Abstract
Truth in Wittgenstein′s Later Philosophy. In this paper I attempt to examine Wittgenstein′s understanding of truth in his later period. In doing so, I orient myself primarily on the remarks published as Philosophical Investigations and On Certainty. My primary aim in the destructive part is to show that his later philosophy neither espouses a redundancy and deflationary, nor an epistemic and anti-realist conception of truth. Both strands of interpretation are strongly represented in the debate. An examination of Wittgenstein’s remarks on the correspondence theory of truth will also shed some light on his thoughts about truth. Furthermore, in the preceding constructive part of this paper, I will try to demonstrate that (1) for Wittgenstein there is a strong link between truths that we accept based on our certainties and our use of the term “truth” and (2) that skepticism about truth, which claims that all accepted truths in our Weltbild (“world-view”) could be actually false, fails to give any meaning to its use of “truth”. This culminates in Wittgenstein′s insight, that the question of what truth is can only be answered relative to the Weltbild. Therefore, talking about truths that transcend our Weltbild becomes nonsense.
1 Einleitung
Im vorliegenden Artikel wird Wittgensteins Verständnis von Wahrheit in seiner Spätphilosophie untersucht.[1] Das Vorhaben wird in zwei Kapitel eingeteilt – den konstruktiven und den destruktiven Teil. Zusammen sollen sie ein Bild davon ergeben, was Wittgenstein unter Wahrheit verstanden haben könnte. Dabei wird im konstruktiven Teil ausgehend von Wittgensteins Konzeption eines Weltbildes und dem speziellen Status der darin befindlichen Weltbildsätze einer möglichst akkuraten Rekonstruktion von Über Gewißheit nachgegangen, die ihren Schwerpunkt auf Wittgensteins Wahrheitsverständnis und Bemerkungen legt, in denen dieses abgehandelt wird (2.1 – 2.3). Dabei wird es nur ein geringes Maß an Auseinandersetzung mit anderen Interpret*innen geben, die sich derselben Aufgabe verschrieben haben. Das Ziel ist, Wittgensteins Wahrheitsverständnis so weit herauszuarbeiten, wie seine spätphilosophischen Bemerkungen es zulassen. Der destruktive Teil hingegen besteht in einer Wittgenstein′schen Auseinandersetzung mit philosophischen Wahrheitstheorien. Dies meint zweierlei: Erstens soll anhand einschlägiger Argumentationen Wittgensteins eigene Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit formuliert werden (3.2). Meines Wissens gibt es niemanden innerhalb der Debatte, der dafür argumentiert hat, Wittgenstein sei ein Korrespondenztheoretiker in dem Sinne gewesen, wie ich es behandeln werde.[2] Dennoch handelt es sich bei ihr um eine gegenwärtig omnipräsente sowie stark rezipierte Theorie der Wahrheit, weswegen Wittgensteins Kritik nicht vorenthalten werden soll. Zweitens widmet sich der destruktive Teil nicht nur der Wittgenstein′schen Kritik an Wahrheitstheorien am Beispiel der Korrespondenztheorie, sondern auch den aus meiner Sicht fehlerhaften Interpretationsversuchen von Wittgensteins Wahrheitsverständnis. Behandelt werden nach einer einleitenden allgemeinen Argumentation gegen die These, Wittgenstein lasse sich als Vertreter auch nur irgendeiner philosophischen Wahrheitstheorie auszeichnen (3.1), sowohl deflationistische (3.3) als auch epistemische Deutungen (3.4) von Wittgensteins Wahrheitsverständnis. Bezüglich der zweiten Art von Deutungen werde ich mich vor allem auf eine bestimmte Variante der (moderaten) Konsensustheorie beschränken. Meines Erachtens liegt einem Großteil der Interpretationen, die Wittgenstein eine epistemische Wahrheitstheorie unterstellen, eben eine solche zugrunde. Der Anspruch ist keiner der Vollständigkeit, was im Rahmen dieser Arbeit auch unmöglich wäre. Dennoch zeigt eine Sichtung der Literatur zu Wittgensteins Wahrheitsverständnis eine deutliche Tendenz in Richtung deflationistischer oder epistemischer Deutungen, deren genauere Betrachtung in diesem Artikel abgedeckt ist. Die Grundthese lautet, dass Wittgenstein zwar einiges Aufschlussreiches über unsere Wahr-Falsch-Sprachspiele offengelegt hat (konstruktiver Teil), es aber verfehlt wäre, ihn in das Korsett auch nur irgendeiner der in philosophischen Debatten ins Spiel gebrachten Wahrheitstheorien zu zwängen (destruktiver Teil). Wie ersichtlich werden wird, behandelt Wittgenstein konstruktiv keine philosophischen Wahrheitstheorien, sondern die Pluralität zwischen und den Wandel geltender Wahrheiten innerhalb von Weltbildern. Daraus destilliert sich aus Sicht dieses Artikels eine wichtige Einsicht für weltbildinterne Wahrheits-Sprachspiele und damit unsere Verwendung von „wahr“ und „Wahrheit“ heraus: Sie sind nur relativ zum jeweiligen Weltbild gehaltvoll, weil das Anerkennen unterschiedlicher Wahrheiten in verschiedenen Weltbildern einen Einfluss auf die jeweilige Bedeutung von „wahr“ und „Wahrheit“ innerhalb dieser Weltbilder hat (2.4). Umgekehrt bedeutet dies, dass damit die Rede von weltbildtranszendenten Wahrheiten semantisch gehaltlos wird.
2 Der konstruktive Teil: Weltbild und Wahrheit
2.1 Der Begriff des Weltbilds
Ist man darum bemüht herauszuarbeiten, was Wittgenstein in seiner philosophischen Spätphase unter Wahrheit verstanden haben könnte, scheint eine Auseinandersetzung mit seiner Konzeption des Weltbildes unumgänglich. Es sind unter anderem Missverständnisse zum Weltbildbegriff, die zu dem Eindruck führen, Wittgenstein habe irgendeine der geläufigen philosophischen Positionen zur Erläuterung von „Wahrheit“ wie etwa einer Konsensustheorie oder einen Deflationismus vertreten. Wie Kober bemerkt, sind Wittgensteins Bemerkungen zum Begriff des Weltbildes „sehr vage und mehrdeutig“ (1993: 150), was eine Interpretation erschwert. Trotzdem soll im Folgenden versucht werden, Wittgensteins für diese Arbeit wesentlichen Gedanken zum Begriff des Weltbilds möglichst textgetreu zu rekonstruieren und somit einen ersten Schritt in Richtung der Offenlegung seines Verständnisses von Wahrheit zu vollziehen.
Obwohl es sich Wittgenstein in seinem spätphilosophischen Schaffen zur Aufgabe gemacht hat, keinerlei philosophische Theorie aufzustellen, sondern stattdessen durch das Übersichtlichkeit schaffende Beschreiben unseres Sprachgebrauchs philosophische Irrtümer zu beseitigen (PU 109, 122), lässt sich dieser Anspruch kaum in jeder Hinsicht aufrechterhalten. So gehen Wittgensteins Bemerkungen zum Weltbild über die „Schaffung übersichtlicher Verhältnisse im Dickicht der tradierten philosophischen Mißdeutungen der Sprache“ (Majetschak 2000: 355) hinaus und lassen zwar keine ausgearbeitete Theorie, aber zumindest eine Konzeption einer Auslegung des Weltbildbegriffes erkennen.
Zunächst ist es wichtig, ein Weltbild von Weltanschauungen zu unterscheiden (vgl. Majetschak 2000: 358; Hamilton 2014: 129). Ein Weltbild ist fundamentaler und wird gemeinhin einer ganzen Gemeinschaft[3] zugeschrieben, während es innerhalb dieser Gemeinschaft Personen und ganze Gruppen mit verschiedensten Weltanschauungen geben kann. So teilen sich etwa Anhänger*innen des „Pragmatismus“[4] (ÜG 422), Idealismus[5] und anderer Gesinnungen ein Weltbild, obwohl sie verschiedenen Weltanschauungen angehören. Ein gemeinsames Weltbild gewährleistet, dass trotz divergierender Weltanschauungen eine Verständigung mit der anderen Sichtweise möglich ist. Ja, es ist genauer gesagt die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt weltanschauliche Differenzen geben kann, die argumentativ ausgetragen werden. Wäre man sich nämlich in allem uneinig und käme es zu keiner wenigstens partiellen „Übereinstimmung in den Urteilen“ (PU 242), wie sie durch das gemeinsame Weltbild gewährleistet ist, wäre nicht einmal sicher, ob man versteht, was die Vertreter*innen anderer Positionen als vermeintliche Argumente oder Behauptungen zu artikulieren versuchen (vgl. ÜG 157, 515, 526). Wittgenstein schreibt dazu, dass „[a]lle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme […] schon innerhalb eines Systems [geschieht]“ (ÜG 105), welches das „Lebenselement der Argumente“ darstellt (ebd.).
Das Weltbild ist der normative und unter normalen Umständen sowohl unhinterfragte als auch nicht vergegenwärtigte grundsätzlichste epistemische Rahmen unseres Wirklichkeitsbezugs, den wir alle innerhalb unserer Sprachspiele und der einzelnen dazugehörenden (Sprach‐)Handlungen anerkennen (vgl. Majetschak 2000: 356). Es stellt ein „System der Evidenz“ (ÜG 185) und „unserer Verifikation“ (ÜG 279) dar, das im Falle unseres Weltbildes vor allem von Gewissheiten einer mathematisch-wissenschaftlichen Sicht bestimmt ist sowie als „Substrat alles [unseres] Forschens und Behauptens“ (ÜG 162) gelten kann. Zu unserem Bezugssystem gehören neben etwa mathematischen Sätzen wie „12 x 12 = 144“ (ÜG 653), Regeln des folgerichtigen Schließens oder Regeln des Sprachspiels ausdrückenden Sätzen wie „Empfindungen sind privat“ (PU 248)[6] nach Wittgenstein auch sowohl allgemeine naturwissenschaftliche Überzeugungen wie etwa die, es gebe eine „Gesetzlichkeit der Natur“ (ÜG 315) und diese sei durch experimentelle Methoden erforschbar (vgl. ÜG 167, 337), als auch sich auf Konkreteres beziehende Sätze wie „Die Erde hat bereits vor hundert Jahren existiert“ oder dass die „Erde ein Körper ist, auf dessen Oberfläche wir uns bewegen“ (ÜG 234), welche für die Möglichkeit einer Geschichtswissenschaft (vgl. ÜG 312) oder „Geographie“ (ÜG 234) unabdingbar sind.
Auch wenn die letzteren Sätze „die Form eines Erfahrungssatzes“ aufweisen,[7] werden sie dennoch nicht als Erfahrungssätze verwendet, denn sie „spielen“ im „System unserer Erfahrungssätze eine eigentümliche logische Rolle“ (ÜG 136), indem sie als Weltbildsätze eine normative Funktion erfüllen (vgl. ÜG 167), auf die noch einzugehen sein wird. Von dieser Art von Sätzen, die Teil von unserem „Bezugssystem“ (ÜG 83) sind, lassen sich weitere Beispiele anführen. Zu nennen sind beispielsweise personenbezogene Sätze wie „Ich heiße N.N.“ (vgl. ÜG 628) oder „Ich habe zwei Hände“ (ÜG 445), aber auch naturtatsachenbezogene Sätze, zu denen „Automobile wachsen nicht aus der Erde“ (vgl. ÜG 279) oder „Jeder Mensch hat Eltern“ (ÜG 211) gehören.
