Startseite „Florida-Rolf“ lässt grüßen
Artikel Öffentlich zugänglich

„Florida-Rolf“ lässt grüßen

Soziale Dämonen, Auslandssozialhilfe und die Debatte um den Wohlfahrtsstaat in der Ära Schröder
  • Bernhard Rieger EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. April 2022
Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill

Abstract

Während der Debatte um die Agenda 2010 erhob die Bild-Zeitung den in Florida ansässigen Sozialhilfeempfänger Rolf J. zum Symbol sozialstaatlicher Dysfunktionalität, um dem Ruf nach Reformen Nachdruck zu verleihen. Nach einer historischen Rekonstruktion der Auslandssozialhilfe als deutscher sozialstaatlicher Sonderpraxis analysiert Bernhard Rieger die von Bild initiierte Kampagne gegen „Florida-Rolf“ und andere „Sozialschmarotzer“. Der Fokus auf erwerbslose, häufig in unkonventionellen Familienverhältnissen lebende Männer verstärkte den Eindruck, bestehende Sozialgesetze ließen konventionelle Männlichkeitsnormen erodieren, verstärkten eine bedrohliche Krise der Arbeitsgesellschaft und bedürften zur Stärkung der Arbeitsethik einer grundsätzlichen Reform.

Abstract

During the debate on Agenda 2010 the Bild newspaper turned social assistance recipient and Florida resident Rolf J. into a symbol of welfare state dysfunction in order to emphasise calls for reforms. After a historical reconstruction of social assistance paid abroad as a special German welfare state practice, Bernhard Rieger analyses the campaign initiated by Bild against “Florida-Rolf” and other “social spongers”. The focus on unemployed men who often lived in unconventional family constellations reinforced the impression that existing welfare legislation eroded conventional norms of masculinity, intensified an ominous crisis of working society and required fundamental reforms in order to strengthen work ethics.

Vorspann

Im Sommer 2003 beherrschte eine Debatte die Schlagzeilen, die Redakteure der Bild-Zeitung mit einer Kampagne gegen den Missbrauch von Sozialleistungen losgetreten hatten. „Florida-Rolf“, ein in Miami lebender Sozialhilfeempfänger, stand dabei im Rampenlicht einer ebenso unsachlichen wie tendenziösen, dafür aber umso aggressiveren Berichterstattung. Bernhard Rieger zeichnet auf der Basis bislang kaum beachteter Quellen aus dem Auswärtigen Amt zunächst die Ursprünge der Auslandssozialhilfe und ihre Entwicklung in der Bundesrepublik nach. In einem zweiten Schritt dekonstruiert er die Kampagne der Bild-Zeitung gegen vermeintliche soziale Dämonen und ordnet die scharfe Sozialstaatskritik in einen breiten Kontext ein – von den Folgen der Vereinigungskrise nach 1990 über die Pluralisierung von Lebensstilen und Familienformen in der Berliner Republik bis zu den Hartz-Reformen der Regierung Schröder.

I. Im Sommerloch

„Sind die völlig bescheuert? Sozialamt zahlt Wohnung am Strand in Florida!“ Mit dieser Schlag­­zeile verlieh die Bild-Zeitung am 16. August 2003 ihrer Empörung über das deutsche So­­­zialhilfesystem Ausdruck, das einem 64-jährigen Deutschen in Miami Beach – „Luft 28, Was­ser 26 Grad, samtweiche Luft, nie Winter“ – monatlich Mietkosten in Höhe von 875 Dollar so­wie einen Unterhaltszuschuss von 730 Dollar bezahlte, was zum damaligen Um­rech­nungs­kurs 1.425 Euro entsprach. Rolf J., so erfuhr die Leserschaft, war 1979 nach Florida um­ge­zo­gen und hatte nach einer anfangs erfolgreichen Karriere im Finanzbereich sein Vermögen wie­der verloren. Durch eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse seit 1985 als erwerbsunfähig ein­ge­stuft, wurde J. von den deutschen Behörden als „besonderer Notfall“ mit festem Wohnsitz im Ausland geführt, weshalb ihm nach Paragraf 119 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) So­zialhilfe außerhalb der Bundesrepublik zustand. Ein psychiatrisches Gutachten kam laut Bild im Jahr 2000 zu dem Schluss, Rolf J. sei selbstmordgefährdet und eine Rückkehr nach Deutsch­land nicht zumutbar, da er in diesem Fall lang bestehende soziale Bindungen verlöre.[1]

Weitere Recherchen von Bild schürten den Unmut. Sie förderten beispielsweise zutage, dass Rolf J. zwar nicht in Deutschland wohnhaft war, sich jedoch dort regelmäßig medizinisch be­han­deln ließ; dabei seien Krankenhausrechnungen in Höhe von 89.000 Euro angefallen, die vom Sozialamt beglichen werden mussten.[2] J. selbst fachte die öffentliche Entrüstung zu­sätz­lich an, indem er sich – freundlich-entspannt in die Kamera lächelnd – am heimischen Herd in T-Shirt, karierten Shorts und Turnschuhen fotografieren ließ und so keineswegs dem typischen Er­scheinungsbild eines verarmten, am Existenzminimum darbenden Sozialhilfeempfängers ent­sprach. „Er lacht uns alle aus!“, titelte Bild am 18. August.[3] Der flugs als „Florida-Rolf“ ti­­tulierte Sozialhilfeempfänger schien nicht nur dem zuständigen Sachbearbeiter des Landes­so­zial­amts Hildesheim auf die Nerven zu fallen, der, als aktenschleppender Angestellter portraitiert, zwar „gern in die Sonne“ fahre, sich aber das „teure Florida [...] nicht leisten“ könne.[4] Auch zahlreiche Medien zeig­ten sich pikiert. Die Süddeutsche Zeitung etwa sah in Rolf J. in Anspielung auf nukleare Ka­­tastrophen einen „Sozial-Störfall“, während sich Eckard Fuhr in der Welt auf die Suche nach dem „Sinn des Skandals“ begab.[5]

Nichts brachte die Öffentlichkeit im Sommer 2003 so sehr in Wallung wie der Umstand, dass deut­sche Sozialbehörden einem augenscheinlich rüstigen Bundesbürger ein dauerhaftes Aus­kom­men an einem ausgesprochen attraktiven Auslandsort sicherten. Ungeachtet der von Bild ge­schürten Empörung stellte jedoch kein Medienvertreter die Frage, seit wann und weshalb die Bun­desrepublik mittellosen Deutschen im Ausland überhaupt Sozialhilfe gewährte. Daher ging die Tatsache unter, dass diese Praxis im internationalen Vergleich einzigartig war und eine lan­ge Vorgeschichte besaß. Im Gegensatz zu anderen Staaten, die ihre Leistungen für im Aus­land in materielle Notlagen geratene Bürger auf konsularische Unterstützung sowie Fi­nanz­hilfen zur Rückreise ins Heimatland beschränkten, griff die Bundesrepublik im Ausland an­säs­si­gen und bedürftigen Staatsbürgern dauerhaft finanziell unter die Arme, ohne von ihnen eine Rück­kehr nach Deutschland zu erwarten. Hierbei handelte es sich, wie zu zeigen sein wird, kei­neswegs um ein Novum bundesdeutscher Sozialpolitik, sondern um eine Tradition, die trotz ih­rer ins Wilhelminische Kaiserreich zurückreichenden Ursprünge jahrzehntelang ein Schat­ten­dasein jenseits des öffentlichen Interesses führte.

Dass die Auslandssozialhilfe im Sommer 2003 plötzlich im Rampenlicht stand, hatte nichts mit deren Gewicht im Sozialbudget zu tun. Wie die tageszeitung (taz) rasch ermittelte, lebten le­diglich 0,025 Prozent aller Sozialhilfeempfänger im Ausland.[6] Auslandssozialhilfe war also ein vernachlässigbarer Budgetposten, doch das tat nichts zur Sache. Die Polemik um die Zah­lun­gen ins Ausland war Teil der leidenschaftlichen Sozialstaatsdebatte jener Jahre, die den ge­sellschaftspolitischen Resonanzboden für das Getöse um „Florida-Rolf“ bildete. Bei der Auf­regung um den deutschen Sozialhilfeempfänger in Florida handelte es sich daher um mehr als einen künstlichen Sturm im medialen Sommerloch. „Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert“, hatte Gerhard Schröder in einer mit Tony Blair ver­fassten programmatischen Schrift zum sogenannten Dritten Weg 1999 erklärt, „muß re­for­miert werden“.[7]

Um steigenden Arbeitslosenzahlen, Haushaltsdefiziten, anämischem Wirtschaftswachstum und ausbleibenden Einkommenszuwächsen entgegenzuwirken, diskutierte die Bundes­re­gie­rung seit Sommerbeginn 2003 ein Reformpaket, das stark von den Vorschlägen der im Frühjahr 2002 eingesetzten Hartz-Kommission geprägt war.[8] Dass es möglich war, im Urlaubsparadies Flo­rida deutsche Sozialleistungen zu beziehen, erhärtete den verbreiteten Verdacht, das So­zial­sys­tem verschwende Finanzmittel und erhöhe die Abgabenlast, die in zeitgenössischen De­bat­ten immer wieder als unzumutbare Bürde für Wirtschaft und Arbeitsmarkt bezeichnet wurde.[9] Rolf J. verkörperte die vermeintliche Schieflage eines Sozialsystems, das unzureichende Anr­eize zur Aufnahme geregelter Arbeit biete, öffentlich alimentierten Müßiggang ermögliche und so Arbeitslosigkeit und Sozialkosten gleichermaßen in die Höhe treibe.

II. Die Geschichte des Sozialstaats in der Erweiterung

Als Personifikation der in den Medien wiederholt angeprangerten Dysfunktionalität des deutschen Sozialstaats fungierte „Florida-Rolf“ im zeitgenössischen Diskurs, angeführt von der Bild-Zeitung, als Vertreter derjenigen kulturellen Figuren, die der britische Soziologe Stan­ley Cohen bereits zu Beginn der 1970er Jahre als „folk devils“ bezeichnet hat[10] – ein Begriff, der sich sinngemäß als soziale Dämonen übersetzen lässt. Soziale Dämonen stehen im Zentrum pa­nikartiger, medial amplifizierter Moraldebatten („moral panics“), die normverletzendes Ver­hal­ten („deviance“) thematisieren und lautstarken Forderungen nach einer gerechteren ge­sell­schaft­lichen Ordnung Vorschub leisten. Soziale Dämonisierungsstrategien fungieren häufig als in­tegraler Bestandteil von Sozialstaatsdiskussionen und spitzen sozialpolitische Problemlagen auf Einzelpersonen und deren Verhalten zu. Als Personifikationen individuellen Fehl­ver­hal­tens dienen soziale Dämonen häufig der polemischen Komplexitätsreduktion und der un­spe­zi­fi­schen Artikulation von Unzufriedenheit mit sozialpolitischen Entwicklungen. Darüber hinaus ap­pelliert die Empörung über diese Figuren an den vermeintlich gesunden Menschenverstand, klagt konventionelle gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen ein und verspricht einfache Lö­sun­gen in verfahrenen Situationen. Daher sind die medialen Schöpferinnen und Schöpfer von so­zialen Dämonen be­müht, politischen Druck aufzubauen und einen sozialpolitischen Kurswechsel zu forcieren, ohne jedoch notwendigerweise mit konkreten Reformvorschlägen aufzuwarten. Viel­­mehr verleihen „moral panics“ indirekt einer Grunderwartung Ausdruck, an der sich po­li­ti­sche Maß­nahmen zu orientieren hätten.[11]

