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Die unvollendete Annexion

Frankreich und die Saar 1943 bis 1947
  • Wilfried Loth EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Juli 2022
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Abstract

Der Gründung des Saarlands im Dezember 1947 ging ein langwieriger Suchprozess voraus. Wie sollte man Frankreich die Erträge des Kohlereviers an der Saar sichern, ohne erneut Opfer eines Plebiszits der Saar-Bevölkerung zu werden? Die Wirtschaftsabteilung des Pariser Außenministeriums empfahl dazu im Dezember 1944 die Annexion eines erweiterten Saar-Territoriums verbunden mit der Ausweisung der gesamten Bevölkerung. Die Regierung de Gaulle agierte auf dieser Linie, entschied dann aber im Sommer 1945, nur einen Teil der Bevölkerung auszuweisen. Die übrigen Bewohner sollten durch eine „richtig verstandene Assimilationspolitik“ in die französische Nation integriert werden. Erst im Winter 1946/47 führten die Entwicklung des Meinungsbilds an der Saar und die Notwendigkeit, sich gegenüber den westlichen Siegermächten der Unterstützung des sozialistischen Koalitionspartners zu versichern, zur Beschränkung auf den wirtschaftlichen Anschluss.

Abstract

The founding of the Saarland in December 1947 was preceded by a protracted search process: How should France secure the output of the coal fields on the Saar without once again becoming the victim of a plebiscite by the Saar population? In December 1944, the economic department of the French Ministry of Foreign Affairs proposed the annexation of an extended Saar-Territory combined with the expulsion of the entire population. The de Gaulle government operated on this basis, but in the summer of 1945 decided to only expel part of the population. The other inhabitants were to be integrated into the French nation by a “correctly understood policy of assimilation”. Only in the winter of 1946/47 did the development of public opinion on the Saar and the necessity to secure the support of the Socialist coalition partner vis-à-vis the western victorious powers lead to the limitation to economic integration.

Vorspann

Wollte Frankreich bei Kriegsende die Saar annektieren und zumindest einen Teil der Bevölkerung ausweisen? Oder verwarf die Regierung unter Charles de Gaulle diese Pläne früh und gab einer Autonomie im wirtschaftlichen Verbund mit Frankreich den Vorzug? Wilfried Loth beantwortet diese Fragen eindeutig und unterstreicht die Bedeutung der Kohle für den Wiederaufbau Frankreichs. Da man in Paris fürchtete, den Zugang zur Saarkohle wie schon nach 1918 nicht dauerhaft sichern zu können, empfahl die Wirtschaftsabteilung des Außenministeriums eine Kombination von Annexion und Bevölkerungstransfer. Dagegen entschied General de Gaulle, auf eine Politik der Assimilation zu setzen und die Ausweisung auf feindselige Teile der Bevölkerung zu beschränken. Innenpolitische Entwicklungen und deutschlandpolitische Rahmenbedingungen führten im Herbst 1946 letztlich dazu, dass die französische Regierung auf eine Annexion verzichtete und die Bildung eines Saar-Staats in Wirtschaftsunion mit Frankreich vorbereitete.

I. Annexion oder Union?

Was wollte Frankreich – genauer gesagt: die Provisorische Regierung des befreiten Frankreich unter dem Vorsitz von Charles de Gaulle – nach dem Zweiten Weltkrieg an der Saar? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil unterschiedliche Akteure französischer Deutschland- und Saarpolitik unterschiedliche Ziele und Vorstellungen hatten und weil sich Zielsetzungen und Prioritäten unter dem Einfluss internationaler wie innenpolitischer Dynamiken ständig veränderten. Zudem waren die Entscheidungsprozesse in einem Regierungsapparat, der nach der Befreiung Frankreichs eben erst dabei war, sich zu etablieren, wenig vorstrukturiert.

Entsprechend unterschiedlich ist das Urteil der Historiker ausgefallen. So hielt es Heinrich Küppers aufgrund interner Äußerungen von Émile Laffon, dem Chef der Zivilverwaltung der französischen Besatzungszone, sowie von Außenminister Georges Bidault für erwiesen, „daß bis zum Jahre 1946 die Gefahr einer politischen Annexion der Saar bestand“.[1] In gleicher Weise führte Georges-Henri Soutou sowohl Äußerungen de Gaulles gegenüber dem Direktor der Politischen Abteilung des Außenministeriums, Maurice Couve de Murville, als auch Kritik an den Plänen für eine Erweiterung des Saar-Territoriums als Belege dafür an, „daß die provisorische Regierung das Saarland annektieren wollte“.[2] Demgegenüber schloss Rainer Hudemann aus dem Offenhalten des endgültigen Saar-Statuts gegenüber den britischen und amerikanischen Verbündeten, „daß de Gaulle die Frage einer Saar-Annexion zwar zweifellos genauer prüfte, sich im Ergebnis aber schon früh dagegen entschied“.[3] Kurze Zeit später kam auch Dietmar Hüser nach einer Auswertung interner Planungstexte des Außenministeriums zu dem Ergebnis, dass die Saar-Planungen zunächst „im Schwebezustand“ blieben und „spätestens im Herbst 1945 im Quai d’Orsay niemand mehr an Annexion“ dachte.[4]

Die Frage nach den Zielen französischer Saarpolitik ist nicht nur im Hinblick auf die Entstehung und die Problematik des halbautonomen Saar-Staats von Bedeutung, der von 1947 bis 1956 eine eigentümliche Sonderrolle in der Gestaltung der Nachkriegsordnung Europas spielte – mit eigener Staatsbürgerschaft und eigener Olympiamannschaft. Sie berührt auch den Paradigmenwechsel von einer strikt nationalstaatlichen Politik der Machtsicherung und Machterweiterung zu einer Politik der europäischen Verflechtung, den Frankreich im ersten Jahrfünft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollzog. Unternahm die französische Politik nach dem Scheitern aller Rheinlandpläne in der Zwischenkriegszeit und der demütigenden Niederlage von 1940 tatsächlich noch einmal einen Anlauf zu territorialer Erweiterung, der in der Tradition französischer Großmachtambitionen seit der Reunionspolitik Ludwigs XIV. stand? Oder signalisieren die Aufrufe zur Versöhnung und zur Solidarität der „Westeuropäer“, mit denen sich de Gaulle bei seinem Besuch in Saarbrücken am 3. Oktober 1945 an die Notabeln der Stadt wandte,[5] dass die französische Hinwendung zu einer Politik der europäischen Integration nicht erst mit der Entscheidung für die Gründung der Bundesrepublik 1948 begann?

Unterdessen erlauben es die Aktenpublikationen des französischen Außenministeriums,[6] weitere Quellenfunde im Rahmen von Studien zur französischen Deutschlandpolitik[7] und Armin Heinens Untersuchung der Saarpolitik der französischen Besatzungsbehörden in Baden-Baden und Saarbrücken,[8] den Gang der Diskussion über die Saarfrage im französischen Regierungsapparat der Befreiungsära genauer zu verfolgen und so auch die Entscheidungen nachzuvollziehen, die zwischen ersten Debatten im Befreiungskomitee von Algier 1943 und der Ankündigung von Sondermaßnahmen zur Integration des Saargebiets in den französischen Wirtschaftsraum Ende 1946 gefallen sind. Damit lässt sich auch die Frage nach dem Wandel der französischen Saarpolitik präziser beantworten, als es bislang der Fall war.[9]

II. Optionen französischer Saarpolitik

Was die französischen Entscheidungsträger an der Saar vor allem interessierte, war die Kohle. Kohle als Schlüsselressource für den industriellen Wiederaufbau und die Schaffung einer machtpolitischen Vorrangstellung vor dem deutschen Aggressor war in Frankreich Mangelware; das Land war schon vor dem Krieg weltweit größter Kohle-Importeur gewesen. Die Produktion der Kohle-Bergwerke an der Saar war zwar bei Weitem nicht ausreichend, und die Qualität der Saarkohle genügte auch nicht für die Produktion von hochwertigem Stahl. Aber als Ergänzung zu den erhofften Kohle-Lieferungen von der Ruhr war die Saarkohle doch sehr willkommen. Vor allem sollte sie es ermöglichen, kostbare Devisen zu sparen, die ansonsten für den Import von Kohle aus den USA hätten ausgegeben werden müssen.

Der Bedarf an Saarkohle hatte schon hinter der Forderung nach Rückkehr zur deutsch-französischen Grenze von 1814 gestanden – das heißt: unter Einschluss nicht nur von Elsass und Lothringen, sondern auch von Landau und des Saargebiets –, die Georges Clemenceau in den Friedensverhandlungen von Versailles im Frühjahr 1919 vorgetragen hatte. Gewiss hatte damals auch die Notwendigkeit eine Rolle gespielt, dem französischen Publikum einen Siegespreis zu präsentieren, mit dem man die Ratifizierung des Friedensvertrags durch die französische Nationalversammlung sicherstellen wollte; Clemenceau hatte das in der Auseinandersetzung mit David Lloyd George ziemlich unverblümt zum Ausdruck gebracht.[10] Aber der materielle Hintergrund der Forderung war schon damals ein wirtschaftsgeografischer Zusammenhang gewesen: Die Hüttenindustrie an der Saar war auf das lothringische Minette-Erz angewiesen, und die Lothringer brauchten zur Verhüttung ihrer Erze die Saarkohle, besonders die ertragreichen Kohleflöze im grenznahen Warndt. Die lothringisch-saarländische Wirtschaftsverflechtung hatte bereits 1871 eine Rolle gespielt, als die Deutschen Elsass-Lothringen annektiert hatten. Und da sie unterdessen noch bedeutend enger geworden war, war es nur konsequent, bei der Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich auch gleich die Saar mitzunehmen. Hinzu kam, dass die deutschen Truppen die Kohle-Zechen in Nordfrankreich während des Kriegs unter Wasser gesetzt hatten; dadurch war der Bedarf an Saarkohle noch dringender geworden. Als Beitrag zu den Reparationsleistungen erschien die Saarkohle damit ebenso sinnfällig wie gerechtfertigt.[11]

Der wirtschaftsgeografische Zusammenhang und der Bedarf an materieller Absicherung französischer Sicherheitspolitik bestanden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs unverändert fort, und die akute Versorgungsproblematik stellte sich erneut. Der französische Diplomat Léonce Abel Verdier, der von April 1935 bis September 1939 als französischer Generalkonsul in Saarbrücken fungiert hatte, wies in einem Memorandum für die Politische Abteilung des Pariser Außenministeriums vom 18. April 1945 darauf hin, dass Frankreich jährlich 70 Millionen Tonnen Kohle verbrauche, davon aber nur 31 Millionen Tonnen selbst produziere. An der Saar seien vor dem Krieg jährlich 15 Millionen Tonnen Kohle gefördert worden; jetzt könne schon „bald“ wieder eine Jahresproduktion von zehn Millionen erreicht werden.[12] Bereits im März 1944 insistierten mehrere Kommissariate des Nationalen Befreiungskomitees in Algier darauf, dass die Besetzung des Saargebiets durch französische Truppen in die Waffenstillstandsbedingungen aufgenommen werden sollte, um so „die Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Kohle“ zu lindern, „mit denen Frankreich sogleich nach der Befreiung konfrontiert sein wird“.[13] Die Experten der Wirtschaftsabteilung des Außenministeriums argumentierten in einem Memorandum vom 4. Dezember 1944, dass die Saar bei entsprechenden „großen technischen Anstrengungen“ zukünftig auch Koks liefern könne, „den der französische Staat ganz dringend braucht“. Außerdem könne die Saar „die große Quelle von Gas und Elektrizität“ der ostfranzösischen Region werden.[14]

Die Frage war nur, wie die Versorgung Frankreichs mit Saarkohle sichergestellt werden konnte. Die Erfahrung mit dem Regime des Völkerbunds, dem das Saargebiet von 1920 bis zum Januar 1935 unterworfen gewesen war, hatte traumatische Spuren hinterlassen. Anfängliche Hoffnungen, die Versorgung mit Saarkohle mit diesem Regime auf Dauer sicherstellen zu können, waren bitter enttäuscht worden, als in der Saarabstimmung am 13. Januar 1935 ganze 0,4 Prozent der stimmberechtigten Bewohner des Saargebiets für einen Anschluss an Frankreich gestimmt hatten und nur 8,8 Prozent für die Beibehaltung des Völkerbund-Statuts. 90,8 Prozent hatten für die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich votiert, und das, obwohl sich dort 1933 die Hitler-Diktatur etabliert hatte.[15] Die Saargruben waren danach aus dem französischen Domanialbesitz in den Besitz des Deutschen Reichs übergegangen.

