Abstract
Während der Debatte um die Agenda 2010 erhob die Bild-Zeitung den in Florida ansässigen Sozialhilfeempfänger Rolf J. zum Symbol sozialstaatlicher Dysfunktionalität, um dem Ruf nach Reformen Nachdruck zu verleihen. Nach einer historischen Rekonstruktion der Auslandssozialhilfe als deutscher sozialstaatlicher Sonderpraxis analysiert Bernhard Rieger die von Bild initiierte Kampagne gegen „Florida-Rolf“ und andere „Sozialschmarotzer“. Der Fokus auf erwerbslose, häufig in unkonventionellen Familienverhältnissen lebende Männer verstärkte den Eindruck, bestehende Sozialgesetze ließen konventionelle Männlichkeitsnormen erodieren, verstärkten eine bedrohliche Krise der Arbeitsgesellschaft und bedürften zur Stärkung der Arbeitsethik einer grundsätzlichen Reform.
Abstract
During the debate on Agenda 2010 the Bild newspaper turned social assistance recipient and Florida resident Rolf J. into a symbol of welfare state dysfunction in order to emphasise calls for reforms. After a historical reconstruction of social assistance paid abroad as a special German welfare state practice, Bernhard Rieger analyses the campaign initiated by Bild against “Florida-Rolf” and other “social spongers”. The focus on unemployed men who often lived in unconventional family constellations reinforced the impression that existing welfare legislation eroded conventional norms of masculinity, intensified an ominous crisis of working society and required fundamental reforms in order to strengthen work ethics.
Vorspann
Im Sommer 2003 beherrschte eine Debatte die Schlagzeilen, die Redakteure der Bild-Zeitung mit einer Kampagne gegen den Missbrauch von Sozialleistungen losgetreten hatten. „Florida-Rolf“, ein in Miami lebender Sozialhilfeempfänger, stand dabei im Rampenlicht einer ebenso unsachlichen wie tendenziösen, dafür aber umso aggressiveren Berichterstattung. Bernhard Rieger zeichnet auf der Basis bislang kaum beachteter Quellen aus dem Auswärtigen Amt zunächst die Ursprünge der Auslandssozialhilfe und ihre Entwicklung in der Bundesrepublik nach. In einem zweiten Schritt dekonstruiert er die Kampagne der Bild-Zeitung gegen vermeintliche soziale Dämonen und ordnet die scharfe Sozialstaatskritik in einen breiten Kontext ein – von den Folgen der Vereinigungskrise nach 1990 über die Pluralisierung von Lebensstilen und Familienformen in der Berliner Republik bis zu den Hartz-Reformen der Regierung Schröder.
I. Im Sommerloch
„Sind die völlig bescheuert? Sozialamt zahlt Wohnung am Strand in Florida!“ Mit dieser Schlagzeile verlieh die Bild-Zeitung am 16. August 2003 ihrer Empörung über das deutsche Sozialhilfesystem Ausdruck, das einem 64-jährigen Deutschen in Miami Beach – „Luft 28, Wasser 26 Grad, samtweiche Luft, nie Winter“ – monatlich Mietkosten in Höhe von 875 Dollar sowie einen Unterhaltszuschuss von 730 Dollar bezahlte, was zum damaligen Umrechnungskurs 1.425 Euro entsprach. Rolf J., so erfuhr die Leserschaft, war 1979 nach Florida umgezogen und hatte nach einer anfangs erfolgreichen Karriere im Finanzbereich sein Vermögen wieder verloren. Durch eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse seit 1985 als erwerbsunfähig eingestuft, wurde J. von den deutschen Behörden als „besonderer Notfall“ mit festem Wohnsitz im Ausland geführt, weshalb ihm nach Paragraf 119 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) Sozialhilfe außerhalb der Bundesrepublik zustand. Ein psychiatrisches Gutachten kam laut Bild im Jahr 2000 zu dem Schluss, Rolf J. sei selbstmordgefährdet und eine Rückkehr nach Deutschland nicht zumutbar, da er in diesem Fall lang bestehende soziale Bindungen verlöre.[1]
Weitere Recherchen von Bild schürten den Unmut. Sie förderten beispielsweise zutage, dass Rolf J. zwar nicht in Deutschland wohnhaft war, sich jedoch dort regelmäßig medizinisch behandeln ließ; dabei seien Krankenhausrechnungen in Höhe von 89.000 Euro angefallen, die vom Sozialamt beglichen werden mussten.[2] J. selbst fachte die öffentliche Entrüstung zusätzlich an, indem er sich – freundlich-entspannt in die Kamera lächelnd – am heimischen Herd in T-Shirt, karierten Shorts und Turnschuhen fotografieren ließ und so keineswegs dem typischen Erscheinungsbild eines verarmten, am Existenzminimum darbenden Sozialhilfeempfängers entsprach. „Er lacht uns alle aus!“, titelte Bild am 18. August.[3] Der flugs als „Florida-Rolf“ titulierte Sozialhilfeempfänger schien nicht nur dem zuständigen Sachbearbeiter des Landessozialamts Hildesheim auf die Nerven zu fallen, der, als aktenschleppender Angestellter portraitiert, zwar „gern in die Sonne“ fahre, sich aber das „teure Florida [...] nicht leisten“ könne.[4] Auch zahlreiche Medien zeigten sich pikiert. Die Süddeutsche Zeitung etwa sah in Rolf J. in Anspielung auf nukleare Katastrophen einen „Sozial-Störfall“, während sich Eckard Fuhr in der Welt auf die Suche nach dem „Sinn des Skandals“ begab.[5]
Nichts brachte die Öffentlichkeit im Sommer 2003 so sehr in Wallung wie der Umstand, dass deutsche Sozialbehörden einem augenscheinlich rüstigen Bundesbürger ein dauerhaftes Auskommen an einem ausgesprochen attraktiven Auslandsort sicherten. Ungeachtet der von Bild geschürten Empörung stellte jedoch kein Medienvertreter die Frage, seit wann und weshalb die Bundesrepublik mittellosen Deutschen im Ausland überhaupt Sozialhilfe gewährte. Daher ging die Tatsache unter, dass diese Praxis im internationalen Vergleich einzigartig war und eine lange Vorgeschichte besaß. Im Gegensatz zu anderen Staaten, die ihre Leistungen für im Ausland in materielle Notlagen geratene Bürger auf konsularische Unterstützung sowie Finanzhilfen zur Rückreise ins Heimatland beschränkten, griff die Bundesrepublik im Ausland ansässigen und bedürftigen Staatsbürgern dauerhaft finanziell unter die Arme, ohne von ihnen eine Rückkehr nach Deutschland zu erwarten. Hierbei handelte es sich, wie zu zeigen sein wird, keineswegs um ein Novum bundesdeutscher Sozialpolitik, sondern um eine Tradition, die trotz ihrer ins Wilhelminische Kaiserreich zurückreichenden Ursprünge jahrzehntelang ein Schattendasein jenseits des öffentlichen Interesses führte.
Dass die Auslandssozialhilfe im Sommer 2003 plötzlich im Rampenlicht stand, hatte nichts mit deren Gewicht im Sozialbudget zu tun. Wie die tageszeitung (taz) rasch ermittelte, lebten lediglich 0,025 Prozent aller Sozialhilfeempfänger im Ausland.[6] Auslandssozialhilfe war also ein vernachlässigbarer Budgetposten, doch das tat nichts zur Sache. Die Polemik um die Zahlungen ins Ausland war Teil der leidenschaftlichen Sozialstaatsdebatte jener Jahre, die den gesellschaftspolitischen Resonanzboden für das Getöse um „Florida-Rolf“ bildete. Bei der Aufregung um den deutschen Sozialhilfeempfänger in Florida handelte es sich daher um mehr als einen künstlichen Sturm im medialen Sommerloch. „Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert“, hatte Gerhard Schröder in einer mit Tony Blair verfassten programmatischen Schrift zum sogenannten Dritten Weg 1999 erklärt, „muß reformiert werden“.[7]
Um steigenden Arbeitslosenzahlen, Haushaltsdefiziten, anämischem Wirtschaftswachstum und ausbleibenden Einkommenszuwächsen entgegenzuwirken, diskutierte die Bundesregierung seit Sommerbeginn 2003 ein Reformpaket, das stark von den Vorschlägen der im Frühjahr 2002 eingesetzten Hartz-Kommission geprägt war.[8] Dass es möglich war, im Urlaubsparadies Florida deutsche Sozialleistungen zu beziehen, erhärtete den verbreiteten Verdacht, das Sozialsystem verschwende Finanzmittel und erhöhe die Abgabenlast, die in zeitgenössischen Debatten immer wieder als unzumutbare Bürde für Wirtschaft und Arbeitsmarkt bezeichnet wurde.[9] Rolf J. verkörperte die vermeintliche Schieflage eines Sozialsystems, das unzureichende Anreize zur Aufnahme geregelter Arbeit biete, öffentlich alimentierten Müßiggang ermögliche und so Arbeitslosigkeit und Sozialkosten gleichermaßen in die Höhe treibe.