Nur durch ein gemeinsames Weltbild sind eine Sprachgemeinschaft und ihre Sprachspiele „möglich“ (vgl. ÜG 509), denn ohne diese Übereinstimmung würden „falsche Züge“ im Sprachspiel zum Regelfall und „so hörte damit das Spiel auf, worin es ein falscher Zug war“ (MS 138: 27): Es kann ohne ein Maß an vorausgesetzter Einigkeit nicht mehr festgestellt werden, ob im vermeintlich gemeinsamen Sprachspiel einfach eine von anderen abweichende Behauptung geäußert wurde, oder der Satz, der eine abweichende Behauptung ausdrücken könnte, tatsächlich auf eine andere Weise verwendet wurde – mithin eine Bedeutungsabweichung vorliegt und man damit gar nicht im gleichen Sprachspiel verortet ist. Wenn beispielsweise alle einen zu überzeugen versuchten, man heiße trotz der eigenen Gewissheit nicht N.N., ist letztlich nicht einmal sicher, ob überhaupt dieselbe Sprache gesprochen wird. Der Zweifel, N.N. zu heißen, wäre nicht minder schwerwiegend für das eigene Überzeugungssystem als der Zweifel, sich der Bedeutung der geäußerten Worte sicher sein zu können. Jener Zweifel würde gar, wie Wittgenstein schreibt, so weit gehen, die Gewissheit über die Bedeutung von „wahr“ und „falsch“ miteinzubeziehen (ÜG 515, 514). Das Verständnis von eigens getätigten Aussagen wird von anderen Personen auch anhand der Wahrheit dieser getätigten Aussagen überprüft (vgl. ÜG 80). Wenn sich hier Differenzen ergeben, weil unsere Weltbildsätze unterminierende Behauptungen von anderen für wahr gehalten werden, ist eine Verständigung nicht mehr gewährleistet (vgl. ÜG 83, 401). Sowohl die Ausdrücke „wahr“ oder „falsch“ als auch die in der Behauptung auftretenden Worte könnten eine Bedeutung haben, die sich von unserer unterscheidet.
2.2 Weltbildsätze und Wahrheit
Wie wir zum Ende des letzten Abschnitts gesehen haben, gilt, dass „certain of our judgements seem to be quite fundamental [and] […] to allow the possibility that these judgements might turn out to be false would be to allow that we could never be sure of talking sense“ (Winch 1988: 271). Damit lässt sich mit Wittgenstein resümieren, das Weltbild sei „der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“ (ÜG 94). Es ist als „Bezugsystem“ die Voraussetzung für die Möglichkeit einer Verständigung über Wahrheit oder Falschheit.
Daraus, dass unser Weltbild überhaupt erst den Spielraum dafür schafft, von wahr oder falsch zu sprechen, ergibt sich eine wichtige Einsicht für den Wahrheitswert des Weltbildes und der es konstituierenden Sätze selbst: Das Weltbild als Ganzes ist weder wahr noch falsch – es besitzt keinen Wahrheitswert (vgl. ÜG 205).
Zu sagen, etwas sei wahr oder falsch, meint nach Wittgenstein nichts anderes als, „es müsse eine Entscheidung für oder gegen ihn [den Satz; D.F.] möglich sein.“ (ÜG 200) Weltbildsätze sind die Grundlage dafür, einerseits überhaupt die sinnvolle Verwendung von „wahr“ oder „Wahrheit“ zu gewährleisten, und andererseits Evidenzen und Rechtfertigungen für oder wider einen Satz zu ermöglichen. Es gibt keine Evidenz für sie – sie sind selbst die Rechtfertigungsgrundlage für Urteile, über deren Richtigkeit wir uns in Diskursen streiten können. Wie Wittgenstein schreibt, hat die Rechtfertigung irgendwo „ein Ende“ (ÜG 192), und dieses liegt bei den Konstituenten unseres Weltbildes – den Weltbildsätzen. Gemeint ist damit nicht, wir würden Weltbildsätze etwa im Rahmen eines Diskurses als letzte Gründe explizit angeben, sondern dass wir in gewisser Weise nach ihnen handeln und sie somit tief in unsere Sprachspiele eingebettet sind (vgl. ÜG 204). Daraus erklärt sich Wittgensteins vermeintlicher Themenwechsel von, wie man gemeinhin sagen würde, ontologischen Fragestellungen zu epistemologischen Antworten in ÜG 108 oder ÜG 162. Dort lässt er den fiktiven Gesprächspartner fragen, ob das Weltbild, das man hat, wahr oder falsch sei – ob es denn keine „objektive Wahrheit“ gäbe –, worauf er mit dem Festhalten an Gewissheiten und nicht mit „wahr“ oder „falsch“ antwortet. Dies tut er, weil ein Weltbild keinen Wahrheitswert besitzt, die Frage ist Unsinn (vgl. ÜG 197).
Trotzdem gibt es einen anderen als den bisher erörterten evidenzbasierten Sinn von „wahr“, der sich für objektive Gewissheiten[8] reservieren lässt. Denn sie sind zumindest in der Hinsicht wahr, als sie eine „unwankende Grundlage“ unserer „Sprachspiele“ sind (ÜG 403; vgl. Krebs 2007: 122).
2.3 Die Flussbettmetapher, das Unerhörte und Wahrheit
Weltbilder sind nach Wittgenstein nicht starr und unveränderlich, sondern sehr wohl einem gewissen Wandel unterworfen. Den Weltbildsätzen von „der Form von Erfahrungssätzen“ (ÜG 96) kommt dabei nach Wittgenstein ein besonderer Status zu, der diese Dynamik ermöglicht. Sie haben zwar innerhalb des Weltbildes normative Funktion und fungieren damit als „Regel der Prüfung“ (ÜG 98) von Erfahrungssätzen, für deren Bestätigung wir Gründe angeben und nach Evidenzen Ausschau halten, können aber unter gewissen Umständen selbst als Erfahrungssätze verwendet werden (vgl. ebd.). Wittgenstein liefert dafür ein unfreiwilliges Beispiel: Der Satz, „daß kein Mensch je auf dem Mond war“ (ÜG 108), war für ihn sowie seine Zeit eine Gewissheit unseres Weltbildes, denn „unser ganzes System der Physik verbietet uns, es zu glauben“ (ebd.) und wer dennoch daran festhielte, von dem „würden wir uns geistig sehr entfernt fühlen“ (ebd.). Dennoch gilt dieser Satz heute als widerlegt – er hat seinen Status als Gewissheit eingebüßt und ist zu einem (falsifizierten) Erfahrungssatz geworden, der nicht mehr Teil unseres Weltbildes ist.[9] Gewissheiten gewährleisten die Dynamik des Weltbildes, weil durch sie „die Grenze zwischen Regel und Erfahrungssatz“ (ÜG 319) zwar nicht liquidiert, aber zumindest unscharf wird (vgl. ÜG 309).
Um den Gedanken der Wandelbarkeit des Weltbildes zu veranschaulichen, bedient sich Wittgenstein einer Flussbettmetapher (vgl. ÜG 96 ff.). So sind die Weltbildsätze zunächst „erstarrt“ und dienen „als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze“ (ÜG 96), wobei sich „das Flußbett der Gedanken“ (ÜG 97) jederzeit verschieben könnte, sodass „flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden“ (ÜG 96). Demnach gibt es einerseits die Bewegung des Flusses – Erfahrungssätze können überprüft und bestätigt oder falsifiziert werden, ohne dass dies einen Einfluss auf unser Weltbild hat – und andererseits die Verschiebung des Flussbettes selbst, die für die Dynamik des Weltbildes steht. Des Weiteren unterscheidet Wittgenstein in seiner Metapher hinsichtlich des „Flußbett[s]“ (ÜG 97) zwischen dieses konstituierenden Sätzen unseres Weltbildes, die zum „harte[n] Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt“, gehören, sowie jenen, die den weniger robusten „Sand“ (ÜG 99) ausmachen. Beide sind Teil des Flussbettes und stehen für Weltbildsätze, die „in Fluß geraten“ (ÜG 97) können. Der Grund dieser Einteilung liegt in den Auswirkungen, die die Umwandlung verschiedener dieser Weltbildsätze zu Erfahrungssätzen mit sich bringen würde. Manche sind derart zentral für das „Substrat alles [unseres] Forschens und Behauptens“ (ÜG 162), dass wir sie nicht aufgeben könnten, ohne unser Weltbild als Ganzes ins Wanken zu bringen (z. B. „Die Erde hat die letzten 100 Jahre existiert“ [vgl. ÜG 138]), denn besonders bei diesen so zentralen Weltbildsätzen gilt, dass „das, woran ich festhalte, […] nicht ein Satz, sondern ein Nest von Sätzen“ (ÜG 225) ist. Andere hingegen haben kaum Auswirkungen – dazu gehört etwa der oben erwähnte Satz „Kein Mensch war je auf dem Mond“ – und können damit, ohne das ganze Weltbild zu erschüttern, aufgegeben werden.
Im Kontext des Moments der „Verblüffung“ (ÜG 355) setzt sich Wittgenstein mit Gewissheiten auseinander, deren Beseitigung aus dem „Nest von Sätzen“ (ÜG 225) bzw. dem Weltbild oder einem Teil des Weltbildes, einen deutlichen Einfluss auf die Wahrheiten mit sich bringen würde, die wir in unserem Sprachspiel geltend machen. Die Verblüffung meint eine Form von Sprachlosigkeit, die auftritt, wenn als Prüfstein dienende Weltbildsätze von der Form der Erfahrungssätze ins Wanken geraten (vgl. ÜG 425).
„Ob ich etwas weiß“, hängt, wie Wittgenstein schreibt, von der „Evidenz“ (ÜG 504) und damit davon ab, ob der Wissensanspruch mit unseren Weltbildsätzen kompatibel ist. Denn wie wir gesehen haben, ist durch sie als „System der Evidenz“ (ÜG 185) bestimmt, welche Phänomene wir überhaupt erst als Evidenz gelten lassen. So ist es etwa gewiss, „daß die Sonne kein Loch im Himmelsgewölbe“ (ÜG 104) ist, und daher würden wir Phänomene, die diesen Eindruck erwecken, eben nicht als Evidenz anerkennen, sie sei doch ein solches Loch, sondern zu dem Schluss kommen, dass hier eine Täuschung vorliegen muss. Das Phänomen gilt nicht als Evidenz, weil es unseren Gewissheiten widerspricht.
Es ist auch immer „von Gnaden der Natur, wenn man etwas weiß“ (ÜG 505), weil die entsprechenden Evidenzen oder Umstände auch bei der Prüfung eines Erfahrungssatzes vorzufinden sein müssen, wenn er als bestätigt oder wahr gelten soll. Was aber passiert, so lässt sich fragen, wenn die Natur nicht gnädig ist, insofern Umstände auftreten, die einen Konflikt zwischen tiefliegenden Weltbildsätzen offenbaren? So könnte etwas „wirklich Unerhörtes“ geschehen, das uns verblüfft zurücklässt, indem etwa „Häuser sich nach und nach ohne offenbare Ursache in Dampf“ oder „Bäume sich nach und nach in Menschen und Menschen in Bäume verwandelten“ (ÜG 513; vgl. ÜG 425). Auf der einen Seite würden Weltbildsätze wie „Bäume können sich nicht in Menschen verwandeln“ oder für unser naturwissenschaftliches Denken fundamentale philosophische Gewissheiten wie „Jede Wirkung hat eine Ursache“ in Frage gestellt. Auf der anderen Seite könnte man, wodurch diese Weltbildsätze gerettet würden, zu der Einstellung disponiert sein, man habe nur kurzzeitig halluziniert. Beispielsweise könnte man annehmen, unwissend in Kontakt mit Halluzinogenen gekommen zu sein. Im letzten Fall wären keine Auswirkungen für unser Weltbild zu erwarten. Was aber, um noch einen Schritt weiterzugehen, würde geschehen, wenn die vermeintliche Episode des Halluzinierens nicht mehr aufhörte, und alle Personen dieselbe Erfahrung machen würden – wenn etwa solche Fälle des Verwandelns von Bäumen in Menschen oder umgekehrt in Zeitungen und weiteren Medienberichten veröffentlicht würden? In diesem Fall gäbe es im Wesentlichen zwei relevante Möglichkeiten. Entweder es wird unterstellt, es lägen dauerhaft kollektiv kognitive Dysfunktionen vor und etwa die Überzeugung von der Zuverlässigkeit der Wahrnehmung, die für unser naturwissenschaftliches Weltbild nicht unwesentlich ist, müsste eingeschränkt oder gar aufgegeben werden. Oder man verabschiedet sich von den Gewissheiten wie „Bäume können sich nicht in Menschen verwandeln“ und – zumindest partiell – dem Kausalprinzip und hält an der Zuverlässigkeit der Wahrnehmung fest. Es steht „Evidenz gegen Evidenz, und es muß entschieden werden, welche weichen soll“ (ÜG 641). Fällt die Entscheidung zugunsten der zweiten Möglichkeit aus, so verflüssigt sich der Weltbildsatz und wird – wie der Satz „Kein Mensch war je auf dem Mond“ – künftig als Erfahrungssatz verwendet. Dies kann Auswirkungen auf andere Teile des Weltbildes haben, und was bisher als sichere Evidenz galt, wird neu verhandelt. Demnach besteht die von Wittgenstein in ÜG 198 erwähnte „Rolle der Entscheidung für und gegen einen Satz“ darin festzulegen, was wir – etwa im Falle, wenn etwas uns verblüffendes „Unerhörtes“ geschieht – weiterhin als sichere Evidenz gelten lassen und was nicht. Was als Evidenz gilt, hat wiederum einen Einfluss darauf, was wir als Wahrheiten in unserem Weltbild geltend machen. In diesem Kontext ist meines Erachtens auch ÜG 197 zu verstehen. Dort schreibt Wittgenstein, es wäre „Unsinn […] zu sagen, wir betrachten etwas als sichere Evidenz, weil es gewiß wahr ist“ (Hervorh. D.F.). Es ist Unsinn, weil durch Weltbildsätze festgelegte sichere Evidenzen ihrerseits erst bestimmen, was wir als „gewiß wahr“ bezeichnen und daher nicht selbst schon gewiss wahr sein können (ÜG 197; vgl. auch ÜG 196, 202).