Ein erster Vorschlag, wie der Gefahr einer erneuten Einbeziehung der Saar in den deutschen Staatsverband vorzubeugen sei, bestand darin, das Saargebiet einem „europäischen Staat der Schwerindustrie“ zuzuschlagen, wie ihn Jean Monnet als Kommissar für Rüstung, Versorgung und Wiederaufbau im Befreiungskomitee im Sommer und Herbst 1943 propagierte.[16] Dieser sollte, wie er in einem Gespräch mit dem Präsidenten des Befreiungskomitees Charles de Gaulle und anderen Komitee-Mitgliedern am 16. Oktober 1943 präzisierte, „hauptsächlich“ das Ruhrgebiet, das Saargebiet, das Rheinland und Luxemburg umfassen. Die Eisen- und Stahlproduktion dieses „Europäischen Industrielands“ sollte „ganz Europa“ zugutekommen.[17] Auf diese Weise sollte die Schwerindustrie von Ruhr und Saar für den Wiederaufbau ganz Europas arbeiten können, ohne dass Frankreich und die anderen westeuropäischen Staaten erneut um ihre Sicherheit fürchten müssten; die Wiedergutmachung der Schäden, die das Deutsche Reich in Frankreich angerichtet hatte, sollte im Rahmen eines europäischen Gesamtplans organisiert werden; Revanchegelüsten der Deutschen sollte keine neue Nahrung geboten werden.

Als sich die Wirtschaftsabteilung des französischen Außenministeriums unter dem Vorsitz von Hervé Alphand im Spätjahr 1944 mit der optimalen Form einer „wirtschaftlichen Entwaffnung Deutschlands“ beschäftigte, blieb die Zuordnung der Saar zu einem unabhängigen Rheinstaat, der das Ruhrgebiet einschloss, eine bedenkenswerte Alternative.[18] Ein Rheinstaat mit einem solchen Zuschnitt, bestätigte Emmanuel de Martonne, der Direktor des renommierten Institut de Géographie de Paris, bei einer Besprechung in der Direktion der Wirtschaftsabteilung am 9. November 1944, würde sich durch ein „glückliches geografisches und wirtschaftliches Gleichgewicht“ auszeichnen, weil er „einerseits eine Region von großer industrieller Dichte“ umfasse und „andererseits eine ländliche Peripherie, die in einigen Teilen große kulturelle und Zucht-Ressourcen aufweist“.[19] André Siegfried, der Doyen der französischen Politikwissenschaft, erklärte sich „beeindruckt vom Gleichgewicht und der Lebensfähigkeit“ einer solchen Lösung, „sowohl im Innern als auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Beziehungen nach außen“.

Nach der Expertenbefragung, an der auch de Gaulles diplomatischer Berater Étienne Burin des Roziers und Alphands Mitarbeiter Jean-Marc Boegner teilnahmen, arbeiteten die Fachleute der Wirtschaftsabteilung die Resultate hinsichtlich der Behandlung des Saar-Reviers in einem Memorandum weiter aus, das zum 4. Dezember 1944 fertiggestellt wurde. Dabei ergänzten sie die Urteile de Martonnes und Siegfrieds zur Lebensfähigkeit eines Rheinstaats um Überlegungen zur politischen Machbarkeit. Die Zuordnung der Saar zum Rheinstaat, so lautete ihr Urteil, würde von der Saar-Bevölkerung eher akzeptiert werden als die Zuordnung zu Frankreich. „Die Saarländer“ seien nämlich „Rheinländer“, und es würde international „die geringsten Schwierigkeiten“ bereiten, eine solche Lösung durchzusetzen.[20] Allerdings sahen die Experten der Wirtschaftsabteilung auch Probleme:

„Die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen der Saar und der Ruhr würde unser Land in eine heikle politische Position bringen, in der seine Interessen als Eigentümer [der Saargruben] im Gegensatz zu seinen Aufgaben als Verwalter im Rheinland stehen würden. Außerdem könnte die Existenz einer rheinländischen Saar ganz in der Nähe des Elsass in dieser Provinz Autonomie-Gefühle wecken. Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass das Rheinland, aus dem man nicht die ganze gegenwärtige Bevölkerung vertreiben kann, eines Tages zu Deutschland zurückkehrt und die Saar dabei mitnimmt.“

Die Rückkehr zu einem speziellen internationalen Regime für die Saar erschien deswegen aber noch nicht als die bessere Lösung. Sicher, man müsste dafür sorgen, dass das internationale Statut diesmal, anders als 1920, von vornherein „als definitiv präsentiert“ würde. „Um jede deutsche Einmischung zu vermeiden“, müsste „Frankreich über eine Art ständiges Mandat zur lokalen Verwaltung“ verfügen. „Das Verschwinden der deutschen Führungskräfte, kulturelle Überzeugungsarbeit, die sich auf das Prestige der Universität Straßburg stützt, schließlich ein Wechsel der katholischen Hierarchie in einem französischen Sinn könnten die Integration des Lands in unsere Wirtschaft erleichtern.“ Aber all das „würde an der Gesinnung der Saar-Bevölkerung nichts ändern. Weit davon entfernt, sich Frankreich anzunähern, würde sie sich zweifelsohne wieder von ihm trennen, sobald sich Deutschland von seiner Niederlage wieder erhebt“.

Die Experten der Wirtschaftsabteilung kamen daher zu dem Schluss, die radikalste Lösung der Saarfrage sei zugleich die beste: eine Zuordnung des Saar-Territoriums zu Frankreich bei gleichzeitiger Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Wenn sich Frankreich „die Ausbeutung der saarländischen Ressourcen auf Dauer sichern will, muss es die politischen Risiken eines Bevölkerungstransfers eingehen“. Eine Annexion ohne Bevölkerungstransfer sei nicht möglich: „Die Saar-Bevölkerung bildet einen Block, der der französischen Annexion feindlich gegenübersteht, und es wäre vergeblich, sie spalten zu wollen.“ Gewiss würde auch eine solche Lösung auf Schwierigkeiten stoßen: Zunächst müsste man die anderen Mächte dazu bringen, „das doppelte Prinzip der Annexion und des Transfers der Bevölkerung zu akzeptieren“. Und dann müsste man genügend qualifizierte ausländische Bergleute und Hüttenarbeiter dafür gewinnen, sich an der Saar anzusiedeln. Aber unmöglich erschien das nicht. Die Experten dachten hier vor allem an polnische Arbeitskräfte – falls diese „nicht durch den Wiederaufbau ihres Lands zurückgehalten“ würden. Und die dauerhafte Ausweisung der Deutschen würde „durch die Evakuierung der saarländischen Bevölkerung nach Deutschland während des Konflikts sicherlich erleichtert werden“.[21] Tatsächlich waren mehrere Hunderttausend Einwohner der Roten Zone in einer Breite von etwa zehn Kilometern entlang der Grenzlinie, unter Einschluss der Industriestädte Dillingen, Völklingen und Saarbrücken und der Grenzgebiete im Moseltal und in der Pfalz seit September/Oktober 1944 ins Innere des Reichs transportiert worden.[22]

Die Geografen, die an der Besprechung vom 9. November teilnahmen – neben de Martonne sein Kollege Max Sorre und der Diplomgeograf Meary, der den Bericht, der den Beratungen zugrunde lag, verfasst hatte –, erklärten auf eine Nachfrage Alphands, dass eine Ausweisung der Saar-Bevölkerung grundsätzlich machbar sei, weil sie ja „nur 800.000 Personen“ betreffen würde. Sie wiesen aber gleichzeitig auf das „schwerwiegende Problem“ hin, dass „die Saar-Bevölkerung sehr an ihrer Scholle klebt“. Dennoch fasste Alphand die Beratungen dahingehend zusammen, „dass man die Saar unter ein Mandatsregime zugunsten Frankreichs stellen muss, mit einem Transfer der Bevölkerungen“.[23] Das Memorandum vom 4. Dezember endete mit der Warnung, dass ein neues Regime an der Saar nur so lange Bestand haben werde wie „eine internationale Organisation der Rheinländer“ – es sei denn, Frankreich bringe die „Entschlossenheit“ auf, die für die Durchsetzung der Ausweisung nötig sei.[24]

Dass die Wirtschaftsexperten des Außenministeriums letztlich für die Ausweisung der Saar-Bevölkerung votierten, sollte nicht überraschen. Schließlich propagierten sowohl die polnische als auch die tschechoslowakische Exilregierung seit Kriegsbeginn die Vertreibung der Deutschen aus ihren Ländern, wobei sie sich, um die Unterstützung der Alliierten für dieses Vorhaben zu finden, auf den Vertrag von Lausanne von 1923 beriefen, der den sogenannten Austausch griechischer und türkischer Minderheiten nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1922 völkerrechtlich legitimiert hatte. Etwa 500.000 Muslime auf griechischer Seite und 1,5 Millionen Christen in Kleinasien waren davon betroffen gewesen. So wie damals Siegermächte des Ersten Weltkriegs, insbesondere Großbritannien und Frankreich, die Zwangsumsiedlungen überwacht und mitfinanziert hatten, sollte der Bevölkerungsaustausch auch jetzt unter der Aufsicht internationaler Organisationen erfolgen. Nicht nur die Regierung der Sowjetunion, auch die amerikanische und die britische stimmten dem Vorhaben zu. Kriegspremier Winston Churchill bezeichnete die „Vertreibung“ der Deutschen in einer Rede im britischen Unterhaus am 15. Dezember 1944 als das „befriedigendste und dauerhafteste Mittel“ zur Friedenssicherung im Osten Europas.[25] Die Experten in Paris konnten sich sagen, im Hinblick auf die Sicherung der Saarkohle zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen zu sein.

III. Die Entscheidung für die Annexion

Was aus der Sicht Alphands und der Wirtschaftsabteilung nur als zweitbeste Lösung galt – die Integration der Saar in einen rheinländischen Industriestaat –, war zu dem Zeitpunkt, als die Experten ihre Empfehlungen festschrieben, bereits obsolet. De Gaulle, der von Burin des Roziers zweifellos über das Ergebnis der Beratung vom 9. November unterrichtet worden war, hatte bei seinem Staatsbesuch in Moskau zwei Tage vor der Fertigstellung des Memorandums der Wirtschaftsabteilung, also am 2. Dezember 1944, Stalin eine besondere Behandlung des Ruhrgebiets offeriert, die dem Plan eines rheinischen Industriestaats die Grundlagen entzog. „De Gaulle sagt“, heißt es im sowjetischen Protokoll dieser Unterredung,

„dass es eine gute Entscheidung wäre, wenn das Rheinland von Deutschland abgetrennt und an Frankreich angegliedert würde. Vielleicht würde es sich für seinen nördlichen Teil, das Ruhrgebiet, geziemen, ein Regime zu errichten, das nicht französisch wäre, sondern international. Was das Rheinland im Allgemeinen betrifft, sollte es von Deutschland abgetrennt und dem französischen Territorium zugeschlagen werden“.[26]

Mit dem Angebot eines internationalen Regimes an der Ruhr unter Beteiligung der Sowjetunion als Siegermacht wollte de Gaulle Stalin dazu bringen, die französische Forderung nach Abtrennung von Rhein und Ruhr vom deutschen Staatsverband zu unterstützen. Als sowjetische Gegenleistung erhoffte er zudem eine stärkere Ausrichtung des restlichen Rheinlands auf Frankreich, als sie in den Planungen der Wirtschaftsabteilung für den rheinischen Industriestaat vorgesehen war. In einer späteren Anweisung an den französischen Botschafter in London präzisierte er, dass die linksrheinischen Gebiete bis zu einer Linie nördlich von Köln mit einigen rechtsrheinischen Brückenköpfen von Köln bis Karlsruhe allein von Frankreich kontrolliert und „insbesondere in die französische Wirtschaft“ eingebunden werden sollten.[27]

Das war unter dem Aspekt militärischer Sicherheit sinnvoll und entsprach de Gaulles geopolitischem Denken; nicht von ungefähr hatte er schon in einer Ausarbeitung über essenzielle Kriegsziele, die er 1932 als Angehöriger des Sekretariats des nationalen Verteidigungsrats verfasst hatte, „die Ausdehnung der Souveränität Frankreichs in Richtung des Rheins“, „maximal bis zum Verlauf des Flusses“, an erster Stelle genannt.[28] Mit der Idee eines rheinländischen Industriestaats, der für den Wiederaufbau Europas arbeitete, war ein solcher Zuschnitt des Rheinlands aber nicht mehr zu vereinbaren. Von dem „glücklichen Gleichgewicht“ zwischen industriellen, landwirtschaftlichen und kulturellen Komponenten, die de Martonne gerühmt hatte, konnte keine Rede mehr sein.

