dabei, dass sie in aller Regel keine Beschränkungen an den semantischen Typ ihres designierten Arguments stellen. So verbindet sich das Adjektiv preußisch etwa mit Nomen, die alle möglichen Arten von physikalischen Objekten bezeichnen (Menschen, Schlösser, Stiefel, Rüben, ...), Ereignisse und andere zeitliche Objekte (Kriege, Frieden, Winter, ...), Institutionen (Ministerium, Universität, Akademie, ...), abstrakte Objekte (Ideale, Gedanken, Tugend, Theorien, ...) usw. In (28) ist deshalb als semantische Typforderung an a der oberste Typ ent(ity) angesetzt; s. das allgemeine Schema für relationale Adjektive in (28a) mit N als nominale Basis und die Illustrationen in (28b)–(28g).
Für die Auflösung der in den relationalen Adjektiven lexikalisch angelegten unterbestimmten Relation R gilt dasselbe, was wir bereits für den Fall der NN-Komposita festgestellt haben: Das in (25) formulierte Präferenzprinzip unterstützt die sparsamste pragmatische Spezifikation, die mit den kompositional ermittelten Vorgaben kompatibel ist.[20] Insbesondere liefern die von relationalen Nomen lexikalisch bereitgestellten Relationen bevorzugte Spezifizierungskandidaten. So wird in (29) die im Adjektiv angelegte Relation R in Verbindung mit dem relationalen Nomen König präferiert durch die nominale Relation ‘könig’’ instanziiert; s. (29c)/(29d). in Verbindung mit einem nicht-relationalen Nomen wie Soldat besteht diese Möglichkeit nicht. Hier ergibt sich als kompositional ermittelte Bedeutung für preußischer Soldat die Interpretation, dass es sich dabei um einen Soldaten handeln muss, der in einer unterbestimmten Relation R zu Preußen steht; s. (29f). Die Spezifizierung von R erfolgt auf der Basis von Kontext und Weltwissen. Potenzielle Spezifizierungsoptionen wären u. a. Soldat aus oder für Preußen.
Relationale Adjektive teilen mit NN-Komposita nicht nur die Eigenschaft, eine unterbestimmte Relation R einzuführen, deren pragmatische Spezifikation einem Sparsamkeitsgebot unterliegt, wie ich es in (25) formuliert habe. Auch Olsens (2004; 2012) Forderung nach ontologischer Kohärenz bei der Verknüpfung der nominalen Konzepte [s. (24)] trifft in ähnlicher Weise auf die Verbindung eines relationalen Adjektivs mit seinem Bezugsnomen zu. Wenn z. B. von preußischen Rüben die Rede ist, so liegt es nahe, darunter eine bestimmte Sorte von Rüben zu verstehen. Die Beziehung zu Preußen wird als charakteristisch für die betreffenden Rüben gewertet. Einige neuere formalsemantische Arbeiten schlagen vor, relationale Adjektive lexikalisch als Gattungsprädikate auszuweisen; s. z. B. McNally und Boleda (2004), Arsenijevic et al. (2010). Danach selegieren relationale Adjektive nicht partikuläre Individuen sondern Gattungen (semantischer Typ: kind). Ihr Beitrag besteht unter dieser Perspektive darin, Subgattungen zu etablieren. Ein solcher Gattungsansatz ist nicht ohne Probleme; s. z. B. die aktuelle Kritik von Anderson und Löbner (2018). Vor dem Hintergrund der Diskussion der ontologischen Verhältnisse bei den NN-Komposita bietet sich hier als alternative Sichtweise an, dass auch bei relationalen Adjektiven die Auflage besteht, dass die Verkopplung der beteiligten Entitäten mittels R zu einem kohärenten Konzept führen muss, um in Bückings (2009) Sinne zur Benennung von Klassen eingesetzt werden zu können. Darüber ergibt sich ihre Affinität zur generischen Deutung; s. Anmerkung 17. Die Forderung nach ontologischer Kohärenz wäre dann nicht, wie von Olsen ursprünglich vorgeschlagen (s. Anmerkung 16), auf morphologische Objekte zu beziehen, sondern hätte als Anwendungsdomäne die Spezifikation von sprachlich induzierten freien Relationen.[21] Diese Hinweise mögen an dieser Stelle genügen. Eine tiefergehende Diskussion der Semantik relationaler Adjektive muss an anderer Stelle geführt werden. Im Vordergrund steht hier deren Kombinatorik mit NN-Komposita. Dazu belasse ich es bei den obigen Annahmen zur Semantik von relationalen Adjektiven, die ohne Gattungsbezug auskommen. Ich werde auf die weitergehenden Implikationen der hier vorgestellten Analyse am Ende des folgenden Abschnitts noch einmal zurückkommen.
7 Relationale Adjektive + NN-Komposita
Nun haben wir alle unabhängig gegebenen Ingredienzien für eine Analyse der Klammerparadoxien beisammen. Wenden wir uns zunächst der Verbindung von NN-Komposita mit relationalen Adjektiven zu. Diese machen in Bergmanns Korpus den Löwenanteil der Klammerparadoxie-Kandidaten aus; s. Abschnitt 2. Nach den Ausführungen zu adnominaler Modifikation, der Semantik von NN-Komposita und der Semantik relationaler Adjektive in den zurückliegenden Abschnitten ist das Ergebnis, zu dem die reguläre Komposition führt, klar: Das NN-Kompositum beinhaltet eine freie Relationenvariable; nennen wir sie im Weiteren RNN. Das relationale Adjektiv fügt seinen semantischen Beitrag als weitere Beschränkung über das referenzielle Argument des Nomens hinzu und führt dabei ebenfalls eine freie Relationenvariable (RADJ) ein. Das allgemeine Schema ist in (30) angegeben.
Laut (30c) bezeichnet die Verbindung aus NN-Kompositum und relationalem Adjektiv folglich Individuen x, die an zwei unterbestimmten Relationen beteiligt sind, einmal zu ihrem nominalen Partner y und einmal zum adjektivischen Partner b. Beide Relationen gilt es gemäß dem Präferenzprinzip in (25), mit geringstmöglichem Aufwand zu spezifizieren. Betrachten wir dazu zunächst das Beispiel preußischer Sportunterricht in (31).
Mit dem nominalen Kopf Unterricht liegt hier ein relationales Nomen vor. In Verbindung mit dem Nicht-Kopf Sport bietet sich die lexikalisch gegebene unterricht’-Relation als plausible Spezifizierung für RNN an. Das heißt die rein kompositionalen SF-Vorgaben an das Kompositum in (31d) lassen sich auf der Basis des Präferenzprinzips in (25) zu (31e) vereinfachen. Die Kombination mit dem Adjektiv preußisch führt zu dem Ergebnis in (31g): Danach bezeichnet preußischer Sportunterricht den Unterricht des Faches Sport, der in einer unterbestimmten Relation RADJ zu Preußen steht. Das sprachliche Wissen liefert uns hier keine weiteren Hinweise auf eine geeignete Spezifizierung von RADJ. Diese ist auf die Hinzuziehung von kontextuell salientem Weltwissen angewiesen. Es kann sich um den Sportunterricht in Preußen handeln, Sportunterricht nach preußischen Vorstellungen usw.
In (32) wird die Bedeutungsberechnung für ärztliche Patientenversorgung durchgespielt. Hier liegt mit dem deverbalen Kopfnomen Versorgung ein Ausdruck vor, der mindestens drei Leerstellen eröffnet: Ein Agens versorgt einen Empfänger mit etwas. Ich nehme im Folgenden an, dass die verbalen Argumente im Zuge der Nominalisierung existenziell gebunden werden, s. hierzu die Diskussion in Bücking (2012). Von dieser Entscheidung hängt aber nichts Wesentliches für unsere Fragestellung ab. Der Lexikoneintrag für Versorgung ist in (32b) aufgeführt. Wenn wir für Patient und ärztlich die Einträge in (32c) und (32d) annehmen, so ergibt sich rein kompositionell die SF in (32e). Für beide unterbestimmte Relationen bietet sich hier eine sparsame Spezifizierungsoption an, die die vom nominalen Kopf eingeführten thematischen Rollen ausnutzt (RNN = recipient; RADJ = agens) und so zu der kondensierten Struktur in (32f) führt. Danach bezeichnet ärztliche Patientenversorgung die Versorgung von Patienten durch Ärzte mit irgendwelchen Entitäten f. (Bei medikamentöser Patientenversorgung führt die sparsamste Spezifikation hingegen zur Gleichsetzung: RADJ = thema.)