In den Dämonisierungsprozessen, welche die Sozialstaatsdebatten kurz nach der Jahr­tau­send­wen­de kennzeichneten, spielte die Bild eine zentrale Rolle. Auch wenn das Springer-Blatt in die­sem Fall weniger seine Fähigkeit zum Agenda-Setting unter Beweis stellte, sondern eher an ei­ne laufende Auseinandersetzung andockte, kam der Zeitung eine herausragende Bedeutung zu.[12] Um angebliche Missstände im Sozialsystem anzuprangern, beobachtete die Redaktion die bun­­desdeutsche Sozialgerichtsbarkeit und machte in richterlichen Entscheidungen enthaltene Ker­n­informationen zur Grundlage skandalisierender Artikel. „Florida-Rolf“ war zwar das be­rüch­tigtste, aber keineswegs das einzige Exempel, an dem Bild den vermeintlich weitver­brei­te­ten Sozialmissbrauch demonstrierte. Ganz im Gegensatz zu den Portraitierten, die sich er­heb­licher öffentlicher Stigmatisierung ausgesetzt sahen, ging das Blatt selbst kein Risiko ein. Da Gerichtsurteile in der Bundesrepublik öffentlich zugänglich sind, schloss die Vor­ge­hens­weise der Zeitung potenzielle Klagen wegen Einschränkung von Persönlichkeitsrechten be­zie­hungs­weise Eingriffen in das Sozialgeheimnis aus, zumal sich die Portraitierten in einigen Fäl­len der Redaktion bereitwillig zu Interviews zur Verfügung stellten und somit Ein­verständnis­er­klärungen unterzeichnet hatten. Niemand war sich der politischen Sprengkraft der von Bild er­hobenen Vorwürfe stärker bewusst als Bundeskanzler Schröder, der kurz nach der Jahr­tau­send­wende flapsig erklärt hatte, er benötige zum Regieren neben der „Glotze“ nur Bild und Bild am Sonntag.[13] Das hinderte das Springer-Blatt freilich nicht daran, den Sozialdemokraten scharf zu kritisieren, nachdem Kai Diekmann 2001 die Chefredaktion übernommen hatte.

So­ziale Dämonen, wie Bild sie in Szene setzte, können ausgesprochen vielgestaltig sein. So ha­­ben Sozialstaatsdebatten in der westlichen Welt beispielsweise alleinerziehende Mütter, jun­ge Ausländer oder auch männliche Arbeitslose als Problemgruppen identifiziert. Auf wen oder was Dämonisierungsstrategien in Debatten über den Wohlfahrtsstaat zielen, ist kontingent, hängt vom jeweiligen Zeitpunkt und nationalen Kontext ab. Dies wirft die Frage auf, weshalb in der Debatte um die Agenda 2010 ausgerechnet der deutsche So­zialhilfeempfänger männ­li­chen Geschlechts zur sozialen Unperson stilisiert wurde. Um die semantischen Kon­turen der so­­zialen Dämonisierung kurz nach der Jahrtausendwende zu schärfen, soll neben „Florida-Rolf“ eine Reihe weiterer Unterstützungsempfänger vorgestellt werden, die der Boulevard öf­fent­­lichkeitswirksam als „Sozialschmarotzer“ denunzierte.[14] Auf welche vermeintliche Prob­lem­lage diese Galerie sozialer Dämonen konkret verwies, erschließt eine Analyse im Sin­ne ei­nes close reading, wobei fokussierte Vergleiche mit „folk devils“ in Großbritannien und den USA die nationalspezifischen Charakteristika deutscher Skandalisierungsstrategien sicht­bar ma­chen.

Dieser kulturhistorische Ansatz bedarf allerdings einer Erweiterung, da ein für die Iko­no­grafie des bekanntesten „Sozialschmarotzers“ konstitutives Element in den deutschen Medien bes­tenfalls am Rande behandelt wurde. Zwar symbolisierte in den Augen der Bild-Redaktion nichts so sehr die sozialstaatliche Ressourcenverschwendung wie der Ort, an dem Rolf J. lebte. Die Frage aber, weshalb die Bundesrepublik mittellose Deutsche im Ausland überhaupt dau­er­haft finanziell unterstützte, warf praktisch niemand auf. Zur Klärung des Sachverhalts ist eine historische Tiefenbohrung im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts sowie in der so­zial­juristischen Fachliteratur notwendig, welche die bis ins Kaiserreich zu­rückreichenden Wur­zeln der Auslandssozialhilfe zutage fördert und erklärt, warum auch die junge Bundesrepublik nach 1949 die materielle Unterstützung bedürftiger Deutscher im Ausland in ihr politisches Re­pertoire aufnahm. Dieser Tiefenbohrung folgt eine kulturhistorisch ausgerichtete Un­ter­su­chung der Dämonisierungsstrategien der Jahre 2003/04, wobei es gilt, den Auslands­sozial­hilfe­empfänger „Florida-Rolf“ im Umfeld weiterer sozialer Unpersonen zu verorten. Die beiden Teile des vorliegenden Aufsatzes bedienen sich unterschiedlicher Methoden und widmen sich nor­malerweise getrennt behandelten Forschungskontexten, sind jedoch durch die Figur „Flo­rida-Rolf“ miteinander verbunden. Der hier verfolgte Ansatz zur Analyse sozialer Dä­monisierung fördert dabei ausgesprochen dis­pa­rate, konventionelle politische Zäsuren über­wöl­bende und nicht zuletzt transnationale Strän­ge der deutschen Geschichte des 20. Jahr­hun­derts zutage.

Der Aufstieg der weitgehend un­bekannten, mehr als 100 Jahre bestehenden Aus­lands­so­zial­hil­fe zu einem erst­ran­gigen Politikum im Sommer 2003 verdeutlicht, wie unter instabilen, kon­tin­genten Bedingungen vermeintlich marginale, auf den ersten Blick abseitige Phänomene po­li­tische Relevanz gewinnen.[15] Bislang stehen die von Fachleuten geprägten, häufig neo­li­be­ra­len Lösungskonzepte sowie die wirtschaftspolitischen Handlungsoptionen im Zentrum des For­schungsinteresses zu den rot-grünen Sozialreformen.[16] Der hier verfolgte Zugriff richtet sein Hauptaugenmerk hingegen auf den massenmedial geprägten kulturellen Kontext, dessen po­puläre Deutungsmuster erkennen lassen, welche Problemlagen Zeitgenossen als neuralgisch be­trachteten und welche Spielräume für politische Lösungen des vielbeschworenen Sozial­staats­problems bestanden. Somit redet dieser Beitrag auch einer kulturgeschichtlichen Erweite­rung der Sozialstaatsgeschichte das Wort, um den Deutungsmustern sowie der Eigendynamik des medialen Umfelds von politischen Debatten und Entscheidungen größere Bedeutung ein­zu­räumen. Dass es sich hierbei tatsächlich um eine Erweiterung und keineswegs um eine Mar­gi­nalisierung politikhistorischer Forschungsansätze handelt, zeigt der prominente Part, den die Ge­schichte der Auslandssozialhilfe im vorliegenden Aufsatz einnimmt. Somit bietet diese Un­ter­suchung ein Beispiel dafür, wie sich kultur- und politikgeschichtliche Ansätze in der For­schung zum Sozialstaat fruchtbar miteinander verbinden lassen.

III. Die Auslandssozialhilfe als deutsche Sonderpraxis

Angesichts des Umstands, dass Bild Rolf J. im sonnigen Miami mit seinem richterlich ver­brief­ten Anspruch auf So­­zialhilfe als Paradebeispiel sozialstaatlicher Fehlsteuerung präsentierte, war das Desinteresse der Medien hinsichtlich der Ursprünge und Entwicklung der Aus­lands­sozialhilfe ebenso bemerkenswert wie ihr Unwissen. Dass die Gewährung von Sozial­hilfe über Landesgrenzen hinweg im internationalen Vergleich völlig aus dem Rahmen fiel, ent­ging der Öffentlichkeit im Sommer 2003; schließlich war die Bundesrepublik der einzige So­zialstaat, der notleidenden Bürgerinnen und Bürgern außerhalb des eigenen Staatsgebiets dau­erhaft Unterstützung zukommen ließ. Der Bild-Zeitung war die Geschichte der Aus­lands­so­zialhilfe keine Zeile wert, und die taz war auf dem falschen Dampfer, als sie deren Ursprünge in der Nachkriegszeit vermutete. Es sei darum gegangen, Emigrantinnen und Emigranten ma­te­riell unter die Arme zu greifen, „die vom Nazi-Regime verfolgt, ausgewandert und in Not ge­raten waren oder nicht zurückkehren wollten“.[17] Die Süddeutsche Zeitung wiederum gab an, die Auslandssozialhilfe habe mit einem Fürsorgeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Schweiz Anfang der 1950er Jahre begonnen, das es ehemaligen Kriegsgefangenen er­mög­li­chen sollte, in „Schweizer Luftkurorten wieder zu Kräften zu kommen“.[18] Doch auch das Münchner Blatt lag falsch, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, die sich insbe­son­de­re auf Akten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts stützen.

Durch die Gewährung von Sozialhilfe an dauerhaft im Ausland wohnende Deutsche schrieb sich die Bundesrepublik eine „grenzüberschreitende Kompetenz“ zu und durchbrach damit das für sozialpolitische Sachverhalte maßgebliche Prinzip der „Territorialität“.[19] Die rechtliche Grund­lage hierfür lieferte Paragraf 119 des Bundessozialhilfegesetzes, der besagte, dass „Deutschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben und im Ausland der Hilfe be­­dürfen, [...] Lebensunterhalt, Krankenhilfe und Hilfe für werdende Mütter und Wöch­ne­rin­nen gewährt werden“ soll.[20] Dieser Paragraf war von Anfang an Bestandteil des 1961 ver­ab­schie­deten BSHG, das gemeinhin als sozialpolitischer Meilenstein gilt und eine Vielzahl un­über­sichtlicher, teils in die Weimarer Republik zurückreichender Fürsorgeleistungen neu ord­ne­te. Als Hauptvorgabe versprach das BSHG „Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in be­son­de­ren Lebenslagen“ auf einem Niveau, das über die bloße Existenzsicherung hinaus der in Ar­tikel 1 des Grund­gesetzes verbürgten „Würde des Menschen“ zu entsprechen hatte. So­zial­hil­fe zielte darauf, wie ein Gesetzeskommentar aus den frühen 1960er Jahren unterstrich, Hilfs­be­­dürftige in die Lage zu versetzen, „sich aus eigener Kraft in das Leben der Gemeinschaft ein­­zugliedern“.[21] Die Gewährung von Sozialhilfe im Ausland stand damit von Beginn an in ei­­nem Spannungsverhältnis zur Grundintention des Gesetzes; schließlich war es Bun­des­bür­gerinnen und -bürgern außerhalb der deutschen Grenzen unmöglich, sich – wie vom Gesetz gefordert – in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren.