De Gaulle hatte die Entscheidung für die Trennung des Ruhrgebiets vom Rheinland ganz allein getroffen, ohne sich zuvor mit jemandem darüber zu beraten. In den Papieren des Außenministeriums taucht die Idee eines internationalen Regimes für die Ruhr vor dem Moskaubesuch an keiner Stelle auf.[29] Einsame Entscheidungen dieser Art gab es bei dem Präsidenten der Provisorischen Regierung häufig. Sein Außenminister Georges Bidault, zuvor Präsident des Nationalen Widerstandsrats, beklagte sich im Nachhinein, dass de Gaulle „die großen Angelegenheiten“ in der Außenpolitik stets an sich gezogen und selbst geregelt habe. „Es war ein Glück, wenn man nicht etwa eine Erklärung, aber immerhin eine Auskunft über die getroffenen Entscheidungen und die angestrebte Richtung erhielt.“[30] De Gaulle hatte ihn als Repräsentanten des demokratischen Widerstands am 6. September 1944 zum Außenminister berufen, um die Westmächte, die ihn immer noch diktatorischer Neigungen verdächtigten, endlich zur diplomatischen Anerkennung seiner Regierung zu bewegen. Ein tatsächliches Mitspracherecht in der Außenpolitik gedachte er ihm deswegen aber nicht einzuräumen.[31] Bidault blieb nichts anderes übrig, als die neuen Vorgaben zur Deutschlandpolitik nach der Rückkehr des Regierungschefs aus Moskau zu operationalisieren. Dazu setzte er am 23. Dezember 1944 zwei neue Kommissionen ein, die eine zuständig für Wirtschaftsfragen, die andere für politische Angelegenheiten.[32]

Für die Zukunft der Saar bedeuteten de Gaulles Vorgaben, dass die Annexion durch Frankreich jetzt zur eindeutig favorisierten Lösung avancierte, mehr noch: zur einzigen Lösung, die noch möglich erschien. De Gaulle dürfte das durchaus recht gewesen sein, hatte er doch 1932 die Forderung nach territorialer Erweiterung Frankreichs in Richtung der Rheingrenze unter anderem durch die Forderung nach „direktem Besitz“ der Saarkohle präzisiert.[33] Entsprechend wurde jetzt in einem Mémoire sur le problème rhéno-westphalien, das die Politische Abteilung des Außenministeriums am 1. Februar 1945 fertigstellte, die Angliederung des Saargebiets an Frankreich vorgesehen: „Besonders enge Bindungen, die zumindest eine Zollunion darstellen, sollen die Saar an das französische Territorium angliedern.“[34] Dem Rheinland mit seinen verschiedenen Zonen, wie es in der Endfassung dieser Denkschrift skizziert wurde, gehörte das Saargebiet nicht mehr an.[35] Die Wirtschaftsabteilung hielt zwar anders als die Politische Abteilung (und entgegen den Intentionen de Gaulles) an der Idee einer „rheinisch-westfälischen Wirtschaftseinheit“ fest; sie betonte aber in einem Memorandum, das am 7. Februar fertiggestellt wurde, ebenfalls, dass das Saargebiet nicht mehr zu dieser Einheit gehören sollte. Stattdessen sollte „das Saar-Bassin in das Zollgebiet Frankreichs eingeschlossen werden“.[36]

Als sich der Außenpolitische Ausschuss der Beratenden Nationalversammlung im März mit der Saarfrage beschäftigte, wurde die Option für die Annexion des Saargebiets durch Frankreich auf breiter Front bestätigt. Maurice Schumann, Gründungspräsident des christdemokratischen Mouvement Républicain Populaire (MRP), dem auch Bidault als Mitgründer angehörte, stellte in der Ausschusssitzung vom 30. März 1945 ein Programm vor, das die „Annexion des Saargebiets“ mit der Notwendigkeit eines „Ausgleichs“ für die Kriegsschäden begründete, die das Deutsche Reich in Frankreich verursacht hatte. Die Bergwerke sollten nach seinen Erläuterungen „wieder ganz in [französisches] Eigentum übergehen“, und die Einwohner sollten die Möglichkeit haben, „für Frankreich oder für Deutschland zu stimmen“. Allein diejenigen, die für Frankreich gestimmt hatten, sollten „das Recht haben, im Saargebiet zu bleiben“. Sollten sie es an „Loyalität“ mangeln lassen, „könnten sie natürlich ausgewiesen werden“.[37]

Dieses Programm fand in der kurzen Diskussion, die sich an Schumanns Bericht anschloss, nahezu einmütige Unterstützung. Selbst der Ausschussvorsitzende Vincent Auriol von den Sozialisten, der ursprünglich ähnlich wie Monnet für einen unabhängigen Rheinstaat unter militärischer Aufsicht einer supranationalen Organisation plädiert hatte,[38] argumentierte jetzt: „Die Annexion der Saar muss für Frankreich ein wirtschaftlicher Ausgleich für die allgemeine Zerstörung sein, die von der deutschen Besatzung verursacht wurde. Im Übrigen leugnet niemand unser historisches Recht auf dieses Gebiet.“[39] Allgemein war man der Auffassung, dass „die Bewohner, die nicht Franzosen werden wollen oder unerwünscht sind, ohne große Schwierigkeiten vertrieben werden können“. Schließlich machte sich die Kommission die Argumentation der Geografen zu eigen, die darauf hingewiesen hatten, dass die Gesamtbevölkerung 800.000 Einwohner nicht übersteige.[40] Als Auriols Parteifreund Jules Moch in der Ausschusssitzung vom 3. Mai 1945 dafür votierte, die Saar nur wirtschaftlich in das französische System einzugliedern und die politische Kontrolle einem internationalen Regime zu überlassen, fand er dafür wenig Zustimmung. Der Ausschuss sprach sich mit elf gegen drei Stimmen für die wirtschaftliche und politische Annexion des Saargebiets aus.[41]

IV. Annexion durch Assimilierung

Die Vorstellung, diese Annexion mit der Ausweisung der gesamten Bevölkerung der Saar-Region zu verbinden – nach der Überzeugung der Wirtschaftsabteilung des Außenministeriums die Voraussetzung für ein dauerhaftes Gelingen –, hatte allerdings unterdessen an Plausibilität verloren. Zum einen erschien sie durch die Besetzung des Saargebiets durch amerikanische, nicht französische Truppen im März und die Rückkehr der evakuierten Bevölkerung, die damit einherging, nicht mehr so einfach möglich zu sein. Zum anderen hatten angesichts der elementaren Versorgungsprobleme des kriegszerstörten Lands die Wiederinbetriebnahme der Saarbergwerke und die maximale Steigerung ihrer Förderleistung absolute Priorität. Zeitverzögerungen und Reibungsverluste, die ein umfassender Bevölkerungsaustausch mit sich gebracht hätte, konnte man sich einfach nicht leisten. Es war auch nach wie vor nicht klar, woher denn die Arbeitskräfte kommen sollten, die für die Ankurbelung der Kohleförderung benötigt wurden, wenn man die gesamte Saar-Bevölkerung vertrieb.

De Gaulle billigte daher am 17. April 1945 den Entwurf einer Note an die britische Regierung, in der offengelassen wurde, wie die Kontrolle des Saargebiets durch Frankreich auf Dauer sichergestellt werden sollte: „Die Provisorische Regierung [...] ist der Ansicht, dass das Gebiet, in dem sich diese Gruben befinden, unter ein besonderes Regime gestellt werden muss, das Frankreich die notwendige Kontrolle sichert.“[42] Und Schumann beschränkte die Ausweisung in seiner Programmskizze auf diejenigen Saar-Bewohner, die nicht bereit waren, für Frankreich zu stimmen, oder es trotz eines Votums für Frankreich an der notwendigen Loyalität zur französischen Republik fehlen ließen. Je nach der Haltung der Saar-Bewohner konnten das allerdings immer noch sehr viele sein, vielleicht war es sogar die überwiegende Mehrheit.

Angesichts der Schwierigkeiten, die einer Ausweisung entgegenstanden, fand jetzt eine Argumentation mehr Gehör, die darauf hinauslief, den Anteil derjenigen Saar-Bewohner erheblich zu steigern, die sich für Frankreich entschieden, und zu diesem Zweck zunächst ein Übergangsregime zu installieren. Es war Léonce Abel Verdier, der ehemalige Generalkonsul an der Saar, der sie seit dem Spätherbst 1944 in der Politischen Abteilung des Außenministeriums vertrat. Anders als die Experten der Wirtschaftsabteilung ging er davon aus, dass die Saar-Bewohner über „kein ausgeprägtes Nationalbewusstsein“ verfügten.[43] Das mochte angesichts der Entfesselung des Nationalismus im Abstimmungskampf und der Popularität des NS-Regimes im sogenannten Reichsland Saarland eine erstaunliche Einschätzung gewesen sein.[44] Aber angesichts der Schwierigkeiten, die einer Vertreibung im Wege standen, wurde sie gerne geglaubt – zumal sie von jemandem kam, der mit seiner mehrjährigen Anwesenheit vor Ort Glaubwürdigkeit beanspruchen konnte. Verdier leitete aus dieser Wahrnehmung die Überzeugung ab, dass – so die Formulierung in einer Note relative à la préparation de l’introduction de l’administration civile en Sarre vom 1. März 1945 – „eine vernünftige Assimilationspolitik“ und „ein freiwilliger Bevölkerungsaustausch“ zu einer „spontanen Eingliederung“ der Saar in das französische politische System führen würden. Wenn man die Assimilation energisch genug betrieb, würde es genügen, nur den Teil der Bevölkerung auszuweisen, der nicht bereit war, sich zu assimilieren.[45]

Eine „vernünftige Assimilationspolitik“ bestand für Verdier in einer Kombination von Zwangs- und Integrationsmaßnahmen. Einerseits sollten „alle Verbindungen“ der Saar mit dem Reich sofort gekappt werden. „Alle unerwünschten Elemente“ müssten aus dem Saargebiet ausgewiesen werden; die Region sollte anders als unter dem Völkerbundregime „ihre Impulse einzig und allein von Frankreich“ erhalten. Die Saargruben und die deutschen Anteile an den Hüttenwerken sollten in französisches Eigentum übergehen, die Region sollte in das französische Zoll- und Währungssystem integriert werden. Die Volksschulen wollte Verdier künftig zweisprachig geführt wissen, in den Gymnasien sollte auf Französisch unterrichtet werden, für die universitäre Ausbildung sah er „die nächstliegende Fakultät in Straßburg“ als zuständig an. Außerdem plädierte er für die Lenkung der katholischen Kirche durch ein eigenes Saar-Bistum und den Anschluss der protestantischen Gemeinden an die entsprechenden Kirchen Elsass-Lothringens. Zudem sollten vermehrt Franzosen in der Saar-Region arbeiten – nicht nur Funktionäre und Verwaltungsangestellte, sondern auch Kaufleute und Industriearbeiter. Bei Bergleuten und Stahlarbeitern wünschte er die Organisation eines ständigen Austauschs zwischen der Saar-Region und Frankreich.[46]

All dies müsse schnell und energisch ins Werk gesetzt werden, wolle man den gewünschten Erfolg haben. Dazu müsse das Saargebiet zunächst von einem Hohen Kommissar verwaltet werden, der dem Pariser Außenministerium unterstand. Frankreich solle auch sogleich die Vertretung der Belange der Saar-Bewohner im Ausland wahrnehmen. Ein frei gewählter „Konsultativrat“ der Saar-Bewohner solle dem Hohen Kommissar zur Seite stehen, freilich keine eigenen Kompetenzen erhalten. Bevölkerungsaustausch, kulturelle Propaganda und wachsender Einfluss der Absolventen französischer Gymnasien und französischer Fakultäten hatten dafür zu sorgen, dass „der Zusammenschluss mit Frankreich unaufhörlich verstärkt wird“.