So weit zwei Beispiele, bei denen die semantische Komposition zusammen mit dem Sparsamkeitsprinzip in (25) zu Interpretationen führt, bei denen entweder – wie in (31) – eine oder – wie in (32) – beide unterbestimmte Relationen durch das sprachlich gegebene Material instanziiert werden. Was geschieht nun bei unseren Klammerparadoxie-Kandidaten? Genau dasselbe! Die Komposition verkoppelt die Beiträge von relationalem Adjektiv und Kompositum über die beiden Relationen RNN und RADJ, und die pragmatische Spezifikation sucht die sparsamste Auflösung dieser unterbestimmten Struktur. Betrachten wir dazu eines der Beispiele aus Bergmanns Klasse A: neutestamentliche Textforschung. Laut Bergmann liegt hier der kritische Fall des alleinigen Nicht-Kopf-Bezugs des Adjektivs vor und damit ein Konflikt zwischen morphosyntaktischer und semantischer Strukturbildung. Nach dem hier Gesagten gibt es diesen Konflikt gar nicht. Die rein kompositional ermittelte SF ist in (33e) aufgeführt: Wenn wir als SF für Forschung die systematische, mit wissenschaftlichen Methoden betriebene Untersuchung eines Themas ansetzen (in (33b) abgekürzt durch den SF-Baustein ‘forsch’’), dann bezeichnet neutestamentliche Textforschung die Untersuchung eines Forschungsthemas, die irgendetwas (RNN) mit Texten zu tun hat und außerdem irgendwie (RADJ) mit dem Neuen Testament zusammenhängt. Die sparsamste Auflösung dieser Struktur ist eine, in der die Texte als Forschungsthema ausgewiesen und durch das relationale Adjektiv weiter auf das Neue Testament eingeschränkt werden. Sprich: beide Relationen, RNN und RADJ, werden mit der durch den nominalen Kopf eingebrachten Relation ‘thema’ gleichgesetzt; s. (33f).
Die Herleitung in (33) zeigt, dass der Nicht-Kopf-Bezug des Adjektivs ein sekundärer Effekt ist. Er entsteht erst im Zuge der Suche nach der sparsamsten pragmatischen Auflösung der kompositional ermittelten, unterbestimmten SF. Sprachliches Material – egal ob vom Kopf oder Nicht-Kopf – dient dabei gemäß (25) als bevorzugte Spezifikationsquelle. Die vermeintliche Klammerparadoxie entpuppt sich als kombinatorische Illusion.
Der pragmatische Zusammenfall von kompositionalen Strukturvorgaben ist bei (33) besonders augenfällig. Das Neue Testament ist ein Text und als solcher ein potenzieller Forschungsgegenstand. Das grundlegende Interpretationsmuster, d. h. die Arbeitsteilung zwischen strikt kompositionaler Herleitung einer unterbestimmten SF und deren maximal sparsamer pragmatischen Spezifikation, findet sich auch bei allen übrigen Beispielen, bei denen Bergmann den alleinigen Bezug des Adjektivs auf den nominalen Nicht-Kopf feststellt (seine Klasse A); s. Abschnitt 2. Betrachten wir dazu eines der klassischen Beispiele aus der Klammerparadoxie-Diskussion: deutsche Sprachwissenschaft. In (34a)–(34d) werden die kompositionalen Vorgaben für dessen Bedeutungskonstitution angegeben.[22]
deutsche Sprachwissenschaft
Wissenschaft:
Systematisch betriebene Erkenntnistätigkeit auf einem Gebiet
Sprachwissenschaft:
Systematisch betriebene Erkenntnistätigkeit auf einem Gebiet, wobei diese Erkenntnistätigkeit irgendwie (RNN) mit der Domäne der Sprache zusammenhängt
deutsche Sprachwissenschaft: SF
Systematisch betriebene Erkenntnistätigkeit auf einem Gebiet, wobei diese Erkenntnistätigkeit irgendwie (RNN) mit der Domäne der Sprache zusammenhängt und (RADJ) mit dem über deutsch adressierten Konzeptkomplex aus Sprache, Kultur und Raum
Das Sparsamkeitsprinzip (25) führt zu der in (34e) angegebenen Lesart 1 als bevorzugter Auflösung der semantischen Unterbestimmtheit. Beide Relationen fallen hier zusammen und identifizieren die deutsche Sprache als wissenschaftliche Disziplin. Weniger ökonomisch und deshalb weniger präferiert ist die Lesart 2 in (34f), bei der RADJ als Lokalisierungsrelation (‘loc’) spezifiziert wird und damit einhergehend nicht der Sprachaspekt der Bedeutung von deutsch genutzt wird, sondern der räumliche Bezug. Die Annahme ‘RADJ = loc’ wird durch das gegebene sprachliche Material nicht lizenziert. Um als Deutung in Betracht zu kommen, ist die Lesart 2 auf zusätzliche kontextuelle Unterstützung angewiesen.
deutsche Sprachwissenschaft: CS Lesart 1
Systematisch betriebene Erkenntnistätigkeit auf dem Gebiet der deutschen Sprache
deutsche Sprachwissenschaft: CS Lesart 2
Systematisch betriebene Erkenntnistätigkeit in Deutschland auf dem Gebiet der Sprache
In (35) schließlich wird der Klammerparadoxie-Klassiker katholisches Kirchenoberhaupt durchgespielt. (35d) gibt das semantisch unterbestimmte Ergebnis der kompositionalen Bedeutungsberechnung an; (35e) und (35f) bieten zwei mögliche pragmatische Auflösungen. Dabei ist die in (35e) angegebene Lesart 1 gegenüber der Spezifikation in (35f) sparsamer und deshalb präferiert. (Darüber hinaus wird es wenige Kontexte geben, in denen eine Spezifikation à la (35f) plausibel ist.)
katholisches Kirchenoberhaupt
Oberhaupt:
Oberhaupt einer Institution
Kirchenoberhaupt:
Oberhaupt einer Institution, das irgendwie (RNN) mit der religiösen Institution der Kirche in Verbindung steht
katholisches Kirchenoberhaupt: SF
Oberhaupt einer Institution, das irgendwie (RNN) mit der religiösen Institution der Kirche in Verbindung steht und (RADJ) mit der katholischen Religion
katholisches Kirchenoberhaupt: CS Lesart 1
Oberhaupt der Institution der katholischen Kirche
katholisches Kirchenoberhaupt: CS Lesart 2
Oberhaupt einer Kirche, das katholischer Konfession ist
Für den Ausdruck katholisches Firmenoberhaupt scheidet eine pragmatische Spezifikation analog zu (35e) aus: Firmen sind üblicherweise keine religiösen Institutionen. Hier verbleibt die Option (35f). Bei argentinisches Kirchenoberhaupt bieten sich als pragmatische Spezifikationen an: ‘Oberhaupt einer Kirche, das argentinischer Nationalität ist’ oder ‘Oberhaupt einer Kirche in Argentinien’. Für das Sprachsystem macht dies alles keinen Unterschied. Die semantische Komposition verläuft bei katholisches Kirchenoberhaupt, katholisches Firmenoberhaupt und argentinisches Kirchenoberhaupt gleich.