Dass im Ausland lebende deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Anspruch auf ma­te­riel­le Unterstützung durch deutsche Behörden hatten, war keineswegs das Resultat gesteigerter so­zialstaatlicher Generosität als Folge des Nachkriegsbooms. Vielmehr finden sich Vorläufer der­artiger Initiativen bereits im Kaiserreich. So hatten sich das Deutsche Reich und die Schweiz im so­ge­nannten Niederlassungsvertrag von 1909 auf die gegenseitige Erstattung von Für­sorgekosten verständigt, die „ein Staat für die Angehörigen des anderen Staates auf­wendete“. Diese Regelung sollte Zusatzbelastungen für kommunale Fürsorgebehörden ver­mei­den, die durch die „Heimschaffung der Hilfsbedürftigen in ihren Heimatstaat“ angefallen wä­ren.[22] Auslandsfürsorge diente also ursprünglich der Kostenkontrolle im Reichsgebiet. Die Wei­­marer Republik erweiterte diese Praxis mit einem gemeinsamen Erlass des Reichsinnen- und des Reichsarbeitsministeriums vom 2. Februar 1927, demzufolge „hilfsbedürftige[n] Deut­sche[n] aus dem Auslande“, denen aufgrund wirtschaftlicher Not die Ausweisung ins Deutsche Reich drohte, einmalige Unterstützungszahlungen zur Behebung temporärer Notlagen an ihren je­­weiligen Wohnorten zugewiesen werden konnten. Nach einem zeitgenössischen Rechts­kom­men­­tar sollten derartige Zahlungen einer „weitere[n] Belastung des Wohnungs- und Arbeits­mark­­tes in Deutschland“ durch deutsche Migranten zuvorkommen. Wie bereits im Kaiserreich hat­te die Auslandsfürsorge auch in der Weimarer Republik den Zweck, heimische Sozial­be­hör­den zu entlasten. Des Weiteren, fügte der Kommentator hinzu, „sprächen menschliche und na­tionale Ge­sichts­punkte für die Vermeidung der Ausweisung“.[23]

Der Verweis auf „nationale Gesichtspunkte“ deutet auf eine politische Stoßrichtung hin, wel­che die Auslandsfürsorge in der Weimarer Republik gewann. Dieser Aspekt bezog sich vor al­lem auf die zahlreichen Deutschen, die sich nach dem Versailler Vertrag außerhalb der neuen Reichs­­grenzen wiederfanden. Deren Behandlung löste in konservativen Kreisen wiederholt Em­pörung aus und mündete regelmäßig im Ruf nach einem effektiveren Schutz des „Aus­lands­deutsch­tums“. National gesinnte Autoren wiesen insbesondere auf die drei bis vier Millionen in der Tschechoslowakei und Polen ansässigen Deutschen hin, die sich angesichts der in diesen neu­en Staaten verfolgten Nationalitätenpolitik einem „[m]it Leidenschaft und Energie“ ge­führ­ten „Kampf gegen das deutsche Volk“ ausgesetzt sähen.[24] Deutschnationale Motive tra­ten so­mit während der Weimarer Republik neben das ursprüngliche Ziel der Auslandsfürsorge, Kosten zu sparen, und verbanden auf das Ausland gerichtete Fürsorgemaßnahmen mit breiter ange­leg­ten, vom Auswärtigen Amt unterstützten Initiativen zur Stabilisierung ethnischer deutscher Ge­meinschaften in Ostmitteleuropa, deren revisionistische Spitze offensichtlich war.[25]

Über die Auslandsfürsorge während des Dritten Reichs ist wenig bekannt, doch scheint das Re­gime im Rahmen seiner Rassenideologie die Praxis beibehalten, wenn nicht sogar geo­gra­fisch ausgeweitet zu haben. Darauf deutet zumindest eine Aktennotiz im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts aus dem Jahr 1955 hin, in der ein 1943/44 in Lissabon lebender Deut­scher den Empfang von Auslandsfürsorge durch den Gaufürsorgeverband Warthegau be­stä­tig­te.[26] Diese sozialpolitische Sonderpraxis war also bereits vor 1945 fest institutionalisiert und besaß seit dem Ende des Ersten Weltkriegs eine ausgeprägte deutschnationale Note.

Dass die Bundesrepublik bereits weniger als zwei Monate nach der Wiedererrichtung des Aus­wär­­tigen Amts im März 1951 erwog, die Auslandsfürsorge neu zu beleben, hatte mehrere Grün­de. Angesichts der Vielzahl sozialpolitischer Herausforderungen ging es Bonn zunächst vor allem um die „Vermeidung von sonst notwendigen Heimschaffungen“, welche die bereits völ­lig überlasteten Sozialdienste vor zusätzliche Aufgaben gestellt hätten.[27] Damit zielte die Auslandsfürsorge erneut auf die Vermeidung von Zusatzbelastungen für das Sozialsystem, wäh­rend das „Aus­lands­deutschtum“ im offiziellen Sprachgebrauch keine explizite Rolle mehr spielte. Welcher Verwaltungsaufwand dadurch auf das Auswärtige Amt und welche Kosten auf die öf­fentliche Hand zukamen, war jedoch offen. Das Bundesinnenministerium trat am 30. April 1951 bereits vorsorglich auf die Kostenbremse und betonte, Auslandsfürsorge komme nur dann in Frage, „wenn alle anderen Wege einer Hilfe erschöpft sind“.[28]

Für Nervosität sorgte in Bonn zunächst der Schriftverkehr, der bei der Dienststelle für Aus­wär­tige Angelegenheiten im Bundeskanzleramt – der provisorischen Vorgängerorganisation des Auswärtigen Amts – über materielle Not unter Deutschen in Österreich einging.[29] Dortigen Selbst­hilfeorganisationen zufolge hielten sich im Nachbarland neben 30.000 bis 40.000 deut­schen Staatsangehörigen etwa 250.000 sogenannte Volksdeutsche auf. Letztere waren in der Mehr­zahl aus Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn geflüchtet oder nach Kriegs­ende vertrieben worden und hatten ihre Staatsangehörigkeit verloren. Das Gros dieser deutsch­­stämmigen Flüchtlinge führe, wie der Leiter einer lokalen Wohlfahrtsorganisation klag­te, als „vergessene Kompanie“ ein Lagerleben in „trostlosen Verhältnissen“. Von bun­des­deutschen Stellen erhielten sie lediglich „hinhaltende oder überhaupt keine Antworten“.[30] In die Bundesrepublik ausreisen konnten sie schon wegen fehlender Ausweispapiere und der Fahrkosten nicht, die sie zumeist nicht aufbringen konnten. Österreichische Stellen ver­wei­ger­ten ihnen Arbeitsgenehmigungen entweder komplett oder stellten diese nur für einfache und so­mit schlecht entlohnte Tätigkeiten aus.[31] Ein Memorandum des Auswärtigen Amts fasste die Sit­uation sowohl der deutschen Staatsangehörigen als auch der staatenlosen „Volksdeutschen“ in Österreich im Juni 1951 knapp zusammen: Deutsche Staatsangehörige hätten keinerlei Zu­gang zu Pensionen, Renten, Kriegsopferversorgung oder Fürsorge, die deutschen Staats­bür­gern in der Bundesrepublik zuständen; die rechtliche Lage der „Volks­deutschen“ sei oh­nehin voll­kommen unklar.[32] Da sich die österreichische Verwaltung für keine dieser Grup­pen zu­ständig fühlte, war ihre Zukunft äußerst ungewiss.

Darüber hinaus gab es noch 200.000 über Westeuropa verstreute deutsche Staatsangehörige. Eine Statistik für den Haushaltsausschuss des Bundestags bezifferte 1950 die Zahl der Deut­schen in Frankreich auf 100.000, in den Niederlanden auf 50.000, in Großbritannien auf 30.000 und in Luxemburg auf 6.000.[33] Dabei handelte es sich überwiegend um zu Arbeits­ein­sätzen verpflichtete ehemalige Kriegsgefangene, die nicht in die Heimat zurückgekehrt waren. „Einer Hilfe bedürfen fast alle“, da man „diejenigen, denen es im Ausland gelungen ist, sich eine gesicherte Position zu erhalten“, gleichsam mit der Lupe suchen müsse, so der Haus­haltsaus­schuss.[34] Wie viele Deutsche im Ausland tatsächlich Hilfeleistungen in Anspruch nehmen wür­den, blieb allerdings unklar, da eine im Frühjahr und Sommer 1951 durchgeführte Umfrage bei den Konsulaten vor Ort keinerlei Licht ins statistische Dunkel brachte. Das Konsulat in Am­ster­dam antwortete beispielsweise, es könne schon deswegen keine Angaben machen, weil „jede noch so vorsichtige Umfrage [...] eine Flut von neuen Anträgen auslösen“ würde. Die Vert­re­tung in Rom sprach von 30.000 bis 60.000 Deutschen in Italien und riet Unterstützung für 20 Paare und 100 Einzelpersonen an, ohne diese Empfehlung zu begründen.[35]

Trotz der bleibenden Unsicherheit war die In­for­ma­tionsanfrage an den konsularischen Dienst nicht folgenlos. Mehrere Aus­lands­ver­tre­tun­gen lenkten den Blick auf die Lage der aus dem Drit­ten Reich geflohenen Juden, denen die Bonner Ministerialbürokratie zunächst kei­nerlei Auf­­merk­sam­­keit geschenkt hatte. Von den etwa 270.000 bis 300.000 aus Deutschland ge­flo­he­nen Jüdinnen und Juden hatten Ende der 1930er Jahre ungefähr jeweils 25.000 in Bel­gien und Frankreich sowie jeweils 11.000 in den Niederlanden und Großbritannien Zuflucht ge­­fun­den.[36] Wie viele dieser Flüchtlinge den Holocaust überlebten, ist nicht mit Si­cher­heit zu er­mit­teln, doch wer dies tat, fristete häufig ein Leben in äußerster Armut. Dass die Aus­lands­ver­tre­tun­gen dem Schicksal jüdischer Ge­flüch­te­ter mit Sensibilität begegneten, hing eng mit Konrad Adenauers Entscheidung zusammen, Bot­­schafterposten im westlichen Ausland mit Quer­ein­stei­gern zu besetzen, die „weder durch Nä­­he zum Nationalsozialismus noch durch Ver­bin­dun­gen zum alten Amt kompromittiert“ wa­ren, um so den diplomatischen Neubeginn per­so­nal­po­li­tisch zu unterstreichen.[37]