2.4 Die Relativität und Alltäglichkeit des Wahrheits-Sprachspiels
Ist man mit gewissen philosophischen Vorurteilen behaftet, scheint es schwer einzusehen, weshalb es nicht die eine objektive Wahrheit geben kann, die unabhängig von bestimmten Weltbildern erörtert werden könnte. Man wird vielleicht zugestehen, dass in verschiedenen Weltbildern Unterschiedliches als Wahrheit gilt, aber dennoch darauf beharren, es müsse weltbildtranszendente Wahrheiten geben, die in einem Weltbild A vielleicht erkannt werden, aber in einem anderen Weltbild B nicht. So könnte jemand der festen Überzeugung sein, in seinem Weltbild würde als Wahrheit gelten gelassen, was auch tatsächlich und unabhängig von diesem Weltbild wahr sei, und damit fortfahren, dass „[a]lle [seine] Erfahrungen zeigen, daß es so ist“ (ÜG 145). Aber, so lässt sich mit Wittgenstein einwenden, hier liegt ein Trugschluss vor. Das Abhängigkeitsverhältnis wird verdreht. Es sind nicht das Weltbild und die auf seiner Basis geltend gemachten Wahrheiten, die durch Erfahrung gewonnen werden, sodass wir aus einer reinen Erfahrung jenes Weltbild dieser getreu ableiten könnten. Ganz im Gegenteil dazu machen wir stets Erfahrungen im Lichte unseres bereits vorhandenen Weltbilds – die Erfahrung ist weltbildgetränkt. Denn wie sollte uns die Erfahrung lehren, „daß es richtig ist, so zu urteilen?“ (ÜG 130) Sie „rät“ uns doch nicht, wie Wittgenstein fortfährt, „etwas aus ihr zu entnehmen“ (ebd.). Aufgrund dieses umgekehrten Abhängigkeitsverhältnisses ist es also nicht möglich, die weltbildeigenen Wahrheiten als weltbildtranszendente Wahrheiten auszuzeichnen.
Aber, so könnte eingewendet werden, kann es dann nicht trotzdem Wahrheiten geben, die unabhängig von jeglichem Weltbild Wahrheiten sind, auch wenn es epistemisch nicht möglich ist, sie als solche innerhalb eines Weltbilds geltend zu machen? Mit anderen Worten: Gibt es nicht unabhängig von unserem epistemischen Zugriff Wahrheiten, von denen Skeptiker*innen behaupten, die in unserem Weltbild geltenden Wahrheiten könnten von ihnen abweichen?
Um diesem Einwand zu entgegnen, ist es zunächst hilfreich, sowohl (1) auf einen wichtigen Aspekt dessen hinzuweisen, wie nach Wittgenstein Weltbilder erworben werden, als auch (2) auf den Zusammenhang zwischen Gewissheiten und Wahrheiten eines Weltbildes und der dort geltenden Bedeutung von „Wahrheit“ einzugehen. Im Anschluss wird auf den Einwand zurückzukommen sein. Ich beschränke mich hinsichtlich Wittgensteins Erläuterungen zum Erwerb unseres Weltbildes auf seine Überlegungen zur Praxis des empirischen Urteilens, weil diese ausreichend sind, um den mir zentralen Gedanken herauszuarbeiten.[10]
Der Erwerb eines Weltbildes in der Kindheit findet etwa in der „Praxis des empirischen Urteilens“ (ÜG 140) statt und besteht nicht im Lernen abstrakter Regeln, sondern darin, dass uns „Urteile […] und ihr Zusammenhang mit anderen Urteilen“ (ebd.) beigebracht werden. Regeln allein legen ihre Anwendung nicht fest und daher brauchen wir in der Praxis konkrete Beispiele des (richtigen) Urteilens, um erfolgreich in eben diese Praktik eingewiesen werden zu können (vgl. ÜG 139; vgl. auch PU 201 f.). Innerhalb dieser Praktik „bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem“[11] – und damit unser Weltbild – „heraus“ (ÜG 144). Dies geschieht jedoch indirekt, weil wir im Rahmen der Praxis des empirischen Urteilens nicht direkt Weltbildsätze vermittelt bekommen. Es sind einfache empirische Urteile, die in der Praxis gefällt werden. Sie haben jedoch unartikulierte „Folgerungen“, die wir mit der Übernahme der einzelnen Urteile „schlucken“, ohne uns überhaupt darüber Gedanken zu machen (vgl. ÜG 143). Und bei diesen „Folgerungen“ handelt es sich als Ganzes betrachtet um unser Weltbild. Weltbildsätze werden also nicht explizit gelernt, sondern können „wie die Rotationsachse eines sich drehenden Körpers“ nachträglich gefunden (ÜG 152) werden. Wäre demnach unsere Praxis des (empirischen) Urteilens eine andere, hätten wir auch ein anderes Weltbild. Darin zeigt sich eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Weltbildsätzen und empirischen Urteilen, die wir explizit innerhalb unserer Praktiken äußern. Einerseits bestimmt unser Weltbild unsere Erfahrung (vgl. ÜG 130, 145). Andererseits wird der Erwerb eines Weltbildes nur dadurch ermöglicht, dass wir empirische Urteile im Zuge der entsprechenden Praktiken hinnehmen und sie uns aneignen. Andernfalls ginge es uns wie dem Schüler in ÜG 310 – 316 – wir könnten nicht Teil der Gemeinschaft und ihrem Weltbild werden.
Wittgenstein schreibt im Kontext der Feststellung, dass wir in der Praxis empirische Urteile anderer unter normalen Umständen und vor allem beim Erwerb des Weltbildes (in der Kindheit) einfach hinnehmen, vom „Naturgesetz des ‚Fürwahrhaltens‘“ (ÜG 172). Er bringt damit zum Ausdruck, dass hier, ähnlich wie bei Rechtfertigungen des Befolgens einer Regel, der „harte Felsen“ (PU 217) erreicht ist, an dem man, anstatt eine rationale Erklärung zu geben, nur festhalten kann, es läge eben in unserer Natur, ein solches urwüchsiges Vertrauen in die Urteile anderer zu haben: Wir halten sie gemeinhin für wahr.[12]
Die in der Praxis gefällten empirischen Urteile, die wir hinnehmen und mit denen wir implizit in unser Weltbild eingeführt werden, sind zugleich bestimmend für unsere Wahrheits-Sprachspiele und damit den Gebrauch von „wahr“ und „Wahrheit“. Sie stellen paradigmatische Anwendungsfälle für „wahr“ und „Wahrheit“ bereit, indem Lehrende diese empirischen Urteile ergänzend mit dem Wahrheitsprädikat äußern könnten. Es braucht sowohl den Kontakt mit Situationen, in denen es angemessen ist, zu äußern, ein Urteil sei wahr, als auch viele Beispielfälle, in denen in solchen Situationen von Lehrenden tatsächlich geäußert wird, dass ein Urteil wahr sei. Nur so kann die Verwendung von „wahr“ und „Wahrheit“ und damit dessen Bedeutung gelernt werden. Dabei kann jede Person der Gemeinschaft, selbst oder vor allem innerhalb banaler Alltagssituationen, potenziell lehrend tätig sein. Wer dann als Lernender in einer Situation, in der es in unserem Weltbild angemessen ist zu urteilen, etwas sei wahr (richtige Anwendung), stattdessen urteilt, es sei falsch (falsche Anwendung), muss sich dem Verdacht aussetzen, er habe entweder schlicht falsch geurteilt (nicht die Wahrheit gesagt, sich geirrt) oder die Bedeutung von „wahr“ nicht verstanden (vgl. ÜG 81) und dem Ausdruck damit unter Umständen, bei hinreichender Kohärenz der Verwendung, eine andere Bedeutung als die von der Gemeinschaft gebrauchte gegeben.
Besonders deutlich tritt der Zusammenhang zwischen dem Gebrauch von „wahr“ oder „Wahrheit“ beim Fällen eines Urteils und der Bedeutung dieser Ausdrücke hervor, wenn Gewissheiten unseres Weltbildes, die weder falsch noch wahr sind (vgl. 2.2), von Lernenden oder Außenstehenden vehement als falsch bezeichnet werden. Wittgenstein führt dafür ein Beispiel an, indem er den Weltbildsatz „Die Erde hat in den letzten 100 Jahren existiert“ heranzieht (vgl. ÜG 231). Sollten uns tatsächlich Menschen begegnen, die diesen Satz in Zweifel ziehen oder ihn gar als falsch bezeichnen (vgl. ÜG 92), wäre ab einem gewissen Punkt der Diskussion unklar, ob die uns gegenüberstehenden Personen verständlich sprechen, denn „wenn [sie] gewisse falsche Aussagen mache[n], wird es dadurch unsicher, ob [sie] sie verstehe[n]“ (ÜG 81). Man könnte sagen, dieser Satz ist für uns „fundamental“ und „wenn das falsch ist, was ist noch ‚wahr‘ und ‚falsch‘?!“ (ÜG 514) Das Zugeständnis, es sei falsch, dass die Erde die letzten 100 Jahre existiert habe, würde demnach für Wittgenstein „die Rolle, die ‚Irrtum‘ und ‚Wahrheit‘ in unserem Leben spielen“ (ÜG 138) verändern.[13] Das bedeutet, dass „Wahrheit“ und „Irrtum“ anders gebraucht würden, denn man würde beispielsweise das Urteil „Die Erde hat vor 100 Jahren noch nicht existiert“ und alles, was sich daraus ergibt, als „wahr“ bezeichnen, und somit unsere Wahrheits-Sprachspiele verändern.[14]
Wie wir im vorangegangenen Unterkapitel gesehen haben, heißt, gewisse Gewissheiten aufzugeben, auch, neu auszuloten, was im Weltbild als Evidenz gilt. Aus einer Neubestimmung der Evidenzen ergibt sich im Weltbild ein neuer Pool an Wahrheiten, die wir geltend machen. Zusätzlich wird nun ersichtlich, dass andere Wahrheiten geltend zu machen auch bedeutet, den Gebrauch und damit die Bedeutung von „wahr“ und „Wahrheit“ innerhalb unserer Wahrheits-Sprachspiele zu ändern. Die sich aus der dynamischen Änderung des Weltbilds ergebenden Wahrheiten dienen wiederum dazu, Lernenden neue paradigmatische Fälle von „wahr“ und „Wahrheit“ bereitzustellen und sie somit in deren Gebrauch einzuweisen. Eine andere Lernpraxis innerhalb eines Weltbildes, in dem andere Wahrheiten anerkannt sind, führt damit zu von unseren verschiedenen Wahrheits-Sprachspielen (vgl. auch Z 387), weshalb das, was mit „Wahrheit“ und „wahr“ gemeint ist, immer nur relativ zu einem Weltbild explizierbar ist.
