Rezensierte Publikation:
Zu Fabian Heubel, Was ist chinesische Philosophie? Kritische Perspektiven, Hamburg: Meiner, 2021
Was ist chinesische Philosophie? ist ein Titel, der zugleich zu viel und zu wenig verspricht: Wer als normaler Leser zu diesem Buch greift, erwartet wahrscheinlich eine historische oder auch systematische Darstellung der großen philosophischen Denkrichtungen Chinas, etwa unterteilt in Konfuzianismus, Daoismus, Legismus etc.. Das bietet das Buch nicht – als wollte es sagen: chinesische Philosophie ist keine Sache der Vergangenheit und kein Gegenstand der Dogmengeschichte. Dafür bietet es etwas anderes, was weit über ein konventionell aufgebautes Angebot hinausgeht, aber nicht schon im Titel deutlich wird: Nämlich eine neuartige Fruchtbarmachung chinesischer Philosophie für den aktuellen Diskurs der Moderne. Heubels Arbeit, und dies gilt auch für seine vorangehenden Beiträge, ist ein überaus konsequenter Versuch, der Tatsache gerecht zu werden, dass dieser Diskurs spätestens mit den globalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und insbesondere dem Aufstieg Chinas nicht länger als ein westliches Selbstgespräch mit Echos in anderen Regionen der Welt geführt werden kann. Diese auf der Hand liegende Erkenntnis ist im Westen selbst, wo weiter vor allem Nabelschau betrieben wird, noch kaum angekommen, wobei es allerdings nicht nur eine uneingelöste Holschuld, sondern auch eine Bringschuld gibt: Es müssen zu den nicht-westlichen Anteilen an einer globalen Philosophie auch tatsächlich die Beiträge geschrieben werden, die sich nicht mangels Gehalts einfach beiseitelegen lassen. Heubels Buch ist, wie auch schon seine Chinesische Gegenwartsphilosophie von 2015, ein großer Schritt in diese Richtung, mit Argumenten, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollten, unabhängig davon, wieweit man sich ihnen anschließen möchte.
Das Buch entfaltet seine Thematik auf Basis einer feinfühligen, höchst anspruchsvollen Auseinandersetzung mit der modernen französischen und deutschen Philosophie – hier vor allem der Frankfurter Kritischen Theorie – auf der einen Seite und der alten wie der modernen chinesischsprachigen Philosophie auf der anderen. Es ist getragen von einem normativen Interesse, in dem ich mich dem Verfasser sehr verbunden fühle. Es speist sich vor allem aus der Kritischen Theorie, aber auch aus dem von dieser selbst verkannten und hier eindrucksvoll verteidigten kritischen Geist chinesischer Philosophien.
Heubel knüpft in seinen Überlegungen zur Moderne insofern an die westliche Debatte an, als er sich aus guten Gründen nicht auf das Terrain einer eigenen chinesischen oder ostasiatischen Moderne begibt, der, wie es heute das offizielle China möchte, wie es aber auch weite Teile der chinesischen Humanwissenschaften und der westlichen Chinastudien sehen, ein ganz anderes Wertesystem zugrunde liegen soll als das sogenannte „westliche“ – was im Übrigen in ein von Heubel zu Recht als „ungenügend“ (S. 96) abgelehntes eingeschränkt komparatistisches Verständnis globaler Philosophie führt,[1] wenn nicht zu einem Kulturkampf gegen die Aufklärung im Namen Chinas. Heubel hält an der Subjektivität als der Grundkategorie der Moderne – so hat es bekanntlich Hegel gesehen – fest. Dies passt allerdings kaum zur etwas trendigen Rede von der „Provinzialisierung“ Europas (S. 160), als ob die hier entwickelten Begriffe und Theorien nicht nach wie vor global eine tragende Rolle spielten, gerade auch in der Kritik des Eurozentrismus, zum Verdruss von deren Protagonisten (insofern sie es nicht vorzuziehen, das Problem einfach zu übersehen). Dass in der „hybriden“ (Heubel) Weltlage die Diskussion der Moderne nicht mehr unter der Hoheit des Westens stehen kann, wie dieser selbst in großen Teilen noch immer meint, heißt nicht, dass seine Beiträge dadurch bereits entwertet wären. Hybridität würde zudem bedeuten, dass nicht nur der Westen nicht mehr allein aus sich selbst schöpfen kann, sondern dass auch auf chinesischer Seite eigentlich nicht mehr mit dem von Heubel offenkundig favorisierten problematischen Gedanken einer quasi-autarken „Selbsttransformation“ – in Analogie zur individuellen „Selbstkultivierung“ („Selbst“ im genitivus objectivus und subjectivus!) – gespielt werden kann. Ich werde hierauf zurückkommen.