Dem nach Brüssel berufenen Anton Pfeiffer, einem Mitbegründer der Christlich-Sozialen Uni­on, der 1946 zunächst als Sonderminister für die Entnazifizierung in Bayern zuständig gewesen war und dann bis 1950 die bayerische Staatskanzlei geleitet hatte, riss im November 1951 der Ge­­­­duldsfaden, nachdem ein erster Bericht über die Notlage vieler nach Belgien geflohener Jü­dinnen und Juden, die dort Krieg und Verfolgung überlebt hatten, ohne Resonanz verhallt war. Ungefähr ein Drittel der in Belgien lebenden 700 jüdischen Emigrantinnen und Emi­gran­ten wohn­ten in „dürftig möblierten Zimmern“ ohne fließendes Wasser oder Küche. Auch fehle es an angemessener Winterkleidung, da viele Betroffene ihre „eigene[n] Sachen aufgetragen“ hätten oder diese „beim Untertauchen in den Jahren 1942/44 verloren gegangen“ seien. „Das Los der Alten und Kran­ken ist am schlimmsten“, so Pfeiffer weiter. Zur Einwanderung nach Israel zu schwach, mangele es ihnen an Medikamenten und Zahnersatz. Dass Hilfe für diese Menschen eine Frage des An­stands sei, stand für den Botschafter außer Frage: „Ich möchte her­vorheben, dass es sich bei die­sen Leuten um die Ärmsten der Armen handelt, die durch das Na­­ziregime aus einem ge­ord­neten Leben in diese Not gestürzt wurden.“[38] Mitte Dezember for­­derte die Botschaft mit Erfolg Mit­tel für eine einmalige karitative „Weihnachtszahlung“ an, um jahreszeitlich bedingte Kos­ten aufzufangen.[39]

Ähnlich dramatische Berichte erreichten das Auswärtige Amt aus London, wo die Botschaft vom Landwirtschaftsexperten Hans Schlange-Schöningen (CDU) geleitet wurde, der 1929 we­gen der Wahl Alfred Hugenbergs zum Vorsitzenden der DNVP aus der Partei ausgetreten war.[40] Da sich „die Lage der notleidenden Verfolgten hier [...] in manchen Fällen von Tag zu Tag“ verschlechtere, sei es „dringend erforderlich, daß in manchen Fällen sofortige Hilfe erfolgt“. Verzögerungen verstießen „gegen die guten Sitten“, erklärte Schlange-Schöningen kurz und bündig im Sommer 1952.[41] Um welche „Fälle“ es sich handelte, hatte die Bot­schaft be­reits im Februar 1951 – verbunden mit einem drastischen Ersuchen um schnelle, un­büro­kra­ti­sche Unterstützung – dargelegt. Geschildert wurde das Schicksal eines 65-jährigen Juden aus Ostpreußen, der drei Jahre Konzentrationslager über­lebt hatte und nach dem Krieg bei seiner Tochter im Südlondoner Stadtteil Brixton un­ter­ge­kom­men war. Im Lager hatte er alle Zähne sowie ein Auge verloren. „Seine Ehefrau wurde ver­­gast“, während sein zum Tode verurteilter Sohn „im Gefängnis in Dortmund an der ihm dort zuteil gewordenen Behandlung [starb]. Die Kleider des verstorbenen Sohnes wurden Fa­mi­lienangehörigen [...] 1950 zugestellt“; daraufhin erlitt der Vater „einen körperlichen und see­li­schen Zusammenbruch“.[42] Dieser Fall veranlasste das Bundeskanzleramt da­zu, nicht nur das Bundesfinanzministerium (BMF) nachdrücklich auf die moralische, sondern auch auf die po­litische Di­­­­mension dieses Problems hinzuweisen. „Wenn die deutschen konsularischen Ver­tre­tun­gen in solchen Fällen wirklicher Not nicht in der Lage sind, zum mindesten vorübergehend hel­fend ein­zugreifen, so wird das Ansehen der Bundesrepublik zweifellos erheblich be­ein­träch­tigt.“[43]

Somit empfing das Auswärtige Amt schon früh eine Vielzahl an Berichten über soziale Not unter vertriebenen „Volksdeutschen“ in Österreich, unter ehemaligen Kriegsgefangenen, die in Westeuropa zu Arbeitsdiensten verpflichtet worden waren, sowie unter deutsch-jüdischen Flücht­­lingen. Angesichts dieser vielgestaltigen sozialen Problemlage zeigten sich die Ver­ant­wort­lichen bereit, in Fürsorgefragen grenzüberschreitend zu handeln, so dass am 2. September 1952 die Wiederaufnahme der vor 1945 etablierten Praxis durch den konsularischen Dienst ver­fügt wurde.[44] Der potenzielle Empfängerkreis verringerte sich allerdings aufgrund verschiedener internationaler Verträge rasch. Bilaterale Abkommen zwischen der Bundes­re­publik und Österreich regelten ab 1953 Pensions- und Rentenansprüche sowie Forderungen aus der Arbeitslosenversicherung seitens deutscher Staatsangehöriger in der Alpenrepublik.[45] Dar­über hinaus erhielt die Mehrzahl der aus Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn nach Österreich geflohenen „Volksdeutschen“ in der ersten Hälfte der 1950er Jah­re die österreichische Staatsbürgerschaft und fiel somit in die Zuständigkeit dortiger Be­hör­den.[46] Und mit dem Beitritt der Bundesrepublik zum europäischen Fürsorgeabkommen im Jahr 1956 gewannen Bundesbürger, die sich zum Beispiel dauerhaft in Großbritannien, den Be­ne­lux-Staaten, Italien und Frankreich aufhielten, Anspruch auf die gleichen sozialstaatlichen Leis­tungen, die den eigenen Staatsangehörigen zustanden.[47]

Die Gruppe der aus Deutschland geflohenen Jüdinnen und Juden fiel allerdings weitgehend durch das Raster der Hilfeleistungen, wie die westdeutsche Öffentlichkeit Mitte der 1950er Jah­re erfuhr. Zum 11. Jahrestag des Kriegsendes lief in Radio und Fernsehen eine vom Süd­deut­schen Rundfunk pro­du­zierte Dokumentation über die anhaltende Armut deutsch-jüdischer Flücht­linge in Paris, denen französische Fürsorgezahlungen lediglich eine erbärmliche Exis­tenz deutlich unterhalb des offiziellen Existenzminimums ermöglichten.[48] Körperlich von Ver­fol­gung, Unterernährung und Krankheit gezeichnet, lebten sie im hohen Rentenalter in Mansar­den­zimmern ohne Strom und Heizung. Als Lumpenhändler auf Pariser Straßenmärkten oder mit anderen ebenso schlecht bezahlten wie erniedrigenden Tätigkeiten verdienten sie sich ein kärg­liches Zubrot, ohne das es „nicht zum nackten Leben“ reichen würde. Dass es sich hier keineswegs um außergewöhnliche Einzelfälle handelte, unterstrichen die Autoren Peter Adler und Peter Dreessen durch den Hinweis, dass die „materielle und soziale Lage“ der ungefähr 10.000 „Emigranten“ in Paris überwiegend „als schlecht zu bezeichnen sei“.[49] Die Frankfurter All­­gemeine Zeitung reagierte schockiert auf die Reportage über die „müde gewordenen Men­schen, die noch elf Jahre nach ihrer ‚Erlösung‘ vergessen, verarmt, verhungernd in Paris da­hin­­vegetierten“, während Die Zeit deren „bitterste Not“ beklagte.[50] Die Rundfunkanstalt wurde nach den Sendungen von einer „Flut“ von Briefen geradezu überschwemmt, deren Absender sich fassungslos zeigten, und ein Spendenaufruf fand ein „ungeheure[s] Echo“.[51]

Auch wenn der Bundestag im nächsten Haushaltsplan auf Druck seines Präsidenten Eugen Gers­tenmeier (CDU) eine Million DM zum Bau eines Wohnheims für die Betroffenen in Paris be­­reitstellte, verwies deren prekäre Lage auf eine grundsätzliche Schwäche der Bonner Wie­der­gut­machungspolitik. Zwar hatten jüdische Emigranten, die einst aus dem Deutschen Reich ge­flüchtet waren, seit 1953 Anspruch auf Entschädigung, die Verfahren zogen sich jedoch in vie­len Fällen jahrelang hin, da die zuständigen westdeutschen Ämter personell mangelhaft aus­ge­stattet waren und eingehende Anträge schleppend bearbeiteten.[52] Auch deshalb hatten die in den Dokumentationen portraitierten Jüdinnen und Juden in Paris bisher „von der Bun­des­re­pub­lik keinen Pfennig erhalten“.[53]

Auf Auslandsfürsorge konnten diese Opfer des Dritten Reichs nur in sehr begrenztem Umfang zurückgreifen, da das Bundesfinanzministerium unter Fritz Schäffer (CSU) in solchen Fragen durchwegs restriktiv agierte und das mit Blick auf die internationale Reputation der Bun­des­re­publik zu Großzügigkeit mahnende Auswärtige Amt wiederholt ausbremste.[54] Anfang 1954 wur­­den dem Auswärtigen Amt alle Mittel zur „laufenden Unterstützung [...] hilfsbedürftiger Ver­folgter“ des Nationalsozialismus gestrichen, da es nun ja die Möglichkeit gab, Wieder­gut­ma­chung zu beantragen.[55] Es ist daher anzunehmen, dass sich die Lage in der Folgezeit eher noch ver­schlechterte. Um einen Unterstützungsanspruch anzumelden, mussten aus Deutsch­land geflohene Jüdinnen und Juden, die nicht in Israel lebten, jetzt einen Fürsorgeantrag über den konsularischen Dienst der Bundesrepublik stellen, was ein weiteres Problem aufwarf: Für den Bezug von Auslandsfürsorge war der Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft Vor­aus­setzung, diese war den jüdischen Flüchtlingen vom NS-Regime jedoch aberkannt worden.[56]

Dass ein Antrag auf Wiedereinbürgerung für viele jüdische Flüchtlinge unzumutbar war, war den zuständigen Stellen bekannt – nicht nur deshalb, weil dieser Schritt notwendigerweise mit dem Verlust einer mit­tlerweile angenommenen Staatsbürgerschaft im Zufluchtsland ein­her­ging.[57] Ein Rechtsgutachten gab 1952 auch zu bedenken, dass selbst viele staatenlose Ge­flüch­tete einen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft scheuten, da sie „sich von den Bildern der Erinnerung, die unauslöslich mit Deutschland verbunden sind, nicht mehr frei machen“ könn­ten.[58] Damit hatten jüdische Flüchtlinge lediglich Zugang zu Einmalzahlungen in „be­son­de­­ren Härtefällen“, die als „Überbrückungsleistungen“ keine dauerhafte Linderung bringen konn­ten.[59] Die Not der aus Deutschland geflohenen Jüdinnen und Juden hatte zwar zur Wie­der­einführung der Auslandsfürsorge Anfang der 1950er Jahre beigetragen, doch entwickelte sich in den folgenden Jahren eine ausgesprochen restriktive und schikanöse Praxis, die den finanziellen Aufwand der zuständigen Behörden in engen Grenzen hielt.

Wie sich die Nachfrage nach Auslandsfürsorge, die 1961 im Rahmen des BSHG nahtlos in die Aus­­landssozialhilfe überführt wurde, in der Folgezeit entwickelte, lässt sich aus den Akten des Aus­wärtigen Amts nur ansatzweise rekonstruieren, doch man kann sagen, dass die Belastung für das Sozialbudget der Bundesrepublik überschaubar war, die sich daraus ergab. Die Bot­schaft in Wien meldete 1957 ungefähr „200 solcher Fälle“, die Vertretung in Rio de Janeiro 1964 648 und die in Buenos Aires drei Jahre später 800.[60] Vor allem veränderte sich die soziale Z­usammensetzung der Klientel schon bald, die bei den Konsulaten um materielle Unterstützung bat. Ein internes Memorandum des Auswärtigen Amts räumte 1963 ein, dass die „Zahl der Hilfsbedürftigen“ unbekannt sei. Es handle sich jedoch um eine ausgesprochen heterogene Gruppe, deren Notlagen vielgestaltig seien: „Auswanderer, deren Erwartungen sich nicht erfüllt haben, Mitglieder deutscher Kolonien, die durch Kriegsfolgen in Not geraten [sind], Deutsche, die mit Ausländern die Ehe geschlossen haben, bestohlene, erkrankte, ver­un­glück­te Touristen, SBZ-Flüchtlinge, Jugendliche, Weltenbummler und Abenteurer müssen be­ra­ten, unterstützt oder heimgeschafft werden.“[61] Somit spiegelte der Kreis der Sozial­hilfe­emp­fän­ger im Ausland verschiedenste Probleme wider, die sich teils aus historischen Entwick­lun­gen, teils aus der Transformation der Bundesrepublik in eine reisefreudige Wohlstands­ge­sell­schaft ergaben.