Es ist wichtig einzusehen, dass es entsprechend falsch wäre, zu sagen, zwei unterschiedliche Weltbilder oder das Weltbild vor und nach einem Wandel von Gewissheiten hätten immer dasselbe Verständnis von „Wahrheit“ und würden schlicht Unterschiedliches als wahr bezeichnen, denn, was wir in der Praxis als wahr oder falsch bezeichnen, hat gemäß Wittgenstein einen Einfluss auf die Bedeutung von „wahr“ und „Wahrheit“ selbst. Hier zeigt sich auch eine gedankliche Überschneidung zu Wittgensteins früheren Bemerkungen aus den Philosophischen Untersuchungen: Eine Abwandlung des Gebrauchs – etwa von „wahr“ oder „falsch“ – geht nach Wittgenstein mit einer Änderung der Bedeutung der Worte, deren Gebrauch sich ändert, einher, da für ihn zwischen beiden in den allermeisten Fällen ein Zusammenhang besteht. Denn, wie Wittgenstein schreibt, gilt „für eine große Klasse von Fällen“, dass die „Bedeutung eines Wortes […] sein Gebrauch in der Sprache [ist]“ (PU 43, siehe auch PG 1973: 59 f.).
Bevor wir nun zu dem obigen skeptischen Einwand zurückkehren, sind also zwei wichtige Punkte festzuhalten: Erstens sind Urteile, durch die wir in unser Weltbild eingeführt werden, zugleich paradigmatische Anwendungsfälle zum Erwerb des richtigen Gebrauchs von „wahr“ und „Wahrheit“ innerhalb unseres Weltbildes; zweitens sind Wahrheit und Bedeutung insofern miteinander verknüpft, als innerhalb der Sprachgemeinschaft bei Gewissheiten (allgemein anerkannt) von einem Irrtum bzw. einer Unwahrheit zu sprechen, hieße, den Gebrauch und zugleich die Bedeutung von „Wahrheit“ in unseren Sprachspielen zu verändern.[15]
Damit kommen wir zum obigen Einwand zurück. Das Bild, wovon der Einwand seine Überzeugungskraft speist, besteht darin, sich wie philosophische Skeptiker*innen verschiedene Weltbilder nebeneinander vorzustellen und auf sie eine Metaperspektive einnehmen zu können, von der aus die Frage gestellt wird, welches denn nun Wahrheiten enthält und welches nicht. Demgemäß könnte es dann sein, dass wir, die wir uns in einem Weltbild befinden, aus der vermeintlichen skeptischen Metaperspektive betrachtet, in jedem Fall falsch über die Wahrheit von Sätzen geurteilt haben, ohne es zu wissen, weil die Welt anders beschaffen ist, als wir es in unserem Weltbild mit dessen zugrundeliegenden Gewissheiten zu erkennen glauben. In Bezug auf unsere Wahrheits-Sprachspiele könnte dies bedeuten, dass wir bisher unwissentlich immer „wahr“ und „Wahrheit“ in einer Situation verwendet haben, in der es, aus der Metaperspektive betrachtet, unangemessen ist, sie zu verwenden, weil etwa alle empirischen Urteile, von denen wir sagen, sie seien wahr, tatsächlich falsch sind. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass damit die bereits erörterten Urteile, anhand deren wir in das Weltbild eingewiesen werden und uns der Gebrauch von „wahr“ und „Wahrheit“ durch Lehrende gelehrt wird, nach dem skeptischen Bild allesamt falsch sein könnten.
Die an dieser Stelle aufkommende Frage zur Erwiderung auf den Einwand ist, was hier mit der Rede von Wahrheit überhaupt noch gemeint sein soll? Wie Wittgenstein feststellt, müssen nämlich philosophisch vorbelastete Begrifflichkeiten wie „‚Sprache‘, ‚Erfahrung‘, ‚Welt‘“, aber eben auch „Wahrheit“, wenn sie denn eine Verwendung haben sollen, eine ebenso niedrige haben, „wie die Worte ‚Tisch‘, ‚Lampe‘, ‚Tür‘“ (PU 97). Für die Verwendung von Begrifflichkeiten der ersten Art ist innerhalb von Sprachspielen wie etwa der Praktik des empirischen Urteilens ebenso ein „Abrichten“ (PU 5) notwendig, wie es bei den alltäglichen Begrifflichkeiten „Tisch“, „Lampe“ oder „Tür“ der Fall ist, damit sie einen semantischen Gehalt haben können. Wie wir gesehen haben, braucht es dazu einen Unterricht, in dem klare Beispiele (vgl. ÜG 139) für die richtige Verwendung von „wahr“ oder „Wahrheit“ vorgegeben werden. Anwendungsbeispiele kann es allerdings nicht geben, wenn, wie der obige skeptische Einwand impliziert, sogar für die Lehrenden, die die Abrichtung vollziehen sollen, in keinem Fall klar ist, in welcher Situation bei welchem Urteil gesagt werden könne, es sei wahr. Man stelle sich dazu vor, uns würde der Gebrauch von „wahr“ oder „Wahrheit“ dadurch beizubringen versucht, dass Lehrende im Sinne von nach weltbildtranszendenten Wahrheiten suchenden Skeptiker*innen bei allen Urteilen, anhand deren sie lehren wollen, was „wahr“ oder „Wahrheit“ bedeutet, dazu sagten, das Urteil könne aber auch falsch sein, und auch entsprechend handeln, als sei dies tatsächlich möglich. Ist man seinerseits skeptisch gegenüber der Möglichkeit eines solchen Handelns, gäbe es nichts, was Lernende über eine Sprach-Marotte hinaus als Bedeutung von „wahr“ oder „Wahrheit“ gelernt hätten.[16] Die Wahrheitsskepsis mündet in einen Verlust der Bedeutung von „wahr“ und „Wahrheit“. So muss also in einer hinreichenden Anzahl von Fällen gelten, dass Wahrheitsurteile innerhalb unseres Weltbildes auch tatsächlich korrekt sind und eines jedes Zweifels entbehren, weil andernfalls „there is no way of explaining how we could learn to use the word ‚true‘ […,] there is no way of explaining the meaning that the word ‚true‘ has“ (Ellenbogen 2003: xiv). Zu sagen, diese Wahrheitsurteile seien tatsächlich korrekt, heißt nicht, die skeptische Gegenposition einzunehmen, sondern ihr oben skizziertes Bild abzulehnen und festzuhalten, es sei konstitutiv für unsere Verwendung von „Wahrheit“ und „wahr“, dass diese Urteile korrekt sind.
Eine Person, die den skeptischen Einwand erhebt, beraubt uns also zunächst aller paradigmatischen Anwendungsfälle von „wahr“ und „Wahrheit“ und zugleich unserer für das Weltbild konstitutiven Gewissheiten, indem gesagt wird, alle geltenden Wahrheiten könnten auch falsch sein, kann dann allerdings keinen einzigen Anwendungsfall für ihr vermeintliches Verständnis von „Wahrheit“ angeben, sodass ihre Rede von weltbildtranszendenten Wahrheiten leer bleiben muss.
Damit steht bereits Wittgensteins Bemerkung 111 in der Philosophischen Grammatik im Einklang, in der er einen Gedanken äußert, der seiner Ansicht nach „so schwer einzusehen ist“. Im Bereich der „Wahr-Falsch-Spiele“ führt uns eine „Änderung der Grammatik“ – eine unsere Verwendung von „wahr“ und „Wahrheit“ betreffende dynamische Veränderung des Weltbildes – nicht, wie Anhänger*innen des skeptischen Einwandes urteilen würden, bestenfalls zum weltbildtranszendenten „Wahren“ und schlimmstenfalls zum „Falschen“, sondern immer nur „von einem solchen Spiel zu einem anderen“ (PG 1973: 111). Wir kommen bei der Änderung des Gebrauchs von „wahr“ und „Wahrheit“ keiner weltbildtranszendenten Wahrheit näher oder entfernen uns weiter von ihr, weil die Rede von einer solchen weltbildtranszendenten Wahrheit keinen semantischen Gehalt hat.
3 Der destruktive Teil: Wittgenstein und philosophische Wahrheitstheorien
3.1 Die Pluralität der Verwendung von „Wahrheit“ in unserem Weltbild
Wir haben im konstruktiven Teil gesehen, dass unsere Wahrheits-Sprachspiele und damit unsere Verwendung von „wahr“ und „Wahrheit“ dadurch bestimmt sind, welche Gewissheiten Teil unseres Weltbildes sind. Damit können nicht nur zwei unterschiedliche Weltbilder in ihren Wahrheits-Sprachspielen variieren, sondern sich auch Wahrheits-Sprachspiele innerhalb eines Weltbildes im Laufe der Zeit verändern. Es ergibt sich eine Pluralität des Wahrheitsverständnisses in zweierlei Hinsichten: erstens innerhalb eines Weltbildes über die Zeit und dessen dynamischen Veränderungen hinweg; zweitens in Bezug auf zwei unterschiedliche Weltbilder, in denen verschiedene Urteile als „wahr“ oder „Wahrheit“ bezeichnet, mithin beide Wörter verschieden verwendet werden. Nun gibt es jedoch noch eine dritte Hinsicht, in der man von einer Pluralität des Wahrheitsverständnisses sprechen muss, welche sich für eine allgemeine Kritik der These fruchtbar machen lässt, Wittgenstein habe irgendeine Form von philosophischer Wahrheitstheorie vertreten. Und zwar gibt es bereits bei jedem einzelnen Weltbild, auch wenn es gerade keine dynamische Änderung vollzieht, eine Pluralität der Bedeutung von „Wahrheit“. Wie Floyd Wittgenstein rekonstruierend hervorhebt, „durchzieht Wahrheit das Denken als etwas, das formbar und anpassungsfähig an Situationen ist“ (2022: 418) und geht damit auf die „Situations-Sensitivität“ (2022: 417) der Bedeutung von „Wahrheit“ ein. Wahrheitsansprüche konstituieren sich stets innerhalb eines Weltbilds auf Basis der darin bestehenden Gewissheiten, wobei freilich nicht in jedem Kontext, in dem es um Wahrheitsfindung geht, dieselben Gewissheiten eines Weltbilds Relevanz haben. So stellt auch Putnam (1994: 515) fest, für „wahr“ und „Wahrheit“ gelte nach Wittgenstein, wie für viele andere Begriffe auch, dass „[they] have a plurality of uses, and new uses are constantly added as new forms of discourse come into existence“, sodass es ein sinnloses Unterfangen ist, die eine Bedeutung von „Wahrheit“ oder „wahr“ finden zu wollen (vgl. PU 66 f.). Explizit bringt Wittgenstein dies im Zusammenhang mit dem Wahrheitsbegriff in seinen Bemerkungen zu Broad zum Ausdruck. Dort heißt es, „Wahrheit“ habe „wenigstens drei Bedeutungen“, weshalb nicht die eine Theorie „die gesamte Grammatik unserer Verwendung dieses Worts angeben“ (LWL 1984: 95 f.) könne. Im Kontext eines Gerichtsverfahrens spiele beispielsweise Kohärenz bei der Auffassung einer Aussage als wahr eine Rolle, während es in naturwissenschaftlichen Kontexten die Nützlichkeit von Hypothesen sei, die ihre Wahrheit bekräftige (vgl. ebd.).[17] Den Satz „Georg V. ist König von England“ wahr zu nennen, hieße hingegen, „wahr“ mit einer korrespondenztheoretischen Konnotation zu verwenden (ebd.). Was Wittgenstein durch seine Erläuterung und die damit zusammenhängenden Beispiele zum Ausdruck bringt, ist nichts anderes, als die generelle Ablehnung, „Wahrheit“ im Sinne der geläufigen philosophischen Wahrheitstheorien begrifflich zu analysieren. Wie überzeugend man Wittgensteins Auseinandersetzung in den Vorlesungen des Jahres 1931/32 auch immer finden mag, der oftmals verfolgte Ansatz, Wittgensteins Wahrheitsverständnis im Sinne dieser philosophischen Theorien zu interpretieren, ist damit kaum mehr plausibel zu machen. Dennoch gilt es, die gängigsten, im Lichte einer philosophischen Wahrheitstheorie stehenden Interpretationsversuche explizit im Einzelnen zu begutachten – nicht, um zu zeigen, dass Wittgenstein sie vertreten haben könnte, sondern um offenzulegen, an welcher Stelle die Interpretation fehlgeht. Ich beschränke mich auf die redundanztheoretische resp. deflationistische Interpretation sowie die verschiedenen Formen – ich werde im Weiteren zwei unterscheiden – einer konsensustheoretischen Interpretation. Der Grund ist schlicht der, dass diese innerhalb der Literatur mit Abstand am häufigsten vertreten werden. Um jedoch (1) den Faden zum konstruktiven Teil wieder aufzunehmen (Kritik am weltbildtranszendenten Wahrheitsbegriff) und (2) wichtige Gedankengänge aus Über Gewißheit einzubeziehen, die mit „Wahrheit“ zusammenhängen und eine deutliche Distanzierung von Wittgensteins Wahrheitsverständnis im Tractatus verdeutlichen, beginne ich mit Wittgensteins Auseinandersetzung mit der sich (wie mir scheint) gegenwärtig einer großen Beliebtheit erfreuenden Korrespondenztheorie der Wahrheit.