Subjektivität nun, das ist der Kern des Buches, möchte Heubel mit Hilfe der chinesischen Philosophie oder, weiter gefasst, Gelehrtenkultur in einer solchen Weise neu verstehen, dass die seit der frühen Moderne mit diesem „Prinzip“ (Hegel) verbundenen Probleme und seine disruptiven Folgen gemieden oder überwunden werden können. Insbesondere hierin, in der Frage der Subjektivität, berühren sich unsere Interessen und Themen, wobei ich mich selbst allerdings innerhalb der Leitplanken des westlichen Diskurses bewegt habe, angefangen bei den deutschen Idealisten und schon der Aufklärung, und die Problematik nicht auf die Ebene eines anderen „Paradigmas“ gehoben habe, wie Heubel es nun auf originelle Weise versucht. Ich selbst war demgegenüber primär zu zeigen bemüht, dass die Geschichte der Subjektivität, die in die Moderne geführt hat, auch für China nachgezeichnet werden kann, und zwar in Abgrenzung zur einflussreichen Heuristik der „Substanz“, die Hegel selbst entwickelt, indem er China ein naives Weltverhältnis und vorkritisches Denken – eben ohne Subjektivität – bescheinigt. Dieser Heuristik der Substanz, die politisch verhängnisvoll ist, weil sich mit ihr die Unfreiheit rechtfertigen lässt, sind bis heute viele Darstellungen Chinas offen oder unterschwellig verpflichtet. Dies gilt m. E. auch für die Arbeiten von François Jullien und Jean François Billeter (mit Ausnahme von Billeters Deutung des Zhuangzi, das für ihn allerdings aus der chinesischen Philosophie herausfällt),[2] von denen Heubel sich inspirieren lässt und mit denen er sich zugleich auseinandersetzt. Da er sich daneben auch auf mich bezieht, erlaube ich mir in diesen kurzen Anmerkungen auch in eigener Sache zu reden.
Stellt man sich nun auf den Standpunkt der Subjektivität und wechselt in eine an ihr orientierte Heuristik, dann lädt man sich die angesprochenen Probleme ein, an denen die Moderne seit über zwei Jahrhunderten laboriert und die auch einen bedeutenden Teil der nicht endenden Widerstände gegen sie motivieren. Sie haben vor allem mit der Janusköpfigkeit der Subjektivität zu tun, die darin besteht, dass die mit ihr errungene Freiheit in eine ungebremste Objektivierung und Knechtung alles nicht mit ihr Identischen führen kann, an deren Ende dann, wie Heubel mit Horkheimer und Adorno feststellt, die „Herrschaft über die außermenschliche Natur wie über andere Menschen“ (S. 364) steht – mit absehbar katastrophalen und mittlerweile wahrscheinlich schon gar nicht mehr heilbaren Konsequenzen. Wie geht man damit um?
Im Westen haben, mit Anfängen schon bei Hegel, u. a. der Pragmatismus und die Diskursethik der problemlastigen Verengung der Subjektivität mit dem Gedanken der Intersubjektivität entgegenzuwirken versucht. Verfügt die chinesische Philosophie an dieser Stelle über ähnliche oder vielleicht bessere Modelle, die weiterhelfen und vor allem auch den Naturbezug mit einholen könnten? Dies ist anders als im m. E. viel zu einfachen, schönfärberischen Bild von einem immer schon ökologisch und kommunal denkenden und erst durch die westliche Moderne auf Abwege gebrachten China, wie es etwa Roger Ames vertritt, eine alles andere als leicht zu beantwortende Frage. Ich selbst habe mich mit ihr sehr schwergetan und meinte sie unter dem Strich mit Nein beantworten zu müssen. Heubel aber beantwortet sie mit Ja, ohne sich indes jenem einfachen Bild anzuschließen.