II. Die Geschichte des Sozialstaats in der Erweiterung
Als Personifikation der in den Medien wiederholt angeprangerten Dysfunktionalität des deutschen Sozialstaats fungierte „Florida-Rolf“ im zeitgenössischen Diskurs, angeführt von der Bild-Zeitung, als Vertreter derjenigen kulturellen Figuren, die der britische Soziologe Stanley Cohen bereits zu Beginn der 1970er Jahre als „folk devils“ bezeichnet hat[10] – ein Begriff, der sich sinngemäß als soziale Dämonen übersetzen lässt. Soziale Dämonen stehen im Zentrum panikartiger, medial amplifizierter Moraldebatten („moral panics“), die normverletzendes Verhalten („deviance“) thematisieren und lautstarken Forderungen nach einer gerechteren gesellschaftlichen Ordnung Vorschub leisten. Soziale Dämonisierungsstrategien fungieren häufig als integraler Bestandteil von Sozialstaatsdiskussionen und spitzen sozialpolitische Problemlagen auf Einzelpersonen und deren Verhalten zu. Als Personifikationen individuellen Fehlverhaltens dienen soziale Dämonen häufig der polemischen Komplexitätsreduktion und der unspezifischen Artikulation von Unzufriedenheit mit sozialpolitischen Entwicklungen. Darüber hinaus appelliert die Empörung über diese Figuren an den vermeintlich gesunden Menschenverstand, klagt konventionelle gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen ein und verspricht einfache Lösungen in verfahrenen Situationen. Daher sind die medialen Schöpferinnen und Schöpfer von sozialen Dämonen bemüht, politischen Druck aufzubauen und einen sozialpolitischen Kurswechsel zu forcieren, ohne jedoch notwendigerweise mit konkreten Reformvorschlägen aufzuwarten. Vielmehr verleihen „moral panics“ indirekt einer Grunderwartung Ausdruck, an der sich politische Maßnahmen zu orientieren hätten.[11]
In den Dämonisierungsprozessen, welche die Sozialstaatsdebatten kurz nach der Jahrtausendwende kennzeichneten, spielte die Bild eine zentrale Rolle. Auch wenn das Springer-Blatt in diesem Fall weniger seine Fähigkeit zum Agenda-Setting unter Beweis stellte, sondern eher an eine laufende Auseinandersetzung andockte, kam der Zeitung eine herausragende Bedeutung zu.[12] Um angebliche Missstände im Sozialsystem anzuprangern, beobachtete die Redaktion die bundesdeutsche Sozialgerichtsbarkeit und machte in richterlichen Entscheidungen enthaltene Kerninformationen zur Grundlage skandalisierender Artikel. „Florida-Rolf“ war zwar das berüchtigtste, aber keineswegs das einzige Exempel, an dem Bild den vermeintlich weitverbreiteten Sozialmissbrauch demonstrierte. Ganz im Gegensatz zu den Portraitierten, die sich erheblicher öffentlicher Stigmatisierung ausgesetzt sahen, ging das Blatt selbst kein Risiko ein. Da Gerichtsurteile in der Bundesrepublik öffentlich zugänglich sind, schloss die Vorgehensweise der Zeitung potenzielle Klagen wegen Einschränkung von Persönlichkeitsrechten beziehungsweise Eingriffen in das Sozialgeheimnis aus, zumal sich die Portraitierten in einigen Fällen der Redaktion bereitwillig zu Interviews zur Verfügung stellten und somit Einverständniserklärungen unterzeichnet hatten. Niemand war sich der politischen Sprengkraft der von Bild erhobenen Vorwürfe stärker bewusst als Bundeskanzler Schröder, der kurz nach der Jahrtausendwende flapsig erklärt hatte, er benötige zum Regieren neben der „Glotze“ nur Bild und Bild am Sonntag.[13] Das hinderte das Springer-Blatt freilich nicht daran, den Sozialdemokraten scharf zu kritisieren, nachdem Kai Diekmann 2001 die Chefredaktion übernommen hatte.
Soziale Dämonen, wie Bild sie in Szene setzte, können ausgesprochen vielgestaltig sein. So haben Sozialstaatsdebatten in der westlichen Welt beispielsweise alleinerziehende Mütter, junge Ausländer oder auch männliche Arbeitslose als Problemgruppen identifiziert. Auf wen oder was Dämonisierungsstrategien in Debatten über den Wohlfahrtsstaat zielen, ist kontingent, hängt vom jeweiligen Zeitpunkt und nationalen Kontext ab. Dies wirft die Frage auf, weshalb in der Debatte um die Agenda 2010 ausgerechnet der deutsche Sozialhilfeempfänger männlichen Geschlechts zur sozialen Unperson stilisiert wurde. Um die semantischen Konturen der sozialen Dämonisierung kurz nach der Jahrtausendwende zu schärfen, soll neben „Florida-Rolf“ eine Reihe weiterer Unterstützungsempfänger vorgestellt werden, die der Boulevard öffentlichkeitswirksam als „Sozialschmarotzer“ denunzierte.[14] Auf welche vermeintliche Problemlage diese Galerie sozialer Dämonen konkret verwies, erschließt eine Analyse im Sinne eines close reading, wobei fokussierte Vergleiche mit „folk devils“ in Großbritannien und den USA die nationalspezifischen Charakteristika deutscher Skandalisierungsstrategien sichtbar machen.
Dieser kulturhistorische Ansatz bedarf allerdings einer Erweiterung, da ein für die Ikonografie des bekanntesten „Sozialschmarotzers“ konstitutives Element in den deutschen Medien bestenfalls am Rande behandelt wurde. Zwar symbolisierte in den Augen der Bild-Redaktion nichts so sehr die sozialstaatliche Ressourcenverschwendung wie der Ort, an dem Rolf J. lebte. Die Frage aber, weshalb die Bundesrepublik mittellose Deutsche im Ausland überhaupt dauerhaft finanziell unterstützte, warf praktisch niemand auf. Zur Klärung des Sachverhalts ist eine historische Tiefenbohrung im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts sowie in der sozialjuristischen Fachliteratur notwendig, welche die bis ins Kaiserreich zurückreichenden Wurzeln der Auslandssozialhilfe zutage fördert und erklärt, warum auch die junge Bundesrepublik nach 1949 die materielle Unterstützung bedürftiger Deutscher im Ausland in ihr politisches Repertoire aufnahm. Dieser Tiefenbohrung folgt eine kulturhistorisch ausgerichtete Untersuchung der Dämonisierungsstrategien der Jahre 2003/04, wobei es gilt, den Auslandssozialhilfeempfänger „Florida-Rolf“ im Umfeld weiterer sozialer Unpersonen zu verorten. Die beiden Teile des vorliegenden Aufsatzes bedienen sich unterschiedlicher Methoden und widmen sich normalerweise getrennt behandelten Forschungskontexten, sind jedoch durch die Figur „Florida-Rolf“ miteinander verbunden. Der hier verfolgte Ansatz zur Analyse sozialer Dämonisierung fördert dabei ausgesprochen disparate, konventionelle politische Zäsuren überwölbende und nicht zuletzt transnationale Stränge der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zutage.
Der Aufstieg der weitgehend unbekannten, mehr als 100 Jahre bestehenden Auslandssozialhilfe zu einem erstrangigen Politikum im Sommer 2003 verdeutlicht, wie unter instabilen, kontingenten Bedingungen vermeintlich marginale, auf den ersten Blick abseitige Phänomene politische Relevanz gewinnen.[15] Bislang stehen die von Fachleuten geprägten, häufig neoliberalen Lösungskonzepte sowie die wirtschaftspolitischen Handlungsoptionen im Zentrum des Forschungsinteresses zu den rot-grünen Sozialreformen.[16] Der hier verfolgte Zugriff richtet sein Hauptaugenmerk hingegen auf den massenmedial geprägten kulturellen Kontext, dessen populäre Deutungsmuster erkennen lassen, welche Problemlagen Zeitgenossen als neuralgisch betrachteten und welche Spielräume für politische Lösungen des vielbeschworenen Sozialstaatsproblems bestanden. Somit redet dieser Beitrag auch einer kulturgeschichtlichen Erweiterung der Sozialstaatsgeschichte das Wort, um den Deutungsmustern sowie der Eigendynamik des medialen Umfelds von politischen Debatten und Entscheidungen größere Bedeutung einzuräumen. Dass es sich hierbei tatsächlich um eine Erweiterung und keineswegs um eine Marginalisierung politikhistorischer Forschungsansätze handelt, zeigt der prominente Part, den die Geschichte der Auslandssozialhilfe im vorliegenden Aufsatz einnimmt. Somit bietet diese Untersuchung ein Beispiel dafür, wie sich kultur- und politikgeschichtliche Ansätze in der Forschung zum Sozialstaat fruchtbar miteinander verbinden lassen.
III. Die Auslandssozialhilfe als deutsche Sonderpraxis
Angesichts des Umstands, dass Bild Rolf J. im sonnigen Miami mit seinem richterlich verbrieften Anspruch auf Sozialhilfe als Paradebeispiel sozialstaatlicher Fehlsteuerung präsentierte, war das Desinteresse der Medien hinsichtlich der Ursprünge und Entwicklung der Auslandssozialhilfe ebenso bemerkenswert wie ihr Unwissen. Dass die Gewährung von Sozialhilfe über Landesgrenzen hinweg im internationalen Vergleich völlig aus dem Rahmen fiel, entging der Öffentlichkeit im Sommer 2003; schließlich war die Bundesrepublik der einzige Sozialstaat, der notleidenden Bürgerinnen und Bürgern außerhalb des eigenen Staatsgebiets dauerhaft Unterstützung zukommen ließ. Der Bild-Zeitung war die Geschichte der Auslandssozialhilfe keine Zeile wert, und die taz war auf dem falschen Dampfer, als sie deren Ursprünge in der Nachkriegszeit vermutete. Es sei darum gegangen, Emigrantinnen und Emigranten materiell unter die Arme zu greifen, „die vom Nazi-Regime verfolgt, ausgewandert und in Not geraten waren oder nicht zurückkehren wollten“.[17] Die Süddeutsche Zeitung wiederum gab an, die Auslandssozialhilfe habe mit einem Fürsorgeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Schweiz Anfang der 1950er Jahre begonnen, das es ehemaligen Kriegsgefangenen ermöglichen sollte, in „Schweizer Luftkurorten wieder zu Kräften zu kommen“.[18] Doch auch das Münchner Blatt lag falsch, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, die sich insbesondere auf Akten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts stützen.