3.2 Korrespondenztheorie der Wahrheit
Die Korrespondenztheorie der Wahrheit besagt allgemein, Wahrheit sei die Übereinstimmung eines Satzes – eines Urteils oder einer Überzeugung – mit den Tatsachen. Beispielsweise würde die Überzeugung, Schnee sei weiß, dadurch wahr gemacht, dass es tatsächlich Schnee gibt, der die Eigenschaft hat, weiß zu sein. Die Korrespondenztheorie bietet eine metaphysisch-realistische Auslegung von „Wahrheit“ an (vgl. Grundmann 2017: 47), weil sie unter Tatsachen „Entitäten in der Welt und keine wahren Propositionen oder Aussagen“ (ebd.) versteht, die unabhängig davon bestehen, ob jemand sie erkennen kann oder nicht. Damit ergibt sich, dass sie aus theoretischer Perspektive aus drei wichtigen Komponenten zusammengesetzt ist: Demjenigen, was einen Wahrheitswert hat (Sätze/Propositionen), Wahrmacher (Tatsachen) und deren Relation (Übereinstimmung/Nicht-Übereinstimmung) zueinander.
Wittgenstein vertrat in seinem frühphilosophischen Schaffen ebenfalls einen Wahrheitsbegriff „einer korrespondenztheoretisch konzipierten ‚Aussagenwahrheit‘“ (Majetschak 2000: 61). So war für Wittgenstein im Tractatus der Satz „ein Bild der Wirklichkeit“ (TLP 4.021), dessen „Wahrheit oder Falschheit“ „[i]n der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Sinnes mit der Wirklichkeit besteht“ (TLP 2.222), wobei er Letztere als „die Gesamtheit der Tatsachen“ (TLP 1.1) verstand. Aufgrund seiner damaligen Vorstellung von Wahrheit und dem Umstand, dass er sich über die Jahre hinweg immer weiter von einem solchen Wahrheitsbegriff distanzierte, finden sich in Wittgensteins späterem Schaffen zahlreiche kritische Bemerkungen im Zusammenhang mit einem korrespondenztheoretischen Verständnis von Wahrheit. Einige der wichtigsten Bemerkungen werden im Folgenden reflektiert und für eine kritische Begutachtung der Korrespondenztheorie in Stellung gebracht.
Wittgenstein würde keineswegs leugnen, dass jemand, der im Alltag sagt, ein Urteil sei wahr, auch äußern könnte, ein Urteil stimme mit den Tatsachen überein.[18] Es geht ihm nicht darum, Restriktionen im Sprachgebrauch einzuführen. Jedoch besteht für ihn zwischen „ist wahr“ und „stimmt mit den Tatsachen überein“ kein Definitionsverhältnis. In vielen Fällen lassen sich beide Ausdrücke wechselseitig austauschen, sodass sie als Synonyme verwendet werden können. Jedoch wird mit letzterem Ausdruck nicht detaillierter expliziert, was mit ersterem – „ist wahr“ – gemeint sein soll. Wer also „ist wahr“ dadurch zu definieren versucht, dass ein Satz, von dem man sagt, er sei wahr, mit den Tatsachen übereinstimme, der bewegt sich gemäß Wittgenstein bereits „im Kreise“ (ÜG 191).[19] Mit dem Urteil, der Satz stimme mit den Tatsachen überein, hat man der Feststellung, der Satz sei wahr, nichts an semantischem Gehalt hinzugefügt (vgl. Dolby 2017: 439). „Der Satz stimmt mit den Tatsachen überein“ ist, wie etwa „‚Ich weiß . . .‘“ (ÜG 243), eine von vielen „Möglichkeiten des Dartuns der Wahrheit“ (ebd.) und drückt die Bereitschaft aus, „zwingende Gründe“ anzugeben. Er nimmt demnach im Raum dieser Möglichkeiten keine gesonderte Stellung ein – der Ausdruck ist kein Definiens.
Der Grund, weshalb diese Wittgenstein′sche Einsicht der „Äquivalenz“ (Krebs 2007: 123) beider Ausdrücke des Öfteren auf Widerstand stößt, besteht darin, dass man mit dem Begriff der Übereinstimmung eine Art metaphysische resp. weltbildtranszendente Vermittlung zwischen Satz und Tatsache zu postulieren glaubt, die in der Rede von „X ist wahr“ nicht zum Ausdruck kommt. Aber gerade, wenn man dieser Überzeugung ist, hat „[d]er Gebrauch von ‚wahr oder falsch‘ […] etwas Irreführendes, weil es ist, als sagte man ‚es stimmt mit den Tatsachen überein oder nicht‘, und es sich doch gerade frägt, was ‚Übereinstimmung‘ hier ist“ (ÜG 199).
Im Gegensatz zu Krebs′ (2007: 123) Behauptung, Wittgenstein habe nicht begründet, warum für ihn nicht klar sei, was „Übereinstimmung“ überhaupt heißen solle, wenn man die Rede von der Übereinstimmung als eine Erklärung des Ausdrucks „ist wahr“ verstehe, finden sich bei Wittgenstein sehr wohl einige Bemerkungen, die hierauf eine Antwort geben. Wittgensteins Begründung ist sogar in Über Gewißheit selbst zumindest angedeutet. So schreibt er in ÜG 214 Folgendes: „Was hindert mich anzunehmen, daß dieser Tisch, wenn ihn niemand betrachtet, entweder verschwindet oder seine Form und Farbe verändert und nun, wenn ihn wieder jemand ansieht, in seinen alten Zustand zurückkehrt? – ‚Wer wird aber auch so etwas annehmen!‘ – möchte man sagen.“ Daraus zieht er im weiteren Schritt die Schlussfolgerung: „Hier sehen wir, daß die Idee von der ‚Übereinstimmung mit der Wirklichkeit‘ keine klare Anwendung hat.“ (ÜG 215)
Es stellt sich die Frage, inwiefern ÜG 214 zeigt, dass der Ausdruck „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ einer klaren Verwendung entbehrt. Eine Antwort liefern Überlegungen zu dem, was Majetschak (2000: 140) das „‚Projektionsstrahlen‘-Surrogat“ genannt hat, mit dem sich Wittgenstein in der Philosophischen Grammatik beschäftigt hat.[20] Der in ÜG 215 aufgeführten Idee liegt die Vorstellung einer „aller wirklichen Verwendung eines Bildes [oder Satzes] voraufliegende [sic] Beziehung zwischen Bild- [, Satz‐] und Wirklichkeitselementen“ (Majetschak 2000: 140) zugrunde. Wie jedoch Wittgenstein im Laufe seines philosophischen Schaffens bewusst wurde, gibt es eine solche, einer jeden Verwendung vorausgehende, Beziehung nicht. Diese Vorstellung beruht auf einer nicht ausreichenden Differenzierung zwischen der „Projektionsmethode“ und den „Projektionsstrahlen“ (PG 1973: 213), die man sich als eine bijektive resp. eineindeutige Verbindung zwischen Objekten oder Tatsachen auf der einen Seite und Sätzen auf der anderen Seite vorstellt. Selbst wenn es nämlich Projektionsstrahlen gäbe, die vom Satz zur Wirklichkeit führten, wäre damit noch immer nicht die dem Satz korrespondierende Wirklichkeit bestimmt, weil trotzdem eine Vielzahl von Möglichkeiten bestünde, die Projektionsstrahlen in ihrem Verhältnis zu Satz und Wirklichkeit zu deuten. Projektionsstrahlen gehören, wie Wittgenstein schreibt, „noch zum Bild“ (PG 1973: 213), weil sie bestenfalls eine „Beschreibung [oder Darstellung] der Projektionsmethode“ (PG 1973: 214) sind, die zum Erlernen dieser hilfreich sein kann, aber dennoch Raum für Fehlanwendungen lässt. Die Projektionsmethode hingegen ist „eine Brücke […], die nicht geschlagen ist, so lange die Anwendung nicht gemacht ist“ (PG 1973: 213). Damit bestimmt nicht die Übereinstimmung von Satz und Wirklichkeit die Verwendung des Satzes (vgl. PU 292), sondern umgekehrt die Verwendung des Satzes – die Projektionsmethode –, was als Übereinstimmung des Satzes mit der Wirklichkeit gilt (vgl. LWL 1984: 286). Die Rede von der Übereinstimmung ist schlicht der Ausdruck für den Umstand, dass der Satz gewissen Regeln der Anwendung unterworfen ist (vgl. PU 224) und eben nicht für eine „ätherisch[e]“ (PG 1973: 213) Bestimmung des Verhältnisses von Satz und Wirklichkeit durch Projektionsstrahlen.
Nun hängt die Verwendung eines Satzes, die bestimmt, was als Übereinstimmung dieses Satzes mit der Wirklichkeit gilt, freilich davon ab, was wir als Evidenz für das Vorhandensein des damit behaupteten Sachverhalts anzusehen bereit sind. Und dies heißt nichts anderes, als dass die Übereinstimmungsrelation zwischen Satz und Wirklichkeit durch weltbildinterne „Annahmen“, d. h. Weltbildsätze, konstituiert wird und deshalb keine Ressourcen für den Versuch der Bestimmung eines weltbildtranszendenten Wahrheitsbegriffes zur Verfügung stellen kann (vgl. ÜG 203). An dieser Stelle ergibt sich auch der Zusammenhang zwischen ÜG 214 und ÜG 215. Eine Gemeinschaft, in der es legitim ist, davon auszugehen, „daß dieser Tisch, wenn ihn niemand betrachtet, entweder verschwindet oder seine Form und Farbe verändert und nun, wenn ihn wieder jemand ansieht, in seinen alten Zustand zurückkehrt“ (ÜG 214), hat grundsätzliche Annahmen, die unseren zuwiderlaufen. In ihren (Sprach‐)Handlungen manifestieren sich von unseren abweichende Gewissheiten, sie hat (partiell) ein anderes Weltbild.[21] Daraus ergibt sich jedoch auch, dass sie andere Evidenzen für das Vorliegen von mit Tischen zusammenhängenden behauptete Sachverhalte gelten lässt. Wenn wir soeben den einzigen Tisch in Gebäude A unter normalen Umständen gesehen haben, gilt dies als Evidenz dafür, dass sich der Tisch in besagtem Gebäude befindet. Es ist legitim festzustellen, dass der Satz „In Gebäude A befindet sich ein Tisch“ mit den Tatsachen übereinstimmt. Gemäß dem anderen Weltbild mit der abweichenden Annahme bezüglich Tischen wäre dies jedoch nicht der Fall, weil wir uns in der Zwischenzeit vom Tisch abgewandt haben könnten und es ev. auch sonst keine Person im Raum gibt, die den Tisch betrachtet, sodass er nun verschwunden wäre. Dass der Tisch gerade eben wahrgenommen wurde, liefert keine Evidenz für seine Anwesenheit zum jetzigen Zeitpunkt. Ganz im Gegenteil scheint demnach sogar einiges dafür zu sprechen, er sei momentan nicht in Gebäude A, weil wir unter Umständen die einzige Person im Gebäude sind und deswegen auszuschließen ist, irgendjemand nähme ihn gerade wahr. Der Satz „In Gebäude A befindet sich ein Tisch“ würde unter diesen Umständen nicht mit den Tatsachen übereinstimmen. Wenn es stimmt, dass die mit Evidenzen zusammenhängende Verwendung von Sätzen bestimmt, was als Übereinstimmung von Satz und Wirklichkeit gilt, läge demnach in beiden Weltbildern eine unterschiedliche „Idee von der ‚Übereinstimmung mit der Wirklichkeit‘“ (ÜG 215) vor. Daraus ergibt sich, dass diese „Idee“ keine „klare“, d. h. eine allen Weltbildern gemeinsame, „Anwendung“ besitzt, und somit nicht dazu dienen kann, einen korrespondenztheoretischen Begriff der Wahrheit mit seinen metaphysischen Ambitionen zu begründen.