Was meine eigene Sicht betrifft, so sehe ich, entgegen dem „Substantialismus“-Klischee, im alten China der Epoche der Entstehung der Philosophie sich gerade einen Überschuss an Subjektivität ergeben, der sich der tiefgreifenden Krise der Lebenskontexte in den radikalen sozialen und politischen Umbrüchen der „Zeit der Streitenden Reiche“ (5. – 3. Jh. v. Chr.) und ihrer Vorphase verdankt. Dieser Überschuss an Subjektivität, vornehmlich in einem schmalen, aber einflussreichen gebildeten Stratum der Gesellschaft, hat den Durchbruch zu einem „postkonventionellen“ Bewusstsein und damit auch zur gedanklichen Unabhängigkeit und überhaupt zur Philosophie ermöglicht; er ist aber gerade aufgrund seiner Radikalität monologisch geblieben und hat deshalb die mit ihm sich öffnenden sozialen Spielräume wieder verschüttet. Er hat nicht in eine freie Gesellschaft, sondern in den Elitismus geführt, und zwar, um drei Hauptströmungen der antiken chinesischen Philosophie zu nennen, im Falle des Konfuzianismus in den Elitismus des moralischen, sich „selbstkultivierenden“ Virtuosen, im Falle des Legismus bzw. Legalismus in den des souveränen, sich selbst außerhalb der Ordnung sehenden Systemarchitekten, und im Falle des Daoismus in den Elitismus des der Gesellschaft sich verweigernden, individuell nach dem „Dao“ strebenden Lebenskünstlers oder Mystikers. All dies liegt m. E. strukturell gesehen näher an dem, was als die solipsistische, „besitzindividualistische“ Färbung der westlichen neuzeitlichen Subjektivität bezeichnet worden ist, als es die Versicherung glauben macht, der Mensch sei in China anders als im „westlichen Atomismus“ schon immer als soziales Wesen im Einklang mit der Natur gedacht worden. Die Moderne stände damit nicht nur im Westen, sondern auch in China, und zwar nicht erst seit ihrem Eintritt in die von Heubel konstatierte „Hybridität“, unter problematischen bzw. ambivalenten Voraussetzungen.
Zumindest im Falle des Daoismus verhält es sich allerdings anders, wenn man Heubels Darstellung folgt. Denn Heubel findet im daoistischen Klassiker Zhuangzi ein leibliches, energetisch-naturhaftes anderes Paradigma der Subjektivität, das eine global wichtige Antwort auf die Verwerfungen der Moderne geben und für dessen Entdeckung Jean François Billeters Vier Vorlesungen über das Zhuangzi[3] „herausragende Bedeutung“ (S. 271) zukommen soll. Das „neue Paradigma“ soll als „plurales“ die Freiheit des Subjekts in einer Offenheit gegenüber dem Nichtidentischen verorten und würde damit eine Subjekt-Objekt-Dichotomie, wie sie der Beherrschung der Natur und der der anderen Menschen zugrundeliegt, ausschließen. Nun ist allerdings bei Billeter selbst, also bei aller Kritik und Abgrenzung Heubels Kronzeugen, m. E. kaum zu übersehen, dass die Grenzen des Subjektivismus keineswegs durchbrochen sind. Er liest das Zhuangzi als einen kongenialen Bericht „eigener Erfahrungen“ eines Ebenbürtigen, die sich mit seinen, Jean François Billeters, Erfahrungen zur Deckung bringen lassen.[4] In seiner jüngeren Arbeit Ein Paradigma beschreibt er seine Methode wie folgt:
1. Ich gehe von der Beobachtung meiner eigenen Aktivität aus. 2. Ich gründe mich auf sie, um mir eine Idee des menschlichen Subjekts zu bilden, die in ihrem Prinzip einfach und kohärent sein und so weit wie möglich allen Elementen meiner Erfahrung und der Erfahrung der anderen, so weit ich sie verstehe, gerecht werden soll.[5]