Durch die Gewährung von Sozialhilfe an dauerhaft im Ausland wohnende Deutsche schrieb sich die Bundesrepublik eine „grenzüberschreitende Kompetenz“ zu und durchbrach damit das für sozialpolitische Sachverhalte maßgebliche Prinzip der „Territorialität“.[19] Die rechtliche Grundlage hierfür lieferte Paragraf 119 des Bundessozialhilfegesetzes, der besagte, dass „Deutschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben und im Ausland der Hilfe bedürfen, [...] Lebensunterhalt, Krankenhilfe und Hilfe für werdende Mütter und Wöchnerinnen gewährt werden“ soll.[20] Dieser Paragraf war von Anfang an Bestandteil des 1961 verabschiedeten BSHG, das gemeinhin als sozialpolitischer Meilenstein gilt und eine Vielzahl unübersichtlicher, teils in die Weimarer Republik zurückreichender Fürsorgeleistungen neu ordnete. Als Hauptvorgabe versprach das BSHG „Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen“ auf einem Niveau, das über die bloße Existenzsicherung hinaus der in Artikel 1 des Grundgesetzes verbürgten „Würde des Menschen“ zu entsprechen hatte. Sozialhilfe zielte darauf, wie ein Gesetzeskommentar aus den frühen 1960er Jahren unterstrich, Hilfsbedürftige in die Lage zu versetzen, „sich aus eigener Kraft in das Leben der Gemeinschaft einzugliedern“.[21] Die Gewährung von Sozialhilfe im Ausland stand damit von Beginn an in einem Spannungsverhältnis zur Grundintention des Gesetzes; schließlich war es Bundesbürgerinnen und -bürgern außerhalb der deutschen Grenzen unmöglich, sich – wie vom Gesetz gefordert – in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren.
Dass im Ausland lebende deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Anspruch auf materielle Unterstützung durch deutsche Behörden hatten, war keineswegs das Resultat gesteigerter sozialstaatlicher Generosität als Folge des Nachkriegsbooms. Vielmehr finden sich Vorläufer derartiger Initiativen bereits im Kaiserreich. So hatten sich das Deutsche Reich und die Schweiz im sogenannten Niederlassungsvertrag von 1909 auf die gegenseitige Erstattung von Fürsorgekosten verständigt, die „ein Staat für die Angehörigen des anderen Staates aufwendete“. Diese Regelung sollte Zusatzbelastungen für kommunale Fürsorgebehörden vermeiden, die durch die „Heimschaffung der Hilfsbedürftigen in ihren Heimatstaat“ angefallen wären.[22] Auslandsfürsorge diente also ursprünglich der Kostenkontrolle im Reichsgebiet. Die Weimarer Republik erweiterte diese Praxis mit einem gemeinsamen Erlass des Reichsinnen- und des Reichsarbeitsministeriums vom 2. Februar 1927, demzufolge „hilfsbedürftige[n] Deutsche[n] aus dem Auslande“, denen aufgrund wirtschaftlicher Not die Ausweisung ins Deutsche Reich drohte, einmalige Unterstützungszahlungen zur Behebung temporärer Notlagen an ihren jeweiligen Wohnorten zugewiesen werden konnten. Nach einem zeitgenössischen Rechtskommentar sollten derartige Zahlungen einer „weitere[n] Belastung des Wohnungs- und Arbeitsmarktes in Deutschland“ durch deutsche Migranten zuvorkommen. Wie bereits im Kaiserreich hatte die Auslandsfürsorge auch in der Weimarer Republik den Zweck, heimische Sozialbehörden zu entlasten. Des Weiteren, fügte der Kommentator hinzu, „sprächen menschliche und nationale Gesichtspunkte für die Vermeidung der Ausweisung“.[23]
Der Verweis auf „nationale Gesichtspunkte“ deutet auf eine politische Stoßrichtung hin, welche die Auslandsfürsorge in der Weimarer Republik gewann. Dieser Aspekt bezog sich vor allem auf die zahlreichen Deutschen, die sich nach dem Versailler Vertrag außerhalb der neuen Reichsgrenzen wiederfanden. Deren Behandlung löste in konservativen Kreisen wiederholt Empörung aus und mündete regelmäßig im Ruf nach einem effektiveren Schutz des „Auslandsdeutschtums“. National gesinnte Autoren wiesen insbesondere auf die drei bis vier Millionen in der Tschechoslowakei und Polen ansässigen Deutschen hin, die sich angesichts der in diesen neuen Staaten verfolgten Nationalitätenpolitik einem „[m]it Leidenschaft und Energie“ geführten „Kampf gegen das deutsche Volk“ ausgesetzt sähen.[24] Deutschnationale Motive traten somit während der Weimarer Republik neben das ursprüngliche Ziel der Auslandsfürsorge, Kosten zu sparen, und verbanden auf das Ausland gerichtete Fürsorgemaßnahmen mit breiter angelegten, vom Auswärtigen Amt unterstützten Initiativen zur Stabilisierung ethnischer deutscher Gemeinschaften in Ostmitteleuropa, deren revisionistische Spitze offensichtlich war.[25]
Über die Auslandsfürsorge während des Dritten Reichs ist wenig bekannt, doch scheint das Regime im Rahmen seiner Rassenideologie die Praxis beibehalten, wenn nicht sogar geografisch ausgeweitet zu haben. Darauf deutet zumindest eine Aktennotiz im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts aus dem Jahr 1955 hin, in der ein 1943/44 in Lissabon lebender Deutscher den Empfang von Auslandsfürsorge durch den Gaufürsorgeverband Warthegau bestätigte.[26] Diese sozialpolitische Sonderpraxis war also bereits vor 1945 fest institutionalisiert und besaß seit dem Ende des Ersten Weltkriegs eine ausgeprägte deutschnationale Note.
Dass die Bundesrepublik bereits weniger als zwei Monate nach der Wiedererrichtung des Auswärtigen Amts im März 1951 erwog, die Auslandsfürsorge neu zu beleben, hatte mehrere Gründe. Angesichts der Vielzahl sozialpolitischer Herausforderungen ging es Bonn zunächst vor allem um die „Vermeidung von sonst notwendigen Heimschaffungen“, welche die bereits völlig überlasteten Sozialdienste vor zusätzliche Aufgaben gestellt hätten.[27] Damit zielte die Auslandsfürsorge erneut auf die Vermeidung von Zusatzbelastungen für das Sozialsystem, während das „Auslandsdeutschtum“ im offiziellen Sprachgebrauch keine explizite Rolle mehr spielte. Welcher Verwaltungsaufwand dadurch auf das Auswärtige Amt und welche Kosten auf die öffentliche Hand zukamen, war jedoch offen. Das Bundesinnenministerium trat am 30. April 1951 bereits vorsorglich auf die Kostenbremse und betonte, Auslandsfürsorge komme nur dann in Frage, „wenn alle anderen Wege einer Hilfe erschöpft sind“.[28]
Für Nervosität sorgte in Bonn zunächst der Schriftverkehr, der bei der Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten im Bundeskanzleramt – der provisorischen Vorgängerorganisation des Auswärtigen Amts – über materielle Not unter Deutschen in Österreich einging.[29] Dortigen Selbsthilfeorganisationen zufolge hielten sich im Nachbarland neben 30.000 bis 40.000 deutschen Staatsangehörigen etwa 250.000 sogenannte Volksdeutsche auf. Letztere waren in der Mehrzahl aus Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn geflüchtet oder nach Kriegsende vertrieben worden und hatten ihre Staatsangehörigkeit verloren. Das Gros dieser deutschstämmigen Flüchtlinge führe, wie der Leiter einer lokalen Wohlfahrtsorganisation klagte, als „vergessene Kompanie“ ein Lagerleben in „trostlosen Verhältnissen“. Von bundesdeutschen Stellen erhielten sie lediglich „hinhaltende oder überhaupt keine Antworten“.[30] In die Bundesrepublik ausreisen konnten sie schon wegen fehlender Ausweispapiere und der Fahrkosten nicht, die sie zumeist nicht aufbringen konnten. Österreichische Stellen verweigerten ihnen Arbeitsgenehmigungen entweder komplett oder stellten diese nur für einfache und somit schlecht entlohnte Tätigkeiten aus.[31] Ein Memorandum des Auswärtigen Amts fasste die Situation sowohl der deutschen Staatsangehörigen als auch der staatenlosen „Volksdeutschen“ in Österreich im Juni 1951 knapp zusammen: Deutsche Staatsangehörige hätten keinerlei Zugang zu Pensionen, Renten, Kriegsopferversorgung oder Fürsorge, die deutschen Staatsbürgern in der Bundesrepublik zuständen; die rechtliche Lage der „Volksdeutschen“ sei ohnehin vollkommen unklar.[32] Da sich die österreichische Verwaltung für keine dieser Gruppen zuständig fühlte, war ihre Zukunft äußerst ungewiss.