Verdiers Plädoyer war nicht zuletzt deswegen so überzeugend, weil Frankreich seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder gute Erfahrungen mit der Integration von ausländischen Arbeitskräften gemacht hatte, die die Verlangsamung des Bevölkerungswachstums kompensierten. Sprache und Kultur, das laizistische Schulsystem und der Militärdienst hatten nicht nur „Bauern zu Franzosen“ werden lassen,[47] sondern auch viele Italiener, Belgier und Spanier, nach dem Ersten Weltkrieg auch Polen, Portugiesen und Einwanderer aus zahlreichen anderen Ländern. Zwischen 1871 und 1911 hatten fast eine Million Ausländer die französische Staatsbürgerschaft erhalten; weitere 1,2 Millionen Ausländer lebten 1911 im Land. 1931 waren es mit 2,7 Millionen etwa sieben Prozent der Gesamtbevölkerung; davon waren 360.000 eingebürgert worden.[48]

Auch de Gaulle war von der Möglichkeit einer Annexion durch Assimilierung überzeugt. In seiner Ausarbeitung von 1932 hatte er von einer „fortschreitenden Re-Assimilierung der Bevölkerungen“ des Rheinlands gesprochen.[49] Verdier wurde daher am 27. April 1945 zum Chef de la Délégation des Affaires Etrangères en Sarre ernannt, der die französische Machtübernahme an der Saar organisieren sollte. Im Rang eines Gesandten hatte er die Führungspositionen in den Bergwerken und in der Verwaltung zu besetzen, sobald die Amerikaner von der Saar abgezogen waren. Entweder sollte er dabei als Generalsekretär und Politischer Berater der Militärregierung des Saargebiets fungieren oder direkt als Chef der Verwaltung, der nur der Militärregierung in Baden-Baden unterstand. Bei der Auswahl seiner Mitarbeiter musste er sich mit den entsprechenden Diensten der Militärregierung verständigen; die Entscheidung über ihre Ernennung behielt sich aber „angesichts des politischen Charakters der Arbeit, die an der Saar zu tun ist“, der Außenminister vor.[50] Zuvor hatte de Gaulle ein Memorandum gebilligt, in dem ein energisches und schnelles Vorgehen an der Saar empfohlen wurde. Anders als in den übrigen Teilen des Rheinlands könne man hier auf erfahrene Verwaltungsbeamte und kompetente Ingenieure zurückgreifen, die die Verhältnisse an der Saar aus der Völkerbundzeit kannten. Sie seien „in der Lage, die Verwaltung des Landes sofort zu übernehmen“. Und damit könne man die Besetzung des Saargebiets „sofort für Frankreich produktiv“ werden lassen.[51]

Nachdem die Amerikaner am 10. Juli mit dem Abzug aus der Saar-Region begonnen hatten, bekräftigte ein erstes Dekret des neu eingerichteten Comité interministériel des affaires allemandes et autrichiennes (CIAAA), dem neben Regierungschef de Gaulle auch Außenminister Bidault und Generalstabschef Alphonse Juin angehörten, am 20. Juli die Richtung, die mit der Mission Verdiers eingeschlagen worden war: „Frankreich“, hieß es in den tags zuvor fertiggestellten Directives pour notre action en Allemagne,

„hat an der Saar spezifische Interessen wirtschaftlicher Art. Die Saar muss daher gleich zu Anfang Objekt besonderer Anstrengungen werden, damit sie später an das französische System angeschlossen werden kann [pour être rattachée ultérieurement au système français]. Insbesondere müssen die preußischen Führungskräfte der Bergwerke schnell entfernt werden.“[52]

In dieser allgemeinen Form reichten die Direktiven freilich nicht als Handlungsanweisung für die französischen Besatzungsstreitkräfte aus. Nachdem sich Verdier Anfang August bei seinem Vorgesetzten Maurice Dejean darüber beschwert hatte, dass der an der Saar eingesetzte Militärgouverneur Louis-Constant Morlière „die Verfügungen der Regierung nicht“ kenne,[53] arbeitete die Politische Abteilung des Außenministeriums auf der Grundlage von Verdiers Memorandum vom Oktober 1944 „besondere Direktiven für die Saar“ aus. Sie wurden von Dejean als Direktor der Abteilung handschriftlich korrigiert und am 25. August fertiggestellt.

Die Saar-Direktiven nahmen Verdiers These von der Beeinflussbarkeit der Saar-Bevölkerung auf, „die kein besonders ausgeprägtes nationales Bewusstsein aufzuweisen scheint“, und beschrieben dann, ebenfalls auf Verdiers Vorschlägen aufbauend, wie eine „sehr forcierte Assimilationspolitik“ – une politique d’assimilation très poussée – aussehen sollte: Die gegenwärtige Gleichgültigkeit und Niedergeschlagenheit der Bevölkerung sollten genutzt werden, um sogleich „eine Reihe von Maßnahmen zu treffen, die darauf zielen, die Saar einerseits vom Rest Deutschlands zu trennen und seine Existenz andererseits auf unser Land hin zu orientieren“. Hierfür sollte keine direkte Annexion vorbereitet werden („non une annexion pure et simple“), sondern „eine Vereinigung mit Frankreich, die durch eine wirtschaftliche Eingliederung und die Schaffung einer eigenständigen Verwaltung unter französischer Führung gekennzeichnet“ sei. „Unerwünschte Elemente“ sollten ausgewiesen, ein „freiwilliger Bevölkerungsaustausch“ sollte „gefördert“ werden. Die Saar-Bevölkerung sollte „an die als unausweichlich betrachtete Vereinigung mit unserem Land gewöhnt werden, die der Saar Reichtum und Wohlergehen bringen und gleichzeitig ihre Eigenheiten respektieren werde“ – Eigenheiten, „die mit der Zeit unter dem Einfluss einer richtig verstandenen Assimilationspolitik verschwinden“. Damit ginge man letztlich auf einem Weg weiter, den bereits „die Nationalsozialisten selbst“ als notwendig „anerkannt haben, als sie die Westmark schufen“.[54]

Dass, wie gelegentlich suggeriert wird,[55] diese Direktiven die Annexion des Saargebiets durch Frankreich ausschlossen, wird man gewiss nicht sagen können. Sie stellten im Gegenteil eine Anweisung dar, mit kluger Entschlossenheit darauf hinzuarbeiten. Zu den Ausweisungen, die immer noch für notwendig, wenn auch nur in begrenztem Umfang für durchführbar gehalten wurden, war die Assimilationspolitik gekommen. Man begriff wirtschaftliche Eingliederung und eigenständige Verwaltung unter französischer Führung als Übergangsregime, das die „Eigenheiten“ der Bevölkerung mit der Zeit verschwinden lassen würde. In diesem Sinne hatte Dejean am 8. August 1945 an den französischen Botschafter in London, René Massigli, telegrafiert, eine „vollständige oder teilweise, offene oder verdeckte Annexion“ der Saar „kann nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, auch wenn sie mit einer Deportation eines Teils der angestammten und preußenfreundlichen Bevölkerung einhergehen muss“.[56] Als er keine zwei Wochen später den Direktiven-Entwurf seiner Direktion abzeichnete, kann er mit diesen Überlegungen zur Annexion nicht „allein auf weiter Flur“ gestanden haben.[57] Seine Erläuterungen gegenüber Massigli zeigen vielmehr, wie der Direktor der Politischen Abteilung des Außenministeriums die Direktiven verstand, die er zu verantworten hatte. Die Militärregierung in Baden-Baden bezeichnete das Ziel der Maßnahmen, die sie unterdessen „in Ausführung dieser Direktiven“ getroffen hatte, in einem Bericht an den Generalkommissar für die deutschen und österreichischen Angelegenheiten am 16. Januar 1946 offen als „Zuweisung [attribution] der Saar an Frankreich“ und als „Annexion der Saar“.[58]

V. De Gaulles Erwartungen

De Gaulle wollte die effektive Inbesitznahme des Saar-Reviers aber nicht dem Außenministerium überlassen; daher wurde Bidaults Vorhaben nicht umgesetzt, Verdier damit zu betrauen. Der Regierungschef setzte hier ganz auf Oberst Gilbert Grandval, den er wegen seines Engagements in der Résistance schätzte und der auch Erfahrungen als Industriemanager mitbrachte. Am 30. August 1945 wurde er von de Gaulle zum Chef der Sonderverwaltung im bisherigen Saargebiet ernannt.[59] An der Mission, die in den Direktiven vom 25. August formuliert worden war, änderte sich dadurch aber nichts. Die Direktiven wurden am 3. September vom Interministeriellen Komitee unter dem Vorsitz von de Gaulle verabschiedet und am 7. September an Militärgouverneur Pierre Koenig weitergeleitet; dieser beauftragte Emile Laffon am 21. September, ihm alsbald einen „Ausführungsplan“ vorzulegen.[60]

Für de Gaulle galt es als ausgemacht, dass das Ziel des Verschwindens von „Eigenheiten“ der Saar-Bevölkerung bald erreicht werden würde. In einem Gespräch mit dem soeben ernannten neuen Direktor der Politischen Abteilung des Außenministeriums, Maurice Couve de Murville, am 8. Oktober 1945, das der Vorbereitung von Verhandlungen mit den britischen Verbündeten über den künftigen Status des Rheinlands, der Ruhr und der Saar diente, wies er auf die strategische Bedeutung hin, die die Zerstörung Preußens durch die Abtretung der Gebiete östlich von Oder und Neiße seiner Meinung nach für die weitere Entwicklung in der deutschen Frage hatte: „Es war Preußen, das die deutsche Einheit herbeigeführt hat. Wenn Preußen verschwunden ist, gibt es kein Deutschland mehr, sondern nur noch mehrere Deutschländer.“ Ohne Preußen würden die „Partikularismen“ sofort wieder hervortreten; das habe er bei seiner Rundreise durch die französische Besatzungszone festgestellt, von der er gerade zurückgekommen war. Sobald es „Preußen nicht mehr gibt und also auch kein Deutschland mehr, werden sich die benachbarten westlichen Regionen notwendigerweise Frankreich zuwenden. Die Pfalz wird wiederentstehen, eine rheinische Region, die hessischen Staaten.“ Diese wiederauferstandenen historischen Staaten „werden sich notwendigerweise unter der Führung Frankreichs mit diesem westlichen Ensemble zusammentun, zu dem außerdem Belgien, Luxemburg, Holland und, wenn es das wünscht, Großbritannien gehören“.[61]

Was „Führung“ durch Frankreich in diesem Zusammenhang bedeutete, wusste der General nicht präzise zu sagen. „Handelt es sich um eine Annexion?“, hatte er bei einer Ansprache vor den Angehörigen der französischen Militärregierung in Baden-Baden am 5. Oktober rhetorisch gefragt. „Nein; aber ich will hier auch nicht um Worte streiten. Es geht um eine wirtschaftliche und moralische Union, eine unbegrenzte Anwesenheit und Kontrolle. [...] Ich glaube, dass diese Länder der Idee eines Deutschlands, gruppiert um ein jetzt zerstörtes Preußen, absagen, um sich dem Horizont zuzuwenden, der ihnen am meisten Hoffnung bringt.“[62] Nachdem die Londoner Außenministerratstagung keinerlei Fortschritt in der Rheinlandfrage gebracht hatte, wies er Militärgouverneur Pierre Koenig am 29. Oktober an, den Anschluss des Eisenbahnnetzes „zumindest der linken Rheinseite“ an die französische Eisenbahngesellschaft vorzubereiten, ebenso die „direkte Übernahme“ der Saargruben und sofortige Maßnahmen zur „Vereinigung“ der örtlichen Behörden in den Bereichen Ernährung, Währung, Zoll und Wiederaufbau mit „unseren französischen Diensten“.[63]

Für die Saar sollte die Vereinigung nach de Gaulles Vorstellungen aber noch weiter gehen. Hier führte ihn sein Denken in langfristigen historischen Bezügen zu der Schlussfolgerung, dass eine vollständige Annexion nicht nur notwendig, sondern auch leicht möglich sei. Schließlich gab es hier kein angestammtes Herrscherhaus und auch keine lange staatliche Tradition, an der sich die Bevölkerung orientieren konnte.[64] Frankreich werde die Staaten des deutschen Westens nicht annektieren, führte er in der Unterredung mit Couve de Murville am 8. Oktober weiter aus.