3.3 Redundanztheorie der Wahrheit
Der Deflationismus entwickelt keine Wahrheitstheorie im üblichen Sinne. Er zeichnet sich gerade dadurch aus, den Versuch der genaueren Explikation des Wahrheitsprädikats grundsätzlich abzulehnen und davon auszugehen, dass sich über Wahrheit „nichts Interessantes und Substanzielles aussagen lässt“ (Grundmann 2017: 42). Demgemäß ist das einem Satz zugeschriebene Wahrheitsprädikat „ist wahr“ überflüssig, weil damit nicht mehr als mit dem bloßen Satz ohne Wahrheitsprädikat geäußert wird. Ein bekanntes Beispiel für den deflationistischen Gedanken findet sich in Freges Aufsatz „Der Gedanke“. Dort schreibt er, es sei beachtenswert, dass der Satz „Ich rieche Veilchenduft“ denselben Inhalt habe wie „es ist wahr, daß ich Veilchenduft rieche“, sodass das Beilegen der Eigenschaft des Wahrseins dem durch den Satz ausgedrückten Gedanken nichts hinzuzufügen scheine (Frege 1966: 34). Interessant ist der Deflationismus für unsere Auseinandersetzung deshalb, weil es durchaus Interpret*innen gibt, die der Überzeugung sind, Wittgenstein habe ein deflationistisches Verständnis von Wahrheit gehabt. Eine Erkundung der einschlägigen Literatur führt meines Erachtens sogar zu dem Ergebnis, dass deflationistische Deutungen den Großteil der angebotenen Interpretationen ausmachen. So glaubt etwa Horwich in den Philosophischen Untersuchungen „a perspective that these days would be classified as „deflationary““ (2016: 99) zu erkennen. Hamilton stellt hinsichtlich Wittgensteins Spätphilosophie fest, dass „he has a generally deflationary conception of truth“ (2014: 113). Auch Kripke (2018: 110) merkt an, Wittgenstein vertrete „[w]ie viele andere Autoren […,] die ,Redundanztheorie′ der Wahrheit“. Und bei Dummett (1978: xxxiv) heißt es, Wittgenstein habe an der Frage, was einen Satz wahr macht, kein Interesse gehabt, sodass „his usual reaction to such a question is to dismiss it by appealing to the redundancy theory of truth“. Price sieht in Wittgenstein gar bereits einen „well known […] early advocate of a deflationist or redundancy theory of truth“ (2004: 187). Als Hauptargument für diese These werden in den allermeisten Fällen einzelne Bemerkungen Wittgensteins herangezogen, welche die Redundanz des Wahrheitsprädikats unmittelbar zum Ausdruck bringen und somit Wittgenstein zu einem Vertreter des Deflationismus machen sollen. So wird sich zum Beispiel auf Bemerkung 136 der PU berufen, in der sich Wittgenstein primär kritisch mit der Vorstellung auseinandersetzt, man könne, was ein Satz sei, innerhalb einer Sprache voraussetzungslos daran festmachen, ob der Begriff „wahr“ oder „falsch“ damit kompatibel ist oder nicht. Im Zuge der Auseinandersetzung gelangt Wittgenstein beiläufig, ohne dass dies eine wichtige Rolle für seine Argumentation spielen würde, zu folgender Feststellung[22]:
‚p‘ ist wahr = p
‚p‘ ist falsch = nicht-p (PU 136).
(Savigny 1994: 180)
Es gibt zahlreiche Bemerkungen, in denen sich Wittgenstein auf gleiche oder ähnliche Weise äußert. Das obige Schema findet sich beispielsweise auch in PG 123 oder Bemerkung 117 in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. In MS 154 (30) und MS 101 (34) heißt es gar direkt, dass „p ist wahr“ nichts anderes sage als „p“.
Trotz alledem ist es verfehlt, daraus zu schlussfolgern, Wittgenstein sei Anhänger eines deflationistischen Verständnisses von Wahrheit gewesen. Zunächst steht es sicherlich außer Frage, dass dem Wahrheitsprädikat „ist wahr“ nach Wittgenstein auch eine expressive Funktion zukommt, die das Äußern einer Behauptung emphatisch verstärken soll (vgl. Kober 1993: 238). Daraus folgt jedoch keineswegs, der „Gebrauch von ‚ist wahr‘ sei ausschließlich expressiv“ (ebd.). Der Deflationismus fordert, es bestünde in jedem Fall eine Äquivalenzrelation zwischen „‚p‘ ist wahr“ und „p“, sodass nach Belieben beide Ausdrücke wechselseitig austauschbar seien. Immerhin füge, so die deflationistische Position, „ist wahr“ der Sache nichts Wesentliches hinzu, weswegen es einerlei sei, ob man das Wahrheitsprädikat äußere oder nicht. Freilich gibt es gemäß Wittgenstein Fälle, in denen „‚p‘ ist wahr“ und „p“ wechselseitig ausgetauscht werden können, aber ob ein solcher Fall vorliegt oder nicht, ist kontextabhängig. Ein Beispiel dafür gibt Wittgenstein selbst in den von Waismann veröffentlichten Principles of Linguistic Philosophy. Dort fragt er: „What is the difference between the proposition ‚p‘ and the proposition ‚p is true‘? Is it possible to imagine a situation in which it would be proper to assert the one but not the other?“ (WLP 1965: 30)
Die Antwort gibt er sich sogleich selbst, indem er feststellt, es gäbe durchaus Situationen, in welchen es einzig angemessen ist, einen der beiden Ausdrücke, aber nicht den anderen, zu verwenden, denn „[n]o doubt, which expression is used may depend on the circumstances. We say ‚It is true that Homer was a real person‘ only when we want to reject a doubt on the matter, or when we are summing up the conclusion of an argument“ (ebd.)
Aus dem Beispiel wird klar, dass wir das Wahrheitsprädikat nur in bestimmten Situationen gebrauchen und „‚p‘ ist wahr“ damit nicht bedeutungsgleich mit „p“ sein kann. Wir würden eine Person nicht recht verstehen, wenn sie unter allen Umständen „‚p‘ ist wahr“ statt einfach nur „p“ sagen würde. Zum einen drückt „‚p‘ ist wahr“ genau genommen noch nicht einmal einen wohlgeformten deutschen Satz aus, weil das Wahrheitsprädikat ein Nomen oder eine Nominalphrase als Subjekt erfordert und keinen Satz wie „p“ (vgl. Baker & Hacker 2005: 348). Eine derartig artifizielle Ausdrucksweise scheint demnach tatsächlich wie im zweiten Teil von Wittgensteins Beispiel („summing up the conclusion“) eher in der schematischen Darstellung eines Arguments, insbesondere zur akzentuierten Hervorhebung seiner Konklusion, angemessen zu sein. Zum anderen hätten wir vermutlich den Eindruck, eine alle Behauptungen mit „ist wahr“ äußernde Person glaube, wir würden ihr beständig mit Zweifel hinsichtlich aller Äußerungen, die sie tätigt, begegnen. Dadurch bringt sie allerdings gleichzeitig zum Ausdruck, das Sprachspiel des Zweifelns und Abweisen eines Zweifels nicht richtig verstanden zu haben. Darauf spielt Wittgenstein vermutlich im ersten Teil seines Beispiels („reject a doubt on the matter“) an. In dieselbe Richtung geht Giehrings Argumentation gegen eine deflationistische Interpretation Wittgensteins. Er stellt fest, die Verwendung von „wahr“, „Wahrheit“ oder dem Wahrheitsprädikat unterliege in der assertorischen Rede gewissen Bedingungen, die über die Bedingung hinausgingen, einfach „p“ zu behaupten (vgl. Giehring 2005: 233). So müsse ein Dissens über bereits getätigte Behauptungen „p“ vorliegen, auf die durch Verwendung von „wahr“ oder Wahrheit“ von anderer Seite Bezug genommen wird (vgl. Giehring 2005: 234). Das bedeutet auch, dass man über Wahrheiten streiten können muss, weshalb nach dem Deflationismus unproblematische Äquivalenzen wie „Es ist wahr, dass Schnee weiß ist = Schnee ist weiß“ nicht legitim sind: Der linke Teil der Äquivalenz ist Unsinn, er hat keine Verwendung (vgl. Giehring 2005: 216). Dementsprechend kann von einer Äquivalenz des Satzes p und dem Ausdruck „‚p‘ ist wahr“ kaum die Rede sein, weil sie nicht in jedem Fall wechselseitig austauschbar sind.
Im Gegensatz zu Baker und Hacker (2005: 348), die in den oben zitierten Anmerkungen aus WLP 1965: 30 ein Argument gegen die deflationistische Interpretation sehen, scheint Dolby davon wenig beeindruckt. Er anerkennt zwar, dass nach Wittgenstein „‚It is true that p‘ and ‚p‘ differ slightly in use – and hence in meaning“ (Dolby 2017: 440), hält aber weiterhin an der deflationistischen Interpretation fest. Im weiteren Teil seiner Auseinandersetzung beschäftigt Dolby sich dann aus einer Wittgenstein′schen Perspektive mit allgemeinen Schwierigkeiten deflationistischer Wahrheitstheorien hinsichtlich der Eliminierung des Ausdrucks „ist wahr“ aus alltagssprachlichen Sätzen wie etwa „What the policeman said is true“, bei dem das Wahrheitsprädikat nicht ohne Weiteres weggelassen werden kann (vgl. Dolby 2017: 440). Nach Giehring sind es unter anderem solche Beispiele – er verwendet in seinen Erörterungen den Satz „Was Anna sagt, ist wahr“ –, die gegen die These sprechen, Wittgenstein habe eine Redundanztheorie der Wahrheit vertreten. Zwar ließe sich „ist wahr“ unter Umständen ohne Verlust aus Äußerungen der Form „‚p‘ ist wahr“ eliminieren, aber die Fälle, in denen das Wahrheitsprädikat nicht beseitigt werden kann (z. B. „Was Anna sagt, ist wahr“), würden dennoch auf die Notwendigkeit einer Wahrheitstheorie anderer Art hindeuten (vgl. Giehring 2005: 173). Daraus ergibt sich meines Erachtens für Dolby und Giehring folgendes Bild: Entweder lassen sich „recalcitrant occurrences of the words ‚is true‘“ (Dolby 2017: 440) eliminieren, oder der Deflationismus ist falsch. Gelingt Ersteres anhand von Bemerkungen Wittgensteins, scheint einiges dafür zu sprechen, er sei Deflationist gewesen.
Hiermit wird auch einleuchtend, weshalb Dolby die Anmerkungen in WLP 1965: 30 als unbedenklich erachtet: Hier wird gezeigt, man könne „p“ nicht in jedem Fall durch „‚p‘ ist wahr“ ersetzen, aber ihm geht es gerade darum, das Umgekehrte zu zeigen: Bei „‚p‘ ist wahr“ könne das Wahrheitsprädikat bedenkenlos eliminiert werden. Neben dem Umstand, dass mit dem Beispiel aus WLP 1965: 30 dennoch die für den Deflationismus erforderliche Äquivalenz unhaltbar wird, liegt hier aus meiner Sicht ein grundlegendes Missverständnis seitens deflationistischer Interpretationen à la Dolby vor, dessen Offenlegung zeigt, dass Wittgenstein kein Deflationist gewesen sein kann.
Freilich mag es zutreffend sein, dass, wie Wittgenstein selbst in den bereits erwähnten Bemerkungen wie etwa PU 136 schreibt, man in allen oder den allermeisten Kontexten schlicht „p“ statt „‚p‘ ist wahr“ äußern kann. Es mag auch Möglichkeiten geben (in anderen Fällen unserer Alltagssprache, in denen wir von Wahrheit sprechen), ohne die Wörter „wahr“ oder „Wahrheit“ auszukommen. Es ist nur schwer einzusehen, was dadurch jenseits einfacher „grammatical observations“ (Putnam 1994: 513) (in einem alltäglichen und nicht Wittgenstein‘schen Sinne von „Grammatik“) gewonnen sein soll. Daraus nämlich, dass wir dazu imstande sind, ohne Wörter wie „wahr“ oder „Wahrheit“ auszukommen, wenn wir Wahrheitsansprüche erheben, folgt nicht, was der Deflationismus zu zeigen versucht: Dass ein Verständnis von Wahrheit und damit von der Verwendung des Wahrheitsprädikats einen substanziellen Beitrag zu unseren Sprachspielen leistet. Es folgt stattdessen schlicht, dass wir uns in vielen Fällen auch anders ausdrücken könnten, um dasselbe zu sagen, was wir normalerweise mit Hilfe des Wahrheitsprädikats sagen würden. In diesem moderaten und trivialen Sinne wäre Wittgenstein durchaus Deflationist. Er ist jedoch kein Deflationist im eigentlich intendierten strikten Sinne.