Die ursprüngliche Intention der Einführung von Fürsorge beziehungsweise Sozialhilfe im Aus­land – die Entlastung des heimischen Sozialsystems – verlor angesichts der Milliarden­haus­hal­te sozialstaatlicher Institutionen in der Bundesrepublik zunehmend an Relevanz. Dennoch ver­schärfte die Bundesregierung 1993 die Bewilligungskriterien für Auslandssozialhilfe als Re­ak­tion auf Klagen, dass „Deutsche (nicht selten sog. ‚Aussteiger‘) sich in ausländischen Tou­ris­tengebieten niederließen“ und zusätzlich zu Nebeneinkünften Sozialhilfeleistungen in An­spruch nahmen.[62] Nach dem Ausschluss von Weltenbummlern von der Auslandssozialhilfe machten 2003, wie die taz ermittelte, in ausländischen Gefängnissen einsitzende Bundesbürger so­wie bedürftige Senioren die überwiegende Mehrzahl der 959 Leistungsempfänger außerhalb der Bundesrepublik aus.[63] Somit war „Florida-Rolf“ nicht nur eine Ausnahme unter den So­zial­hilfe­empfängern, sondern auch unter denjenigen, die diese Form von Unterstützung außerhalb des deutschen Staatsgebiets bezogen.

IV. Soziale Dämonen und die Debatte um die Agenda 2010

Dieser Umstand hielt die Bild-Zeitung jedoch nicht davon ab, „Florida-Rolf“ als prominenteste Fi­gur einer Galerie von Sozialhilfeempfängern zu präsentieren, die für Missbrauch, Miss­wirt­schaft und gro­tes­ke Überversorgung in Zeiten leerer Kassen standen. Folgt man den Boule­vard­medien, beschränkte sich die Misere des deutschen Sozialstaats keineswegs auf hohe Ar­beits­­losigkeit, Haushaltsdefizite und die Kosten der Wiedervereinigung. Zwar lag die Ar­beits­losenquote 2003 bei 10,5 Prozent, während sich die Nettokreditaufnahme des Bunds in nur vier Jahren auf über 60 Milliarden Euro mehr als verdreifacht hatte.[64] Die Yellow Press machte jedoch die Schwierigkeiten der Bundesrepublik weniger an strukturellen und somit abstrakten Faktoren fest. Vielmehr bedienten sich Bild und ähnliche Blätter personalisierender Reportagen. Sie zerrten Empfänger von Sozialleistungen ins Rampenlicht, deren Verhalten stell­vertretend für vermeintlich eklatante Missstände im bestehenden System der sozialen Si­che­rung stand. Schenkte man Bild Glauben, war der in Florida residierende Rolf J. kei­neswegs die Ausnahme von der Ausnahme unter Deutschlands Sozialhilfeempfängern, sondern symp­to­matisch für eine Sozialstaatskrise, die über den konkreten Fall hinauswies. Rolf J. war daher keine mediale Ein­zelerscheinung, sondern Teil eines veritablen Pantheons sozialer Dämonen, mit dem die Presse 2003/04 aufwartete.

Natürlich war die Dämonisierung von Unterstützungsempfängern alles andere als neu. Klagen über Bezieher von Hilfs- und Fürsorgeleistungen reichen bis in die frühe Neuzeit zurück, denen häu­f­ig mangelnde Arbeitsmoral oder schlicht Faulheit unterstellt wurde. In der Bundesrepublik ge­­wann dieser Diskurs mit der Rückkehr der Arbeitslosigkeit in der Mitte der 1970er Jahre an Pro­minenz und wies in der Folgezeit Höhen und Tiefen auf, die zumeist mit der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen einhergingen. Norbert Blüm (CDU) sorgte beispielsweise 1983 mit dem Vorwurf für Aufsehen, hohe Sozialstandards verleiteten junge und gesunde Bundesbürger dazu, „sich unter den Palmen Balis in der Hängematte zu sonnen [und] alternativ vor sich hinzuleben“, statt sich um ihre berufliche Zukunft zu kümmern.[65] Zwar bezog sich der Vorwurf des Bundesarbeitsministers nicht auf die Auslandssozialhilfe per se, doch konstruierte die Nen­nung eines ebenso attraktiven wie exotischen Urlaubsziels einen denunziatorischen Bezug zwi­schen Arbeitsverweigerung und der missbräuchlichen Inanspruchnahme sozialer Leis­tun­gen. Da die Medienberichterstattung wiederholt den Eindruck erweckte, der ungerechtfertigte Be­­zug von Unterstützungszahlungen sei keine Ausnahme, sondern ein veritables Mas­sen­phä­no­men, konnten personalisierte Angriffe mit starkem gesellschaftlichen Zuspruch rechnen.[66]

Wenn Bild im Sommer 2003 „Florida-Rolf“ an die Spitze einer Riege sozialer Unpersonen set­zte, reihte sich das Blatt nahtlos in eine jahrzehntealte Tradition polemischer und per­so­na­li­sie­render Sozialstaatskritik ein. Nur wenige Tage bevor Bild mit „Florida-Rolf“ aufmachte, hatte die Zeitung über einen 54-jährigen Sozialhilfeempfänger aus Bad Soden berichtet, der sei­nen Anspruch, das Potenzmittel „Viagra“ kostenfrei zu erhalten, auf dem Rechtsweg er­strit­ten hatte. Unter der Schlagzeile „Wir haben’s ja“ firmierte „Karlheinz F.“ als „fröhlicher Mann“, der künftig „Sex-Stütze“ beziehen werde. Fortan geisterte dieser Leistungsempfänger als „Viagra-Kalle“ durch die Medien.[67] Laut Bild spielten jedoch weder „Viagra-Kalle“ noch „Flo­­rida-Rolf“ in der Liga des 59-jäh­ri­gen Heinrich S., der sich den Titel „Heinrich der Gie­rige“ verdient hatte. Einem Bericht vom 1. September 2003 zufolge war dieser vom Land­ge­richt München wegen Betrugs zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden, da er sich trotz des Besitzes von „[z]wölf Autos (u. a. BMW, Porsche), eine[r] Luxuswohnung mit Whir­l­pool in Polen, ein[es] fette[n] Giro-Kon­to[s]“ insgesamt etwa 95.000 Euro Ar­beits­lo­senhilfe erschlichen sowie Versiche­rungs­betrug in Höhe von 60.000 Euro begangen hatte.[68]

Im folgenden März richtete sich das Interesse schließlich auf das mittelfränkische Ansbach, wo der „unverschämteste Prozess des Jahres“ stattfand. Die Schlagzeile „Sozialamt muss mei­ne Bordell-Besuche bezahlen“ leitete die Schilderung eines Rechtsstreits ein, durch den Helmut H., ein 43-jähriger Sozialhilfeempfänger, die Erstattung von Auslagen über circa 2.500 Euro für sechzehn Bordellbesuche, Leihgebühren für pornografische Filme sowie Taxifahrten zur Vi­deothek einforderte. Da, so der Kläger, seine Frau zur Geburt des gemeinsamen Kinds in ihre thailändische Heimat zurückgekehrt sei, leide er unter „sexuellem Entzug“. „Bordell-Hel­mut“ verlor vor Gericht. „Die Kosten für die Befriedigung sexueller Bedürfnisse“, stellte das Ge­richt mit unverhüllter Ironie fest, „gehören [...] zu den Kosten der allgemeinen Lebens­füh­rung“, die durch den „Regelsatz der Sozialhilfe abgedeckt“ seien. Auch liege, fuhr der Richter fort, kein „Sonderbedarf etwa aus medizinischen Gründen“ vor.[69]

Indem Bild den Serienbetrüger Heinrich S. zu „Deutschlands übelste[m] Sozialschmarotzer“ kürte, machte sich das Blatt zum Teil einer Boulevardkampagne, die gegen ungerechtfertigte so­zialstaatliche Alimentierung polemisierte. Zeitgleich zur Aufregung um „Florida-Rolf“ mel­dete der Kölner Express im August 2003, dass in der Domstadt „schon wieder ein Sozial-Schma­rotzer enttarnt“ worden sei; ein „Ferrari-Fahrer“ hatte 103.000 Euro „Stütze“ bezogen. Dem Einwand, sie bausche außergewöhnliche Einzelfälle auf, hatte die Zeitung bereits zwei Monate zuvor vorgebeugt, indem sie auf die „4000 Sozial-Schmarotzer“ verwies, die Düs­sel­dor­fer Behörden jährlich des unrechtmäßigen Bezugs von Sozialleistungen überführten.[70] Der Ein­druck, das Sozialsystem behandele Anträge mit übermäßiger Generosität, wurde von der Bou­levardpresse auch durch Artikel über den Leistungskatalog der Sozialämter untermauert. Unter der Schlagzeile „Das alles hat uns der Staat bezahlt“ widmete sich Bild Mitte August 2003 dem Besitzstand einer dreiköpfigen Familie aus Neukölln, der beinahe komplett „vom Amt“ finanziert worden sei – „vom Trauring bis zum Ehebett, von den Schuhen bis zum Fern­se­her“.[71] Angesichts dieser medialen Empörung hatte die Leiterin des Stuttgarter Sozialamts ei­nen schweren Stand mit ihrem Einwurf, die „ständig[e] Debatte über die angeblichen Schma­rotzer“ sei „unverantwortlich“, da die meisten Sozialhilfeempfänger keine Rücklagen be­säßen.[72] Während moderate Stimmen sich kaum behaupten konnten, beschwor das Schlagwort „So­zialschmarotzer“ in der aufgeladenen Atmosphäre des Jahrs 2003 die Allgegenwart pa­ra­si­tärer Lebensweisen herauf.

Auf lange bestehende Vorurteile zurückgreifend, verstärkte die personalisierende Polemik der Bild-Zeitung den Eindruck einer prinzipiellen Schieflage des Sozialsystems zusätzlich, indem sie die erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Fällen systematisch verwischte. So dif­ferenzierte das Blatt nicht explizit zwischen illegalen Praktiken – sprich: Sozialbetrug – und der Verfolgung rechtlich verbürgter Leistungsansprüche. Für Bild spielte es keine Rolle, dass es sich bei „Heinrich dem Gierigen“ um einen rechtskräftig verurteilten Serienbetrüger han­delte und die Forderungen von „Puff-Helmut“ gerichtlich zurückgewiesen worden waren. Dass die Bild-Redaktion die Effektivität sozialrechtlicher Kontroll- und Dis­zi­pli­nie­rungs­me­cha­nis­men für marginal hielt, verdeutlicht darüber hinaus der Umstand, dass auch rechtmäßige An­sprü­che wie diejenigen von Karlheinz F. und Rolf J. als überzogen und daher illegitim bewertet wur­den. Formaljuristische Kriterien spielten somit in der Boulevardberichterstattung eine bes­ten­falls zweitrangige Rolle.