„Dies gilt jedoch nicht für das Saargebiet [Il doit en aller autrement pour le territoire de la Sarre], das, wenn Preußen erst einmal verschwunden ist, über keinerlei natürliche Verbindung mit Deutschland verfügt und im Gegenteil in Frankreich seine Absatzmärkte und die Quellen für seine Lebensmittelversorgung findet. Die Stadt Kehl, die nur ein Vorort von Straßburg ist und deren Hafen nur einen Anhang des Straßburger Hafens darstellt, muss ebenso an Frankreich gehen [aller à la France].“[65]

In seiner Rede in Bayeux am 16. Juni 1946 sollte er die Saar als eine Region bezeichnen, „der die Natur der Dinge, offen gelegt durch unsere Geschichte, einmal mehr ihren Platz bei uns zuweist, den Söhnen der Franken“.[66]

Vier Tage nach der Einweisung durch de Gaulle erklärte Couve de Murville bei seinen Verhandlungen in London den Instruktionen vom 8. Oktober entsprechend: „Die französische Regierung wünscht kein Gebiet zu annektieren, mit einem Vorbehalt bezüglich der Saar, mit der vielleicht eine besonders enge Verbindung [une union particulièrement étroite] geschaffen werden muss.“ Was darunter zu verstehen war, sagte er freilich nicht. Stattdessen erklärte er, die französischen Desiderata hinsichtlich der Saar seien

„auch noch nicht vollständig festgelegt, auch wenn gewisse Prinzipien schon feststehen. Die Franzosen wünschen, das Eigentum der Bergwerke wiederzuerlangen. Es soll eine Zollunion und vielleicht eine Währungsunion zwischen Frankreich und der Saar geben. [...] Die lokale Verwaltung sollte von den Bewohnern wahrgenommen werden, aber unter französischer Kontrolle, über deren Umfang später entschieden werden soll.“[67]

Hinter dem Verzicht darauf, den politischen Anschluss offiziell festzuschreiben, standen Unsicherheiten und zum Teil auch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des möglichen Tempos der Assimilierung und des erforderlichen Ausmaßes der Ausweisungen. Während de Gaulle nur eine Ausweisung der preußischen Führungsschicht für notwendig hielt, drängten Militärgouverneur Koenig und Zivilverwaltungschef Laffon Delegationschef Grandval in Saarbrücken, „massive Ausweisungen“ vorzunehmen. Dieser sperrte sich mit dem Argument, Ausweisungen in großem Umfang hätten gravierende wirtschaftliche und soziale Folgen.[68] Als Grandval bei der gemeinsamen Fahrt von Saarbrücken nach Trier am 3. Oktober 1945 gegenüber Laffon die Priorität seiner „wirtschaftlichen, versorgungsproblematischen und sozialen Sorgen“ betonte, blieb de Gaulle stumm.[69]

Die Kommission unter dem Vorsitz des Stellvertretenden Leiters der Direction Générale des Affaires Administratives in Baden-Baden, Perier de Féral, die Laffon Anfang November mit der Ausarbeitung der Durchführungsbestimmungen der Saar-Direktiven beauftragte, ging anfangs davon aus, dass etwa 200.000 „nichtsaarländische“ Einwohner ausgewiesen werden müssten.[70] In dem Bericht, den Koenig am 16. Januar 1946 an das Generalkommissariat schickte, wurde die Zahl der Auszuweisenden dann auf „100.000 bis 150.000 Saar-Bewohner“ beziffert. Koenig meinte, „diese Einschätzung“ entspreche „derjenigen [...], die Sie in Ihren Direktiven vom 7. Juli und 25. August 1945 in Betracht gezogen haben“.[71] Die Ausweisung der über hunderttausend Menschen sollte, das hatte Koenigs Kabinettschef de Varreux hinzugefügt, zeitlich gestaffelt erfolgen. Der Bericht enthielt auch detaillierte Vorschläge, wo die Auszuweisenden angesiedelt werden sollten: in Württemberg und Baden, in Frankreich und in den Kolonien. Ebenso wurde ausgeführt, wer die ausgewiesenen Arbeitskräfte ersetzen sollte: vornehmlich Norditaliener, aber auch Polen und bis zu 3.000 französische Ingenieure, deren Einsatz in der Schwerindustrie vorgesehen war.[72]

Im Übrigen kam die Militärregierung in Baden-Baden in ihrem Bericht an das Generalkommissariat für deutsche und österreichische Angelegenheiten zu dem Schluss, dass „die Annexion der Saar aus politischer und administrativer Sicht keine ernsthaften Schwierigkeiten bereiten sollte“. Die „Entnationalisierung [dénationalisation]“ der Bevölkerung sei „nur eine Frage der Zeit“.[73] Das war ein Befund, den de Gaulle und auch Bidault zweifellos gerne hörten. Das Kabinett de Gaulles hatte am 26. November zu einem Vorschlag Grandvals, das Saargebiet um ein Drittel ländlicher Gebiete zu erweitern, kritisch bemerkt, dass „die Vorstellung von einem unabhängigen autonomen Saarstaat [...] keineswegs den Absichten der Regierung entspricht“.[74] Sorge sei dafür zu tragen, dass die Saar-Bevölkerung auf Versorgung aus dem lothringischen Gebiet angewiesen sei; das würde die Vereinigung mit Frankreich, wie es in den Direktiven vom 25. August 1945 geheißen hatte, letztlich „unausweichlich“ machen. Bidault hatte noch am 17. Dezember 1945 in einer Auseinandersetzung mit dem belgischen Botschafter Baron Jules Guillaume trotzig darauf beharrt, dass Frankreich sein deutschlandpolitisches Programm ohne Einschränkungen durchsetzen werde:

„Frankreich wird die deutschen Gebiete, die es besetzt hält, niemals verlassen. Es wird die Saar haben [Elle aura la Sarre]. Es wird im Ruhrgebiet das Regime einrichten, das es dort etablieren will. Es genügt ihm, es zu wollen und nicht zurückzuweichen. [...] General de Gaulle ist ein grundlegendes Element der französischen Politik, und man tut gut daran, dem Rechnung zu tragen.“[75]

Dass Alphand die Annexionsabsichten in einer Verhandlung mit amerikanischen Kollegen am 15. November praktisch geleugnet hatte – „Hinsichtlich der Saar ist nicht von Annexion die Rede, sondern von einem Spezialregime“[76] –, muss vor dem Hintergrund solcher interner Äußerungen als taktisches Manöver gewertet werden: Nachdem sich die Öffentlichkeit in den USA unterdessen darüber echauffiert hatte, dass die Vertreibungen aus den deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland keineswegs „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ erfolgt waren, wie es das Kommuniqué der Potsdamer Konferenz verlangt hatte,[77] schien es nicht geraten, im Gespräch mit amerikanischen Regierungsvertretern explizit auf die langfristigen Ziele des französischen Saar-Programms hinzuweisen.

VI. Bidault, die Pariser Außenministerratstagung und das Drängen der Militärregierung

Drei Tage nach dem Eingang des Berichts der Baden-Badener Militärregierung in Paris, am 20. Januar 1946, trat de Gaulle als Präsident der Provisorischen Regierung zurück. Der französischen Saarpolitik kam damit die treibende und letztlich entscheidende Kraft abhanden, der die Beamten des Quai d’Orsay, die Militärregierung in Baden-Baden und die Militärregierung an der Saar bislang immer direkt zugearbeitet hatten. An die Spitze einer von Volksrepublikanern, Sozialisten und Kommunisten getragenen Regierung trat mit dem Sozialisten Félix Gouin ein Vertreter der einzigen der drei Regierungsparteien, die sich mehrheitlich gegen eine politische Annexion der Saar ausgesprochen hatte.[78]

Das bedeutete aber nicht, dass sich die französischen Zielsetzungen an der Saar sogleich änderten. Die Verantwortung für die Außenpolitik fiel nun an Bidault, der sich bislang weitgehend auf die operative Ausführung von de Gaulles Vorgaben hatte beschränken müssen und nun allein schon mit Hinblick auf die Popularität des vormaligen Regierungschefs bei den Wählerinnen und Wählern seiner Partei darauf bedacht sein musste, nicht von der Linie des Generals abzuweichen. Im Nachhinein, in Gesprächen mit James F. Byrnes und Ernest Bevin, seinen amerikanischen und britischen Amtskollegen, im September 1946, behauptete er, „schon immer“ gegen die „politische Annexion“ der Saar gewesen zu sein: „Was mich betrifft, so habe ich sie niemals befürwortet, und ich war es, der sich der Übernahme dieser These durch de Gaulle widersetzt hat.“[79] Das ist freilich nicht sonderlich glaubwürdig. In den Akten des Außenministeriums ist keine Spur von mangelndem Einverständnis oder gar von Auseinandersetzungen bezüglich der Deutschlandpolitik zu finden.[80] Die Emotionalität, mit der Bidault noch in der zweiten Dezemberhälfte 1945 ankündigte, dass Frankreich die Saar „haben“ werde, spricht noch nicht einmal für einen stillen Vorbehalt.

Im Gespräch mit Bevin behauptete Bidault auch noch, dass er seit zwei Jahren (das heißt: seit seiner Berufung an die Spitze des Außenministeriums im September 1944) als Einziger vergeblich gegen die Festlegung auf die politische Annexion der Saar gekämpft habe: „Seit zwei Jahren predige ich in der Wüste.“[81] Daran ist so viel richtig, dass während der Präsidentschaft de Gaulles auch kein anderes Regierungsmitglied gegen das Ziel der Saar-Annexion aufgetreten war und ein Versuch der Sozialisten, den Kurs nach dem Rücktritt de Gaulles zu korrigieren, an der Mehrheitsmeinung in der Regierung scheiterte. Gouin plädierte am 15. Februar vor der Nationalversammlung dafür, sich jetzt auf die Gewinnung eines Anteils an den Erträgen der Ruhrindustrie und die Übereignung der Saargruben als Reparationstitel zu konzentrieren. Am 30. März 1946 erteilte er vor einem Parteikongress der Sozialisten jeder Annexion deutschen Gebiets, „ob brutal oder verkappt“, eine klare Absage: „Wir sehen die Verwaltung und die Kontrolle jener Gebiete, die das lebenswichtige Herz Deutschlands bilden – die Saar, das Rheinland, die Ruhr – nicht anders als unter einer internationalen Perspektive.“[82] Demgegenüber bestand Bidault in einer Ministerratssitzung am 5. April auf einer öffentlichen Erklärung, dass die Regierung in der Rhein-, Ruhr- und Saarfrage unverändert an ihrem Standpunkt festhalte. Die Sozialisten fügten sich seinem Begehren, um den Bestand der Koalition und die Verabschiedung der neuen französischen Verfassung nicht zu gefährden.[83] Ihre Position innerhalb der Regierung war damit geschwächt, und sie wurde noch schwächer, als die Sozialisten in den Wahlen zur zweiten Verfassunggebenden Nationalversammlung am 2. Juni Parlamentssitze zugunsten der Volksrepublikaner verloren und Bidault daraufhin zusätzlich zum Amt des Außenministers auch noch den Vorsitz im Ministerrat übernahm.[84]

Bidault hielt am kompletten deutschlandpolitischen Programm de Gaulles in der Hoffnung fest, bei entschiedenem Auftreten in den Verhandlungen mit den Alliierten so viel wie möglich davon durchsetzen zu können. Mit der Zeit wurde ihm klar, dass er dabei würde Abstriche machen müssen. Er hielt es aber nicht für eine kluge Strategie und war aufgrund seiner prekären innenpolitischen Stellung auch kaum in der Lage, selbst Zugeständnisse in einzelnen Fragen anzubieten, bevor das Gesamtpaket der deutschlandpolitischen Forderungen Frankreichs auf dem Verhandlungstisch des Alliierten Außenministerrats lag.[85] Als die Regierung der Drei-Parteien-Koalition die drei anderen Besatzungsmächte in Deutschland in der ersten Februarhälfte 1946 drängte, der Wirtschafts- und Zollunion der Saar mit Frankreich ohne weitere Verzögerung zuzustimmen, um Klarheit hinsichtlich der Demontagen und der Festlegung des künftigen deutschen Industrieniveaus zu gewinnen, hielt sie sich gleichzeitig die Option auf Ausweisungen und vollständige Annexion der Saar offen. „Das Statut der Einwohner“, hieß es in dem Memorandum, das Bidault den Regierungen der drei Besatzungsmächte am 12. Februar 1946 übermittelte, „insbesondere im Hinblick auf die Nationalität und das Optionsrecht, wird später festgelegt“.[86] In einem weiteren Memorandum, das die Regierung dem Alliierten Außenministerrat in Paris am 25. April 1946 unterbreitete, wurde der Übergangscharakter der geforderten Maßnahmen erneut betont: „Das endgültige politische Statut und die Nationalität der Bewohner werden später festgelegt.“[87]

Zur Unterstützung der Forderungen an die Alliierten wandelte die Militärregierung in Saarbrücken die von Exil-Saarländern gegründete Bewegung für die Befreiung der Saar (Mouvement pour la Libération de la Sarre) im Februar 1946 in eine Bewegung für den Anschluss der Saar an Frankreich (Mouvement pour le Rattachement de la Sarre à la France, MRS) um und unterstützte sie finanziell und mit aggressiver Mitgliederwerbung.[88] Das Echo war gewaltig. Innerhalb weniger Wochen schlossen sich schätzungsweise 50.000 Frauen und Männer der Bewegung an, nach eigenen Angaben sogar über 100.000. Am 14. April musste eine „Wirtschaftskonferenz“ des MRS in Saarbrücken wegen Überfüllung geschlossen werden. Zu „französischen Tagen“ am 18. und 19. Mai in der ehemaligen französischen Festungsstadt Saarlouis, die von der Besatzungsverwaltung unterstützt wurden, kamen über 120.000 Besucher. Bürgermeister Walter Bloch forderte in seiner Ansprache nicht weniger als den sofortigen Anschluss des Saargebiets an Frankreich.[89]