Anders sieht es Horwich, der resümiert, dass „ascribing truth to a proposition is equivalent to asserting the proposition itself“, sodass „[t]here are hardly any concepts that are defined in terms of TRUTH, or whose possession requires prior possession of the concept, TRUTH“ (Horwich 2016: 100). Frascolla schließt sich dem an und bietet einen Vorschlag dafür, worauf sich unsere Wahrheits-Sprachspiele reduzieren lassen, wenn er schreibt, dass „Wittgenstein ends up recognising that the concept of truth has no additional normative content beyond that which the notion of warranted assertibility […] has of its own“ (Frascolla 2016: 214). Damit versucht er, Wittgenstein als einen strikten Deflationisten zu interpretieren, der unsere Wahrheits-Sprachspiele auf Sprachspiele des gerechtfertigten Behauptens reduziert, indem er Erstere über Letztere expliziert. Demnach wäre die Frage nach der Wahrheit eines Satzes „p“ die Frage nach der gerechtfertigten Behauptbarkeit von „p“ (vgl. Frascolla 2016: 215). Geäußerte Sätze „p“ als jene sprachlichen Ausdrücke aufzufassen, denen Wahrheit (oder Falschheit) zugeschrieben wird, heißt dann eigentlich, sie wie im Falle von Horwichs Interpretation als jene aufzufassen, die Personen im Sprachspiel behaupten (oder leugnen) (vgl. Frascolla 2016: 213). Das von Wittgenstein in PU 136 verwendete Disquotationsschema „‚p‘ ist wahr“ wäre somit keine einfache grammatische Feststellung im Sinne eines moderaten Deflationismus mehr, sondern ein Reduktionsversuch des normativen Gehalts unserer Wahrheits-Sprachspiele auf den der Rede von gerechtfertigter Behauptbarkeit im Sinne eines strikten Deflationismus, wonach „the […] normative primacy [is] conferred upon [warranted] assertibility“ (Frascolla 2016: 221; Hervorh. D.F.).
Problematisch ist diese Sichtweise, weil sie gerade den umgekehrten Fehler begeht, den Wittgenstein selbst in PU 136 hervorhebt und kritisiert. Wittgenstein stellt in PU 136 fest, es sei ein unsinniges Bild anzunehmen, man könne feststellen, was ein Satz sei, indem man ihn darauf überprüft, ob „der Begriff ‚wahr‘ [oder ‚falsch‘] passt“ (PU 136). Es gehört zum Begriff des Satzes und unseren Verwendungsregeln von Sätzen bzw. Behauptungen, sie als wahr oder falsch beurteilen zu können. Deshalb ist es unmöglich – wie das falsche Bild es voraussetzt –, einen sprachlichen Ausdruck als Satz zu identifizieren, indem man „sich durch seinen Begriff von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ genötigt sähe, den Ausdruck zu subsumieren“ (Savigny 1994: 181). Zu wissen, wie man „wahr“ und „falsch“ verwendet, setzt immer schon voraus, einen Aussagesatz als solchen identifizieren zu können und umgekehrt. Wenn es nun allerdings nach Wittgenstein aufgrund der Verwobenheit der Verwendung von „wahr“ und „Satz“ (vgl. PU 225) bzw. „Behauptung“ unsinnig ist, was eine Behauptung oder ein Satz ist, dadurch einsichtig zu machen, dass man sagt, sie hätten einen Wahrheitswert, sie „passten“ zu „wahr“ bzw. „falsch“, dann wäre es genauso ein Fehler, den umgekehrten Weg zu gehen und zu glauben, man könne ausgehend von einem Verständnis von „Satz“ oder „Behauptung“ voraussetzungslos die Verwendung von „wahr“ oder „falsch“ begreifbar machen (vgl. Putnam 1994: 513). Gerade davon gehen allerdings deflationistische Interpretationen aus, wenn sie Wahrheit über (gerechtfertigte) Behauptbarkeit explizieren und gleichzeitig als „extremly superficial concept“ (Horwich 2016: 100) darstellen, ohne daran zu denken, dass wir nach Wittgenstein kein Verständnis davon haben können, was es heißt, einen Satz zu behaupten, ohne etwas von der Verwendung von „wahr“ oder „falsch“ zu wissen. Sowohl der Weg des Gesprächspartners in PU 136 als auch der der deflationistischen Interpretation sind gemäß Wittgenstein abzulehnen.[23]
3.4 Die Konsensustheorie der Wahrheit
Die epistemischen Wahrheitstheorien zeichnen sich im Wesentlichen dadurch aus, dass Wahrheiten notwendigerweise mit bestimmten immanenten Kriterien für ihre Erkennbarkeit zusammenhängen (vgl. Grundmann 2017: 33). Ein Satz „p“ ist demzufolge genau dann wahr, wenn das Kriterium der Wahrheit erfüllt ist (vgl. Grundmann 2017: 34). Es handelt sich dabei um immanente Kriterien, weil deren Erfüllung oder Nicht-Erfüllung, und damit die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes, prinzipiell entscheidbar ist. Im Gegensatz zur Korrespondenztheorie kann damit die Entscheidung für oder gegen die Wahrheit eines Satzes unser Erkenntnisvermögen nicht übersteigen. Zentral ist dabei der Gedanke, dass die Erfüllung der immanenten Kriterien den Satz weder nur wahrscheinlich wahr machen noch einfach bloß die Behauptung, er sei wahr, legitimieren. Der Ansatz dieser Wahrheitstheorie ist radikaler, weil das Zutreffen oder Nicht-Zutreffen des Kriteriums festlegt, ob der Satz wahr oder falsch ist. Auch wenn die Wahrheitskriterien je nachdem, welche Sätze es in welchem Kontext hinsichtlich ihrer Wahrheit zu überprüfen gilt, unterschiedlich sein können, gibt es stets ein übergeordnetes Wahrheitskriterium. Diesem verdanken die verschiedenen epistemischen Wahrheitstheorien ihren Namen. Beispielsweise können der Konsens innerhalb einer Sprachgemeinschaft oder die Kohärenz mit einem Überzeugungssystem, aber auch die sich aus der Wahrheit eines Satzes ergebende Nützlichkeit übergeordnete Wahrheitskriterien sein. Entsprechend hat man eine Konsenstheorie, Kohärenztheorie oder pragmatistische Theorie der Wahrheit vor sich.
Neben den bereits abgehandelten redundanztheoretischen Interpretationen von Wittgensteins Wahrheitsverständnis sind vor allem konsensustheoretische Auslegungen zahlreich, die, wie sich zeigen wird, bei kohärenztheoretischen Überlegungen ihren Ausgang nehmen. Ich werde mich auf diese Auslegungen beschränken und andere Formen der epistemischen Wahrheitstheorie außen vor lassen. Bevor auf die Kritik gegenüber der konsensustheoretischen Interpretationen einzugehen sein wird, werde ich deren gemeinsame Grundidee rekonstruieren.
Zunächst wird festgestellt, nach Wittgenstein entscheide nicht die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit im Sinne einer Korrespondenztheorie, welcher Satz wahr oder falsch sei (vgl. Thommes 1995: 68; Walker 1985: 35; Kober 1993: 245). Stattdessen seien es die „Beurteilung [eines Satzes] im Zusammenhang mit dem durch die Sprache formulierten System“ (Thommes 1995: 68), die „Beziehung zwischen unseren Überzeugungen“ (Walker 1985: 36) oder die „Übereinstimmung (Kohärenz) mit den Normen des jeweiligen Sprachspiels“ (Kober 1993: 245), welche entscheiden, ob Sätze oder Überzeugungen wahr sind. In Bezug auf Wittgensteins Konzeption des Weltbildes bedeutet dies, es sei die Kohärenz eines Satzes mit dem Weltbild oder einzelnen Weltbildsätzen, welche über Wahrheit und Falschheit entscheide (Thommes) resp. den Wahrheitswert determiniere (Kober). Bis hierhin haben wir es mit einer Kohärenztheorie und keiner Konsensustheorie der Wahrheit zu tun. Darüber hinaus wird jedoch auch zu explizieren versucht, wie überhaupt entschieden wird, ob ein Satz mit dem Weltbild oder einem Teil von ihm kohärent ist oder nicht. An dieser Stelle münden kohärenztheoretische Interpretationen von Wittgensteins Wahrheitsverständnis in eine konsensustheoretische Auslegung.[24] Denn es ist die durch „Konsens ermittelte Kohärenz des Urteils mit dem Weltbildhorizont“ (Thommes 1995: 128; Hervorh. D.F.) und daher auch der Konsens als „Übereinstimmung mit dem Urteil der Gemeinschaft“ (Walker 1985: 37) selbst, der als Wahrheitskriterium dient. Nun darf man es sich freilich nicht zu leicht machen und davon ausgehen, konsensustheoretische Interpretationen wollten schlicht behaupten, nach Wittgenstein entscheide eine potenzielle Abstimmung hinsichtlich der Meinungen von Gemeinschaftsmitgliedern über die Wahrheit eines Urteils. So wird im Allgemeinen nicht übersehen, dass eine solche Auslegung mit einigen Bemerkungen des späten Wittgenstein konfligiert. Darauf werde ich nun im Zusammenhang mit Thommes‘ (1995) Interpretation eingehen, weil dieser Wittgenstein auf eine einfache Konsensustheorie der Wahrheit festzulegen scheint.[25]
Thommes interpretiert Wittgenstein so, als sei es „[d]er Konsens mit den Urteilen der Mitglieder[,] der […] über die Wahrheit des behaupteten Gehaltes [entscheidet]“ (Thommes 1995: 116). Er interpretiert etwa ÜG 503 so, als hätte Wittgenstein hier in Bezug auf eine Bestimmung seines Wahrheitsverständnisses sagen wollen, das Urteil „‚Das ist ein Baum‘ wäre zurückzuweisen, wenn ‚alle Andern mit mir in Widerspruch wären und sagten, es wäre nie ein Baum gewesen‘ […]“ (Thommes 1995: 116). Dabei unterschlägt Thommes allerdings einen wichtigen Teil der Bemerkung, in dem Wittgenstein schreibt, auch „ander[e] Zeugnisse“ (ÜG 503) neben dem Urteil Dritter seien für die Legitimität des Urteils relevant. Zudem stellt Wittgenstein in der Bemerkung selbst keinen Bezug zu seinem Wahrheitsverständnis her. Des Weiteren beruft Thommes sich auf Bemerkung 429 in Zettel, übersieht dabei aber meines Erachtens den kritischen Kontext dieser Bemerkung. Sowohl Z 429 als auch Z 430 und Z 431 weisen am Beispiel des Satzes „Das ist rot“ geradezu in die entgegengesetzte Richtung. Wie sich zeigt, ist es nach Wittgenstein nämlich eben nicht der Fall, dass die „Mehrzahl der Betrachter“, denen „das Wort ‚rot‘“ bei der Betrachtung eines Gegenstandes einfällt, damit das Urteil „Das ist rot“ wahr gemacht hätte. Denn es ist im Allgemeinen „keine Übereinstimmung der Meinungen“, die „entscheide[t], was richtig und was falsch ist“ (PU 241). Zwar ist „eine gewisse Übereinstimmung“ (Z 430) in den Farburteilen eine wichtige Bedingung für die Möglichkeit des Farb-Sprachspiels (vgl. Z 430, PU 242), weil andernfalls eine der Wahrheitsfindung vorausgehende Verständigung im Rahmen dieses Sprachspiels gar nicht möglich wäre. Aber der Konsens ist in der Wahrheitsfindung keine wahrheitswertbestimmende Instanz, sondern bestenfalls einer von vielen Gründen, den man für die Richtigkeit des eigenen (Farb‐)Urteils angeben könnte.[26]
Ausdifferenzierter sind konsensustheoretische Interpretationen, die Wittgenstein keine einfache Konsenstheorie im Sinne der Übereinstimmung der bloßen Meinungen unterstellen. Sie berufen sich vor allem auf Bemerkung 241 der PU, die dann interpretiert wird, als wollte Wittgenstein sagen, es sei zwar nicht die Übereinstimmung der Meinungen, die über Wahrheit und Falschheit entscheide, aber die „der Lebensform“. So ist es nach Kober (1993: 236) immer eine Lebensform, innerhalb derer wir uns „die Frage nach der Wahrheit von dem, was die Menschen sagen“ stellen.