Darüber hinaus gab es noch 200.000 über Westeuropa verstreute deutsche Staatsangehörige. Eine Statistik für den Haushaltsausschuss des Bundestags bezifferte 1950 die Zahl der Deutschen in Frankreich auf 100.000, in den Niederlanden auf 50.000, in Großbritannien auf 30.000 und in Luxemburg auf 6.000.[33] Dabei handelte es sich überwiegend um zu Arbeitseinsätzen verpflichtete ehemalige Kriegsgefangene, die nicht in die Heimat zurückgekehrt waren. „Einer Hilfe bedürfen fast alle“, da man „diejenigen, denen es im Ausland gelungen ist, sich eine gesicherte Position zu erhalten“, gleichsam mit der Lupe suchen müsse, so der Haushaltsausschuss.[34] Wie viele Deutsche im Ausland tatsächlich Hilfeleistungen in Anspruch nehmen würden, blieb allerdings unklar, da eine im Frühjahr und Sommer 1951 durchgeführte Umfrage bei den Konsulaten vor Ort keinerlei Licht ins statistische Dunkel brachte. Das Konsulat in Amsterdam antwortete beispielsweise, es könne schon deswegen keine Angaben machen, weil „jede noch so vorsichtige Umfrage [...] eine Flut von neuen Anträgen auslösen“ würde. Die Vertretung in Rom sprach von 30.000 bis 60.000 Deutschen in Italien und riet Unterstützung für 20 Paare und 100 Einzelpersonen an, ohne diese Empfehlung zu begründen.[35]
Trotz der bleibenden Unsicherheit war die Informationsanfrage an den konsularischen Dienst nicht folgenlos. Mehrere Auslandsvertretungen lenkten den Blick auf die Lage der aus dem Dritten Reich geflohenen Juden, denen die Bonner Ministerialbürokratie zunächst keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Von den etwa 270.000 bis 300.000 aus Deutschland geflohenen Jüdinnen und Juden hatten Ende der 1930er Jahre ungefähr jeweils 25.000 in Belgien und Frankreich sowie jeweils 11.000 in den Niederlanden und Großbritannien Zuflucht gefunden.[36] Wie viele dieser Flüchtlinge den Holocaust überlebten, ist nicht mit Sicherheit zu ermitteln, doch wer dies tat, fristete häufig ein Leben in äußerster Armut. Dass die Auslandsvertretungen dem Schicksal jüdischer Geflüchteter mit Sensibilität begegneten, hing eng mit Konrad Adenauers Entscheidung zusammen, Botschafterposten im westlichen Ausland mit Quereinsteigern zu besetzen, die „weder durch Nähe zum Nationalsozialismus noch durch Verbindungen zum alten Amt kompromittiert“ waren, um so den diplomatischen Neubeginn personalpolitisch zu unterstreichen.[37]
Dem nach Brüssel berufenen Anton Pfeiffer, einem Mitbegründer der Christlich-Sozialen Union, der 1946 zunächst als Sonderminister für die Entnazifizierung in Bayern zuständig gewesen war und dann bis 1950 die bayerische Staatskanzlei geleitet hatte, riss im November 1951 der Geduldsfaden, nachdem ein erster Bericht über die Notlage vieler nach Belgien geflohener Jüdinnen und Juden, die dort Krieg und Verfolgung überlebt hatten, ohne Resonanz verhallt war. Ungefähr ein Drittel der in Belgien lebenden 700 jüdischen Emigrantinnen und Emigranten wohnten in „dürftig möblierten Zimmern“ ohne fließendes Wasser oder Küche. Auch fehle es an angemessener Winterkleidung, da viele Betroffene ihre „eigene[n] Sachen aufgetragen“ hätten oder diese „beim Untertauchen in den Jahren 1942/44 verloren gegangen“ seien. „Das Los der Alten und Kranken ist am schlimmsten“, so Pfeiffer weiter. Zur Einwanderung nach Israel zu schwach, mangele es ihnen an Medikamenten und Zahnersatz. Dass Hilfe für diese Menschen eine Frage des Anstands sei, stand für den Botschafter außer Frage: „Ich möchte hervorheben, dass es sich bei diesen Leuten um die Ärmsten der Armen handelt, die durch das Naziregime aus einem geordneten Leben in diese Not gestürzt wurden.“[38] Mitte Dezember forderte die Botschaft mit Erfolg Mittel für eine einmalige karitative „Weihnachtszahlung“ an, um jahreszeitlich bedingte Kosten aufzufangen.[39]
Ähnlich dramatische Berichte erreichten das Auswärtige Amt aus London, wo die Botschaft vom Landwirtschaftsexperten Hans Schlange-Schöningen (CDU) geleitet wurde, der 1929 wegen der Wahl Alfred Hugenbergs zum Vorsitzenden der DNVP aus der Partei ausgetreten war.[40] Da sich „die Lage der notleidenden Verfolgten hier [...] in manchen Fällen von Tag zu Tag“ verschlechtere, sei es „dringend erforderlich, daß in manchen Fällen sofortige Hilfe erfolgt“. Verzögerungen verstießen „gegen die guten Sitten“, erklärte Schlange-Schöningen kurz und bündig im Sommer 1952.[41] Um welche „Fälle“ es sich handelte, hatte die Botschaft bereits im Februar 1951 – verbunden mit einem drastischen Ersuchen um schnelle, unbürokratische Unterstützung – dargelegt. Geschildert wurde das Schicksal eines 65-jährigen Juden aus Ostpreußen, der drei Jahre Konzentrationslager überlebt hatte und nach dem Krieg bei seiner Tochter im Südlondoner Stadtteil Brixton untergekommen war. Im Lager hatte er alle Zähne sowie ein Auge verloren. „Seine Ehefrau wurde vergast“, während sein zum Tode verurteilter Sohn „im Gefängnis in Dortmund an der ihm dort zuteil gewordenen Behandlung [starb]. Die Kleider des verstorbenen Sohnes wurden Familienangehörigen [...] 1950 zugestellt“; daraufhin erlitt der Vater „einen körperlichen und seelischen Zusammenbruch“.[42] Dieser Fall veranlasste das Bundeskanzleramt dazu, nicht nur das Bundesfinanzministerium (BMF) nachdrücklich auf die moralische, sondern auch auf die politische Dimension dieses Problems hinzuweisen. „Wenn die deutschen konsularischen Vertretungen in solchen Fällen wirklicher Not nicht in der Lage sind, zum mindesten vorübergehend helfend einzugreifen, so wird das Ansehen der Bundesrepublik zweifellos erheblich beeinträchtigt.“[43]
Somit empfing das Auswärtige Amt schon früh eine Vielzahl an Berichten über soziale Not unter vertriebenen „Volksdeutschen“ in Österreich, unter ehemaligen Kriegsgefangenen, die in Westeuropa zu Arbeitsdiensten verpflichtet worden waren, sowie unter deutsch-jüdischen Flüchtlingen. Angesichts dieser vielgestaltigen sozialen Problemlage zeigten sich die Verantwortlichen bereit, in Fürsorgefragen grenzüberschreitend zu handeln, so dass am 2. September 1952 die Wiederaufnahme der vor 1945 etablierten Praxis durch den konsularischen Dienst verfügt wurde.[44] Der potenzielle Empfängerkreis verringerte sich allerdings aufgrund verschiedener internationaler Verträge rasch. Bilaterale Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Österreich regelten ab 1953 Pensions- und Rentenansprüche sowie Forderungen aus der Arbeitslosenversicherung seitens deutscher Staatsangehöriger in der Alpenrepublik.[45] Darüber hinaus erhielt die Mehrzahl der aus Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn nach Österreich geflohenen „Volksdeutschen“ in der ersten Hälfte der 1950er Jahre die österreichische Staatsbürgerschaft und fiel somit in die Zuständigkeit dortiger Behörden.[46] Und mit dem Beitritt der Bundesrepublik zum europäischen Fürsorgeabkommen im Jahr 1956 gewannen Bundesbürger, die sich zum Beispiel dauerhaft in Großbritannien, den Benelux-Staaten, Italien und Frankreich aufhielten, Anspruch auf die gleichen sozialstaatlichen Leistungen, die den eigenen Staatsangehörigen zustanden.[47]
Die Gruppe der aus Deutschland geflohenen Jüdinnen und Juden fiel allerdings weitgehend durch das Raster der Hilfeleistungen, wie die westdeutsche Öffentlichkeit Mitte der 1950er Jahre erfuhr. Zum 11. Jahrestag des Kriegsendes lief in Radio und Fernsehen eine vom Süddeutschen Rundfunk produzierte Dokumentation über die anhaltende Armut deutsch-jüdischer Flüchtlinge in Paris, denen französische Fürsorgezahlungen lediglich eine erbärmliche Existenz deutlich unterhalb des offiziellen Existenzminimums ermöglichten.[48] Körperlich von Verfolgung, Unterernährung und Krankheit gezeichnet, lebten sie im hohen Rentenalter in Mansardenzimmern ohne Strom und Heizung. Als Lumpenhändler auf Pariser Straßenmärkten oder mit anderen ebenso schlecht bezahlten wie erniedrigenden Tätigkeiten verdienten sie sich ein kärgliches Zubrot, ohne das es „nicht zum nackten Leben“ reichen würde. Dass es sich hier keineswegs um außergewöhnliche Einzelfälle handelte, unterstrichen die Autoren Peter Adler und Peter Dreessen durch den Hinweis, dass die „materielle und soziale Lage“ der ungefähr 10.000 „Emigranten“ in Paris überwiegend „als schlecht zu bezeichnen sei“.[49] Die Frankfurter Allgemeine Zeitung reagierte schockiert auf die Reportage über die „müde gewordenen Menschen, die noch elf Jahre nach ihrer ‚Erlösung‘ vergessen, verarmt, verhungernd in Paris dahinvegetierten“, während Die Zeit deren „bitterste Not“ beklagte.[50] Die Rundfunkanstalt wurde nach den Sendungen von einer „Flut“ von Briefen geradezu überschwemmt, deren Absender sich fassungslos zeigten, und ein Spendenaufruf fand ein „ungeheure[s] Echo“.[51]
Auch wenn der Bundestag im nächsten Haushaltsplan auf Druck seines Präsidenten Eugen Gerstenmeier (CDU) eine Million DM zum Bau eines Wohnheims für die Betroffenen in Paris bereitstellte, verwies deren prekäre Lage auf eine grundsätzliche Schwäche der Bonner Wiedergutmachungspolitik. Zwar hatten jüdische Emigranten, die einst aus dem Deutschen Reich geflüchtet waren, seit 1953 Anspruch auf Entschädigung, die Verfahren zogen sich jedoch in vielen Fällen jahrelang hin, da die zuständigen westdeutschen Ämter personell mangelhaft ausgestattet waren und eingehende Anträge schleppend bearbeiteten.[52] Auch deshalb hatten die in den Dokumentationen portraitierten Jüdinnen und Juden in Paris bisher „von der Bundesrepublik keinen Pfennig erhalten“.[53]
Auf Auslandsfürsorge konnten diese Opfer des Dritten Reichs nur in sehr begrenztem Umfang zurückgreifen, da das Bundesfinanzministerium unter Fritz Schäffer (CSU) in solchen Fragen durchwegs restriktiv agierte und das mit Blick auf die internationale Reputation der Bundesrepublik zu Großzügigkeit mahnende Auswärtige Amt wiederholt ausbremste.[54] Anfang 1954 wurden dem Auswärtigen Amt alle Mittel zur „laufenden Unterstützung [...] hilfsbedürftiger Verfolgter“ des Nationalsozialismus gestrichen, da es nun ja die Möglichkeit gab, Wiedergutmachung zu beantragen.[55] Es ist daher anzunehmen, dass sich die Lage in der Folgezeit eher noch verschlechterte. Um einen Unterstützungsanspruch anzumelden, mussten aus Deutschland geflohene Jüdinnen und Juden, die nicht in Israel lebten, jetzt einen Fürsorgeantrag über den konsularischen Dienst der Bundesrepublik stellen, was ein weiteres Problem aufwarf: Für den Bezug von Auslandsfürsorge war der Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft Voraussetzung, diese war den jüdischen Flüchtlingen vom NS-Regime jedoch aberkannt worden.[56]
Dass ein Antrag auf Wiedereinbürgerung für viele jüdische Flüchtlinge unzumutbar war, war den zuständigen Stellen bekannt – nicht nur deshalb, weil dieser Schritt notwendigerweise mit dem Verlust einer mittlerweile angenommenen Staatsbürgerschaft im Zufluchtsland einherging.[57] Ein Rechtsgutachten gab 1952 auch zu bedenken, dass selbst viele staatenlose Geflüchtete einen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft scheuten, da sie „sich von den Bildern der Erinnerung, die unauslöslich mit Deutschland verbunden sind, nicht mehr frei machen“ könnten.[58] Damit hatten jüdische Flüchtlinge lediglich Zugang zu Einmalzahlungen in „besonderen Härtefällen“, die als „Überbrückungsleistungen“ keine dauerhafte Linderung bringen konnten.[59] Die Not der aus Deutschland geflohenen Jüdinnen und Juden hatte zwar zur Wiedereinführung der Auslandsfürsorge Anfang der 1950er Jahre beigetragen, doch entwickelte sich in den folgenden Jahren eine ausgesprochen restriktive und schikanöse Praxis, die den finanziellen Aufwand der zuständigen Behörden in engen Grenzen hielt.