Diese Idee des Subjekts, die uns befähigt, „Anfänge zu setzen“, so ist Billeter überzeugt, gibt dem Leben des Menschen eine neue Bedeutung, die „dem heutigen geschichtlichen Moment“ genau entspricht: Sie gibt den „höchsten Wert“ jenem „Leben, das er [...] in sich selbst hervorbringt“. Dies wiederum soll dazu ermächtigen, „uns von den Systemen zu befreien, die uns heute in die Katastrophe führen“.[6]
Dies sind große Worte. Vor allem aber sind sie allem Anschein nach nicht „plural“ ausgerichtet, sondern selbstbezogen. Könnte es sein, dass Billeter in Wirklichkeit genau jenes Schema reproduziert, das in die Katastrophe geführt hat, nämlich das eines überdrehten Subjektivismus mit dem solipsistischen Primat der einsamen inneren Erfahrung, der die anderen nur noch als sekundäre Bestätigung „meiner“ in Betracht zieht, „soweit ich sie verstehe“, und dem als das Höchste gilt, was man „in sich selbst hervorbringt“? Billeter zitiert aus einem „wunderbaren Dialog“, der sich zwar im Buch Liezi 列子 findet, aber, wie er versichert, „ganz ohne Zweifel dem Zhuangzi zugehört“, und in dem es heißt:
Du reist in der Welt herum, ohne zu wissen, was Du in dir selbst schauen könntest. Wer im Äußeren reist, sucht seine Befriedigung in den Dingen, wer ins Innere schaut, sucht sie in sich selbst. Das vollkommene Reisen besteht darin, alles in sich selbst zu finden. Die Befriedigung in den Dingen zu suchen, ist eine minderwertige Form davon.[7]
„Alles in sich selbst“ – dies klingt nicht nach einer Philosophie der Intersubjektivität, sondern eher nach der angeblich überwundenen klassischen westlichen Bewusstseinsphilosophie. Was hat aber Billeter im Zhuangzi dann eigentlich entdeckt? Bedeutet seine Kongenialität mit Zhuang Zhou als Autor des Textes (ich übergehe hier müßige Fragen der Echtheitskritik) möglicherweise gerade, dass der gleiche Einwand wie gegen ihn sich auch gegen jenen selbst richten muss? Es spricht in der Tat einiges dafür, dass dem Buch Zhuangzi die Schwierigkeiten mit der Pluralität und die Inanspruchnahme überlegener Erkenntnis, die auch aus anderen, in diesem Stolz typisch „achsenzeitlichen“ chinesischen Texten sprechen, nicht ganz fremd sind. Man denke etwa an die Herabwürdigung der „vulgären Welt“ shisu 世俗 und der „Vielen“ zhong 眾, das häufige Auftauchen der Idealfigur des „Heiligen“ oder „Weisen“ shengren 聖人,[8] die Bedeutung mystischer Figuren wie des „Menschen des Wahren“ zhenren 真人 oder des „Menschen, der [beim Dao] angekommen ist“ zhiren 至人, die individuell versuchen, die verlorene Einheit mit dem Dao zurückzugewinnen, dann die Skepsis gegenüber der Sprache und damit dem Medium zwischenmenschlicher Kommunikation, die Verherrlichung der verlorenen absoluten, undifferenzierten Einheit, wie sie das Goldene Zeitalter kannte, zusammen mit der Klage, dass sie mit der philosophischen Vielfalt der Zeit der Streitenden Reiche endgültig zerstört werde – all diese Motive durchziehen ja das Buch Zhuangzi von Anfang bis Ende. Nicht zu vergessen sind auch die nicht eben seltenen hedonistischen Bekenntnisse zum eigenen Leben, wie auch die terroristische Versuchung, die überkomplex gewordene Welt wieder „im Dunkel gleich“ (xuan tong 玄同) zu machen.[9] Es ist unklar, wie Heubel und Billeter mit diesen nicht für ihre zentrale These „pluraler“ Subjektivität sprechenden Theoremen umgehen.[10] Sie sind nur schwer als marginal und nicht repräsentativ beiseitezuschieben. Sie zeigen m. E., dass der Daoismus zumindest ebensosehr, wenn nicht mehr, ein Teil des Problems wie ein Teil der Lösung ist – was indes für alle klassischen chinesischen Philosophien gilt, die nur dann modern adaptierbar sind, wenn man nicht nur mit ihnen denkt, sondern auch gegen sie.
