Zusammenfassung
In diesem Beitrag schlage ich eine Beobachtungsperspektive vor, die es ermöglicht, Gewalt als Konstituens des Sozialen, also als Vergesellschaftungsmodus zu beobachten. Hierfür werden drei Richtungen der neueren soziologischen Gewaltdiskussion zusammengeführt, die bislang ohne Bezug aufeinander nebeneinanderher laufen. Dazu gehören zum einen die Thematisierung von Gewalt als unmittelbare leibliche Interaktion, als moralische Handlung sowie die Diskussion um die Bedeutung des Dritten für Gewalt. Zugleich verbinde ich die Diskussion um Gewalt mit der Frage nach den Grenzen des Sozialen. Dabei verfolge ich die These, dass Gewalt i. S. von „vermittelter Unmittelbarkeit“ (Plessner) zu begreifen ist – nämlich als drittenvermitteltes symbolisch-institutionelles leibliches Agieren. Durch Gewalt stellen die Beteiligten die Gültigkeit normativer Erwartungen in einer generalisierten Weise füreinander dar. Damit stellen sie zugleich die Grenzen der Sozialwelt dar, denn der Gewaltakt beinhaltet notwendigerweise, dass der Adressat der gewalttätigen Handlung eine soziale Person ist; nur eine solche kann normative Erwartungen verletzen bzw. deren Gültigkeit darstellen. Wenn man Gewalt im Sinne vermittelter Unmittelbarkeit analysiert, führt dies auf die Analyse von Verfahrensordnungen der Gewalt. Denn diese vermitteln je unmittelbare Gewalthandlungen.
Abstract
This article unfolds a new perspective on violence, which allows for violence to be understood as a basic mode of sociation. To achieve this, I combine different strands of the sociological discussion on violence, which often do not interrelate. In particular I refer to three strands: violence as immediate embodied interaction, the relevance of third parties for the understanding of violence and the morality of violence. Further, I will relate these discussions on violence to the analysis of the borders of the social world. I pursue the hypothesis that violence can be conceived of as “mediated immediacy” as termed by Helmuth Plessner. Violence should be understood as an immediate act, which is symbolically mediated through the reference to mediating third parties. In using violence, actors display in a symbolically generalized way that both the addressee of the violent act and the actor must be recognized as social persons, who are able to breach normative expectations or assert the validity of the violated normative expectations. If violence is understood as mediated immediacy, the analytical focus is broadened. Not only the immediate act is included, but also the mediating procedural order of violence.
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Anmerkung
Der Artikel ist in einem Diskussionskontext mit Jonas Barth, Johanna Fröhlich, Tina Schröter, Andreas Tilch und Paul Mecheril entstanden. Ihnen möchte ich für Kritik und Diskussion meiner Ideen danken. Das Manuskript hat im Weiteren eine bedenkenswerte Kritik von zwei anonymen GutachterInnen und den HerausgeberInnen erfahren. Ihnen schulde ich Dank für die Möglichkeiten zur Verbesserung des Textes.
© 2017 by De Gruyter
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Neue Theorien des Rechtssubjekts
- Einleitung zum Themenschwerpunkt
- Relative Rechtssubjektivität
- Die Verdinglichung der Dinge
- Verfahrensordnungen der Gewalt
- Autonomie als Selbstreferenz
- Das Parlament der Körperfragmente
- Abhandlung
- Hängen die Ergebnisse der zweiten juristischen Prüfung vom Examensort ab?
- Droit et Société – oder der Pluralismus einer Zeitschrift für Theorie und Sozialwissenschaften des Rechts
- Rezensionen
- Lars Viellechner: Transnationalisierung des Rechts, Weilerswist, Velbrück, 2013
- Andrea Kretschmann, Regulierung des Irregulären. Carework und die symbolische Qualität des Rechts, Weilerswist, Velbrück Wissenschaft, 2016
- Werner Gephart (Hrsg.), Rechtsanalyse als Kulturforschung, 2 Bde., Schriftenreihe des Käte Hamburger Kollegs „Recht als Kultur“ Bd. 1 und Bd. 9, Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann, 2012 und 2015
- Peter Robson & Jennifer L. Schulz (ed.), A Transnational Study of Law and Justice on TV, Oxford & Portland, Hart Publishing, 2016
- Nachruf
- Erinnerungen an Dorothea Jansen (1956–2017)
- Richtlinien für Autorinnen und Autoren
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