Wie sich die Nachfrage nach Auslandsfürsorge, die 1961 im Rahmen des BSHG nahtlos in die Auslandssozialhilfe überführt wurde, in der Folgezeit entwickelte, lässt sich aus den Akten des Auswärtigen Amts nur ansatzweise rekonstruieren, doch man kann sagen, dass die Belastung für das Sozialbudget der Bundesrepublik überschaubar war, die sich daraus ergab. Die Botschaft in Wien meldete 1957 ungefähr „200 solcher Fälle“, die Vertretung in Rio de Janeiro 1964 648 und die in Buenos Aires drei Jahre später 800.[60] Vor allem veränderte sich die soziale Zusammensetzung der Klientel schon bald, die bei den Konsulaten um materielle Unterstützung bat. Ein internes Memorandum des Auswärtigen Amts räumte 1963 ein, dass die „Zahl der Hilfsbedürftigen“ unbekannt sei. Es handle sich jedoch um eine ausgesprochen heterogene Gruppe, deren Notlagen vielgestaltig seien: „Auswanderer, deren Erwartungen sich nicht erfüllt haben, Mitglieder deutscher Kolonien, die durch Kriegsfolgen in Not geraten [sind], Deutsche, die mit Ausländern die Ehe geschlossen haben, bestohlene, erkrankte, verunglückte Touristen, SBZ-Flüchtlinge, Jugendliche, Weltenbummler und Abenteurer müssen beraten, unterstützt oder heimgeschafft werden.“[61] Somit spiegelte der Kreis der Sozialhilfeempfänger im Ausland verschiedenste Probleme wider, die sich teils aus historischen Entwicklungen, teils aus der Transformation der Bundesrepublik in eine reisefreudige Wohlstandsgesellschaft ergaben.
Die ursprüngliche Intention der Einführung von Fürsorge beziehungsweise Sozialhilfe im Ausland – die Entlastung des heimischen Sozialsystems – verlor angesichts der Milliardenhaushalte sozialstaatlicher Institutionen in der Bundesrepublik zunehmend an Relevanz. Dennoch verschärfte die Bundesregierung 1993 die Bewilligungskriterien für Auslandssozialhilfe als Reaktion auf Klagen, dass „Deutsche (nicht selten sog. ‚Aussteiger‘) sich in ausländischen Touristengebieten niederließen“ und zusätzlich zu Nebeneinkünften Sozialhilfeleistungen in Anspruch nahmen.[62] Nach dem Ausschluss von Weltenbummlern von der Auslandssozialhilfe machten 2003, wie die taz ermittelte, in ausländischen Gefängnissen einsitzende Bundesbürger sowie bedürftige Senioren die überwiegende Mehrzahl der 959 Leistungsempfänger außerhalb der Bundesrepublik aus.[63] Somit war „Florida-Rolf“ nicht nur eine Ausnahme unter den Sozialhilfeempfängern, sondern auch unter denjenigen, die diese Form von Unterstützung außerhalb des deutschen Staatsgebiets bezogen.
IV. Soziale Dämonen und die Debatte um die Agenda 2010
Dieser Umstand hielt die Bild-Zeitung jedoch nicht davon ab, „Florida-Rolf“ als prominenteste Figur einer Galerie von Sozialhilfeempfängern zu präsentieren, die für Missbrauch, Misswirtschaft und groteske Überversorgung in Zeiten leerer Kassen standen. Folgt man den Boulevardmedien, beschränkte sich die Misere des deutschen Sozialstaats keineswegs auf hohe Arbeitslosigkeit, Haushaltsdefizite und die Kosten der Wiedervereinigung. Zwar lag die Arbeitslosenquote 2003 bei 10,5 Prozent, während sich die Nettokreditaufnahme des Bunds in nur vier Jahren auf über 60 Milliarden Euro mehr als verdreifacht hatte.[64] Die Yellow Press machte jedoch die Schwierigkeiten der Bundesrepublik weniger an strukturellen und somit abstrakten Faktoren fest. Vielmehr bedienten sich Bild und ähnliche Blätter personalisierender Reportagen. Sie zerrten Empfänger von Sozialleistungen ins Rampenlicht, deren Verhalten stellvertretend für vermeintlich eklatante Missstände im bestehenden System der sozialen Sicherung stand. Schenkte man Bild Glauben, war der in Florida residierende Rolf J. keineswegs die Ausnahme von der Ausnahme unter Deutschlands Sozialhilfeempfängern, sondern symptomatisch für eine Sozialstaatskrise, die über den konkreten Fall hinauswies. Rolf J. war daher keine mediale Einzelerscheinung, sondern Teil eines veritablen Pantheons sozialer Dämonen, mit dem die Presse 2003/04 aufwartete.
Natürlich war die Dämonisierung von Unterstützungsempfängern alles andere als neu. Klagen über Bezieher von Hilfs- und Fürsorgeleistungen reichen bis in die frühe Neuzeit zurück, denen häufig mangelnde Arbeitsmoral oder schlicht Faulheit unterstellt wurde. In der Bundesrepublik gewann dieser Diskurs mit der Rückkehr der Arbeitslosigkeit in der Mitte der 1970er Jahre an Prominenz und wies in der Folgezeit Höhen und Tiefen auf, die zumeist mit der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen einhergingen. Norbert Blüm (CDU) sorgte beispielsweise 1983 mit dem Vorwurf für Aufsehen, hohe Sozialstandards verleiteten junge und gesunde Bundesbürger dazu, „sich unter den Palmen Balis in der Hängematte zu sonnen [und] alternativ vor sich hinzuleben“, statt sich um ihre berufliche Zukunft zu kümmern.[65] Zwar bezog sich der Vorwurf des Bundesarbeitsministers nicht auf die Auslandssozialhilfe per se, doch konstruierte die Nennung eines ebenso attraktiven wie exotischen Urlaubsziels einen denunziatorischen Bezug zwischen Arbeitsverweigerung und der missbräuchlichen Inanspruchnahme sozialer Leistungen. Da die Medienberichterstattung wiederholt den Eindruck erweckte, der ungerechtfertigte Bezug von Unterstützungszahlungen sei keine Ausnahme, sondern ein veritables Massenphänomen, konnten personalisierte Angriffe mit starkem gesellschaftlichen Zuspruch rechnen.[66]
Wenn Bild im Sommer 2003 „Florida-Rolf“ an die Spitze einer Riege sozialer Unpersonen setzte, reihte sich das Blatt nahtlos in eine jahrzehntealte Tradition polemischer und personalisierender Sozialstaatskritik ein. Nur wenige Tage bevor Bild mit „Florida-Rolf“ aufmachte, hatte die Zeitung über einen 54-jährigen Sozialhilfeempfänger aus Bad Soden berichtet, der seinen Anspruch, das Potenzmittel „Viagra“ kostenfrei zu erhalten, auf dem Rechtsweg erstritten hatte. Unter der Schlagzeile „Wir haben’s ja“ firmierte „Karlheinz F.“ als „fröhlicher Mann“, der künftig „Sex-Stütze“ beziehen werde. Fortan geisterte dieser Leistungsempfänger als „Viagra-Kalle“ durch die Medien.[67] Laut Bild spielten jedoch weder „Viagra-Kalle“ noch „Florida-Rolf“ in der Liga des 59-jährigen Heinrich S., der sich den Titel „Heinrich der Gierige“ verdient hatte. Einem Bericht vom 1. September 2003 zufolge war dieser vom Landgericht München wegen Betrugs zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden, da er sich trotz des Besitzes von „[z]wölf Autos (u. a. BMW, Porsche), eine[r] Luxuswohnung mit Whirlpool in Polen, ein[es] fette[n] Giro-Konto[s]“ insgesamt etwa 95.000 Euro Arbeitslosenhilfe erschlichen sowie Versicherungsbetrug in Höhe von 60.000 Euro begangen hatte.[68]
Im folgenden März richtete sich das Interesse schließlich auf das mittelfränkische Ansbach, wo der „unverschämteste Prozess des Jahres“ stattfand. Die Schlagzeile „Sozialamt muss meine Bordell-Besuche bezahlen“ leitete die Schilderung eines Rechtsstreits ein, durch den Helmut H., ein 43-jähriger Sozialhilfeempfänger, die Erstattung von Auslagen über circa 2.500 Euro für sechzehn Bordellbesuche, Leihgebühren für pornografische Filme sowie Taxifahrten zur Videothek einforderte. Da, so der Kläger, seine Frau zur Geburt des gemeinsamen Kinds in ihre thailändische Heimat zurückgekehrt sei, leide er unter „sexuellem Entzug“. „Bordell-Helmut“ verlor vor Gericht. „Die Kosten für die Befriedigung sexueller Bedürfnisse“, stellte das Gericht mit unverhüllter Ironie fest, „gehören [...] zu den Kosten der allgemeinen Lebensführung“, die durch den „Regelsatz der Sozialhilfe abgedeckt“ seien. Auch liege, fuhr der Richter fort, kein „Sonderbedarf etwa aus medizinischen Gründen“ vor.[69]
Indem Bild den Serienbetrüger Heinrich S. zu „Deutschlands übelste[m] Sozialschmarotzer“ kürte, machte sich das Blatt zum Teil einer Boulevardkampagne, die gegen ungerechtfertigte sozialstaatliche Alimentierung polemisierte. Zeitgleich zur Aufregung um „Florida-Rolf“ meldete der Kölner Express im August 2003, dass in der Domstadt „schon wieder ein Sozial-Schmarotzer enttarnt“ worden sei; ein „Ferrari-Fahrer“ hatte 103.000 Euro „Stütze“ bezogen. Dem Einwand, sie bausche außergewöhnliche Einzelfälle auf, hatte die Zeitung bereits zwei Monate zuvor vorgebeugt, indem sie auf die „4000 Sozial-Schmarotzer“ verwies, die Düsseldorfer Behörden jährlich des unrechtmäßigen Bezugs von Sozialleistungen überführten.[70] Der Eindruck, das Sozialsystem behandele Anträge mit übermäßiger Generosität, wurde von der Boulevardpresse auch durch Artikel über den Leistungskatalog der Sozialämter untermauert. Unter der Schlagzeile „Das alles hat uns der Staat bezahlt“ widmete sich Bild Mitte August 2003 dem Besitzstand einer dreiköpfigen Familie aus Neukölln, der beinahe komplett „vom Amt“ finanziert worden sei – „vom Trauring bis zum Ehebett, von den Schuhen bis zum Fernseher“.[71] Angesichts dieser medialen Empörung hatte die Leiterin des Stuttgarter Sozialamts einen schweren Stand mit ihrem Einwurf, die „ständig[e] Debatte über die angeblichen Schmarotzer“ sei „unverantwortlich“, da die meisten Sozialhilfeempfänger keine Rücklagen besäßen.[72] Während moderate Stimmen sich kaum behaupten konnten, beschwor das Schlagwort „Sozialschmarotzer“ in der aufgeladenen Atmosphäre des Jahrs 2003 die Allgegenwart parasitärer Lebensweisen herauf.