Bahnte sich hier schon die „spontane Eingliederung“ an, die Verdier im März 1945 vorausgesagt hatte? Laffon, der ebenso wie Koenig und Grandval an der Veranstaltung in Saarlouis teilnahm, wies jedenfalls nicht ohne Stolz am 24. Mai darauf hin, dass „die Zonenverwaltung an der Saar ein Klima geschaffen hat, das für die Angliederung ziemlich günstig ist“, und dass sie auch „die wenigen Maßnahmen ergriffen hat, die geboten sind, um auf der Verwaltungsebene diesen Anschluss zu erleichtern, sobald er beschlossen ist“.[90]

Sollte die Regierung also jetzt „auf diesem Weg weitergehen“? Laffon meinte: noch nicht – denn die Alliierten hatten den französischen Saarforderungen in der ersten Sitzungsperiode der Pariser Außenministerratstagung noch nicht zugestimmt. Ohne die Erfüllung der französischen Forderungen würde das Prestige Frankreichs aber einen herben Rückschlag erleiden, und dann „könnten die Männer und die Bewegungen, die wir in den Vordergrund gestellt haben, ebenfalls in erheblichen Misskredit geraten“. Schließlich sei die Bevölkerung dieser Provinz „nicht gefühlsmäßig zu uns hingezogen“; ihr „Verständnis“ für die französische Politik beruhe vielmehr „hauptsächlich auf ihrer Beunruhigung über die Zukunft und ihrer Sorge um eine unmittelbare Verbesserung ihres Schicksals“. Laffon hatte Koenig darum schon in Saarlouis darauf hingewiesen, es sei angesichts der internationalen Lage angebracht, „Kundgebungen dieser Art für den Augenblick zu mäßigen“. Grandval hatte in Reaktion auf Bürgermeister Bloch nur vom Wirtschaftsanschluss gesprochen und den Erhalt des kulturellen Erbes betont.[91]

Auf der anderen Seite kam Laffon angesichts des „gegenwärtigen Wunsches der Saar-Bewohner, sich Frankreich anzuschließen“, zu der Überzeugung, dass es genügen würde, sich bei der Ausweisung auf eindeutige Nationalsozialisten, nach dem Anschluss von 1935 Zugewanderte und explizite Frankreich-Gegner zu konzentrieren.[92] Massive Ausweisungen, die er ursprünglich angestrebt hatte, hielt er jetzt für unnötig und wohl auch für kontraproduktiv. Laffon hatte dabei allerdings noch einen weitaus größeren Personenkreis im Blick als die 504 Personen, die mit einer ersten Verfügung am 2. Juli 1946 ausgewiesen wurden.[93] „Einige tausend unerwünschte Nazis“ sollten es schon noch sein.[94]

Auch reduzierten sich nach dem Rücktritt de Gaulles die Widerstände gegen die von Grandval geforderte Vergrößerung des Saar-Territoriums. Die Erweiterung, die mit einer Anordnung vom 18. Juli 1946 erfolgte, ging zwar nicht so weit, wie Grandval vorgeschlagen hatte; sie schloss weder den Kreis Zweibrücken noch Teile der Kreise Kusel und Kaiserslautern ein. Mit den 147 Gemeinden der Kreise Saarburg, Trier-Land, Wadern und Birkenfeld, die der Behörde des Délégué Supérieur de la Sarre zusätzlich unterstellt wurden, bewegte sich Grandval gleichwohl weiter auf sein Ziel der wirtschaftlichen Eigenständigkeit des Saargebiets zu.[95]

Mit dieser Entwicklung rückte jedoch eine Beschränkung auf die wirtschaftliche Angliederung näher. Unter den politischen Parteien an der Saar, die zu Beginn des Jahrs zugelassen worden waren, zeichnete sich eine Mehrheit für diese Lösung der Saarfrage ab. Nach einem internen Stimmungsbericht vom 21. August 1946 befürworteten nur 15 Prozent der Mitglieder der Christlichen Volkspartei einen Anschluss an Frankreich; 52 Prozent waren für die Wirtschaftsunion und 30 Prozent für den Verbleib bei Deutschland. Bei der Sozialdemokratischen Partei Saar waren immerhin 25 Prozent für den Anschluss an Frankreich, 45 Prozent für die Wirtschaftsunion und 30 Prozent für den Verbleib bei Deutschland.[96]

Nachdem am 12. Juli auch die zweite Sitzungsperiode der Pariser Außenministerratstagung zu Ende gegangen war, ohne dass hinsichtlich der Saar Beschlüsse gefasst worden wären, schien aber noch nicht einmal der wirtschaftliche Anschluss sicher. Laffon hatte schon in seinem Memorandum vom 24. Mai argumentiert, dass sich die Aussichten für eine Durchsetzung der französischen Saar-Forderungen verschlechterten, je länger eine Entscheidung zu ihren Gunsten ausblieb. Die Parteien, die seit Jahresbeginn in den vier Besatzungszonen zugelassen worden waren, seien „eine fünfte Macht“, die immer bedeutender werde und mangels materieller Alternativen die nationale Karte spiele; die anderen Besatzungsmächte seien zunehmend weniger geneigt, sich wegen Gebietsabtretungen im Westen bei den Deutschen zu diskreditieren. Parallel dazu wachse die Gefahr, dass die Bevölkerung an der Saar von der Orientierung am wirtschaftlichen Anschluss an Frankreich wieder abrücke. „Auch wenn es jetzt anders aussieht, kann sich das [Saar-]Gebiet dem Sog nicht entziehen, der vom restlichen Deutschland ausgehen wird.“[97]

Koenig neigte daher dazu, die Separierung der Saar vom deutschen Territorium und den Wirtschaftsanschluss an Frankreich auch ohne formelle Zustimmung der Alliierten zu vollziehen.[98] Nachdem die britische Regierung am 25. Juli dem amerikanischen Vorschlag einer Zonenfusion zugestimmt hatte, schloss sich auch Laffon dieser Forderung an. In einem Memorandum vom 31. Juli erklärte die Besatzungsverwaltung in Baden-Baden, dass die französische Regierung jetzt weitgehend autonom über den Anschluss der Saar entscheiden könne. Die britisch-amerikanische Verständigung über die Schaffung der Bizone habe die Potsdamer Vereinbarung über die Bildung zentraler Verwaltungen für alle vier Besatzungszonen unterhöhlt; folglich würde die Saarfrage im Wesentlichen von den Briten und Amerikanern entschieden werden, und diese hätten den französischen Forderungen in Paris ja schon zugestimmt.[99] Tatsächlich hatten Bevin und Byrnes ihre Unterstützung der französischen Saarforderungen an die Bedingung geknüpft, dass Frankreich seinen Widerstand gegen die Bildung von deutschen Zentralverwaltungen beziehungsweise seine Forderung nach Separierung der Ruhr vom deutschen Staatsverband aufgab – was Bidault prompt abgelehnt hatte.[100] Aber nach der Vereinbarung zur Bildung der Bizone waren diese Bestrebungen ohnehin nicht mehr zu verwirklichen.

Ende August war Bidault so weit, ein eigenmächtiges Vorgehen in der Saarfrage zu verantworten. Das Argument, dass sich die Chancen für eine Saar-Abtrennung beständig verschlechterten, war nicht von der Hand zu weisen; außerdem sah sich der Ministerpräsident und Außenminister im Hinblick auf die nächsten Parlamentswahlen dringend auf einen außenpolitischen Erfolg angewiesen. Am 29. August 1946 teilte Pierre Schneiter als Generalkommissar für deutsche und österreichische Angelegenheiten Grandval mit, dass in den Haushaltsentwurf, der der Nationalversammlung in wenigen Tagen zugehen werde, Mittel für die Finanzierung der Saar-Angliederung eingestellt werden sollten. In der ersten Oktoberhälfte sollten die Bürgermeister zusammenkommen, die aus den für den 15. September angesetzten Kommunalwahlen an der Saar hervorgegangen waren, und einen Wunsch nach wirtschaftlicher Angliederung an die französische Regierung richten. Die Entscheidung für die wirtschaftliche Angliederung sollte danach „vor den Wahlen“ zur Nationalversammlung getroffen werden, die nach dem Referendum über den zweiten Verfassungsentwurf für die IV. Republik am 13. Oktober geplant waren.[101]

Gespräche von Jean Chauvel, dem Generalsekretär des Quai d’Orsay, mit den britischen Vertretern in Paris ließen es als wahrscheinlich erscheinen, dass London „keine schwerwiegenden Einwände“ gegen ein solches Vorgehen erheben würde.[102] Und schließlich verdeutlichte Byrnes’ Stuttgarter Rede vom 6. September, in der er öffentlich erklärt hatte, dass „die Vereinigten Staaten Frankreich seinen Anspruch auf das Saargebiet nicht verweigern können“, dass auch von Washington kein Widerstand zu erwarten war.[103] Koenig, Laffon und Grandval machten im Gegenteil geltend, dass die Entscheidung mit der Byrnes-Rede noch dringlicher geworden sei: Die Menschen an der Saar würden „in unserer Untätigkeit einen Ausweis der Schwäche sehen“ und sich dann von Frankreich abwenden.[104] Wenn jetzt keine Entscheidung erfolge, insistierte Grandval, „wird die Zeit künftig gegen uns arbeiten“.[105]

VII. Der Verzicht auf die Annexionsperspektive

Freilich machte es der zu erwartende Protest der sowjetischen Seite notwendig, dass die Entscheidung von der gesamten Regierung mitgetragen wurde,[106] und das hieß: auch von den Sozialisten. Damit aber stellte sich die Frage nach den langfristigen Zielsetzungen französischer Saarpolitik in neuer Weise. Bidault beantwortete sie dahingehend, dass er eine künftige politische Annexion jetzt definitiv ausschloss. Er bestehe darauf, „daran zu erinnern“, äußerte er in einer Besprechung am 13. September 1946, „dass Frankreich in keiner Weise eine politische Annexion der Saar wünscht. Diese wäre gegen sein Interesse, seine Traditionen und sein Ideal. Wir wünschen, dass sich an der Saar eine demokratische Regierung bildet, die den Bewohnern dank eines Repräsentativsystems den Respekt ihrer Sprache, ihrer Gewohnheiten und ihrer Kultur garantiert.“ Vom künftigen Verschwinden der „Eigenheiten“ der Saar-Bewohner, von späterer Festlegung ihrer Nationalität und vom Recht auf Optionen war nicht mehr die Rede. Stattdessen betonte Bidault die Dauerhaftigkeit dieser Garantien: Es sei noch zu früh, die „permanente Form“ des politischen Regimes im Detail festzulegen, doch hätten die französischen Autoritäten jetzt die Aufgabe, „die Grundlagen der saarländischen Autonomie herauszuarbeiten“.[107]

Grandval war optimistisch, dass die Sozialisten für die Unterstützung des wirtschaftlichen Anschlusses gewonnen werden könnten. Er hatte kürzlich mit deren inoffiziellem Parteiführer Léon Blum gesprochen, den er aufgrund des gemeinsamen jüdisch-elsässischen Hintergrunds persönlich kannte. Blum hatte ihm gesagt, er könne „die Verzögerung in der Regelung der Frage des wirtschaftlichen Anschlusses der Saar an Frankreich nicht verstehen“. Wenn man den anderen führenden Politikern der sozialistischen Partei jetzt noch diskret zu verstehen gebe, dass eine „feindliche Haltung zur Regelung der Saarfrage“ bei den Wählern nicht gut ankommen werde, sollte „die Zustimmung dieser Partei“ zu erreichen sein.[108] Die Mitteleuropa-Abteilung des Außenministeriums kam daher zu der Empfehlung, das Vorgehen noch zu beschleunigen: Das Anschluss-Begehren der Bürgermeister sollte schon zwischen dem 25. September und dem 1. Oktober erfolgen, der wirtschaftliche Anschluss zwischen dem 1. und 15. Oktober 1946 vollzogen werden. Eine öffentliche Diskussion, etwa in der Nationalversammlung, war nicht vorgesehen; die Alliierten sollten 48 Stunden vor dem Vollzug unterrichtet werden.[109]