Zeit für eine Zwischenbilanz: Die hier entwickelte Perspektive auf die Verbindung von relationalen Adjektiven mit NN-Komposita bietet eine einheitliche Analyse, die sämtliche vermeintlich irreguläre Fälle miteinschließt: Es gibt keinen unmittelbaren Kopf-Bezug oder Nicht-Kopf-Bezug des Adjektivs. Und schon gar nicht ist die semantische Strukturbildung gegen die morphosyntaktische Strukturbildung gerichtet. In allen Fällen erfolgt die semantische Strukturbildung strikt kompositional entlang den morphosyntaktischen Strukturvorgaben. Das heißt, das relationale Adjektiv bezieht sich immer auf das (vom Kopf eingebrachte) referenzielle Argument des Kompositums. Was die Konstruktion besonders auszeichnet, ist ihre doppelte Unterbestimmtheit (via RNN und RADJ). Deren pragmatische Spezifikation unterliegt einem Sparsamkeitsgebot und nutzt deshalb bevorzugt das sprachlich eingebrachte Material, egal, ob dieses nun ursprünglich vom Kopf oder Nicht-Kopf stammt.
Unter dieser Perspektive stellt auch Bergmanns Klasse C keine Besonderheit mehr dar. In Bergmanns Klassifikation gelten Kombinationen wie exotisches Kunsthandwerk als Ausnahmefall, da das Adjektiv hier nur auf das Gesamtkompositum nicht aber dessen Bestandteile zu beziehen sei; s. die Diskussion zu (6). Gemäß der hier vorgeschlagenen Analyse ist dies hingegen der eigentliche Standardfall. Das Adjektiv bezieht sich immer auf das Gesamtkompositum und niemals unmittelbar auf dessen Bestandteile. In (36) ist die Bedeutungskonstitution für exotisches Kunsthandwerk durchgespielt. (36d) gibt die kompositionalen Bedingungen an; (36e) liefert eine naheliegende pragmatische Spezifikation.
Die Interpretation von exotisches Kunsthandwerk in (36) folgt exakt dem gleichen Schema wie die zuvor diskutierten Beispiele. Das Ergebnis unterscheidet sich lediglich darin, dass die Spezifikationen der beiden unterbestimmten Relationen nicht zusammenfallen (wie dies z. B. bei neutestamentliche Textforschung oder deutsche Sprachwissenschaft der Fall ist) und dass (anders als etwa bei ärztliche Patientenversorgung) die im Zuge der pragmatischen Spezifikation identifizierten Relata keinen Argumentstatus beim Kopfnomen haben. Die pragmatische Spezifikation taucht also in diesem Fall etwas tiefer in das saliente Konzeptwissen ab und findet Anknüpfungspunkte, die keinen sprachlichen Reflex haben. Das ist aber auch schon alles. Hier zeigt sich der erweiterte Zugriff der Pragmatik auf konzeptuelle Wissensressourcen. Auf die kompositionale Bedeutungsberechnung und auch auf die Prinzipien und Mechanismen der pragmatischen Spezifikation hat dies keine Auswirkungen. Die Unterscheidung einer Klasse A von Klammerparadoxien, bei denen das relationale Adjektiv nur Nicht-Kopf-Bezug hat, und einer Klasse C, bei denen das Adjektiv nur auf das Gesamtkompositum zu beziehen sei, wie dies Bergmanns (1980) Sichtung ergeben hat, ist überflüssig und führt letztlich in die Irre. Grundsätzlich bezieht sich ein relationales Adjektiv auf das referenzielle Argument des Gesamtkompositums und stellt via RADJ eine unterbestimmte Verbindung dazu her. Alles Weitere ergibt sich im Zuge der pragmatischen Auflösung der semantischen Unterbestimmtheit.
Gibt es Beschränkungen? Die Überlegungen zur Semantik von relationalen Adjektiven in Abschnitt 6 haben ergeben, dass diese in der Regel keine besonderen Selektionsanforderungen an ihr designiertes Argument stellen; s. die Diskussion zu (28). Damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass es im Zuge der Komposition zu semantischen Typenkonflikten kommt, gering. Die Grammatik wird die Kombination eines relationalen Adjektivs mit einem Nomen (egal ob einfach oder komplex) in aller Regel „durchwinken“.[23]
Was ist mit dem Konzeptsystem? Hier ergaben sich erste Hinweise, dass das Ergebnis der pragmatischen Spezifikation von RADJ gleich demjenigen von RNN Olsens (2004; 2012) Forderung nach kohärenter Konzeptbildung unterliegt; s. die Diskussion zu (24) und (29). Das heißt, die Kombination von relationalem Adjektiv + NN-Kompositum muss zur Herausbildung eines kohärenten komplexen Konzeptes führen, das im Sinne von Bücking (2009) zur Benennung von Klassen eingesetzt werden kann; s. auch Schlücker (2014). Betrachten wir dazu noch einmal den Ausdruck deutsche Sprachwissenschaft und stellen ihn der Variante deutsche Wirtschaftswissenschaft gegenüber. Für deutsche Sprachwissenschaft ergab die kompositionale Maschinerie die SF in (34d); deren pragmatische Spezifikation führte zu (mindestens) zwei potenziellen Lesarten (34e) und (34f). Das Ökonomieprinzip (25) wies hierunter die Lesart 1 (= ‘Wissenschaft der deutschen Sprache’) in (34e) als sparsamste und damit präferierte Interpretation aus. Eine Übertragung auf den Fall deutsche Wirtschaftswissenschaft führt zu den Angaben in (37).
deutsche Wirtschaftswissenschaft: SF
Systematisch betriebene Erkenntnistätigkeit auf einem Gebiet, wobei diese Erkenntnistätigkeit irgendwie (RNN) mit der Domäne der Wirtschaft zusammenhängt und (RADJ) mit dem über deutsch adressierten Konzeptkomplex aus Sprache, Kultur und Raum
deutsche Wirtschaftswissenschaft: CS Lesart 1
#Systematisch betriebene Erkenntnistätigkeit auf dem Gebiet der deutschen Wirtschaft
deutsche Wirtschaftswissenschaft: CS Lesart 2
Systematisch betriebene Erkenntnistätigkeit in Deutschland auf dem Gebiet der Wirtschaft
Die in (37c) angegebene Lesart 2 bietet gleich (34f) eine sinnvolle Interpretationsoption. Bemerkenswert ist, dass die für deutsche Sprachwissenschaft bevorzugte Lesart 1 für deutsche Wirtschaftswissenschaft kaum in Betracht kommt. Der Ausdruck kann nicht so gedeutet werden, dass der semantische Gehalt von deutsch und Wirtschaft zur gemeinsamen Spezifikation der wissenschaftlichen Disziplin herangezogen wird. Diese konzeptuelle Beschränkung lässt sich auf Olsens ontologisches Kohärenzprinzip zurückführen. Der Ausdruck taugt nicht zur Benennung einer sinnvollen wissenschaftlichen Disziplin. Weder Fragestellungen noch die zur Erforschung eingesetzten Methoden unterscheiden sich hinreichend z. B. von der Wirtschaft Frankreichs oder Amerikas, um eine eigene Subdisziplin ‘Wissenschaft der deutschen Wirtschaft’ zu etablieren.[24] Dies ist anders in den Fällen unter (38): Hier bietet das komplexe Konzept ‘Wirtschaft von Deutschland’ eine sinnvolle Spezifikation der Domäne, für die Zahlen bzw. Studien erhoben werden.
deutsche Wirtschaftszahlen, deutsche Wirtschaftsstudien
Lesart 1: Zahlen / Studien zur Wirtschaft Deutschlands
Lesart 2: In Deutschland erhobene Zahlen / Studien zur Wirtschaft
Dies ist eine Form der Beschränkung, die bei der Interpretation von relationalen Adjektiven und NN-Komposita wirksam ist. Es kommen nur solche pragmatischen Spezifikationen in Betracht, die zu sinnvollen, benennungstauglichen Konzeptkombinationen führen.