Auf lange bestehende Vorurteile zurückgreifend, verstärkte die personalisierende Polemik der Bild-Zeitung den Eindruck einer prinzipiellen Schieflage des Sozialsystems zusätzlich, indem sie die erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Fällen systematisch verwischte. So differenzierte das Blatt nicht explizit zwischen illegalen Praktiken – sprich: Sozialbetrug – und der Verfolgung rechtlich verbürgter Leistungsansprüche. Für Bild spielte es keine Rolle, dass es sich bei „Heinrich dem Gierigen“ um einen rechtskräftig verurteilten Serienbetrüger handelte und die Forderungen von „Puff-Helmut“ gerichtlich zurückgewiesen worden waren. Dass die Bild-Redaktion die Effektivität sozialrechtlicher Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen für marginal hielt, verdeutlicht darüber hinaus der Umstand, dass auch rechtmäßige Ansprüche wie diejenigen von Karlheinz F. und Rolf J. als überzogen und daher illegitim bewertet wurden. Formaljuristische Kriterien spielten somit in der Boulevardberichterstattung eine bestenfalls zweitrangige Rolle.
Auch die Tendenz, alle Fälle über einen Kamm zu scheren, vermittelte den Eindruck, im Sozialwesen fehle es an Verhältnismäßigkeit. Suchte man bei Heinrich S. und Helmut H. vergeblich nach einer sozialen Notlage, galten Rolf J. und Karlheinz F. aus triftigen Gründen als Sozialfälle. Seit einem „schweren Unfall“ Frührentner, habe sich Karlheinz F. außerdem „mehreren Harnröhrenoperationen“ unterziehen müssen, weshalb Ärzte ihm eine erektile Dysfunktion bescheinigten.[73] Rolf J. wiederum litt Bild zufolge neben einer Erkrankung der Bauchspeicheldrüse an Diabetes und war im Jahr 2000 wegen „einer psychischen Krankheit“ zeitweise „suizidgefährdet“.[74]Bild flocht diese Informationen beiläufig in die Reportagen ein, schrieb ihnen auf diese Weise untergeordnete Bedeutung zu und rückte so die Bedürftigkeit der Sozialhilfeempfänger in den Hintergrund. Den Artikel über Karlheinz F. beherrschte die Schlagzeile „Für SIE braucht er Viagra“. Illustriert war er zudem mit einem Foto, das den 54-jährigen, leicht korpulenten Sozialhilfeempfänger im kurzärmeligen Freizeithemd mit Blumenmuster neben seiner beinahe fünfzehn Jahre jüngeren Frau abbildete. Das Zusammenspiel von Schlagzeile, Text und Bild schob hedonistische, sexuelle Ausschweifung suggerierende Motive auf Kosten einer medizinischen Indikation in den Vordergrund. Im Fall des in Florida ansässigen Rolf J. erfuhren Hinweise auf seine Krankengeschichte in der sich über mehrere Wochen erstreckenden Berichterstattung sogar eine sinnentstellende Umdeutung. Die psychische Krankheit, die laut medizinischem Gutachten aus dem Jahr 2000 einer Rückkehr von J. nach Deutschland im Wege stand, verschwand rasch aus den Artikeln. Stattdessen attestierte Bild dem Sozialhilfeempfänger binnen weniger Tage eine „Deutschland-Allergie“ als eigentlichen Grund für seinen Aufenthalt in Florida – eine Zuschreibung, die rasch zur bekanntesten Assoziation mit Rolf J. avancierte.[75]
Neben der Unverhältnismäßigkeit der Ansprüche betonte Bild auch das Durchsetzungsvermögen und das Selbstbewusstsein der Sozialhilfeempfänger. Sowohl Rolf J. als auch Karlheinz F. verfochten ihre Ansprüche gegenüber den Sozialbehörden vor Gericht entschlossen und unnachgiebig. Insbesondere Rolf J. entwickelte hierbei bemerkenswerte Energie und klagte sich durch alle Instanzen. „Ich führte Prozesse bis zum Bundesverwaltungsgericht, ein Riesen-Stress“, gab er zu Protokoll.[76] Beide betrachteten ihre Ansprüche als vollkommen legitim. „Ich finde das gerecht“, insistierte Karlheinz F. hinsichtlich seines Beharrens, „Viagra“ kostenfrei beziehen zu können. „Mein Leidensweg muss nicht dadurch verschlimmert werden, dass man mir die Freude an der Liebe nimmt.“[77] Rolf J. ging einen Schritt weiter und schaltete auf Angriff. Er nutze „nur eine gesetzliche Möglichkeit“, und überhaupt sollten sich die „Deutschen [...] nicht so aufregen über die paar Dollar, die ich bekomme. Da gibt es ganz andere Probleme.“[78] Da die Bundesregierung angesichts angespannter öffentlicher Haushalte wiederholt auf fiskalischer Disziplin bestand und auch von den Bürgerinnen und Bürgern finanzielle Opfer beispielsweise im Rahmen einer Rentenreform einforderte, mussten Aussagen, die formaljuristische Leistungsansprüche explizit mit moralischer Legitimität gleichsetzten, im Sommer 2003 ausgesprochen provokant wirken.[79]
Somit zeichneten die Berichte über die rechtmäßigen und unrechtmäßigen Leistungsempfänger das Bild eines Sozialstaats in abstrusem Ungleichgewicht, in dem, wie seit Langem vermutet, Missbrauch fest institutionalisiert war. Erstens eignete sich das deutsche Sozialsystem Bild zufolge zur Ausbeutung nicht nur durch kriminelle Serienbetrüger, sondern auch innerhalb des rechtlichen Rahmens. Zweitens mangelte es an der Verhältnismäßigkeit von Sozialleistungen, da diese nicht nur materielle Bedürftigkeit beseitigten, sondern weit darüber hinaus gingen und eine hedonistische Lebensführung ermöglichten – sexuelles Vergnügen und urlaubsmäßige Muße inklusive. Dass dieser vermeintliche Umstand, drittens, für erheblichen Unmut sorgte, war vorhersagbar. Leserbriefe an Bild klagten über den „tolle[n] Staat“, „wo die Schmarotzer mehr kriegen als die Arbeitenden, wirklich super“, und gaben folgenden Ratschlag: „Eigentlich sollten wir doch alle aufs Sozialamt gehen, anstatt täglich zu arbeiten.“[80] Dass weder Sozialbetrüger noch Sozialhilfeempfänger bezahlter Erwerbstätigkeit nachgingen, aber dennoch von materiellen Sorgen unbeschwert zu leben schienen, war nur Teil der Kritik an bestehenden Regelungen. Die Berichterstattung wies, viertens, darauf hin, dass Sozialhilfeempfänger erhebliche Eigeninitiative entwickeln konnten, um ihre Leistungsansprüche vor Gericht zu verfolgen. Die in Bild portraitierten Personen erschienen somit keineswegs als passive Notleidende. Mit ihrer ausgeprägten Fähigkeit, eigene Interessen aktiv zu verfolgen, kontrastierten sie stark mit der gängigen Vorstellung, Erwerbslose seien von Armut gezeichnete Opfer, die Hilfeleistungen an keine Bedingungen knüpften.[81] Hier lag der moralische Kern des von Bild diagnostizierten Skandals: Das deutsche Sozialsystem hatte angeblich eine Konstellation geschaffen, die es energischen, einfallsreichen Frauen und Männern ermöglichte, auf Kosten der Allgemeinheit einen komfortablen Lebensstil zu genießen, statt sich um finanzielle Eigenständigkeit zu bemühen. Der Sozialstaat, so die Botschaft, unterminiere auf diese Weise die Arbeitsmoral auf breiter Front und treibe gleichzeitig die Belastungen für die hart arbeitende Bevölkerung weiter in die Höhe. Materielle Überlastungsphänomene waren dieser Lesart zufolge dem Sozialsystem selbst und nicht etwa ungünstigen Rahmenbedingungen zuzuschreiben.