Auch die Tendenz, alle Fälle über einen Kamm zu scheren, vermittelte den Eindruck, im So­zialwesen fehle es an Verhältnismäßigkeit. Suchte man bei Heinrich S. und Helmut H. ver­geb­lich nach einer sozialen Notlage, galten Rolf J. und Karlheinz F. aus triftigen Gründen als So­zialfälle. Seit einem „schweren Unfall“ Frührentner, habe sich Karlheinz F. außerdem „meh­re­ren Harnröhrenoperationen“ unterziehen müssen, weshalb Ärzte ihm eine erektile Dys­funk­tion bescheinigten.[73] Rolf J. wiederum litt Bild zufolge neben einer Erkrankung der Bauch­spei­chel­drüse an Diabetes und war im Jahr 2000 wegen „einer psychischen Krankheit“ zeitweise „suizidgefährdet“.[74]Bild flocht diese In­for­ma­tionen beiläufig in die Reportagen ein, schrieb ihnen auf diese Weise untergeordnete Be­deu­tung zu und rückte so die Bedürftigkeit der Sozialhilfeempfänger in den Hintergrund. Den Ar­tikel über Karlheinz F. beherrschte die Schlagzeile „Für SIE braucht er Viagra“. Illustriert war er zudem mit einem Foto, das den 54-jährigen, leicht korpulenten Sozialhilfeempfänger im kurzärmeligen Freizeithemd mit Blumenmuster neben seiner beinahe fünfzehn Jahre jün­ge­ren Frau abbildete. Das Zusammenspiel von Schlagzeile, Text und Bild schob he­donistische, sexuelle Ausschweifung suggerierende Motive auf Kosten einer medizinischen In­dikation in den Vordergrund. Im Fall des in Florida ansässigen Rolf J. erfuhren Hinweise auf seine Krankengeschichte in der sich über mehrere Wochen erstreckenden Berichterstattung so­gar eine sinnentstellende Umdeutung. Die psychische Krankheit, die laut medizinischem Gutachten aus dem Jahr 2000 einer Rückkehr von J. nach Deutschland im Wege stand, verschwand rasch aus den Artikeln. Stattdessen attestierte Bild dem Sozialhilfeempfänger binnen weniger Tage eine „Deutsch­land-Allergie“ als eigentlichen Grund für seinen Aufenthalt in Florida – eine Zu­schrei­bung, die rasch zur bekanntesten Assoziation mit Rolf J. avancierte.[75]

Neben der Unverhältnismäßigkeit der Ansprüche betonte Bild auch das Durchsetzungs­ver­mö­gen und das Selbstbewusstsein der Sozialhilfeempfänger. Sowohl Rolf J. als auch Karlheinz F. ver­­fochten ihre Ansprüche gegenüber den Sozialbehörden vor Gericht entschlossen und un­nach­giebig. Insbesondere Rolf J. entwickelte hierbei bemerkenswerte Energie und klagte sich durch alle Instanzen. „Ich führte Prozesse bis zum Bundesverwaltungsgericht, ein Riesen-Stress“, gab er zu Protokoll.[76] Beide betrachteten ihre Ansprüche als vollkommen legitim. „Ich fin­de das gerecht“, insistierte Karlheinz F. hinsichtlich seines Beharrens, „Viagra“ kostenfrei be­ziehen zu können. „Mein Leidensweg muss nicht dadurch verschlimmert werden, dass man mir die Freude an der Liebe nimmt.“[77] Rolf J. ging einen Schritt weiter und schaltete auf An­griff. Er nutze „nur eine gesetzliche Möglichkeit“, und überhaupt sollten sich die „Deutschen [...] nicht so aufregen über die paar Dollar, die ich bekomme. Da gibt es ganz andere Prob­le­me.“[78] Da die Bundesregierung angesichts angespannter öffentlicher Haushalte wiederholt auf fis­kalischer Disziplin bestand und auch von den Bürgerinnen und Bürgern finanzielle Opfer bei­spielsweise im Rahmen einer Rentenreform einforderte, mussten Aussagen, die formal­ju­ris­tische Leistungsansprüche explizit mit moralischer Legitimität gleichsetzten, im Sommer 2003 ausgesprochen provokant wirken.[79]

Somit zeichneten die Berichte über die rechtmäßigen und unrechtmäßigen Leistungsempfänger das Bild eines Sozialstaats in abstrusem Ungleichgewicht, in dem, wie seit Langem vermutet, Miss­brauch fest institutionalisiert war. Erstens eignete sich das deutsche Sozialsystem Bild zu­fol­ge zur Ausbeutung nicht nur durch kriminelle Serienbetrüger, sondern auch innerhalb des recht­lichen Rahmens. Zweitens mangelte es an der Verhältnismäßigkeit von Sozialleistungen, da diese nicht nur materielle Bedürftigkeit beseitigten, sondern weit darüber hinaus gingen und ei­ne hedonistische Lebensführung ermöglichten – sexuelles Vergnügen und urlaubsmäßige Mu­ße inklusive. Dass dieser vermeintliche Umstand, drittens, für erheblichen Unmut sorgte, war vorhersagbar. Leserbriefe an Bild klagten über den „tolle[n] Staat“, „wo die Schmarotzer mehr kriegen als die Arbeitenden, wirklich super“, und gaben folgenden Ratschlag: „Eigentlich soll­ten wir doch alle aufs Sozialamt gehen, anstatt täglich zu arbeiten.“[80] Dass weder Sozial­be­trüger noch Sozialhilfeempfänger bezahlter Erwerbstätigkeit nachgingen, aber dennoch von ma­teriellen Sorgen unbeschwert zu leben schienen, war nur Teil der Kritik an bestehenden Re­gelungen. Die Berichterstattung wies, viertens, darauf hin, dass Sozialhilfeempfänger er­heb­liche Eigeninitiative entwickeln konnten, um ihre Leistungsansprüche vor Gericht zu ver­fol­gen. Die in Bild portraitierten Personen erschienen somit keineswegs als passive Not­lei­dende. Mit ihrer ausgeprägten Fähigkeit, eigene Interessen aktiv zu verfolgen, kontrastierten sie stark mit der gängigen Vorstellung, Erwerbslose seien von Armut gezeichnete Opfer, die Hil­feleistungen an keine Bedingungen knüpften.[81] Hier lag der moralische Kern des von Bild dia­gnostizierten Skandals: Das deutsche Sozialsystem hatte angeblich eine Konstellation ge­schaf­fen, die es energischen, einfallsreichen Frauen und Männern ermöglichte, auf Kosten der All­­gemeinheit einen kom­for­tablen Lebensstil zu genießen, statt sich um finanzielle Ei­gen­stän­digkeit zu bemühen. Der Sozialstaat, so die Botschaft, unterminiere auf diese Weise die Arbeitsmoral auf breiter Front und treibe gleichzeitig die Belastungen für die hart arbeitende Bevölkerung weiter in die Höhe. Materielle Überlastungsphänomene waren dieser Lesart zufolge dem So­zial­sys­tem selbst und nicht etwa ungünstigen Rahmenbedingungen zuzuschreiben.

Es ist sicherlich nicht überraschend, dass Boulevardmedien in wirtschaftlich angespannten Zei­ten vermeintliche sozialpolitische Ungerechtigkeiten lautstark thematisierten. Gleichzeitig be­ruhte die Berichterstattung auf einem spezifischen zeitgenössischen Krisenverständnis, das sich in der Auswahl der dämonisierten Individuen niederschlug. In diesem Zusammenhang fällt zunächst auf, dass Bild, wie die geografische Herkunft der dämonisierten So­zial­hil­fe­emp­fän­ger verdeutlicht, die Problemursachen des Sozialstaats in der alten Bundesrepublik ver­orte­te. Rolf J. und Karlheinz F. stammten aus Hessen, Heinrich S. und Helmut H. aus Bayern. Die Fo­­kussierung des Boulevards auf „Sozialschmarotzer“ aus Westdeutschland passte in diesem Zu­­­sammenhang zu prominenten Stimmen, welche die Bonner Republik lautstark für die Ur­sa­chen der aktuellen sozialpolitischen Prob­le­me verantwortlich machten, obwohl sich na­türlich ein erheblicher Teil der um die Jahrtausendwende anfallenden Sozialausgaben – ein­schließlich ei­ner hohen Zahl von Sozialhilfeempfänger in den ostdeutschen Bundesländern – aus den Fol­gen der Einheit ergab.[82] Derartige Interpretationen prägten vor allem die sogenannte Stand­ort­de­batte seit der Jahrtausendwende, in der sich Unternehmensberaterinnen und Unternehmensberater aus aller Welt, Thinktanks, die Wirtschaftsweisen sowie liberale und konservative Politikerinnen und Politiker wiederholt gegen vermeintlich ex­zessive Sozialabgaben in Deutschland wandten und darauf verwiesen, dass maßgebliche Re­ge­lungen bereits vor 1989 für Unmut gesorgt hatten.[83]

Die Klagen bezogen sich vor allem auf den von Helmut Kohl gewählten Finanzierungsmodus für die sozialen Folgekosten der Wiedervereinigung. Dabei fehlte selten der Hinweis auf die Lohn­nebenkosten, deren Anteil am Bruttolohn zwischen 1990 und 1997 von 35,5 Prozent auf 42 Prozent gestiegen war und seither auf diesem hohen Niveau verharrte. Diese Zunahme re­­sultierte aus der Entscheidung, die Folgen der Arbeitslosigkeit, die in den 1990er Jahren vor al­­lem in Ost­deutsch­land grassierte, überwiegend über das Sozialversicherungssystem zu fi­nan­zieren, um Steuererhöhungen so weit wie möglich zu vermeiden.[84] Die Regierung Kohl setzte damit trotz der fundamental veränderten Rahmenbedingungen im wiedervereinigten Deutsch­land auf einen sozialpolitischen Ansatz, mit dem sie bereits in den 1980er Jahren auf die Mas­senarbeitslosigkeit in Westdeutschland reagiert und der etwa großzügige Regelungen für den Über­­gang in einen vorgezogenen Ruhestand vorgesehen hatte.[85] Die Politik vertraute, mit an­de­ren Worten, auf das bestehende westdeutsche Institutionengefüge, um die sozialen Kosten der Einheit zu bewältigen, und wahrte so über die Zäsur von 1989/90 hinaus ein hohes Maß an so­zialpolitischer Kontinuität.