Bleibt schließlich die Frage nach dem Umgang mit fragwürdigen Kombinationen vom Kaliber des eingangs erwähnten Beispiels?ambulanter Versorgungsauftrag aus Bergmanns Belegkorpus, die je nach Kontext nicht ganz so klaglos akzeptiert werden. Was ist hier das Problem? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass als fragwürdig eingeschätzte Kombinationen von NN-Komposita mit relationalen Adjektiven mit der Lupe zu suchen sind. Meist lässt sich für diese Konstellationen eine sinnvolle pragmatische Spezifikation finden. Nun ist erstaunlich, dass dies eigentlich auch bei ambulanter Versorgungsauftrag gelingen sollte; s. die Ableitung in (39).
ambulanter Versorgungsauftrag
Auftrag:
Vereinbarung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer über eine auszuführende Arbeit
Versorgung: s. (32b)
Bereitstellung von Gütern für einen Empfänger durch einen Agens
Versorgungsauftrag:
Vereinbarung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer über eine auszuführende Arbeit, wobei die Vereinbarung irgendwie (RNN) mit der Bereitstellung von Gütern für einen Empfänger durch einen Agens in Verbindung steht
ambulanter Versorgungsauftrag: SF
Vereinbarung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer über eine auszuführende Arbeit, wobei die Vereinbarung irgendwie (RNN) mit der Bereitstellung von Gütern für einen Empfänger durch einen Agens in Verbindung steht und (RADJ) zu einer Dienstleistung, die nicht stationär erfolgt
ambulanter Versorgungsauftrag: CS
Vereinbarung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer über die nicht stationäre Bereitstellung von Gütern
Unter (39e) sind die kompositionalen Vorgaben für die Interpretation angegeben; (39f) liefert eine pragmatische Spezifikation, die das in (25) formulierte Sparsamkeitsgebot optimal erfüllt. Besser geht’s nicht! Was ist dann aber das Problem bei (39)? Warum wird der Ausdruck als fragwürdig eingestuft? Meine These ist, dass die mit (39f) vorgenommene Verkopplung von Bedeutungsbestandteilen zwar ein sinnvolles Konzept herausbildet, dass dabei aber zu viele im sprachlichen Ausgangsmaterial angelegte Argumentpositionen offen bleiben, und dass sich deswegen kein hinreichend klar konturiertes Konzept herausbildet, das seiner Benennungsfunktion zufriedenstellend gerecht werden könnte. Wir erfahren bei ambulanter Versorgungsauftrag nichts über Auftraggeber und Auftragnehmer; wir wissen nichts Näheres über Versorger und Versorgte; und vor allem erhalten wir keine Information über die Art der Güter, um die es geht. Unterstützung dafür, dass es die Vielzahl der verbleibenden Lücken ist, die dem Ausdruck eine geringere Akzeptabilität einträgt, erbringt schon eine kurze Sichtung der Verwendungskontexte, in denen der Ausdruck ambulanter Versorgungsauftrag tatsächlich auftritt. Interessanterweise handelt es sich dabei zumeist um hochoffizielle Texte: Fachartikel, Informationsbroschüren, ja sogar juristische Texte. Eine kleine Auswahl ist in (40) angegeben.
Die Betzdorfer Gemeinschaftspraxis hat von der Kassenärztlichen Vereinigung den ambulanten Versorgungsauftrag in Sachen Diagnostische Radiologie für den Kreis Altenkirchen.
(RHZ10/MAR.00580 Rhein-Zeitung, 02.03.2010; Modernste Technik in Betzdorf)
Benötigt werden die radiologischen Leistungen nicht nur im Krankenhaus, sondern die Praxis für Radiologie nimmt als Teil des Medizinischen Versorgungszentrums Pritzwalk auch weiterhin den vertragsärztlichen und damit ambulanten Versorgungsauftrag in der Region wahr.
(MAG16/NOV.06706 Märkische Allgemeine, 14.11.2016; Freundliche Übernahme)
Wenn nun ein Patient mit starken Schmerzen am Nachmittag in einer Praxis anruft und entweder der bloße AB-Hinweis auf Abwesenheit oder gleich auf das Krankenhaus zu hören ist, wird er vielleicht das nächste Mal direkt ins Krankenhaus gehen. Das hat 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche geöffnet. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch unser ambulanter Versorgungsauftrag für den ganzen Tag gilt, nur von 19:00 bis 7:00 Uhr (bzw. mittwochs und freitags ab 14:00 Uhr) ist der Kassenärztliche Bereitschaftsdienst ersatzweise zuständig.
(https://www.kvs-sachsen.de/mitglieder/kvs-mitteilungen/2017/03-2017/berufs-und-gesundheitspolitik/ [zuletzt abgerufen 10.04.2019])
Im Gegensatz zu internationalen Standards obliegt deutschen Kinderkliniken nur die stationäre Behandlung von Kindern und Jugendlichen, weil der ambulante Versorgungsauftrag grundsätzlich der KV zusteht.
(Jennifer Koch, Hans Kudlich (Hrsg.), Ökonomie, medizinische Standards und rechtliche Haftung, Baden-Baden 2017, S. 60)
Anders ist dies bei der psychiatrischen Tagesklinik, die eine Ermächtigung als psychiatrische Institutsambulanz gem. § 118 Abs. 2SGB V hat, was sich nach dem Wortlaut der Norm (§ 118 Abs. 2 Satz 2SGB V) eindeutig als ein ambulanter Versorgungsauftrag darstellt.
(Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 16.05.2014 – L 4 KA 25/14 B ER; https://openjur.de/u/707417.html [zuletzt abgerufen am 10.04.2019])
In all diesen Fällen sind die in (39f) verbliebenen Informationslücken weitestgehend durch den Kontext gefüllt. Es geht um die medizinische, radiologische oder psychiatrische Versorgung von Patienten durch Krankenhäuser und Arztpraxen, und zwar um grundsätzliche Regelungen auf institutioneller Ebene mit Staat, Kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenkassen o. ä. als Auftraggebern. In einem solchen unterstützenden Kontext, der die Lücken schließt, kann der Ausdruck ambulanter Versorgungsauftrag seine Benennungsfunktion erfüllen.
Weitere Evidenz für die These liefern die Daten in (41) und (42). In (41) werden mit zusätzlichem Sprachmaterial einzelne der offenen Positionen gefüllt. Dies führt zu besseren Bewertungsergebnissen. (Diese Intuition wäre natürlich experimentell zu überprüfen.)
ambulanter {Medikamenten-, Patienten-, medizinischer, Kaffee-}Versorgungsauftrag[25]
In (42) ist das Kopfnomen Auftrag, dessen verbale Basis und Argumentstruktur noch durchscheint, durch Nomen ersetzt, die weniger zusätzliche Argumentpositionen eröffnen. Auch dies führt zu einer besseren Bewertung.
ambulante/r/s Versorgungs-{vertrag, dienst, gesetz, krise, zentrum, strategie, netz, lücke, ...}
Ich muss es hier bei diesen recht vorläufigen Hinweisen belassen. Ich verstehe diese Überlegungen als Anstoß, die Bedingungen, die hinter Olsens Prinzip der kohärenten Konzeptbildung (24) stehen, näher zu spezifizieren. Die obige Diskussion der Verbindung relationaler Adjektive mit NN-Komposita hat dazu Folgendes ergeben:
Komplexe Konzepte dienen zur Charakterisierung und Benennung von Klassen; s. Bücking (2009). Dabei muss der Benennungsaufwand in einem angemessenen Verhältnis zum Ertrag stehen.
Die Komplexbildung erfolgt sprachlich über unterbestimmte Kopplungsrelationen R, die kombinatorisch (z. B. morphologisch durch Kompositabildung oder syntaktisch bei kopfnaher Adjunktion) oder lexikalisch (z. B. durch relationale Adjektive) induziert sein können.
Die konzeptuelle Spezifikation der Kopplungsrelationen nutzt feinkörnige konzeptuelle Typeninformation.
Die konzeptuelle Spezifikation der Kopplungsrelationen sollte möglichst keine offenen Argumentpositionen zurücklassen.
Was also lässt sich zusammenfassend zur Kombination von relationalen Adjektiven und NN-Komposita sagen? Hier treffen zwei kopplungsaffine Ausdrücke mit jeweils großem interpretativen Spielraum zusammen und ermöglichen mit knappen, kompakten sprachlichen Mitteln die Herausbildung und Benennung eines komplexen Konzepts. Ihre Bedeutungskonstitution erfolgt strikt kompositional; die pragmatische Spezifikation ihrer inhärenten semantischen Unterbestimmtheit orientiert sich an dem allgemeinen Sparsamkeitsgebot (25). Weder gibt es einen Konflikt zwischen morphosyntaktischer und semantischer Strukturbildung noch braucht es Eingriffe in die Mechanismen der Syntax-Semantik- oder Semantik-Pragmatik-Schnittstelle. Die Verbindung von relationalen Adjektiven mit NN-Komposita bietet vielmehr ein interessantes sprachliches Fenster zur Bildung von komplexen Konzepten.