Es ist sicherlich nicht überraschend, dass Boulevardmedien in wirtschaftlich angespannten Zeiten vermeintliche sozialpolitische Ungerechtigkeiten lautstark thematisierten. Gleichzeitig beruhte die Berichterstattung auf einem spezifischen zeitgenössischen Krisenverständnis, das sich in der Auswahl der dämonisierten Individuen niederschlug. In diesem Zusammenhang fällt zunächst auf, dass Bild, wie die geografische Herkunft der dämonisierten Sozialhilfeempfänger verdeutlicht, die Problemursachen des Sozialstaats in der alten Bundesrepublik verortete. Rolf J. und Karlheinz F. stammten aus Hessen, Heinrich S. und Helmut H. aus Bayern. Die Fokussierung des Boulevards auf „Sozialschmarotzer“ aus Westdeutschland passte in diesem Zusammenhang zu prominenten Stimmen, welche die Bonner Republik lautstark für die Ursachen der aktuellen sozialpolitischen Probleme verantwortlich machten, obwohl sich natürlich ein erheblicher Teil der um die Jahrtausendwende anfallenden Sozialausgaben – einschließlich einer hohen Zahl von Sozialhilfeempfänger in den ostdeutschen Bundesländern – aus den Folgen der Einheit ergab.[82] Derartige Interpretationen prägten vor allem die sogenannte Standortdebatte seit der Jahrtausendwende, in der sich Unternehmensberaterinnen und Unternehmensberater aus aller Welt, Thinktanks, die Wirtschaftsweisen sowie liberale und konservative Politikerinnen und Politiker wiederholt gegen vermeintlich exzessive Sozialabgaben in Deutschland wandten und darauf verwiesen, dass maßgebliche Regelungen bereits vor 1989 für Unmut gesorgt hatten.[83]
Die Klagen bezogen sich vor allem auf den von Helmut Kohl gewählten Finanzierungsmodus für die sozialen Folgekosten der Wiedervereinigung. Dabei fehlte selten der Hinweis auf die Lohnnebenkosten, deren Anteil am Bruttolohn zwischen 1990 und 1997 von 35,5 Prozent auf 42 Prozent gestiegen war und seither auf diesem hohen Niveau verharrte. Diese Zunahme resultierte aus der Entscheidung, die Folgen der Arbeitslosigkeit, die in den 1990er Jahren vor allem in Ostdeutschland grassierte, überwiegend über das Sozialversicherungssystem zu finanzieren, um Steuererhöhungen so weit wie möglich zu vermeiden.[84] Die Regierung Kohl setzte damit trotz der fundamental veränderten Rahmenbedingungen im wiedervereinigten Deutschland auf einen sozialpolitischen Ansatz, mit dem sie bereits in den 1980er Jahren auf die Massenarbeitslosigkeit in Westdeutschland reagiert und der etwa großzügige Regelungen für den Übergang in einen vorgezogenen Ruhestand vorgesehen hatte.[85] Die Politik vertraute, mit anderen Worten, auf das bestehende westdeutsche Institutionengefüge, um die sozialen Kosten der Einheit zu bewältigen, und wahrte so über die Zäsur von 1989/90 hinaus ein hohes Maß an sozialpolitischer Kontinuität.
Auch wenn die Polemik der Bild gegen „Sozialschmarotzer“ diese Konstellation nicht explizit nannte, unterstützte die gegen westdeutsche Sozialhilfeempfänger gerichtete Kampagne eine Lesart, die den seit den letzten Jahren der Ära Kohl vielbeklagten „Reformstau“ der alten Bundesrepublik anlastete. Im Gegenzug blieben andere gewichtige Kausalfaktoren für die wirtschaftlichen Probleme der Bundesrepublik unerwähnt. Als Beispiele ließen sich neben den eine Billion Euro übersteigenden innerdeutschen Transferleistungen als Folge der Wiedervereinigung vor allem der ökonomische Strukturwandel und eine neue internationale Arbeitsteilung im Zeichen der Globalisierung nennen; beides traf die ostdeutschen Bundesländer mit besonderer Wucht.[86]
Darüber hinaus ist auffällig, dass die personalisierte Berichterstattung über Sozialmissbrauch auf männliche deutsche Sozialhilfeempfänger zielte. Männer, die ihren Lebensunterhalt nicht durch bezahlte Arbeit verdienen, konterkarieren sowohl das herkömmliche bürgerliche Modell familiärer Arbeitsteilung, das Frauen in der häuslichen Sphäre ansiedelt, Männer aber zu Hauptverdienern in der Erwerbswelt bestimmt, als auch seit den 1960er Jahren immer gängigere Lebensentwürfe, in denen beide Partner einer entlohnten Erwerbstätigkeit nachgehen.[87]Bild zufolge untergrub das Netz der sozialen Sicherung, wie es sich vor 1989 in Westdeutschland entwickelt hatte, nicht nur die Arbeitsmoral, sondern leistete auch einer Erosion tradierter Geschlechterrollen Vorschub. Dadurch seien aber letztendlich die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung bedroht.
Insbesondere die Institution Ehe schien sich unter Sozialhilfeempfängern in einem prekären Zustand zu befinden. Dieser Umstand manifestierte sich augenfällig im Fall von Helmut H., dessen Klage auf die Kostenerstattung für Bordellbesuche in eklatantem Widerspruch zu seiner Rolle als Familienvater stand. Auch Rolf J. entsprach als Scheidungssingle keineswegs der Vorstellung eines Mustergatten, zumal seine Ex-Frau zu Protokoll gab, er habe sie während ihrer Ehe systematisch „betrogen und belogen“.[88] Dem mit einer jüngeren Frau verheirateten Karlheinz F. attestierte das Blatt ohne Umschweife eine eklatante Männlichkeitskrise: „Sozialhilfe-Empfänger Kalle kann nur noch mit der Sex-Pille.“[89] Karlheinz F. beteuerte zwar seine Zuneigung zu seiner Gattin, doch bedrohe Impotenz die Ehe. Sozialstaatskrise und normverletzende oder prekäre Männlichkeit waren in der Berichterstattung des Boulevards miteinander verwoben. Die am Beispiel männlicher Leistungsempfänger thematisierte Sozialstaatskrise war Bild zufolge nichts anderes als der sinnfällige Ausdruck einer schleichenden Erosion der Geschlechterordnung.
Auch wenn Arbeitsmoral, Familie und Geschlechterrollen Standardmotive sozialer Dämonisierung in westlichen Sozialstaatsdebatten darstellen, unterschieden sich die thematischen Schwerpunkte der deutschen Yellow Press um 2003 von denjenigen in anderen Ländern. So drehten sich britische Sozialstaatsdiskussionen in den 1980er Jahren vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit um männliche scroungers oder Schnorrer, deren Genealogie als „folk devils“ bis in die Zwischenkriegszeit zurückreichte. Die Bezeichnung scrounger stigmatisierte während Margaret Thatchers Regierungszeit Angehörige der Arbeiterschaft ohne Job, die Sozialleistungen in Anspruch nahmen, sich angeblich unzureichend um einen festen Arbeitsplatz bemühten und gleichzeitig auf dem informellen Arbeitsmarkt illegale Zusatzeinnahmen als Handwerker, Kellner oder Taxifahrer einstrichen. Erregung über diese Form des Sozialbetrugs mobilisierte die Öffentlichkeit seit 1985 für umfassende, auf stärkere Sozialdisziplinierung abzielende Reformen des britischen Wohlfahrtstaats; Hinweise auf ehegefährdendes männliches Verhalten sucht man in der Debatte aber vergeblich.[90] Als Indikator, dass es mit der Institution auch in Großbritannien nicht zum Besten stand, galt dagegen der Anstieg von Teenagerschwangerschaften. Damit avancierte die Figur der single mother zum Symbol vermeintlich ungezügelter weiblicher Sexualität und darüber hinaus für die Erosion der Kernfamilie in der Arbeiterklasse.[91]
In den USA wandten sich Sozialstaatskritiker seit den 1960er Jahren wiederholt gegen die vermeintliche Fehlsteuerung des Programms Aid to Families with Dependent Children (AFDC), das erwerbslose, alleinstehende Mütter materiell unterstützte. Insbesondere der steigende Prozentsatz unverheirateter afroamerikanischer Mütter unter den Empfängerinnen nährte unter weißen Konservativen den Verdacht, das bestehende Wohlfahrtssystem untergrabe die Ehe ebenso wie die Arbeitsethik und verfestige letztendlich soziale Probleme, da AFDC jungen Frauen angeblich ein mehr als komfortables Auskommen sicherte, ohne Erwerbstätigkeit einzufordern. Diese Vorwürfe bündelten sich in den 1970er und 1980er Jahren im Schlagwort welfare queen, das schwarze Frauen als auf Sozialleistungen spekulierende Individuen charakterisierte und seine Personifikation in einer gewissen „Linda Taylor“ fand, einer Serienbetrügerin aus Chicago, die sich mit Hilfe von 40 Sozialversicherungsnummern Leistungen in großem Stil erschlichen hatte.[92] Gleichzeitig beschuldigten amerikanische Reformkräfte den Sozialstaat, durch die Alimentierung alleinstehender Mütter afroamerikanische Männer aus ihren Familienpflichten zu entlassen und nicht mit ausreichendem Nachdruck auf Unterhaltszahlungen seitens leiblicher Väter zu bestehen. Vor allem aber identifizierte die öffentliche Debatte afroamerikanische Männer als Hauptverantwortliche für Drogen- oder Gewaltkriminalität und schrieb diesen eine bedrohliche Form krimineller Hypermaskulinität zu, deren Disziplinierung den Aufbau eines punitiven Justizsystems erfordere.[93] Auf die afroamerikanische Minderheit fixiert, kreisten Dämonisierungen in den USA um die Figuren des hypermaskulinen Kriminellen und der erwerbslosen, alleinstehenden Mutter, deren Lebensführung mit einem konventionellen Verständnis bürgerlicher Geschlechterrollen unvereinbar war.