Bidault wollte allerdings „nach Prüfung aller Elemente des Problems“ nur „gewisse beschränkte Maßnahmen im Hinblick auf die wirtschaftliche und monetäre Angliederung“ vornehmen und vor ihrer Anordnung noch mit Byrnes sprechen, „um die Reaktionen in Erfahrung zu bringen, die die vorgesehenen Maßnahmen bei ihm auslösen würden“.[110] Das Gespräch fand am 23. September statt, am Rande der Pariser Friedenskonferenz aller verbündeten Mächte. Bidault kündigte mit Blick auf die Saar „Schutzmaßnahmen“ an, nämlich die Errichtung eines „Zollgürtels“ zwischen dem Saargebiet und der restlichen französischen Besatzungszone und die Einbeziehung des Saargebiets in das französische Währungsgebiet. Er wolle, fügte er hinzu, dafür keine Zustimmung, nur eine Zusicherung, „dass Sie keinen Einspruch erheben, wenn diese Maßnahmen getroffen werden“. Als Gegenleistung stellte er eine „Verbesserung des Klimas“ bei den künftigen Verhandlungen über die amerikanischen Vorschläge zur Fusion der Besatzungszonen in Aussicht. Zur Unterstützung seiner Forderung nach einer raschen Durchführung noch vor den Wahlen vom 10. November brachte er die amerikanische Furcht vor einer Machtergreifung der Kommunisten ins Spiel: „Wenn meine Regierung in der Außenpolitik keinerlei Resultate erzielt, werde ich erheblichen innenpolitischen Schwierigkeiten gegenüberstehen.“ Und dann präsentierte er sich als Garant gegen eine künftige Ausweitung des Wirtschaftsanschlusses zur „politischen Annexion“.[111]

Die gleiche Argumentation trug er tags darauf auch Bevin vor. Zusätzlich suchte er den britischen Außenminister auch noch mit dem Ergebnis der Gemeinderatswahlen an der Saar am 15. September zu überzeugen: „75 Prozent der Deutschen an der Saar“ hätten „ein Votum abgegeben, das die wirtschaftliche Angliederung der Saar an Frankreich befürwortet“. Diese Deutschen würden sich jetzt fragen, „was die Franzosen machen. Warum sie nicht zur Tat schreiten.“[112] Tatsächlich hatten die Christliche Volkspartei und die Sozialdemokratische Partei Saar zusammen 78 Prozent der Stimmen erhalten. Beide hatten sich im Wahlkampf für den Wirtschaftsanschluss an Frankreich ausgesprochen, das Thema aber je nach lokalen Wählereinstellungen unterschiedlich stark akzentuiert.[113]

Indes verfingen weder der Verweis auf den angeblichen Wählerauftrag noch die Drohung mit innenpolitischer Destabilisierung. Byrnes und Bevin wollten sich das Druckmittel gegen die französischen Separierungs- und Dezentralisierungsforderungen nicht aus der Hand nehmen lassen, und vor allem wollten sie die Verhandlungen über die Bildung der Bizone nicht mit zusätzlichen Querelen mit der Sowjetunion belasten. Der Sowjetregierung durfte kein Anlass gegeben werden, die Westmächte für den Bruch des Potsdamer Abkommens verantwortlich zu machen. Die beiden Außenminister verständigten sich daher darauf, Bidault auf den nächsten Außenministerrat zu vertrösten, der Ende November 1946 in New York zusammentreten sollte. Bidault wurde aufgefordert, bis dahin keine einseitigen Schritte zu unternehmen.[114]

Für den französischen Regierungschef war das ein Rückschlag, der seine Hoffnungen auf einen Prestigegewinn vor den Wahlen vom 10. November zunichtemachte. Nachdem Bevin ihm aber am 11. Oktober in einem weiteren Gespräch versichert hatte, dass er „im Falle eines Vetos einer der Großmächte an der Seite Frankreichs stehen wird, um den eingenommenen Standpunkt bis zum Schluss aufrechtzuerhalten“, willigte er in die Verschiebung ein[115] und teilte sein Einverständnis mit der anglo-amerikanischen Forderung auch gleich Byrnes mit. Dieser reagierte seinerseits mit der Zusage, er werde „den Standpunkt der französischen Regierung gerne unterstützen, dass gewisse sofortige Schritte hinsichtlich der Integration der Saar-Wirtschaft in Frankreich unternommen werden“.[116]

Was geschehen sollte, wenn die britische und amerikanische Unterstützung nicht zu einer einvernehmlichen Regelung der Saarfrage führte, blieb damit immer noch etwas unsicher. Um eine weitere Blockierung des Wirtschaftsanschlusses durch die Sowjetregierung zu verhindern, wies Bidault Couve de Murville, der ihn angesichts der Verhandlungen über die Regierungsbildung nach den Novemberwahlen in New York zu vertreten hatte, am 18. November 1946 nach einem entsprechenden Regierungsbeschluss an, „die Frage des künftigen politischen Statuts der Saar von der Frage der provisorischen Maßnahmen zu trennen, über die ich die Herren Byrnes und Bevin unterrichtet hatte“. Je nach Entwicklung der Konferenzatmosphäre sollte Couve de Murville diese Maßnahmen den drei anderen Außenministern einzeln oder in einer Ratssitzung ankündigen und dabei verdeutlichen, dass die französische Regierung keine ausdrückliche Zustimmung erwarte.[117]

Couve de Murville traf sich am 29. November mit Molotow und am 30. November mit Byrnes. Während sich der amerikanische Außenminister mit der jetzt geplanten Vorgehensweise einverstanden zeigte, verlangte sein sowjetischer Kollege als Gegenleistung französische Unterstützung bei der Forderung nach Reparationen aus der laufenden Produktion.[118] Der Direktor der Politischen Abteilung des Außenministeriums riet seinem Minister daraufhin, die „provisorischen Maßnahmen“ erst nach dem Abschluss der Ratstagung zu beschließen und dann schrittweise vorzugehen. Für den ersten Schritt sei wohl die Errichtung der Zollgrenze zwischen dem Saargebiet und dem Rest der französischen Besatzungszone „am besten geeignet“; sie lasse sich mit der absehbaren Notwendigkeit rechtfertigen, die Saar-Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Je nach Situation sollten die beabsichtigten Maßnahmen eventuell nur knapp erwähnt werden.[119] Nachdem auch Bevin in einem bilateralen Gespräch am 3. Dezember keine Einwände gegen die geplanten „provisorischen Maßnahmen“ erhoben hatte, entschied Bidault am 4. Dezember, dass die Maßnahmen tatsächlich nur in sehr unverbindlicher Form angekündigt werden sollten. Dadurch ließ sich eine Verschiebung auf die nächste Ratstagung vermeiden. Die Zollgrenze sollte etwa zehn Tage nach der Ankündigung errichtet werden, die Währungsumstellung drei Wochen oder zwei Monate später erfolgen – je nachdem, ob man sich für eine Übergangswährung oder die Einführung des französischen Franc entschied. Von einem spektakulären Bürgermeister-Votum, das die Maßnahmen legitimieren sollte, war nicht mehr die Rede.[120]

Couve de Murville erklärte daraufhin am 9. Dezember 1946 im Rahmen der Diskussion über die Tagesordnung für die nächste Sitzung des Außenministerrats eher beiläufig, dass die französische Regierung möglicherweise schon vor der nächsten Ratstagung durch „besondere Umstände“ genötigt sein könnte, „an der Saar gewisse Vorkehrungen administrativen Charakters zu treffen“: an erster Stelle die Errichtung eines „Überwachungs-Kordons um die Saar“, der die Weiterleitung von französischen Lebensmittellieferungen „in andere Regionen“ verhindern sollte; an zweiter Stelle eventuelle „gewisse Vorkehrungen“, die den Zufluss von Reichsmark in das Saargebiet (in der Erwartung eines Währungsanschlusses an Frankreich) stoppen sollten. Zudem versicherte er, dass „die vorgesehenen wirtschaftlichen oder finanziellen Maßnahmen den künftigen Entscheidungen des Rats hinsichtlich der Grenzen Deutschlands und der Regelung der Reparationen nicht vorgreifen“.[121] Weder Byrnes noch Bevin gingen in ihren Redebeiträgen zu diesem Tagesordnungspunkt auf diese Ankündigung ein, und Molotow tat dies zur Erleichterung Couve de Murvilles ebenso wenig – die französischen Absichten waren offensichtlich zu vage formuliert, um deswegen die Hoffnungen auf Gegenleistungen schon aufzugeben.[122]

Nachdem so eine Blockierung der Maßnahmen durch den Außenministerrat vermieden worden war, beauftragte Bidault Finanzminister Robert Schuman, die Zollgrenze und die Währungsumstellung „in kürzester Frist“ vorzubereiten. Dieser entschied sich nach Rücksprache mit Bidault und Schneiter, zunächst eine „Saarmark“ einzuführen, die an die Reichsmark gebunden blieb. Die Errichtung der Zollgrenze wurde auf den 22. Dezember 1946 um 24 Uhr festgelegt. Koenig wurde am 12. Dezember, zeitgleich mit der Beendigung der Außenministerratstagung, von diesen Entscheidungen unterrichtet.[123]

Der Vollzug der Maßnahmen zur Vorbereitung eines Wirtschafts- und Währungsanschlusses wurde noch einmal in Frage gestellt, als am selben Tag Léon Blum mit der Bildung einer Übergangsregierung bis zur Wahl des Staatspräsidenten am 16. Januar 1947 beauftragt wurde und am 17. Dezember eine Regierungsmannschaft installierte, die nur aus Sozialisten bestand. Eine Wiederwahl Bidaults war an den Sozialisten gescheitert, eine Allparteienregierung an der Weigerung der Volksrepublikaner, den Kommunisten erneut ein Schlüsselministerium zuzugestehen.[124] Da die konkrete Ausgestaltung und der Zeitpunkt der „provisorischen Maßnahmen“ nicht mit allen Ministern der Regierung Bidault besprochen worden waren, war Blum – der wie Bidault zugleich das Außenministerium übernommen hatte – unsicher, ob sie nicht doch den Weg zu einer politischen Annexion freimachen würden. Er stoppte daher die Ordonnanzen zur Errichtung der Zollgrenze. Als Grandval davon Kenntnis erhielt, fuhr er eilends nach Paris und klärte Blum über die „wahren Ziele“ der französischen Saarpolitik auf.[125]

Das genügte, um die beiden Dekrete, mit denen die Militärregierung die Errichtung der Zollgrenze regelte, am 18. Dezember freizugeben. Die Ordonnanz Nr. 75 über den Personenverkehr zwischen dem Saargebiet und der restlichen französischen Besatzungszone führte einen Passierschein ein, der für den Grenzübertritt für jedermann obligatorisch war. Ordonnanz Nr. 76 zum Waren- und Kapitalverkehr machte den Warenaustausch genehmigungspflichtig und beschränkte den Betrag, der beim Grenzübergang mitgenommen werden durfte, auf 100 Reichsmark.[126] Die Ordonnanzen traten am 20. Dezember in Kraft und wurden am 22. Dezember von Koenig bekanntgegeben. Der Militärgouverneur wurde von Blum lediglich dazu verpflichtet, bei der Bekanntgabe „alle Erklärungen zu vermeiden, die als Ankündigung von etwas verstanden werden könnten, das über die Schutzmaßnamen hinausgeht“. Er durfte nicht von einer „Wirtschaftsunion“ sprechen und schon gar nicht von der geplanten Währungsumstellung.[127]

Mit der Errichtung der Zollgrenze zwischen dem Saargebiet und der französischen Zone in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember 1946 war der definitive Verzicht auf eine künftige Eingliederung der Saar in das französische Staatsgebiet (oder „politische Annexion“, wie Bidault sagte) verbunden. Bidault hatte sich gegenüber den beiden Westmächten dafür verbürgt, die den unilateralen Schritt Frankreichs in der Saarpolitik ohne Protest hinnahmen. Grandval hatte sich gegenüber Blum darauf verpflichtet. Und Blum vollzog die Errichtung der Zollgrenze in der Überzeugung, dass damit lediglich die wirtschaftliche Integration eingeleitet wurde, für die sich seine Parteifreunde stark gemacht hatten.