Billeter hat im Übrigen inzwischen die Hoffnung aufgegeben, dass sich aus China irgendetwas für eine andere Zukunft gewinnen lasse, und ist dazu übergegangen, unter Verweis auf seine sinologische Expertise mit wachsendem Sendungsbewusstsein die alleinige Mission Europas zu verkünden.[11] Nun liegt es Heubel, der alles andere ist als ein Abendlandideologe, denkbar fern, einen solchen Rückfall ins Identitäre mitzuvollziehen (s. die entsprechende Kritik an Billeter auf S. 21 und S. 265), und auch den Kreativitätskult, dem Billeter offenbar anhängt, hat er bereits in einer älteren Arbeit als „Dispositiv“ kritisiert.[12] Er hat dementgegen zusammen mit gleichfalls in Taiwan arbeitenden Philosophen wie Yang Rubin und Lai Xisan versucht, an Billeter kritisch anknüpfend die von diesem exponierte Idee von Subjektivität im Zhuangzi neu zu denken, und zwar in Richtung auf eine moderne „Demokratie der Zukunft“. Hierbei stützt er sich auf die chinesische Atem-Energetik, der Billeter, und hierin stehe ich ihm näher als Heubel, nur wenig abgewinnen kann. Heubel indes meint, die konkurrierenden Perspektiven Billeters und Julliens, energetikfreie Subjektivität und subjektfreie Energetik, so aneinander korrigieren zu können, dass sich die energetische Subjektivität ergibt, die zudem als moralische verstehbar sein soll. Gedacht ist hierbei an die Kultivierung der Kraft Qi 氣, mit dem Ziel der Gewinnung einer „Ökonomie der Energie“, die nicht in einen profitmaximierenden „energetischen Ökonomismus” umschlägt.[13] Die Idee soll nicht nur für China, sondern auch für die globale Moderne von Relevanz sein, zumal sie nicht nur auf chinesische, sondern auch auf westliche Quellen zurückgreift.
Allerdings lassen sich an dieser Stelle einige Bedenken anmelden. Zum einen muss die Fundierung des Programms in der Atem-Energetik und der Kultivierung des Qi – die übrigens für den antiken Konfuzianer Mengzi, wenn ich ihn denn richtig verstehe, keinen normativen Gehalt hatte, sondern die aus einer eigenen Quelle fließende Moralität des Menschen nur zu stärken vermochte[14] – sich der Frage stellen, wie denn der Übergang von der Kraft zur Ethik eigentlich zu denken ist, wenn nicht über einen „naturalistischen Fehlschluss“ letztlich mir den Mitteln einer vorkritischen Kosmologie, die zudem dazu verleitet, die Einheit mit dem Natürlichen auch schon für die Einheit mit den Menschen zu halten und das Problem der interhumanen Kosubjektivität einfach zu überspringen. Der normative Gehalt, so scheint es, wird mehr postuliert als ausgewiesen. Hier liegt ein alter Konfliktpunkt zwischen dem Rezensenten und dem Verfasser des Buchs, der zunächst meinte, mit der Ästhetik der „Riten“ die Ethik überflüssig machen zu können und nun, das ist mein Eindruck, beides allzu bruchlos ineinander übergehen lässt.
Zum anderen sehe ich ein Problem in Heubels daoistischer Grundlegung der Demokratie. Heubel knüpft an das daoistische Motiv zi zhi 自治 an, was sich mit „von selbst geordnet sein“ übersetzen lässt. Zi zhi statt als „Selbstordnung“ als „Selbstregierung“ (S. 360 u. 366) zu verstehen erscheint mir allerdings weniger naheliegend. Abgesehen davon, dass der „Selbstregierung“ eher die Abwesenheit von Herrschaft, also die Anarchie korrespondiert und der von Heubel anvisierte Übergang zur Demokratie als einer Herrschaftsform somit vorschnell erscheint, ist es nicht einfach, „selbst“ (zi) an den einschlägigen Stellen überhaupt ohne die Konnotation eines vom „heiligen“ Herrscher bewirkten quasi-natürlichen Geschehens (von selbst) gerade unter Ausschaltung der agency eines „Volkes“, das selbst die „Heiligkeit“ verkörperte – so möchte Heubel es sehen –, zu lesen. Damit aber stände der Daoismus näher als ihm lieb sein kann an der beklemmenden Vision einer Zwangsordnung in Form zweiter Natur, wie sie die Legisten unter seiner Inspiration entwickeln,[15] als an der Idee einer Gesellschaft von Freien. Es erfordert deshalb einen nicht geringen theoretischen Aufwand, ihn in Richtung Demokratie zu deuten. Heubel meint allerdings, auch einen relevanten Teil der chinesischen Kommentarliteratur auf seiner Seite zu haben, die er gegen die pauschale Abwertung durch Billeter verteidigt. Dass er gleichwohl Billeters Perspektive der eigenen Erfahrung bescheinigt, es sei ihr „auf beeindruckende Weise gelungen [...], weder der illusionären Suche nach einer ursprünglichen Bedeutung des Textes zu verfallen noch sich im Labyrinth der ‚traditionellen chinesischen Exegese‘ zu verlieren“ (S. 363), erscheint mir erklärungsbedürftig, und ebenso, dass er Benjamins Gedanken der „Geschichte als Konstruktion“ folgt (S. 41), zugleich aber von der „Rekonstruktion“ der alten Philosophie spricht. Im Fall der Konstruktion nämlich wäre die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit viel freier – wenn man so will: subjektiver (!) – herzustellen als Falle der Rekonstruktion, die zumindest mit einer vorstellbaren „ursprünglichen Bedeutung“ der Texte Kontakt halten muss, statt den Gedanken von vornherein für sinnlos zu erklären.