8 Qualitative Adjektive + NN-Komposita
Qualitative Adjektive finden sich unter den in der Literatur diskutierten Klammerparadoxie-Kandidaten recht selten. Bergmanns (1980) Sichtung ergab, dass bei ihnen immer ein doppelter Bezug des Adjektivs sowohl auf den Kopf als auch auf den Nicht-Kopf des Kompositums gegeben ist (Klasse B); s. die Diskussion zu den Beispielen in (5). Meine These besagt, dass sich die qualitativen Adjektive – ebenso wie die relationalen – ganz regulär ausschließlich auf das (vom Kopf eingebrachte) referenzielle Argument des Gesamtkompositums beziehen. Diesem fügen sie strikt kompositional eine zusätzliche Eigenschaft hinzu. Die Komposition für die Kombination eines NN-Kompositums mit einem qualitativen Adjektiv folgt damit dem allgemeinen Muster in (43).
a. | [[N1N2]]: | λx [N2 (x) & RNN (x, y) & N1 (y)] | s. (22), (30a) |
b. | [[Q-Adj]]: | λa [Q (a)] | s. (20c) |
c. | [[Q-Adj N1N2]]: | λx [N2 (x) & RNN (x, y) & N1 (y) & Q (x)] | s. (20)/(21) |
Dieser Schritt – also das Beharren auf Kompositionalität in strengstem Sinne (ohne Eingriffe in die Syntax-Semantik-Schnittstelle à la Larson oder Egg) – liefert unmittelbar eine Erklärung, warum die von der Sprachkritik so gerne warnend bemühten Scherzbildungen tatsächlich ausgeschlossen sind; s. die Diskussion zu (4). In all diesen Fällen erfüllt das referenzielle Argument des komplexen Nomens nicht die Selektionsbeschränkungen des Adjektivs. Es liegt schlichte Typeninkompatibilität vor, und damit sind die Voraussetzungen für eine reguläre Bedeutungskomposition nicht erfüllt. Dies sei in (44) exemplarisch an vierstöckiger Hausbesitzer vorgeführt.
Gemäß (44b) selegiert das Adjektiv vierstöckig Argumente vom Typ artifact. (Gebäude, Vehikel, Torten, Etageren, Skulpturen usw. können mehrstöckig sein.) Und es drückt die Eigenschaft aus, aus vier Stockwerken zu bestehen. (Die Funktion ‘|x|’ liefert die Kardinalität von x.) Der Kompositionsversuch in (44c) scheitert, weil das referenzielle Argument von Hausbesitzer nicht den Typanforderungen des Adjektivs genügt: Für ‘Artefakt’ und ‘Mensch oder Institution’ gibt es keinen gemeinsamen Nenner (artifact ⊓ (human ⊔ inst) = ⊥). Die Komposition des Ausdrucks mündet in eine semantische Typverletzung. Es gibt (in unserer Welt) keine sinnvolle Belegung der Variable x. Dabei spielt es gar keine Rolle, dass das komplexe Nomen intern über ein weiteres Argument y verfügt, das die Selektionsanforderungen des Adjektivs ideal erfüllen würde. Dieses Argument ist kompositional nicht zugänglich. Der Ausdruck vierstöckiger Hausbesitzer ist aus dem gleichen Grund semantisch abweichend wie morscher Saft in (21f). Dies hat nichts mit Kopf- oder Nicht-Kopf-Bezug bei Komposita zu tun, sondern es geht schlicht um semantische Typenkompatibilität als Voraussetzung für die Anwendung eines Prädikats auf sein Argument.
Damit ergibt sich auch eine simple Erklärung für die Fälle, die Beard (1991) mit seiner konzeptuellen Analyse Probleme bereiteten; s. die Diskussion zu (19) in Abschnitt 3.3. Für Beard, der den unmittelbaren Zugriff des Adjektivs auf die interne Konzeptstruktur des Nomens vorsieht, bleibt es ein Rätsel, warum in Ausdrücken vom Typ silberner/verkratzter/geliehener/teurer Flötenspieler die vom Adjektiv bezeichnete Eigenschaft nicht auf das involvierte Musikinstrument bezogen werden kann. Der hier entwickelte kompositionale Rahmen ist kombinatorisch viel strikter ausgelegt und erfasst die gegebenen Beschränkungen von vorne herein: Die Adjektive prädizieren ausschließlich über das referenzielle Argument des Nomens. Es ist der Musiker, dem die Eigenschaft zugewiesen wird, aus Silber zu sein, verkratzt, geliehen oder teuer. Die Flöte kommt kompositional nie ins Spiel. In diesem Zusammenhang sei an Bergmanns (1980) wichtige Beobachtung der grundsätzlich geforderten Verträglichkeit des Adjektivs mit dem Kopfnomen bei sämtlichen Klammerparadoxie-Kandidaten erinnert und die computerlinguistische Bestätigung der Verträglichkeitshypothese durch Dima et al. (2017); s. Abschnitt 2. Diese Verträglichkeitsannahme folgt aus der hier vorgeschlagenen Analyse unmittelbar. Dabei gilt nicht nur Bergmanns abgeschwächte Forderung, dass es im Prinzip möglich sein muss, das Adjektiv auf das referenzielle Argument des Kopfnomens anzuwenden, sondern genau dies geschieht zwingend.
So weit die Beschränkungen. Was folgt aus der in (43) skizzierten Analyse für die Kombination von NN-Komposita mit qualitativen Adjektiven für Bergmanns Klasse B? In all diesen Fällen sorgt die kompositionale Maschinerie allein für die Zuweisung der vom Adjektiv bezeichneten Eigenschaft auf das vom Kopfnomen stammende referenzielle Argument. Alle weitergehenden Annahmen beruhen – wie ich nun zeigen will – auf zusätzlichen Schlussfolgerungen unter Hinzuziehung von Weltwissen. Den Ansatzpunkt hierfür liefert Bergmanns (1980: 254–255) Feststellung, dass es nur ganz spezielle Konstellationen sind, in denen ein NN-Kompositum in Verbindung mit einem qualitativen Adjektiv als Klammerparadox gedeutet werden kann. Zum einen sind dies Fälle, in denen die Relation RNN zwischen Kopf und Nicht-Kopf als Materialrelation gedeutet wird, wie bei morsche Holzverschalung oder schwarzer Velourshut. Oder der Informationsgehalt des Kopfnomens ist laut Bergmann gering, wie bei absturzgefährdete Felspartien oder gehobene Preisklasse. Hier trägt der Kopf wenig zum deskriptiven Gehalt des Kompositums bei, sondern dient vielmehr der ontologischen Typisierung. In (45) und (46) sind weitere Belege aus Bergmanns Korpus aufgeführt. Das heißt, der Eindruck, dass ein qualitatives Adjektiv sich auf den Nicht-Kopf des Kompositums bezieht, ist an spezielle pragmatische Spezifizierungen der nominalen Relation RNN geknüpft: In (45) ist dies die Materialrelation; für (46) sei RNN vorläufig als Typisierungsrelation charakterisiert.
RNN: Materialrelation
morsche Holzverschalung, schwarzer Velourshut, dunkler Lederbezug, blauer Stofffetzen
RNN: Typisierungsrelation
absturzgefährdete Felspartien, heikler Solopart, verschiedene Stiltypen, kostengünstiges Bauverfahren, positive Wesenszüge, verschiedene Fachrichtungen, gehobene Preisklasse, vertrauenserweckender Farbton
Betrachten wir die beiden Konstellationen der Reihe nach. Im Falle der Materialrelation bei Beispielen wie (45) liegt das konzeptuelle Räsonnement auf der Hand. Es gehört zu unserem Wissen über die Welt, dass physikalische Objekte und das Material, aus dem sie bestehen, typischerweise Farb- und Konsistenzeigenschaften miteinander teilen, aber z. B. nicht Form- oder Preiseigenschaften. Deshalb können wir z. B. bei lange Holzverschalung oder teurer Velourshut nicht auf die Länge des eingesetzten Holzes bzw. den Preis des Velours schließen. In (47) ist der hier relevante Weltwissensausschnitt in Form einer konzeptuellen Default-Regel notiert. (‘>’ ist das schwache Konditional; s. Asher (2011) zu formalen Details der TCL-Umsetzung.)