Entsprechend tauchte in den internen Planungen jetzt zum ersten Mal die Idee einer permanenten saarländischen Staatsbürgerschaft auf. Der Entwurf eines Saarstatuts, den eine Kommission unter Vorsitz von Alain Savary, dem Generalsekretär des Deutschlandkommissariats, und unter Beteiligung von Grandval sowie von Vertretern des Finanz- und des Justizministeriums, der Europa-Abteilung und der Wirtschaftsabteilung am 6. Dezember 1946 verabschiedet hatte, sah vor, dass die Bewohner des Saargebiets mit dem Inkrafttreten des Statuts „Saarländer [sarrois]“ werden würden – es sei denn, dass sie innerhalb eines Monats gegen diese neue Staatsbürgerschaft Einspruch erhoben; dann müssten sie ihren Wohnsitz innerhalb von zwei weiteren Monaten „ins Ausland verlegen“. Gleichzeitig wurde den „Saarländern“ eine Verfassung in Aussicht gestellt. Ein Hoher Kommissar als Vertreter der französischen Regierung sollte gegen Beschlüsse eines künftigen Parlaments nur Einspruch erheben können, wenn sie gegen die Bestimmungen des Statuts verstießen, insbesondere hinsichtlich der Zugehörigkeit zum französischen Zoll- und Währungssystem.[128]

Blum bekräftigte am 12. Januar 1947 in einer Erklärung im Hinblick auf die bevorstehende Londoner Konferenz der stellvertretenden Außenminister, dass die Saar „unabhängig“ werden solle, aber gleichzeitig eingebunden „in den Rahmen des französischen Wirtschaftssystems und einer französischen Zollunion“.[129] Wie diese beiden Ziele miteinander verbunden werden sollten, wurde in einer Besprechung unter dem Vorsitz von Couve de Murville am 11. Februar 1947 festgelegt, an der neben dem Politischen Direktor auch Alphand als Direktor der Wirtschaftsabteilung, Savary als Vertreter des Deutschlandkommissariats, Vertreter des Wirtschaftsministeriums und des Finanzministeriums, Laffon, Grandval sowie Michel Debré als von Blum ernannter Koordinator der Planungen für den Wirtschaftsanschluss teilnahmen. Die Vertreter der verschiedenen Stellen, die mit der Saarfrage beschäftigt waren, verständigten sich auf

„die Einführung eines politischen Statuts, das die Autonomie der Saar anerkennt, ihre Persönlichkeit, ihre eigene Verfassung. Das Statut wird eine unabhängige Regierung unter der Kontrolle eines französischen Hohen Kommissars vorsehen, dessen Vollmachten (im Wesentlichen der Verkündigung, des Vetos und der Polizei) noch zu präzisieren sind. Die französische Regierung übernimmt die auswärtige Vertretung. Ebenso gelten bestimmte französische Gesetze (alles, was wirtschaftliche Auswirkungen hat) ipso facto. Dazu wird das Statut den untersagten Bereich benennen oder genauer gesagt den Bereich, der der französischen Autorität vorbehalten bleibt.“[130]

Die Regierung unter dem Vorsitz des Sozialisten Paul Ramadier, an der Bidault wieder als Außenminister beteiligt war, billigte diese Grundsätze am 18. Februar 1947.[131] Damit war die Beschränkung auf wirtschaftliche Angliederung, die zwei Jahre zuvor nur von einer Minderheit vertreten worden war, zur offiziellen Regierungspolitik geworden. Nun ging es nicht mehr um Assimilierung, sondern es dominierte das Bemühen, „Saarländer“ heranzubilden und sie „verstärkt in der Verantwortung zu beteiligen“.[132] Der halbautonome Saarstaat, den die Regierung Ramadier im weiteren Verlauf des Jahrs 1947 vorbereitete,[133] wurde in Frankreich von einem breiten, wenn auch etwas oberflächlichen Konsens getragen.

VIII. Fazit: Erfolgreiches Scheitern

Die französische Saarpolitik zielte also von Ende 1944 bis zum Sommer 1946 auf eine Annexion des Saargebiets in den Grenzen von 1920, ergänzt um einige weitere Wohnorte von Bergleuten und Hüttenarbeitern in den Saar-Werken. In dieser Zielsetzung wurden die Regierungen von einer breiten Mehrheit der politischen Kräfte und auch der öffentlichen Meinung unterstützt. Bei einer Umfrage des Institut Français d’Opinion Publique Mitte Dezember 1944 sprachen sich 75 Prozent der befragten Franzosen für eine Annexion der Saar aus; nur 15 Prozent waren dagegen.[134] Dabei ging es allerdings nicht um territoriale Expansion im Stil traditioneller Großmachtpolitik. Allenfalls bei einem Nostalgiker wie de Gaulle wurde das Streben nach Einverleibung der Saar durch Reminiszenzen an die einstige Größe Frankreichs emotional unterstützt. Entscheidend war aber auch für ihn der ganz reale Bedarf an Kohle von der Saar. Sie schien für den Wiederaufbau und die künftige Sicherheit vor Deutschland unverzichtbar und ließ sich auch als Reparationstitel moralisch rechtfertigen.

Der elementare Bedarf an Saarkohle war dann aber auch der ausschlaggebende Grund dafür, dass sich die konsequenteste Form der Annexion – in Verbindung mit einer Vertreibung der gesamten deutschstämmigen Bevölkerung – nicht verwirklichen ließ. Nach dem Ende der Kriegshandlungen hatten das Wiederhochfahren und der Ausbau der Kohleförderung absolute Priorität; da konnte man sich, wie Grandval richtig erkannte, einen auch nur zeitweisen Ausfall von qualifizierten Bergleuten und Störungen bei ihrer Versorgung einfach nicht leisten. Anders als im polnischen oder tschechoslowakischen Fall ging es an der Saar nicht um „ethnische Flurbereinigung“, sondern um eine – anders als nach 1919 – dauerhafte Sicherung des Kohlebezugs. Es fehlte auch das Element der Vergeltung für nationalsozialistische Gewaltpolitik, die im Westen bekanntlich nicht zu Vertreibungsaktionen ungeheuerlichen Ausmaßes geführt hatte.[135] In der zweiten Variante französischer Annexionspolitik, die sich im Sommer 1945 durchsetzte, wurde die Arbeiterbevölkerung an der Saar vielmehr selbst als Opfer preußischer und bayerischer Unterdrückung angesehen. „Befreit von ihren preußischen und bayerischen Funktionären“ sollten die Männer und Frauen an der Saar „breiten Raum in einem freiheitlichen Regime einnehmen, das ihre Eigenheiten und ihre Würde respektiert“, hieß es in den Direktiven vom 25. August 1945.[136] Ausgewiesene sollten, sofern sie nicht straffällig geworden waren, ihr Vermögen in begrenztem Umfang mitnehmen können.[137]

Die partielle Ausweisung, die jetzt immer noch auf dem Programm stand, erübrigte sich, als im Frühjahr 1946 deutlich wurde, dass die überwiegende Mehrheit der Saar-Bewohner bereit war, der angestrebten Trennung vom Deutschen Reich zu folgen. Wenn sie die immer engere Verbindung mit Frankreich nicht mehr in Frage stellten und damit den Zugriff auf die Saarkohle auf Dauer gewährleisteten, dann brauchte man sie auch nicht mehr auszuweisen. Von den 100.000 bis 150.000 Ausweisungen, die zu Beginn des Jahrs 1946 geplant waren, erfolgten bis Ende 1947 tatsächlich nur 1.820; nach heftigen Protesten aus der Bevölkerung, den Kirchen und der Saar-Politik wurden davon bis Ende 1949 1.228 wieder zurückgenommen.[138] Einwohner nichtsaarländischer Herkunft, die keinen Antrag auf Erwerb der saarländischen Staatsbürgerschaft stellten – schätzungsweise 50.000 Personen –, konnten allerdings im Einzelfall weiterhin ausgewiesen werden, wenn sie nach Einschätzung des saarländischen Innenministers „wichtige Belange des Saarlandes“ gefährdeten.[139]

Der Erfolg der Assimilationspolitik war freilich an die Voraussetzung geknüpft, dass die Vereinigung mit Frankreich von der Saar-Bevölkerung tatsächlich als „unausweichlich“ betrachtet wurde.[140] In der Zeit, in der Verdier seinen Maßnahmenkatalog konzipierte, stellte das kein besonderes Problem dar; schließlich liefen die deutschlandpolitischen Programme aller drei großen Siegermächte auf eine Aufteilung des Reichs in unterschiedliche Einzelstaaten hinaus.[141] Nachdem sich die Großen Drei in Potsdam aber auf die Errichtung gemeinsamer Verwaltungen für alle vier Besatzungszonen geeinigt hatten, war ihre Zustimmung nötig, um das Saargebiet aus dem Zuständigkeitsbereich des Alliierten Kontrollrats herauszulösen. Ohne eine solche Zustimmung konnten sich die Menschen an der Saar früher oder später überlegen, ob es zur Vereinigung mit Frankreich nicht doch bessere Alternativen gab. Das übersah de Gaulle, als er angesichts ausbleibender Verständigung der Alliierten über die französischen Rheinland- und Ruhrforderungen auf die Entfaltung der Eigeninteressen der Saar-Bewohner setzte.

Tatsächlich gefährdete allein schon die Zulassung politischer Parteien in den Besatzungszonen die französische Vereinigungsperspektive. Die parteipolitische Mobilisierung des sozialkatholischen und sozialdemokratischen Milieus an der Saar erfolgte unter der Perspektive einer saarländischen Autonomie, in der die Wirtschaftsunion mit Frankreich nur als erste Stufe zu einer europäischen Option gesehen wurde. Wie Laffon ganz richtig erkannte, konnte es sich die Militärregierung an der Saar nicht leisten, demgegenüber die Befürworter eines politischen Anschlusses offen zu unterstützen; sie musste froh sein, in der Autonomiebewegung unter Führung von Johannes Hoffmann einen Partner für die Trennung der Saar vom deutschen Staatsverband zu finden. Als sich dann mit der Ankündigung der Bizone im Juli 1946 die Möglichkeit einer zumindest westdeutschen Staatsbildung abzeichnete, drängte die Militärregierung darauf, die Separierung der Saar auch ohne formelle Zustimmung der anderen Besatzungsmächte zu vollziehen. Ansonsten drohten sich die „Saarländer“ ganz von der Bindung an Frankreich abzuwenden.

Bidault stimmte dem dringenden Rat der französischen Verantwortlichen in Saarbrücken und Baden-Baden im August 1946 zu, weil er nach den Niederlagen während der Pariser Außenministerratstagung dringend darauf angewiesen war, wenigstens einen deutschlandpolitischen Erfolg vorzeigen zu können. Weil für ein solch unilaterales Vorgehen Einmütigkeit in seiner Regierung notwendig war, musste er jetzt aber ebenfalls (und deutlicher als die Militärregierung) auf die Perspektive eines politischen Anschlusses der Saar an Frankreich verzichten. Durch die Zwangslage, in die die Regierung durch die Entwicklung der internationalen Situation geraten war, avancierte die Minderheitsposition des sozialistischen Regierungspartners zum Regierungskonsens.

Bidault reagierte damit noch eben rechtzeitig, um wenigstens den halbautonomen Saar-Staat auf den Weg zu bringen. Er konnte sich dabei nicht nur auf einen breiten Konsens der Regierungsparteien stützen, sondern auch, das darf man nicht übersehen, auf eine starke Autonomiebewegung an der Saar, die im Hinblick auf Entnazifizierung und Demokratisierung mit der Besatzungsmacht übereinstimmte. Das erklärt, wieso der Saar-Staat über die Gründung der Bundesrepublik hinaus Bestand hatte. Noch 1954 war Johannes Hoffmann als Ministerpräsident überaus populär; nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge am 23. Oktober 1954 wurde allgemein mit einer Zustimmung der Saarländer zu dem dort vereinbarten Europäischen Saarstatut gerechnet.[142] Die Assimilierungspolitik war zwar im Hinblick auf das Ziel des Aufgehens der Saar in Frankreich gescheitert, im Hinblick auf die Demokratisierung der „Saarländer“ hatte sie aber – bei allen Unzulänglichkeiten im Einzelnen – durchaus Erfolg gehabt. Allerdings blieb das halbautonome Saarland vom ständigen Widerspruch zwischen dem französischen Interesse an Saarkohle (und mittlerweile auch an Prestige) einerseits und dem saarländischen Autonomiestreben andererseits belastet, so dass Hochkommissar Grandval zwischen allen Stühlen saß. Eine tatsächliche Öffnung der französisch-saarländischen Wirtschaftsunion zu einem europäischen Verbund, wie ihn Monnet schon 1943 propagiert hatte, hätte diesen Widerspruch auflösen können. Aber dazu ist es letztlich erst nach der Ablehnung des Saarstatuts in der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 gekommen.[143]

Published Online: 2022-07-01
Published in Print: 2022-06-08

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 29.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2022-0030/html
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