Bei den Einwänden gegen Heubels Adaption des Daoismus ist allerdings zu bedenken, dass das Buch mit seinen Überlegungen zur daoistischen „Selbstregierung“ zunächst nur den Anspruch erhebt, „experimentell eine Denkmöglichkeit zu erkunden“ (S. 360), wie überhaupt die – auch ungeschützte – Exploration von Neuland ein bemerkenswertes Charakteristikum der Arbeiten des Autors ist. Inzwischen liegt in Anknüpfung an Friedrich Hayek ein zweiter Versuch vor, denn Heubel aber gleichfalls nur als „vorläufig“ bezeichnet.[16] Ich lasse es hier dahingestellt, ob Heubel den Daoisten mit der postulierten Nähe zu dem Sozialdarwinisten Hayek – ebenso wie mit der an anderer Stelle postulierten Nähe zu Heidegger – wirklich einen Gefallen tut.
Angesichts dieser offenen Fragen meine ich, dass das überaus anspruchsvolle „taiwanische“ leibphilosophisch ausgerichtete Programm, wenn es nicht insgeheim, wie bei Billeter, doch einem selbstbezogenen Subjektivismus verhaftet ist, bis auf weiteres und vermutlich auch darüber hinaus nur als mögliche Ergänzung, aber nicht, wie Heubel es zu sehen scheint, als Alternative zu der moralphilosophischen Rekonstruktion des Konfuzianismus auf Basis der modernen Trias von Demokratie, Bürgerrechten und freier Öffentlichkeit verstanden werden kann, wie sie aufgeklärte „Neu-Konfuzianer“ des 20. Jahrhunderts, namentlich Mou Zongsan 牟宗三, vorgenommen haben. Denn der in Aussicht gestellte Weg von der Atem-Energetik zur Demokratie ist m. E. weit verschlungener und sicherlich nicht eingängiger und einfacher als der neu-konfuzianische, der von der antiken Ethik statt Energetik seinen Ausgang genommen hat. Zumindest vermag mich der von Heubel und seinen Mitstreitern unternommene Versuch, die Subjektivität als Prinzip der Moderne zu verteidigen und zugleich ihren Umschlag in Herrschaft zu verhindern, bislang nicht so zu überzeugen, dass ich bereit wäre, mich ihm anzuschließen.
Heubel hält die Korrektur an der moralphilosophischen modernen Rekonstruktion der konfuzianischen Ethik u. a. deshalb für nötig, weil sie machtlos geblieben sei und „allenfalls eine indirekte Rolle“ für die Demokratisierung Taiwans gespielt habe; diese nämlich habe sich „theoretisch weitgehend als Verwestlichung des politischen Diskurses“ vollzogen (S. 348). Schon eine indirekte Rolle[17] wäre allerdings nicht wenig, bedenkt man, dass der Konfuzianismus historisch weit mehr auf der anderen Seite, nämlich der der Elitenherrschaft, gestanden hat und sich überdies in der Volksrepublik bereithält (nicht ohne interne Widerstände), sich in dieser alten Rolle lieber heute als morgen wieder einzurichten. Was wäre überdies verwerflich daran, sich einem westlichen Diskurs anzuschließen, wenn er einen überzeugt, statt auf „Selbsttransformation“ zu insistieren? Wieder hat es den Anschein, als sei das „alte“ Paradigma der Subjektivität („alles in sich selbst“!) bei Heubel nicht wirklich überwunden. Gilt im Übrigen machtlos geblieben zu sein nicht auch für das Zhuangzi, wenn man es denn so liest wie von Heubel vorgeschlagen, und zwar in noch größerem Maße als für den Konfuzianismus? Ob das „neue Paradigma“ tatsächlich plausibler und vor allem praktisch wirksamer ist, um eine andere, weniger entgleisende Moderne hervorzubringen als die bislang erlebte, ist alles andere als ausgemacht.