Wissen über Materialeigenschaften von physikalischen Objekten:
α ⊑ phys_obj & β ⊑ substanz & material(α, β) & γ(α) ⊑ farbe ⊔ konsistenz >
Die Regel in (47) besagt: Wenn α ein Subtyp von phys_obj und β ein Subtyp von Substanz ist und α und β in einer Materialrelation zueinander stehen; wenn ferner γ von α der Subtyp einer Farb- oder Konsistenzeigenschaft ist, dann gilt typischerweise, dass β die gleichen Farb- und Konsistenzeigenschaften hat wie α.
Es ist das in (47) umrissene konzeptuelle Wissen über den Aufbau der Dinge in der Welt, das uns in (45) dazu führt, die vom Adjektiv bezeichnete Eigenschaft auch auf den Referenten des Nicht-Kopfes zu beziehen. Grammatik und Komposition sind darin nicht involviert.
Was ist mit den Fällen in (46)? Es fällt auf, dass die betreffenden Kopfnomen hier grundsätzlich relational sind und dabei eine abstrakte Typisierungsrelation einführen, über die der Referent des Kompositums individuiert oder klassifiziert wird. Das Nomen Farbton verweist auf eine bestimmte Nuance einer Farbe; Stiltyp oder Preisklasse fassen hinreichend ähnliche Stile bzw. Preise jeweils zu einer gemeinsamen Klasse zusammen. Allerdings zeigt ein genauerer Blick, dass Bergmanns Annahme, das Adjektiv könne bei (46) auf den nominalen Nicht-Kopf bezogen werden, etwas vorschnell getroffen scheint. Sagt man von jemandem beispielsweise, dass er positive Wesenszüge hat, so attestiert man ihm damit nicht automatisch ein positives Wesen. Ein kostengünstiges Bauverfahren führt nicht zwingend zu einem kostengünstigen Bau; und wenn Partien eines Felsens absturzgefährdet sind, so gilt deshalb nicht gleich der ganze Fels als absturzgefährdet.[26] In all diesen Fällen erlaubt der sprachliche Ausdruck nur die kompositional gestützte Schlussfolgerung, der zufolge das Adjektiv dem Referenten des Gesamtkompositums eine Eigenschaft zuweist. Eine entsprechend bereinigte Zusammenstellung identifiziert zwei Konstellationen, die eine Übertragung der vom Adjektiv bezeichneten Eigenschaft auf den Referenten des Nicht-Kopfes unterstützen. Dies ist die Realisierungsrelation zwischen Gattungen und ihren Instanzen (auch: type-token) und die Subsumptionsrelation; s. (48) und die in (49) formulierten konzeptuellen Regeln.
RNN: Typisierungsrelation
RNN: Realisierungsrelation
verschiedene Stiltypen, gehobene Preisklasse, schnell wachsende Weizensorte
RNN: Subsumptionsrelation
vertrauenserweckender Farbton, korrigierte Textversion, kostengünstige Bauvariante
Wissen über type-token- und Subsumptionszusammenhänge zwischen Konzepten
α ⊑ kind & β ⊑ particular & realize (β, α) & γ(α) ⊑ property > γ(β) = γ(α)
β ⊑ α & γ(α) ⊑ property > γ(β) = γ(α)
Gemäß (49a) gilt: Wenn α ein Subtyp von kind ist (also ein Gattungskonzept) und β ein Subtyp von particular (also ein Individuenkonzept), welches als Realisierung von α ausgewiesen ist, dann treffen die auf α zutreffenden Eigenschaften typischerweise auch auf β zu. Wenn wir es beispielsweise mit einer gehobenen Preisklasse zu tun haben, so sind die darunter fallenden Preise ebenfalls gehoben.
(49b)besagt: Wenn β ein Subtyp von α ist, dann treffen die auf α zutreffenden Eigenschaften typischerweise auch auf β zu. Ein Farbton ist eine Farbe, eine Textversion ist ein Text usw. Das ermöglicht den Eigenschaftstransfer.
Die Auflistung der Typisierungsrelationen in (48) ließe sich gegebenenfalls noch vervollständigen. Ein weiterer Kandidat sind z. B. Klassifikatorrelationen wie in (48c).
RNN: Klassifikatorrelation
welker Salatkopf, trockener Holzscheit, dreckiges Kleiderbündel
Ob Klassifikatorrelationen als Spezialfall der unter (48) aufgeführten Typisierungsrelationen eingeordnet werden sollten, oder ob die entsprechende Schlussfolgerung über eine zugrundeliegende Materialrelation nach dem Muster in (45) erfasst werden sollte, wäre weiter zu untersuchen. Ich werde dies hier nicht vertiefen. Alle Konstellationen unter (48) zeichnet aus, dass das Kopfnomen hier eine ontologische Typisierungsrelation einführt, die gemäß dem Ökonomieprinzip (25) als RNN identifiziert wird. Jenseits dessen bringt das Kopfnomen kaum eigenen deskriptiven Gehalt ein. Wissen über die Organisation unseres Konzeptsystems, wie ich es in (49) exemplarisch skizziert habe, ermöglicht weitere Schlussfolgerungen im Hinblick auf die vom nominalen Nicht-Kopf eingebrachte konkretere Domäne.
Allen hier diskutierten Kombinationen von qualitativen Adjektiven mit NN-Komposita ist gemeinsam, dass der Bezug der vom Adjektiv bezeichneten Eigenschaft auf den Referenten des nominalen Nicht-Kopfes erst auf Ebene des Konzeptsystems hergestellt wird. Grammatik und Komposition sind nicht involviert. Nur bei ganz bestimmten Spezifizierungen der nominalen Kopplungsrelation RNN findet für geeignete Konzeptkonstellationen und Eigenschaften ein entsprechender Transfer statt. Der hier vorgestellte Ansatz betont die Arbeitsteilung zwischen Grammatik und Pragmatik und überfrachtet weder die eine noch die andere Seite mit Aufgaben, für die sie nicht ausgerüstet ist.
Abschließend will ich auf einen verbleibenden Klammerparadoxie-Kandidaten eingehen, der von den bisher analysierten Fällen abweicht. Das Ausgangsbeispiel ist die berühmt-berüchtigte geräucherte Fischplatte. Streng genommen sollte die Kombination ausgeschlossen sein, denn das von Platte eingebrachte referenzielle Argument des Kompositums erfüllt nicht die Selektionsanforderungen von geräuchert. Das Adjektiv verlangt Ausdrücke, die Lebensmittel bezeichnen (semantischer Typ: food). Diese Auflage wird von Platte (semantischer Typ: container) nicht erfüllt; s. die Diskussion zu Scherzbildungen à la geräucherter Fischladen in (4) und (44).
Anders als geräucherter Fischladen ist allerdings der Ausdruck geräucherte Fischplatte offenbar nicht gänzlich inakzeptabel (und findet sich auch nicht selten auf Speisekarten). Und während geräucherte Fischplatte noch Stirnrunzeln hervorrufen mag, sind die in (50) aufgeführten Kombinationen von Geschmacksadjektiven mit NN-Komposita, die Lebensmittelgefäße bezeichnen, weitgehend unauffällig, obwohl auch hier gegen die Selektionsforderungen des Adjektivs verstoßen wird.
deftige Wurstplatte, leckerer Salatteller, delikater Picknickkorb, pikante Chicoreeplatte, würziger Gulaschtopf, köstliche Humus-Schale, wohlschmeckende Pommes-Tüte
In allen Fällen unter (50) kann das Adjektiv nicht auf das Kopfnomen bezogen werden, sondern es bestimmt den vom Nicht-Kopf eingebrachten Referenten näher. Bei leckerer Salatteller etwa, ist es der Salat, der als lecker bezeichnet wird, und nicht der Teller. Dies unterscheidet die Beispiele in (50) von allen bislang diskutierten Fällen. Haben wir damit also endlich doch noch eine echte Klammerparadoxie aufgespürt, bei der die semantische Komposition gegen die morphosyntaktische Strukturbildung erfolgt? Nein! Die Beispiele in (50) lassen sich vielmehr als metonymische Uminterpretationen verstehen und als Coercion im Sinne von Asher (2011) modellieren.