Es lässt sich durchaus dafür argumentieren, dass in Bezug auf die Wahrheit die Übereinstimmung der Lebensform sowohl „eine Übereinstimmung in grundlegenden Praktiken[27] der Wahrheitsfindung (des Messens, Berechnens, Experimentierens etc.)“ (Majetschak 2000: 370) als auch in den für diese Praktiken relevanten „kaum je artikulierten Hintergrundüberzeugungen einer Kulturgemeinschaft“ (ebd.) meint. Konsensustheoretische Interpretationen gehen jedoch einen Schritt weiter, wenn sie in der Übereinstimmung ein Wahrheitskriterium zu sehen glauben, das entscheidet oder determiniert, welcher Wahrheitswert einem Satz zuzuordnen ist.
So wird nach Kobers Interpretation gemäß Wittgenstein die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes „durch die LogikW[28] des Sprachspiels entschieden, in dem diese Sätze verwendet werden“ (Kober 1993: 241). Dabei ist die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Logik die „ÜbereinstimmungH+M in der jeweiligen Lebensform“ (ebd.). Die ÜbereinstimmungH+M meint erstens (H) eine „Kongruenz in den Tätigkeiten, Gepflogenheiten, Gebräuchen oder Praktiken innerhalb einer Gemeinschaft“ (Kober 1993: 77), zu denen die Praktiken der Wahrheitsfindung gehören, und zweitens (M) auch einen „Konsens in den Auffassungen bei einer Gruppe oder einer Gemeinschaft, die eine Lebensform bildet“ (Kober 1993: 78). Damit erweitert Kober die einfache Konsensustheorie um das Element (H) und sieht in der ÜbereinstimmungH+M das „zugrundeliegende Wahrheitskriterium“ (Kober 1993: 241), anhand dessen festgemacht wird, ob ein Satz wahr oder falsch ist. Entscheidend ist, dass sich in (H) Hintergrundannahmen unseres Weltbildes manifestieren (Weltbildsätze), die etwa bei einer Abstimmung über die Wahrheit verschiedener Urteile im Sinne einer einfachen Konsensustheorie der Wahrheit nicht zutage treten würden, weil sie grundsätzlich nicht artikuliert werden. Für Kober sind es daher letztlich die Gewissheiten unseres Weltbildes, welche „Wahrheit für ein (deskriptives) Sprachspiel erst determinieren“ (Kober 1993: 208). Sie sind die epistemischen Normen oder Kriterien, anhand deren entschieden wird, welcher Satz wahr resp. falsch ist (vgl. ebd.). Auch Ellenbogen betrachtet diese Normen als Wahrheitskriterien, wenn sie schreibt, dass „according to Wittgenstein, every type of statement to which we apply the predicates ‚is true’ and ‚is false’ is governed by some criterion for determining its truth value“ (Ellenbogen 2003: 6), sodass ihre Wahrheitswerte „are wholly dependent on our normative agreement“ (Ellenbogen 2003: 17).
Nach dieser konsensustheoretischen Interpretation bezieht sich der Wahrheit verbürgende Konsens also nicht einfach auf Meinungen, sondern auf gemeinschaftlich geteilte Weltbildsätze, die als Wahrheitskriterien im Sinne einer epistemischen Wahrheitstheorie fungieren. Diese Kriterien entscheiden, was als wahr bzw. Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gilt, sodass „Wahrheit“ „als Funktion einer kriteriologisch begründeten Übereinstimmung“ (Zimmermann 1975: 241; Hervorh. D.F.) zu verstehen wäre.
Der Vorteil gegenüber einer einfachen Konsensustheorie besteht darin, dass auch Fälle unproblematisch werden, in denen viele oder alle einer gewissen Überzeugung sind, obwohl sie sich tatsächlich täuschen (vgl. Walker 1985: 38). Gemäß der einfachen Konsensustheorie determiniert die Meinungsmehrheit den Wahrheitswert eines Satzes, weswegen die Frage, ob der Satz auch tatsächlich wahr sei, keinen sinnvollen Platz in diesem Wahrheitsverständnis mehr einnehmen kann. Denn es ist gerade das tatsächlich wahr, was die Mehrheit als tatsächlich wahr betrachtet. Wittgenstein schreibt jedoch in ÜG 2: „Daß es mir – oder Allen – so scheint, daraus folgt nicht, daß es so ist“ (ÜG 2)
Für die eben skizzierte differenziertere Konsensustheorie ist die Bemerkung hingegen unproblematisch. Immerhin könnte es sein, dass wir alle eine bestimmte Menge falscher Behauptungen aufstellen, „nicht darum, weil sie nicht mit dem übereinstimmten, wie die Dinge völlig unabhängig vom Urteilen der Gemeinschaft wirklich sind, sondern vielmehr, weil sie nicht die Folgerungen wären, die durch die der Gemeinschaft eigenen theoretischen Normen [Weltbildsätze; D.F.] als richtig festgelegt sind“ (Walker 1985: 38).
Die Auseinandersetzung mit Wittgensteins Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit hat bereits die Abhängigkeit der Bedeutung der korrespondenztheoretischen Übereinstimmungsrelation von Weltbildsätzen gezeigt. Was als Übereinstimmung eines Satzes mit der Wirklichkeit gilt, hängt von diesen weltbildinternen Annahmen ab. Sie bestimmen, was als Evidenz innerhalb eines Sprachspiels zu gelten hat (vgl. ÜG 203). Das bedeutet jedoch nicht, nach Wittgenstein seien die Weltbildsätze, die festlegen, was als Evidenz gilt, zugleich wahrheitswertfestlegende Kriterien, die determinieren, welcher Satz wahr oder falsch ist. Es gilt nämlich nach Wittgenstein, wie Baker und Hacker richtig feststellen, trotzdem, dass „[w]hether they [i. e. propositions; D.F.] are true or false is determined by reality, not by whether human beings agree in accepting or rejecting them“ (2014: 235). Wie Wittgenstein bereits in frühen Bemerkungen hervorhebt, gehört es eben nicht zur „Grammatik“, „daß dieser Erfahrungssatz wahr, jener falsch ist“ (PG 1973: 88), nur weil sich durch die Grammatik zeigt, was wir als Evidenz gelten lassen. Weltbildsätze legen, wie wir bereits hervorgehoben haben, lediglich „alle Bedingungen (die Methode) des Vergleichs des Satzes mit der Wirklichkeit“ (ebd.) fest und nicht, wie Kobers und Ellenbogens Interpretation dies nahelegt, die Wahrheitswerte der zur Debatte stehenden Erfahrungsätze.
Den meines Erachtens schwerwiegendsten Einwand gegen eine konsensustheoretische Lesart Wittgensteins haben bereits Giehring (2005) und Krebs (2007) überzeugend hervorgehoben. Er besteht darin nachzuweisen, dass die Unterstellung, Wittgenstein habe eine Konsensustheorie der Wahrheit vertreten, mit der von ihm hervorgehobenen eigentümlichen Stellung von Weltbildsätzen von der Form von Erfahrungssätzen innerhalb unseres Weltbildes unvereinbar ist. Einerseits nehmen sie eine Zwischenstellung ein und lassen damit „die Grenze zwischen Regel und Erfahrungssatz“ (ÜG 319) unscharf werden, weil sie angesichts besonderer Umstände ihren normativen Status als Weltbildsätze verlieren können. Das Weltbild ist nach Wittgenstein dynamisch, weil es kein „der Modifizierung durch Erfahrung“ gegenüber resistentes, „gänzlich abgeschlossenes System“ (Giehring 2005: 186) ist. Wir könnten jederzeit etwas „wirklich Unerhörtes“ (ÜG 513) erfahren und verblüfft werden, was eine dynamische Veränderung unseres Weltbildes nach sich ziehen könnte. Andererseits sollen es gemäß konsensustheoretischer Interpretationen gerade Weltbildsätze sein, welche als Kriterien determinieren, was als wahr oder falsch gilt. Das hieße allerdings, in allen Fällen die Gewissheit von Weltbildsätzen der Form von Erfahrungssätzen als durch unser Sprachspiel garantiert zu betrachten (vgl. Krebs 2007: 120), sodass es zu gar keinen besonderen Umständen kommen könnte, die ihren normativen Status ins Wanken brächten. Wäre dies nämlich der Fall, würden Erfahrungen in der Form des Unerhörten, die eine Änderung unserer Kriterien herbeiführen, den Wahrheitswert des Urteils, etwas Unerhörtes sei geschehen, als wahr festlegen und nicht die als Kriterien dienenden Weltbildsätze selbst. Den Weltbildsätzen gemäß wäre das Urteil immerhin falsch und nicht wahr. Gerade wenn wir sagen, etwas Unerhörtes sei Teil unserer Erfahrung geworden, legen wir uns bereits darauf fest, dass uns etwas bisher außerhalb unserer Konventionen bzw. unseres Konsensus Liegendes eines Besseren belehrt hat. Eine Konsensustheorie setzt damit entweder ein statisches Weltbild voraus (vgl. Giehring 2005: 186) – was definitiv Wittgensteins Ansichten widerspricht (s. auch Kapitel 2.3) – oder sie muss zu ihrer Rettung sowohl die Änderung unseres Konsenses als auch die damit einhergehende Umkehrung von Wahrheitswerten bestimmter Erfahrungsurteile im Zuge des Unerhörten erklären, ohne dabei auf der explanatorischen Seite die unerhörte Erfahrung selbst miteinzubeziehen und sie damit zum wahrheitswertbestimmenden Faktor zu machen. Letzteres ist nicht nur ein schweres, wenn nicht unmögliches Unterfangen, es geht auch weit über die Textexegese von Wittgensteins Bemerkungen hinaus.
4 Fazit
Der konstruktive Teil hat gezeigt, dass sich in Wittgensteins Schriften einige aufschlussreiche Überlegungen zu unseren Wahrheits-Sprachspielen finden lassen. So hat sich herausgestellt, inwieweit unser Weltbild und die es konstituierenden Weltbildsätze bestimmend dafür sind, was wir als Wahrheiten anzuerkennen bereit sind. Dass unser Weltbild einem gewissen dynamischen Wandel unterworfen ist, ergab sich anhand der Rekonstruktion von Wittgensteins Flussbettmetapher, wobei das Moment der Verblüffung als ein besonderer Fall einer drastischen Änderung unseres Weltbildes, und damit auch der darin geltenden Wahrheiten, in Stellung gebracht wurde. Im destruktiven Teil kam der Wandelbarkeit des Weltbildes hinsichtlich einer Kritik an konsensustheoretischen Interpretationen ein wichtiger Stellenwert zu. Als Haupteinwand gegen die in diesem Artikel vertretene Weltbildrelativität der Wahrheits-Sprachspiele wurde ein weltbildtranszendentes Verständnis von Wahrheit ausgezeichnet, demzufolge es jenseits der in den jeweiligen Weltbildern geltend gemachten Wahrheiten absolute Wahrheiten gibt, die gemäß der Perspektive des Skeptizismus in unserem Weltbild alle verkannt worden sein könnten. Anhand der Betrachtung der von Wittgenstein beschriebenen Praxis des empirischen Urteilens, durch die wir in unser Weltbild eingeführt werden, habe ich versucht genauer darzulegen, dass erstens ein enger Zusammenhang zwischen von uns anerkannten Wahrheiten und unserer Verwendung von „wahr“ oder „Wahrheit“ besteht und zweitens Skeptiker*innen ihrem Ausdruck „Wahrheit“ keine Bedeutung gegeben haben. Nach einem kurzen, den destruktiven Teil einleitenden Abschnitt wurde im Rahmen einer Wittgenstein‘schen Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit der Faden des konstruktiven Teils wieder aufgenommen. Einer deflationistischen Interpretation von Wittgensteins Wahrheitsverständnis wurde im Wesentlichen dadurch entgegnet, einer Verwechslung von oberflächlichen grammatischen Beobachtungen und dem tatsächlich engen explanatorischen Zusammenhang zwischen Behauptbarkeit eines Satzes und dessen Wahrheit unterlegen zu sein. Insgesamt werfen die Befunde im destruktiven Teil ein kritisches Licht auf die Vorstellung, Wittgenstein habe auch nur irgendeine Form einer philosophischen Wahrheitstheorie vertreten.
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