Wie würde diese Moderne im Unterschied zu jener, die wir kennen, im Übrigen aussehen? Heubel möchte den „europäischen Weg der Modernisierung“ nicht als Modell betrachten, und er wirft mir selbst vor, diesen Weg zu verabsolutieren (S. 200). Meine Kritik an der in China entstandenen „halbierten Moderne“ (H.R.), die das Prinzip der Subjektivität auf die Freigabe von Ökonomie und Technik reduziert, dessen politische Okkupation durch eine sich selbst legitimierende monopolistische Elite aber beibehält und so in die bekannte Mischung aus Kapitalismus und Diktatur geführt hat, beruhe auf einer Projektion deutscher Erfahrungen und der „Perspektive einer normativen Ordnung“, die sich „im Nachkriegsdeutschland herausgebildet hat“ (S. 200). Und Heubel fragt, ob es eigentlich notwendig sei, „einer chinesischen Modernisierung den Kampf anzusagen, die sich der ‚liberalen Demokratie‘ verweigert“ (S. 199).
Ich würde mich durchaus zur besonderen Gewichtung der deutschen Erfahrungen bekennen, wie ja Heubel dies auch selbst tut, wenn er „Auschwitz als Kulturbruch“ als „entscheidenden Motivationsgrund“ für seine Arbeit an einer „interkulturellen Philosophie der Selbstkultivierung“ (S. 106) bezeichnet. Im internationalen Diskurs kommt diese Auskunft, selbst wenn man mit ihr vorsichtig verfährt, allerdings selten gut an; sie gilt eher als skurrile Eigenheit eines bedauernswerten Deutschen, der mit den Untaten seines Volkes nicht zurechtkommt und daraus besser keine Botschaft machen sollte; und man könnte in der Tat fragen, ob sich die Abgründigkeit jenes Kulturbruchs nicht auch darin zeigt, dass er sich nicht als Argument eignet. Was die deutsche Nachkriegsordnung betrifft, so möchte ich mich mit ihr schon deshalb nicht identifizieren, weil sie noch viel zu sehr von dem ihr Vorangehenden durchwoben ist. Warum sollte aber nicht zumindest ein verfasster demokratischer Staat als ein „Modell“ gelten können? Und warum soll es eigentlich, wenn man von Aufgeregtheiten absieht, wie Heubel sie in der westlichen Debatte um Zhao Tingyangs Buch Alles unter dem Himmel entdeckt, es nicht nötig oder zumindest legitim sein, sich einer chinesischen Modernisierung ohne „liberale Demokratie“ (was ja nicht heißen muss: wirtschaftsliberale und unsoziale) entgegenzustellen? Was wäre denn die Alternative? Was man sich unter der von Heubel präferierten „demokratischen Selbstregierung“ (S. 360) im Unterschied zur „liberalen Demokratie“ vorzustellen hat, bleibt im Dunkeln. Ich sehe noch erheblichen Klärungsbedarf, um zu einem politischen Vorschlag zu kommen, der auf die komplexen Verhältnisse moderner Gesellschaften passt und nicht, wie nach meinem Eindruck der Heubel inspirierende Daoismus, der Komplexität einfach ausweicht, statt sich ihr zu stellen, oder sogar versucht, sie wieder abzuwickeln und nach hinten zu korrigieren.
Heubel indes setzt in Bezug auf die politische Zukunft Chinas (und darüber hinaus der hybriden Welt überhaupt) auf die Produktivität der als moderne Grundsituation diagnostizierten unauflösbar „paradoxen“ Konstellation (S. 21)[18] dreier „einander ausschließender und doch aufeinander angewiesener“ „Traditionen“, nämlich Konservatismus (der für die überlieferten chinesischen Lehren steht), Sozialismus und Liberalismus, deren „Kommunizieren“ einen „normativen Gehalt“ entfalten soll.[19] Hierbei wäre aber m. E. zu berücksichtigen, dass das Kommunizieren, zumal ein „gleichrangiges“,[20] eine eigene, getrennt in Rechnung zu stellende Größe ist, die nicht von selbst, quasi gratis, gegeben ist, zumal nicht unter den kommunikationsfeindlichen autoritären Bedingungen des heutigen China, und auch nicht in gleichem Abstand zu den drei Traditionen steht. Sie weist eine besondere Affinität zum politischen Liberalismus auf. Würde dies aber nicht bedeuten, dass in jedem Fall eine offene, allgemeine Kommunikation ermöglichende und insofern liberale Gesellschaft, die einen normativen Rahmen setzt, bereits in Führung zu gehen hätte? Zeigt sich hier in Heubels Argumentation erneut ein blinder Fleck in Hinsicht auf die Genese von Normativität?