Auch wenn die Polemik der Bild gegen „Sozialschmarotzer“ diese Konstellation nicht explizit nann­te, unterstützte die gegen westdeutsche Sozialhilfeempfänger gerichtete Kampagne eine Les­­art, die den seit den letzten Jahren der Ära Kohl vielbeklagten „Reformstau“ der alten Bun­des­republik anlastete. Im Gegenzug blieben andere gewichtige Kausalfaktoren für die wirt­schaft­lichen Probleme der Bundesrepublik unerwähnt. Als Beispiele ließen sich neben den eine Billion Euro übersteigenden innerdeutschen Transferleistungen als Folge der Wie­der­ver­ei­ni­gung vor al­lem der ökonomische Strukturwandel und eine neue internationale Arbeitsteilung im Zeichen der Globalisierung nennen; beides traf die ostdeutschen Bun­des­län­der mit besonderer Wucht.[86]

Darüber hinaus ist auffällig, dass die personalisierte Berichterstattung über Sozialmissbrauch auf männliche deutsche Sozialhilfeempfänger zielte. Männer, die ihren Lebensunterhalt nicht durch bezahlte Arbeit verdienen, konterkarieren sowohl das herkömmliche bürgerliche Modell fa­miliärer Arbeitsteilung, das Frauen in der häuslichen Sphäre ansiedelt, Männer aber zu Hauptverdienern in der Erwerbswelt bestimmt, als auch seit den 1960er Jahren immer gän­gigere Lebensentwürfe, in denen beide Partner einer entlohnten Erwerbstätigkeit nach­ge­hen.[87]Bild zufolge untergrub das Netz der sozialen Sicherung, wie es sich vor 1989 in West­deutsch­land entwickelt hatte, nicht nur die Arbeitsmoral, sondern leistete auch einer Erosion tradierter Geschlechterrollen Vorschub. Dadurch seien aber letztendlich die Fun­da­mente der gesellschaftlichen Ordnung bedroht.

Insbesondere die Institution Ehe schien sich unter Sozialhilfeempfängern in einem prekären Zu­stand zu befinden. Dieser Umstand ma­ni­festierte sich augenfällig im Fall von Helmut H., des­sen Klage auf die Kostenerstattung für Bor­­­dellbesuche in eklatantem Widerspruch zu seiner Rol­le als Familienvater stand. Auch Rolf J. entsprach als Scheidungssingle keineswegs der Vor­stellung eines Mustergatten, zumal seine Ex-Frau zu Protokoll gab, er habe sie während ih­rer Ehe systematisch „betrogen und be­lo­gen“.[88] Dem mit einer jüngeren Frau verheirateten Karl­heinz F. attestierte das Blatt ohne Umschweife eine eklatante Männlichkeitskrise: „Sozial­hil­fe-Empfänger Kalle kann nur noch mit der Sex-Pille.“[89] Karlheinz F. beteuerte zwar seine Zu­­neigung zu seiner Gattin, doch bedrohe Impotenz die Ehe. Sozialstaatskrise und norm­ver­let­zende oder prekäre Männlichkeit waren in der Berichterstattung des Boulevards miteinander ver­wo­ben. Die am Beispiel männlicher Leistungsempfänger thematisierte Sozialstaatskrise war Bild zufolge nichts anderes als der sinnfällige Ausdruck einer schleichenden Erosion der Ge­­schlechterordnung.

Auch wenn Arbeitsmoral, Familie und Geschlechterrollen Standardmotive sozialer Dä­mo­ni­sie­rung in westlichen Sozialstaatsdebatten darstellen, unterschieden sich die thematischen Schwer­punkte der deutschen Yellow Press um 2003 von denjenigen in anderen Ländern. So dreh­ten sich britische Sozialstaatsdiskussionen in den 1980er Jahren vor dem Hintergrund ho­her Arbeitslosigkeit um männliche scroungers oder Schnorrer, deren Genealogie als „folk devils“ bis in die Zwischenkriegszeit zurückreichte. Die Bezeichnung scrounger stigmatisierte wäh­rend Margaret Thatchers Regierungszeit Angehörige der Arbeiterschaft ohne Job, die So­zial­leistungen in Anspruch nahmen, sich angeblich unzureichend um einen festen Arbeitsplatz be­­mühten und gleichzeitig auf dem informellen Arbeitsmarkt illegale Zusatzeinnahmen als Hand­werker, Kellner oder Taxifahrer einstrichen. Erregung über diese Form des Sozialbetrugs mo­bilisierte die Öffentlichkeit seit 1985 für umfassende, auf stärkere Sozialdisziplinierung ab­zielende Re­formen des britischen Wohlfahrtstaats; Hinweise auf ehegefährdendes männliches Ver­halten sucht man in der Debatte aber vergeblich.[90] Als Indikator, dass es mit der Institution auch in Großbritannien nicht zum Besten stand, galt dagegen der Anstieg von Teenager­schwan­­gerschaften. Damit avancierte die Figur der single mother zum Symbol vermeintlich un­­gezügelter weiblicher Sexualität und darüber hinaus für die Erosion der Kernfamilie in der Ar­beiterklasse.[91]

In den USA wandten sich Sozialstaatskritiker seit den 1960er Jahren wiederholt ge­gen die vermeintliche Fehlsteuerung des Programms Aid to Families with Dependent Children (AFDC), das erwerbslose, alleinstehende Mütter materiell unterstützte. Insbesondere der stei­gen­de Prozentsatz unverheirateter afroamerikanischer Mütter unter den Empfängerinnen nähr­te unter weißen Konservativen den Verdacht, das bestehende Wohlfahrtssystem untergrabe die Ehe ebenso wie die Arbeitsethik und verfestige letztendlich soziale Probleme, da AFDC jun­gen Frauen angeblich ein mehr als komfortables Auskommen sicherte, ohne Erwerbstätigkeit ein­zufordern. Diese Vorwürfe bündelten sich in den 1970er und 1980er Jah­ren im Schlagwort welfare queen, das schwarze Frauen als auf Sozialleistungen spe­ku­lie­rende Individuen charakterisierte und seine Personifikation in einer gewissen „Linda Taylor“ fand, einer Se­rienbetrügerin aus Chicago, die sich mit Hilfe von 40 Sozialversicherungsnummern Leis­tun­gen in großem Stil erschlichen hatte.[92] Gleichzeitig beschuldigten amerikanische Reformkräfte den Sozialstaat, durch die Alimentierung alleinstehender Mütter afroamerikanische Männer aus ihren Fa­mi­lien­pflich­ten zu entlassen und nicht mit ausreichendem Nachdruck auf Unterhaltszahlungen sei­tens leiblicher Väter zu bestehen. Vor allem aber identifizierte die öffentliche Debatte afro­ame­rikanische Männer als Hauptverantwortliche für Drogen- oder Gewaltkriminalität und schrieb diesen eine bedrohliche Form krimineller Hypermaskulinität zu, deren Disziplinierung den Aufbau eines punitiven Justizsystems erfordere.[93] Auf die afroamerikanische Minderheit fix­iert, kreisten Dämonisierungen in den USA um die Figuren des hypermaskulinen Kri­mi­nel­len und der erwerbslosen, alleinstehenden Mutter, deren Lebensführung mit einem kon­ven­tio­nel­len Verständnis bürgerlicher Geschlechterrollen unvereinbar war.

Diese Schlaglichter bringen die kulturellen Konturen des deutschen „Sozialschmarotzers“ deut­lich zum Vorschein. Zunächst ist zu unterstreichen, dass im Gegensatz zu den USA ethni­sche Minderheiten unter den deutschen sozialen Dämonen – ungeachtet der ausgeprägten Fä­hig­keit des Boulevards zu fremdenfeindlichen Reflexen – um 2003 keine Rolle spielten. Ebenso wenig identifizierte Bild die Probleme des Sozialstaats mit weiblichen Leis­tungs­emp­fän­gern, die im angloamerikanischen Kontext eine besonders prominente Rolle spielten. Viel­mehr gruppierte sich in der Bundesrepublik die Sozialstaatskritik um männliche Sozialhilfe­emp­fänger, die nicht dem Rollenmodell des arbeitenden Ehegatten entsprachen und somit do­mi­nante Geschlechterkonventionen herausforderten. Statt die Lösung sozialer Probleme vo­ran­­zutreiben, unterminiere, so der von Bild indirekt erhobene Vorwurf, das System der sozialen Si­cherung durch die Schwächung der Ehe die Fundamente der Geschlechterordnung. Vor allem aber schädige die Alimentierung männlicher Erwerbsloser das Arbeitsethos, wobei die Dä­mo­ni­sierung westdeutscher Leistungsempfänger den öffentlichen Blick von sozialen Folgekosten der Einheit, wirtschaftlichem Strukturwandel sowie Globalisierung weglenkte und stattdessen den Akzent auf überzogenes Anspruchsdenken seitens der Leistungsempfänger legte. Vor die­sem Hintergrund verfestigte der Umstand, dass Sozialhilfebezieher materielle Ansprüche of­fen­siv formulierten und aktiv gerichtlich verfolgten, den Eindruck von der Dysfunktionalität des sozialen Netzes. Dämonisierende Berichte über deviante Sozialhilfeempfänger schürten den Verdacht, bestehende Regelungen ermöglichten ein arbeitsfreies Leben in komfortablem Mü­ßiggang.

Welches Ausmaß dieser vermeintliche Missstand erreicht hatte, demonstrierte laut Bild-Zei­tung niemand besser als der in Florida ansässige Rolf J. Vor dem Hintergrund der seit dem Sommer 2002 unter dem Stichwort „Fördern und Fordern“ wogenden Debatte über die Vorschläge der Hartz-Kommission zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, nahm Gerhard Schrö­­der die Berichterstattung über „Florida-Rolf“ zum Anlass, Stärke zu de­monstrieren.[94] Knapp zwei Wochen nach der ersten Schlagzeile mischte sich der Bundeskanzler ein und versprach, angesichts dieses „‚wirklich schlimme[n]‘ Beispiel[s] für den Miss­brauch von Sozialleistungen“ Maßnahmen zu ergreifen, die „das Vertrauen in die Hand­lungs­fä­higkeit von Staat und in die Gerechtigkeit sozialstaatlicher Lösungen nicht zerstören“.[95] Unmittelbar nach der Rückkehr aus der Sommerpause beschloss das Kabinett am 2. September 2003 einen Gesetzesentwurf, der, wie Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) in der Bild-Zeitung zitiert wurde, mit der Ab­schaffung des Paragrafen 119 „das Aus für Sozialhilfe unter Palmen“ besiegelte.[96] Dass es sich hierbei ganz im Sinne Schröders um einen symbolpolitischen Akt im Vorgriff auf die anstehenden Sozialreformen handelte, traf auf Kritik nicht nur in der taz, sondern auch in der Welt, die sich vor allem gegen die mit diesem Schritt einhergehende Erosion der Rechte der „Nachkomme[n] verfolgter Juden, also der Zielgruppe[...], auf die das Gesetz einst zugeschnitten war“, wandte.[97]

Diesen Vorwurf versuchte die Bundesregierung mit dem Argument zu ent­kräf­ten, dass sich deut­sche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mittlerweile nicht mehr in „un­ab­wendbaren Not­la­gen“ im Ausland als Folge „politischer oder rassischer Verfolgung“ wie­der­fänden und somit ei­ne „vergleichbare[...] Situation“ nicht mehr bestehe, die in der Nach­kriegszeit zur ma­te­riel­len Unterstützung von aus dem Dritten Reich geflüchteten deutschen Jüdinnen und Juden ge­führt habe.[98] Dass ausgerechnet diese Gruppe kaum zu den Nutznießern der Aus­lands­so­zial­hil­fe gezählt hatte, spielte für die Regierungsstellen angesichts des medialen Er­­re­gungs­zu­stands im Sommer 2003 keine Rolle. Vielmehr ging es darum, ein po­litisches Zeichen im Geist der bevorstehenden Sozialreformen zu setzen. Das entsprach der Grund­über­zeu­gung, die Schrö­der bereits 2001 gegenüber der Bild-Zeitung kundgetan hatte: „Wer ar­bei­ten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Ge­sellschaft! Das bedeutet konkret: Wer arbeitsfähig ist, aber einen zumutbaren Job ab­lehnt, dem kann die Unterstützung gekürzt werden. Das ist richtig so.“[99] Oberflächlich betrachtet schien dieser Grundsatz auf niemanden besser zuzutreffen als auf Rolf J.