Bei Coercion handelt es sich um einen in den kompositionalen Bedeutungsaufbau integrierten, lexikalisch lizenzierten Reparaturmechanismus zur Behebung kombinatorischer Konflikte. Wenn der reguläre Kompositionsprozess ins Stocken gerät, weil das Argument die Typanforderungen seines Prädikats nicht erfüllt, kann unter bestimmten Bedingungen dieser Konflikt behoben werden, indem die konfliktbehaftete Verbindung sozusagen „gekittet“ und die dazu erforderliche semantische Füllmasse eingefügt wird. Coercion ist damit keine bloße Angelegenheit der Pragmatik, sondern wird in den Kompositionsprozess intergriert – immer vorausgesetzt, dass die Reparaturoption in dem betreffenden Prädikat lexikalisch angelegt ist. Das heißt, bereits im Lexikon muss festgelegt sein, ob ein Lexem über coerciven Spielraum zur Lösung kombinatorischer Konflikte verfügt oder nicht und welche lexemspezifischen Auflagen dabei zu berücksichtigen sind. Coercion liegt zum Beispiel bei Ausdrücken wie eine schnelle Zigarette vor, wo nicht die Zigarette schnell ist, sondern ein als semantischer Kitt einzufügendes unterbestimmtes Ereignis, welches pragmatisch als das Rauchen der Zigarette spezifiziert werden kann; s. Maienborn (2017; 2019a) zu weiteren Erläuterungen und Illustrationen sowie Asher (2011) und Bücking und Maienborn (2019) zur Modellierung von Coercion innerhalb von TCL. Für die Ausdrücke in (50) gibt es zwei Ansatzpunkte für eine mögliche Coercion-Analyse.
Erstens: Es findet eine metonymische Uminterpretation des Kompositums statt. Danach bezeichnen Ausdrücke wie Gulaschtopf, Salatteller, Wurstplatte gar keine Gefäße mehr – sie referieren nicht auf Töpfe, Teller, Platten –, sondern sie verweisen auf die betreffenden Gerichte. Dies ist ein Fall von destruktiver, nicht-lokaler Coercion beim Nomen; s. Asher (2011), Bücking und Maienborn (2019). Der semantische Typ des Nomens wird verändert von container zu food. Geschmacksadjektive wie in (50), die ein Argument vom Typ: food verlangen, können dann völlig regulär applizieren. Wiederum entpuppt sich die vermeintliche Klammerparadoxie als kombinatorische Illusion.
Zweitens: Für Ausdrücke wie delikater Picknickkorb, köstliche Humus-Schale oder auch leckerer Kuchenteller in (51a) scheint die metonymische Lösung weniger geeignet. Die Komposita bezeichnen weiterhin Gefäße (semantischer Typ container).[27] In diesem Fall bietet sich eine lokale, nicht-destruktive Coercion-Analyse an, die beim Adjektiv ansetzt: Die betreffenden Geschmacksadjektive verlangen regulär ein Argument vom Typ: food, haben aber einen gewissen coerciven Toleranzbereich, indem sie im Konfliktfall auch Argumente vom Typ container zulassen. In diesem Fall wird ein zusätzlicher Referent vom geforderten Typ food als Gefäßinhalt als semantischer Kitt eingefügt, und auf diesen kann das Geschmacksprädikat bezogen werden. Dies sind die kompositionalen Vorgaben an die Interpretation. Der Pragmatik obliegt es, eine plausible Spezifizierung des semantischen Kitts zu liefern, und gemäß dem Ökonomieprinzip (25) bietet sich der Nicht-Kopf als ideale Spezifizierung des inferierten Nahrungsmittels an; s. Bücking und Maienborn (2019) und Maienborn (2019a) zu den formalen Details im TCL-Rahmen. Der hier wesentliche Punkt ist, dass der Bezug des Adjektivs auf den Nicht-Kopf wiederum erst pragmatisch über das Präferenzprinzip (25) getriggert wird. Die Ausdrücke in (51b) eröffnen diese Option nicht. Hier bietet der Nicht-Kopf keine plausible pragmatische Spezifikation für das inferierte Nahrungsmittel.
leckerer Kuchenteller, delikater Picknickkorb, köstliche Humus-Schale
leckerer Kinderteller, delikater Präsentkorb, köstliche Oster-Schale
Während also bei den Beispielen in (51a) der Nicht-Kopf qua Präferenzprinzip (25) eine plausible pragmatische Spezifikation für den zur Konfliktresolution benötigten semantischen Kitt liefert, bleibt dies in (51b) offen. Wir erfahren z. B. bei leckerer Kinderteller nichts über die leckere Nahrung auf dem Kinderteller. Dennoch sind die Ausdrücke in (51a) und (51b) gleichermaßen zulässig.
Die obigen Überlegungen sprechen dafür, dass Geschmacksadjektive vom Typ in (51) mit einem coerciven Anpassungsspielraum ausgestattet sind, der es ihnen erlaubt, statt des eigentlich geforderten Nahrungsmittel-Arguments auch Gefäß-Ausdrücke zu akzeptieren. Für ein Adjektiv wie geräuchert gilt dies offenbar nicht – zumindest nicht für den Großteil der Sprachgemeinschaft. Die allesamt inakzeptablen Belege in (52) deuten darauf hin, dass Adjektive, die Zubereitungsarten von Essen spezifizieren, kein entsprechendes coercives Anpassungspotenzial haben.
*selbstgebackener Kuchenteller, *gekochte Eierplatte, *frisch gepresster Saftkrug, *angefaulter Obstkorb, *geschälte Möhrentüte, *gedämpfte Kartoffelschüssel, *gesalzene Humus-Schale
Die Adjektive in (52) tolerieren keine lokale Reparatur, bei der auf der Basis des gegebenen Gefäßausdrucks das geforderte Nahrungsmittel inferiert würde. Dies unterstreicht die lexikalische Verankerung von Coercion.
So weit eine grobe Skizze von zwei coerciven Lösungsstrategien, deren genaue Anwendungsbedingungen und Umsetzungsdetails noch auszubuchstabieren wären; s. hierzu Bücking und Maienborn (2019). Zusammenfassend können wir an dieser Stelle festhalten, dass auch die coerciven Fälle vom Typ (50)/(51a) dem für qualitative Adjektive festgestellten allgemeinen Muster folgen: Es gibt keinen kompositional hergestellten Bezug des Adjektivs auf den Nicht-Kopf des Kompositums. Kompositionaler Anker ist grundsätzlich das vom Kopf eingebrachte referenzielle Argument des Gesamtkompositums. Der Eindruck eines Nicht-Kopf-Bezugs entsteht durch zusätzliche pragmatische Inferenzen, die an spezielle Konstellationen geknüpft sind und entweder Konzeptzusammenhänge betreffen (wie die Objekt-Materialrelation oder type-token- bzw. Subsumptionsbeziehungen) oder lexikalisch lizenzierte Anpassungsspielräume. Auch bei den qualitativen Adjektiven erweist sich die vermeintliche Klammerparadoxie als kombinatorische Illusion.