Fabian Heubel, so will es mir scheinen, wirft mehr Probleme auf, als er löst. Dies hindert mich nicht daran, in seinem Buch, dessen Reichtum, Tiefgründigkeit und Originalität hier auch nicht annähernd gewürdigt werden können, einen der wenigen wirklich bedeutenden bislang vorliegenden Beiträge zur chinesischsprachigen und darüber hinaus globalen Philosophie im Zeitalter der Moderne zu sehen. Was Heubel bislang an Beiträgen vorgelegt hat und überdies praktiziert und lebt, ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel transkulturellen, weltbürgerlichen Philosophierens. Dies gilt für das neue Werk gerade auch mit seinen ungeschützten Flanken – vor allem den Fragen offenlassenden Beziehungen zwischen Subjektivität, Pluralität, Normativität und Liberalität und den Tücken des „Selbst“. Denn diese Unabgeschlossenheit ist nicht einfach eine Schwäche; sie hat ein fundamentum in re. Sie steht für nichts Geringeres als das schwierige Bemühen, die Wirkungsgeschichten der Philosophien nicht teilnahmslos ex post zu registrieren, sondern sie in eine bessere, aber immer ungewisser und unübersichtlicher werdende Zukunft weiterzuschreiben.
© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial Preface
- Preface
- Western Approach to Chinese Philosophy as a Methodological Problem
- The Other Between. Critical Reflections on François Jullien’s Approach to “Chinese Thought”
- Philosophy Between Interpenetration and Juxtaposition
- The Touch of Kongzi’s Irony and Reflections on Methodology
- Getting to Know Knowing-as as Knowing
- Nothingness and Neutrality
- Western Approach to Chinese Philosophy as a Problem of Cultural Studies
- Reflections on the Methodology of a Cross-Cultural Dialogue Between China and the ‘West’
- Comparative Cultural Hermeneutics as Method
- Transcultural Sublation of Concepts and Objects through the Lens of Adorno and Gongsun Long
- Reading the Zhongyong 中庸 in Times of Cultural Upheaval
- Diverging into the Untranslatable. George Steiner, Paul Ricœur and François Jullien
- Western Approach to Chinese Philosophy as Global Philosophy
- The Need for Global Philosophy
- Global Post-Comparative Philosophy as Just Philosophy
- Global Philosophy: Starting from Philosophical Theorizing
- Who is Afraid of François Jullien? Some Thoughts on the Political and Philosophical Implications of an “Untimely” Thinking
- Revolution, Transformation and the Role of the Subject
- Book Review
- Selbstbesinnung und Gegenläufigkeit. Zu Fabian Heubel: Was ist chinesische Philosophie? Kritische Perspektiven
- Zu Fabian Heubel, Was ist chinesische Philosophie? Kritische Perspektiven, Hamburg: Meiner, 2021
- Bio-Bibliography
- Name Index
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial Preface
- Preface
- Western Approach to Chinese Philosophy as a Methodological Problem
- The Other Between. Critical Reflections on François Jullien’s Approach to “Chinese Thought”
- Philosophy Between Interpenetration and Juxtaposition
- The Touch of Kongzi’s Irony and Reflections on Methodology
- Getting to Know Knowing-as as Knowing
- Nothingness and Neutrality
- Western Approach to Chinese Philosophy as a Problem of Cultural Studies
- Reflections on the Methodology of a Cross-Cultural Dialogue Between China and the ‘West’
- Comparative Cultural Hermeneutics as Method
- Transcultural Sublation of Concepts and Objects through the Lens of Adorno and Gongsun Long
- Reading the Zhongyong 中庸 in Times of Cultural Upheaval
- Diverging into the Untranslatable. George Steiner, Paul Ricœur and François Jullien
- Western Approach to Chinese Philosophy as Global Philosophy
- The Need for Global Philosophy
- Global Post-Comparative Philosophy as Just Philosophy
- Global Philosophy: Starting from Philosophical Theorizing
- Who is Afraid of François Jullien? Some Thoughts on the Political and Philosophical Implications of an “Untimely” Thinking
- Revolution, Transformation and the Role of the Subject
- Book Review
- Selbstbesinnung und Gegenläufigkeit. Zu Fabian Heubel: Was ist chinesische Philosophie? Kritische Perspektiven
- Zu Fabian Heubel, Was ist chinesische Philosophie? Kritische Perspektiven, Hamburg: Meiner, 2021
- Bio-Bibliography
- Name Index