V. Schluss

Die bis 2003 bestehende Auslandssozialhilfe zeugt von einem im internationalen Kontext au­ßer­gewöhnlichen, wenn auch selektiven Verantwortungsgefühl seitens der Bundesrepublik für das materielle Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger im Ausland. Vor 1945 als Auslandsfürsorge mit dem Ziel entwickelt, das deutsche Sozialsystem vor Zusatzbelastungen durch verarmte Rück­kehrer zu schützen sowie nationale Minderheiten im Ausland zu stärken, nahm die junge Re­publik nach dem Zweiten Weltkrieg unter sorgfältiger Vermeidung deutschnationaler Unter­tö­ne die überkommene Praxis wieder auf. Damit reagierte die Regierung Adenauer auf die Not­­lage zahlreicher Deutscher, die sich als Folge von Kriegswirren, Vertreibungen und Kriegs­ge­fangenschaft ohne Aussicht auf eine gesicherte Existenz außerhalb des Bundesgebiets wie­der­fanden. Auch die katastrophale materielle Lage vieler jüdischer Geflüchteter, die einst die deut­­sche Staatsbürgerschaft besessen und im europäischen Ausland den Holocaust überlebt hat­ten, zählte zu den Faktoren, die eine Wiedereinführung der Auslandsfürsorge nahelegten.

Ab 1952 formell institutionalisiert und 1961 nahtlos in das Bundessozialhilfegesetz überführt, rich­tete sich die Auslandssozialhilfe im Lauf der Jahre an einen heterogenen Personenkreis. Zwar nahm sich die Bundesrepublik damit vielgestaltiger Problemlagen an, blieb im Rahmen der Auslandssozialhilfe jedoch deutlich hinter ihrer moralischen Pflicht zur Wieder­gut­ma­chung von NS-Unrecht zurück. Dies lag vor allem daran, dass Holocaust-Überlebende, un­ge­ach­tet öffentlicher Kritik an ihrer Notlage, nur sehr begrenzt Zugang zu Fürsorgeleistungen er­hielten, da diese Form der Unterstützung deutschen Staatsangehörigen vorbehalten war. Nach einer Gesetzesänderung, um sogenannten Sozialhilfetourismus zu unterbinden, war Aus­lands­­sozialhilfe ab 1993 nur noch einem kleinen Empfängerkreis vorbehalten und machte ei­nen verschwindend kleinen Haushaltsposten aus.

Trotzdem wurde die Auslandssozialhilfe 2003 zum Verstärker bundesweiter Empörung über das System sozialer Sicherung. Dass Nachrichten über einen So­zialhilfeempfänger, der in Mia­mi in Strandnähe lebte, vor dem Hintergrund von Wirtschaftskrise, Rekordarbeitslosigkeit und Leis­tungskürzungen polarisierend wirken mussten, war Teil des Kalküls der Bild-Zeitung. Ihre Kritik zielte zum einen auf den Leistungskatalog für Sozialhilfeempfänger, der weit über die Be­­kämpfung sozialer Notlagen hinauszugehen schien. Zum anderen prangerte das Blatt aber grund­sätzliche Funktionsschwächen des Sozialstaats an, die sich darin zeigten, dass So­zial­hil­fe­empfänger zwar angeblich nicht arbeitsfähig waren, wohl aber ihre rechtlichen Belange mit Nach­druck verfolgen konnten. Mit ihrer Eigeninitiative sowie ihrer Anspruchshaltung kon­ter­ka­rierten die vom Boulevard beschworenen sozialen Dämonen die Vorstellung von Not und Hilf­losigkeit, zumal eine Zeitung wie Bild die Ursachen individueller Bedrängnis systematisch in den Hintergrund rückte. Vielmehr signalisierte Durchsetzungsvermögen in den Augen der Re­daktion eine manifeste Fähigkeit zu selbständigem Handeln – und somit auch zu geregelter Ar­beit. „Florida-Rolf“ und „Viagra-Kalle“ eigneten sich somit bestens zur Dämonisierung als un­moralische „Sozialschmarotzer“, die ebenso wie Kriminelle vom Kaliber „Heinrichs des Gie­rigen“ eine untragbare Belastung für den Sozialhaushalt darstellten. Der Sozialstaat, so der von Bild erhobene Vorwurf, untergrabe mit seiner Großzügigkeit die Arbeitsmoral und ampli­fi­ziere auf diese Weise soziale Probleme, statt sie zu lösen.

Die auffällige Fokussierung sozialer Dämonisierung auf erwerbslose Männer vermittelte dar­über hinaus den Eindruck, der Sozialstaat leiste einer Erosion traditioneller Männ­lich­keits­nor­men Vorschub, und zwar nicht nur, weil Sozialhilfeempfänger ihrer Pflicht zur Versorgung von Frau und Kind nicht nachkamen, sondern auch weil ihre Familienverhältnisse dubios schienen. Egal ob es sich um den Bordellbesucher „Puff-Helmut“, den Scheidungssingle „Florida-Rolf“ oder den mit Potenzproblemen kämp­fen­den „Viagra-Kalle“ handelte, zeichnete das Blatt die Ehe als Institution, die sich in Sozialhilfe­emp­fängerkreisen in prekärem Zustand befand. Durch die Förderung einer Lebensführung, die mit dem traditionellen Familienmodell unvereinbar war, untergrub der Sozialstaat, so der Subtext, das Fundament der Gesellschaft und stellte eine schleichende Bedrohung für die Ge­schlech­terordnung dar.

Bild generierte also eine zweidimensionale „moral panic“, in deren Zentrum der Unmut über die Arbeitsethik und die Ehemoral männlicher Sozialhilfeempfänger stand. Dass Bild männ­li­che Erwerbslose in den Mittelpunkt rückte, verweist auf die stillschweigende Annahme, dass Maß­nahmen zur Krisenbewältigung auf die Remaskulinisierung von Leistungsempfängern durch geregelte Lohnarbeit abzielen müssten, um damit auch eine Stabilisierung der Ehe als ge­sellschaftlicher Institution zu bewirken. Diese indirekte Forderung stand in Einklang mit dem Verdacht gegen die zweifelhafte Arbeitsmoral vieler Leistungsempfänger, den kein ge­rin­gerer als Kanzler Schröder medienwirksam geäußert hatte. Es war nur konsequent, dass die Rot-Grüne Koalition die Auslandssozialhilfe kurz nach Beginn der Bild-Kampagne ab­schaff­te.

Mit dieser symbolischen Maßnahme war der Ton gesetzt für die bereits geplanten und 2004 ver­abschiedeten Hartz-Gesetze. Die durch die Dämonisierung von „Florida-Rolf“ verstärkte me­diale Aufregung bereitete somit den Boden für Sozialreformen, die auf eine vielfach geforderte Aktivierung Erwerbsloser abzielten und diesen die Pflicht auferlegten, verstärkt nach Arbeit zu suchen und zumutbare Stellenangebote anzunehmen.

Die Bundesregierung erblickte in diesem Gesetzeswerk unter den Schlagworten Fördern und Fordern nicht nur eine Maß­nah­me zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, sondern auch zur Stärkung individueller Arbeits­mo­ral.[100] In welchem Umfang die Hartz-Reformen tatsächlich als Erfolg gewertet werden können, ist hoch umstritten. Einerseits sind seit 2005 höhere Er­werbs- und deutlich niedrigere Arbeitslosenquoten sowie geringere Sozialausgaben zu ver­zeich­nen. Andererseits expandierte der Niedriglohnsektor, der für verschärfte Einkom­mens­un­ter­schiede und unsichere Beschäftigungsverhältnisse verantwortlich ist. Darüber hinaus erfahren viele Empfänger von Sozialleistungen ihren Alltag als ausgesprochen prekär, da sie sich unter erheblich stärkerer bürokratischer Überwachung befinden als vor den Hartz-Re­for­men.[101]

Für die Hauptperson des Mediensturms vom Sommer 2003 hatten die Gesetzesänderungen auf jeden Fall einschneidende Folgen. Nachdem sein Anspruch auf Auslandssozialhilfe zum 1. April 2004 erloschen war, kehrte Rolf J. vier Wochen später in die Bundesrepublik zurück.[102]Bild feierte seine Ankunft mit einer triumphierenden Schlagzeile: „Florida-Rolf wieder da!“[103] Zehn Jahre nachdem er die Aufmerksamkeit der Bild-Zeitung auf sich gezogen hatte, zeigte sich Rolf J. im Sommer 2013, trotz ursprünglichen Misstrauens, „nach mehreren längeren Te­le­fo­naten“ zu einem Treffen mit der Berliner Zeitung bereit.[104] Sehr um ein ausgewogenes Por­trait bemüht, unterstrich der Journalist Rolf J.s Bestreben, seiner Existenz als Empfänger von Grund­sicherung positive Seiten abzugewinnen. J. vertreibe „sich die langen Tage mit aus­gedehnten Spaziergängen, [...] mit Einkäufen und mit dem Kochen, einer spät erwachten Leidenschaft“. Der Rückkehrer aus Miami gab an, er habe gelernt, „genügsamer zu werden“. Allerdings fehlte es in der ausführlichen Reportage nicht an deprimierenden Details. Rolf J. wohn­te nun in einer kleinen, „zweckmäßig eingerichtete[n]“ Hinterhofwohnung in Berlin. Er litt weiter­hin an den „Schmerzattacken seiner Bauchspeicheldrüse“, die ihn bereits Jahre zuvor hat­ten ar­beitsunfähig werden lassen. Da er „einen neuen Freundeskreis [...] seit seiner Rückkehr [...] nicht mehr aufgebaut“ habe, sei seine Wohnung, in der „[d]as Küchenradio [...] ebenso permanent zu laufen [schien] wie der gerade auf tonlos gestellte Fernseher“, von „allgegenwärtige[m] Al­lein­sein“ geprägt. Vor allem aber sei sein „Kampfeswille [...] Resignation und Milde gewichen“, wo­bei „man spürt, dass sich die erzwungene Rückkehr [...] nach all den Jahren noch wie eine Nie­der­lage anfühlt“. Diesen Sozialhilfeempfänger hatte die Agenda 2010 keineswegs aktiviert oder remaskulinisiert. Sie hatte ihn vielmehr so nachhaltig diszipliniert, dass er nun dem kon­ven­tionellen Bild eines hilfsbedürftigen, passiven Leistungsempfängers deutlich besser ent­sprach als zur Zeit der Boulevardkampagne zehn Jahre zuvor.

Published Online: 2022-04-01
Published in Print: 2022-03-08

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 16.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2022-0020/html?lang=de
Button zum nach oben scrollen