9 Fazit
Was tun mit Klammerparadoxien? Wie umgehen mit offenbar widersprüchlichen Strukturzuordnungen zwischen Morphosyntax und Semantik bei der Verbindung von Adjektiven mit NN-Komposita? Dies war die Ausgangsfragestellung des vorliegenden Aufsatzes. Die hier gelieferte Antwort lautet: Es gibt sie nicht. Bei dem Eindruck, dass sich das Adjektiv entgegen den Vorgaben der Morphosyntax semantisch unmittelbar auf den Nicht-Kopf des Kompositums bezieht, handelt es sich um eine kombinatorische Illusion. Vielmehr knüpft das Adjektiv in allen Fällen ganz regulär an das durch den Kopf eingebrachte referenzielle Argument des Gesamtkompositums an und liefert darüber eine zusätzliche Prädikation. Erst im Zuge pragmatisch getriebener konzeptueller Spezifikationen kommt es zu Schlussfolgerungen im Hinblick auf den Nicht-Kopf. Die hier untersuchten Klammerparadoxien stellen sich danach als eine Fata Morgana dar, die durch die Überblendung von semantischen und pragmatischen Prozessen entsteht. Unter der hier eingenommenen Perspektive unterstreichen die vermeintlichen Klammerparadoxien damit die Wirksamkeit des Fregeschen Kompositionalitätsprinzips. Auch dort, wo sie aus den Angeln gehoben scheint, erweist sich Kompositionalität als grundlegender kombinatorischer Mechanismus für die Bedeutungskonstitution natürlicher Sprache.
Die hier vorgeschlagene Lösung zeichnet aus, dass sie keinerlei Eingriffe in die Syntax-Semantik-Schnittstelle vornehmen muss. Es braucht keine Verkomplizierung der kompositionalen Maschinerie, wie dies die diskutierten Lösungsansätze von Larson (1998), Egg (2006) und Beard (1991) vorsehen, indem sie einen erweiterten Bezugsspielraum für Modifikatoren kompositional implementieren (und sich damit das Problem der Übergenerierung einhandeln). Vielmehr genügt die ganz schlichte klassische Modifikationsanalyse, wonach Modifikatoren ein zusätzliches Prädikat über das referenzielle Argument ihres Modifikanden einbringen.
Auch die Annahmen zur Semantik-Pragmatik-Schnittstelle sind einfach und unabhängig begründet. Zwei wichtige Hebel sind hier zum einen die feinkörnige Typisierung von semantischen Variablen – worüber der Brückenschlag zu unseren reichhaltigen konzeptuellen Wissensressourcen in der Semantik angelegt ist – und zum anderen der strukturelle Einbau freier Variablen, mit denen der Auftrag zur konzeptuellen Spezifikation einhergeht. Als wesentlicher Steuerungsmechanismus dient dabei das in (25) formulierte Ökonomieprinzip, dem zufolge freie Variablen präferiert durch sprachlich explizit eingeführte Konstanten instanziiert werden – sofern diese die gegebenen Auflagen erfüllen. In gewisser Weise liegt hier der Schlüssel für die Lösung des Klammerparadoxie-Rätsels, bzw. die Erklärung für das Auftreten der Klammerparadoxie-Illusion: Das durch den Nicht-Kopf des Kompositums explizit eingebrachte Material bietet sich unter Ökonomiegesichtspunkten als idealer Instanziierungskandidat an und wird, wann immer es die sonstigen kompositionalen und kontextuellen Auflagen gestatten, herangezogen werden. Dies unterstreicht das Primat des Kompositionalitätsprinzips als grundlegenden Kombinationsmechanismus für die Bedeutungszuordnung natürlicher Sprache. Die Suche nach kontextuell geeigneten Interpretationen bewegt sich nur innerhalb des kompositional abgesteckten Rahmens; sie kann die Komposition nicht nachträglich aus den Angeln heben. Womit wir es im Kern zu tun haben, ist die ökonomische pragmatische Spezifikation einer strikt kompositional aufgebauten Struktur mit freien Variablen.
Über den engeren Gegenstand hinaus eröffnet die Untersuchung neue Einsichten und Explorationsmöglichkeiten für das noch wenig verstandene Gebiet der Konzeptbildung. Nach den hier angestellten Überlegungen anknüpfend an Olsen (2004; 2012) und Bücking (2009) wird die Bildung komplexer Konzepte semantisch über unterbestimmte Kopplungsrelationen R erfasst, die bei Komposita kombinatorisch eingebracht werden (Rnn) und bei relationalen Adjektiven lexikalisch induziert sind (Radj). Die konzeptuelle Spezifikation der Kopplungsrelationen folgt wiederum dem Ökonomieprinzip (25) und nutzt feinkörnige konzeptuelle Typeninformation zur Schaffung und Benennung komplexer Konzepte, die zur Kategorisierung von Entitäten unter der kontextuell gegebenen Zielsetzung taugen.
Wagen wir als Ausblick die Frage: Was wird aus Larsons schöner Tänzerin? Die eingehende Analyse des (vermeintlichen) Nicht-Kopfbezugs von Adjektiven bei Agens-Derivationen u. ä. war nicht der eigentliche Gegenstand des vorliegenden Artikels und soll hier auch nicht auf der Zielgeraden geleistet werden. Dennoch prägt Larsons Analyse die Klammerparadoxie-Diskussion und wurde deshalb hier vorgestellt und auf ihre Stärken und Schwächen hin abgeklopft. Was lässt sich also umgekehrt aus meiner Analyse der Kombination von Adjektiven mit NN-Komposita für den Derivationsfall schlussfolgern? Wie könnte ein strikt kompositionaler Ansatz Larsons nicht-intersektive Lesarten erfassen? Das Adjektiv beschränkt nach dem hier Gesagten grundsätzlich den durch den derivationellen Kopf eingebrachten Referenten näher. Aber wie es das genau macht, da bieten sich Adjektiven – je nach lexikalischer Ausstattung – verschiedene Möglichkeiten. Im Falle der schönen Tänzerin etwa wäre zu prüfen, ob hier semantische Unterbestimmtheit im Hinblick auf die Domäne, in Bezug auf die ein ästhetisches Urteil abgegeben wird (Aussehen, Bewegung, ...) eingebaut ist. Als Alternative kommt eine Coercion-Analyse für evaluative Adjektive in Betracht, der zufolge Adjektive wie schön, elegant, gerecht usw. grundsätzlich Argumente verlangen, die eine zu bewertende Fähigkeit oder Eigenschaft bezeichnen, im Konfliktfall aber auch Argumente vom Typ ‘Individuum mit zu bewertender Fähigkeit oder Eigenschaft’ tolerieren. Kurz: Die hier entwickelte Analyse für die Kombination von Adjektiven mit NN-Komposita mag als Anregung dienen, auch für den Derivationsfall eine schlichte kompositionale Lösung in Betracht zu ziehen, d. h. die Syntax-Semantik-Schnittstelle unangetastet zu belassen. Stattdessen wäre das Augenmerk – anders als die in der Literatur vertretenen N-Analysen dies tun – auf die Semantik des Adjektivs zu richten. Mit semantischer Unterbestimmtheit und Coercion bietet die Semantik-Pragmatik-Schnittstelle zwei allgemeine Anpassungsmechanismen zur Modellierung interpretativer Flexibilität, die sich auch hier bewähren können.
Danksagung
Dieser Beitrag ist im Rahmen des DFG-Projekts “Kombinatorische Bedeutungsanpassungen an der Semantik-Pragmatik-Schnittstelle” im Tübinger SFB 833 “Bedeutungskonstitution” sowie im Zusammenhang mit dem Graduiertenkolleg GK 1808 “Ambiguität” entstanden. Ich danke Sebastian Bücking, Frauke Buscher, Natascha Elxnath, Judith Lauterbach, Julia Lukassek, Sarah Metzger, Martin Schäfer, Regina Zieleke und Sarah Zobel für viele gemeinsame Diskussionen und die Kommentierung einer Rohfassung des Manuskripts. Mein Dank geht auch an zwei anonyme Gutachter sowie die ZS-Redaktion für ihre sehr hilfreichen Kommentare.
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© 2020 Maienborn, publiziert von De Gruyter
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Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Artikel
- Data convergence in syntactic theory and the role of sentence pairs
- Wider die Klammerparadoxie: Kombinatorische Illusionen beim Adjektivbezug auf NN-Komposita
- What verb-final and V2 have in common: evidence from the prosody of German restrictive relative clauses in adults and children
- Rezension
- Karsten Schmidtke-Bode, Natalia Levshina, Susanne Maria Michaelis, Ilja A. Seržant (Eds.).Explanation in Typology. Diachronic Sources, Functional Motivations and the Nature of the Evidence
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