Diese Schlaglichter bringen die kulturellen Konturen des deutschen „Sozialschmarotzers“ deutlich zum Vorschein. Zunächst ist zu unterstreichen, dass im Gegensatz zu den USA ethnische Minderheiten unter den deutschen sozialen Dämonen – ungeachtet der ausgeprägten Fähigkeit des Boulevards zu fremdenfeindlichen Reflexen – um 2003 keine Rolle spielten. Ebenso wenig identifizierte Bild die Probleme des Sozialstaats mit weiblichen Leistungsempfängern, die im angloamerikanischen Kontext eine besonders prominente Rolle spielten. Vielmehr gruppierte sich in der Bundesrepublik die Sozialstaatskritik um männliche Sozialhilfeempfänger, die nicht dem Rollenmodell des arbeitenden Ehegatten entsprachen und somit dominante Geschlechterkonventionen herausforderten. Statt die Lösung sozialer Probleme voranzutreiben, unterminiere, so der von Bild indirekt erhobene Vorwurf, das System der sozialen Sicherung durch die Schwächung der Ehe die Fundamente der Geschlechterordnung. Vor allem aber schädige die Alimentierung männlicher Erwerbsloser das Arbeitsethos, wobei die Dämonisierung westdeutscher Leistungsempfänger den öffentlichen Blick von sozialen Folgekosten der Einheit, wirtschaftlichem Strukturwandel sowie Globalisierung weglenkte und stattdessen den Akzent auf überzogenes Anspruchsdenken seitens der Leistungsempfänger legte. Vor diesem Hintergrund verfestigte der Umstand, dass Sozialhilfebezieher materielle Ansprüche offensiv formulierten und aktiv gerichtlich verfolgten, den Eindruck von der Dysfunktionalität des sozialen Netzes. Dämonisierende Berichte über deviante Sozialhilfeempfänger schürten den Verdacht, bestehende Regelungen ermöglichten ein arbeitsfreies Leben in komfortablem Müßiggang.
Welches Ausmaß dieser vermeintliche Missstand erreicht hatte, demonstrierte laut Bild-Zeitung niemand besser als der in Florida ansässige Rolf J. Vor dem Hintergrund der seit dem Sommer 2002 unter dem Stichwort „Fördern und Fordern“ wogenden Debatte über die Vorschläge der Hartz-Kommission zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, nahm Gerhard Schröder die Berichterstattung über „Florida-Rolf“ zum Anlass, Stärke zu demonstrieren.[94] Knapp zwei Wochen nach der ersten Schlagzeile mischte sich der Bundeskanzler ein und versprach, angesichts dieses „‚wirklich schlimme[n]‘ Beispiel[s] für den Missbrauch von Sozialleistungen“ Maßnahmen zu ergreifen, die „das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Staat und in die Gerechtigkeit sozialstaatlicher Lösungen nicht zerstören“.[95] Unmittelbar nach der Rückkehr aus der Sommerpause beschloss das Kabinett am 2. September 2003 einen Gesetzesentwurf, der, wie Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) in der Bild-Zeitung zitiert wurde, mit der Abschaffung des Paragrafen 119 „das Aus für Sozialhilfe unter Palmen“ besiegelte.[96] Dass es sich hierbei ganz im Sinne Schröders um einen symbolpolitischen Akt im Vorgriff auf die anstehenden Sozialreformen handelte, traf auf Kritik nicht nur in der taz, sondern auch in der Welt, die sich vor allem gegen die mit diesem Schritt einhergehende Erosion der Rechte der „Nachkomme[n] verfolgter Juden, also der Zielgruppe[...], auf die das Gesetz einst zugeschnitten war“, wandte.[97]
Diesen Vorwurf versuchte die Bundesregierung mit dem Argument zu entkräften, dass sich deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mittlerweile nicht mehr in „unabwendbaren Notlagen“ im Ausland als Folge „politischer oder rassischer Verfolgung“ wiederfänden und somit eine „vergleichbare[...] Situation“ nicht mehr bestehe, die in der Nachkriegszeit zur materiellen Unterstützung von aus dem Dritten Reich geflüchteten deutschen Jüdinnen und Juden geführt habe.[98] Dass ausgerechnet diese Gruppe kaum zu den Nutznießern der Auslandssozialhilfe gezählt hatte, spielte für die Regierungsstellen angesichts des medialen Erregungszustands im Sommer 2003 keine Rolle. Vielmehr ging es darum, ein politisches Zeichen im Geist der bevorstehenden Sozialreformen zu setzen. Das entsprach der Grundüberzeugung, die Schröder bereits 2001 gegenüber der Bild-Zeitung kundgetan hatte: „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft! Das bedeutet konkret: Wer arbeitsfähig ist, aber einen zumutbaren Job ablehnt, dem kann die Unterstützung gekürzt werden. Das ist richtig so.“[99] Oberflächlich betrachtet schien dieser Grundsatz auf niemanden besser zuzutreffen als auf Rolf J.
V. Schluss
Die bis 2003 bestehende Auslandssozialhilfe zeugt von einem im internationalen Kontext außergewöhnlichen, wenn auch selektiven Verantwortungsgefühl seitens der Bundesrepublik für das materielle Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger im Ausland. Vor 1945 als Auslandsfürsorge mit dem Ziel entwickelt, das deutsche Sozialsystem vor Zusatzbelastungen durch verarmte Rückkehrer zu schützen sowie nationale Minderheiten im Ausland zu stärken, nahm die junge Republik nach dem Zweiten Weltkrieg unter sorgfältiger Vermeidung deutschnationaler Untertöne die überkommene Praxis wieder auf. Damit reagierte die Regierung Adenauer auf die Notlage zahlreicher Deutscher, die sich als Folge von Kriegswirren, Vertreibungen und Kriegsgefangenschaft ohne Aussicht auf eine gesicherte Existenz außerhalb des Bundesgebiets wiederfanden. Auch die katastrophale materielle Lage vieler jüdischer Geflüchteter, die einst die deutsche Staatsbürgerschaft besessen und im europäischen Ausland den Holocaust überlebt hatten, zählte zu den Faktoren, die eine Wiedereinführung der Auslandsfürsorge nahelegten.
Ab 1952 formell institutionalisiert und 1961 nahtlos in das Bundessozialhilfegesetz überführt, richtete sich die Auslandssozialhilfe im Lauf der Jahre an einen heterogenen Personenkreis. Zwar nahm sich die Bundesrepublik damit vielgestaltiger Problemlagen an, blieb im Rahmen der Auslandssozialhilfe jedoch deutlich hinter ihrer moralischen Pflicht zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht zurück. Dies lag vor allem daran, dass Holocaust-Überlebende, ungeachtet öffentlicher Kritik an ihrer Notlage, nur sehr begrenzt Zugang zu Fürsorgeleistungen erhielten, da diese Form der Unterstützung deutschen Staatsangehörigen vorbehalten war. Nach einer Gesetzesänderung, um sogenannten Sozialhilfetourismus zu unterbinden, war Auslandssozialhilfe ab 1993 nur noch einem kleinen Empfängerkreis vorbehalten und machte einen verschwindend kleinen Haushaltsposten aus.
Trotzdem wurde die Auslandssozialhilfe 2003 zum Verstärker bundesweiter Empörung über das System sozialer Sicherung. Dass Nachrichten über einen Sozialhilfeempfänger, der in Miami in Strandnähe lebte, vor dem Hintergrund von Wirtschaftskrise, Rekordarbeitslosigkeit und Leistungskürzungen polarisierend wirken mussten, war Teil des Kalküls der Bild-Zeitung. Ihre Kritik zielte zum einen auf den Leistungskatalog für Sozialhilfeempfänger, der weit über die Bekämpfung sozialer Notlagen hinauszugehen schien. Zum anderen prangerte das Blatt aber grundsätzliche Funktionsschwächen des Sozialstaats an, die sich darin zeigten, dass Sozialhilfeempfänger zwar angeblich nicht arbeitsfähig waren, wohl aber ihre rechtlichen Belange mit Nachdruck verfolgen konnten. Mit ihrer Eigeninitiative sowie ihrer Anspruchshaltung konterkarierten die vom Boulevard beschworenen sozialen Dämonen die Vorstellung von Not und Hilflosigkeit, zumal eine Zeitung wie Bild die Ursachen individueller Bedrängnis systematisch in den Hintergrund rückte. Vielmehr signalisierte Durchsetzungsvermögen in den Augen der Redaktion eine manifeste Fähigkeit zu selbständigem Handeln – und somit auch zu geregelter Arbeit. „Florida-Rolf“ und „Viagra-Kalle“ eigneten sich somit bestens zur Dämonisierung als unmoralische „Sozialschmarotzer“, die ebenso wie Kriminelle vom Kaliber „Heinrichs des Gierigen“ eine untragbare Belastung für den Sozialhaushalt darstellten. Der Sozialstaat, so der von Bild erhobene Vorwurf, untergrabe mit seiner Großzügigkeit die Arbeitsmoral und amplifiziere auf diese Weise soziale Probleme, statt sie zu lösen.
Die auffällige Fokussierung sozialer Dämonisierung auf erwerbslose Männer vermittelte darüber hinaus den Eindruck, der Sozialstaat leiste einer Erosion traditioneller Männlichkeitsnormen Vorschub, und zwar nicht nur, weil Sozialhilfeempfänger ihrer Pflicht zur Versorgung von Frau und Kind nicht nachkamen, sondern auch weil ihre Familienverhältnisse dubios schienen. Egal ob es sich um den Bordellbesucher „Puff-Helmut“, den Scheidungssingle „Florida-Rolf“ oder den mit Potenzproblemen kämpfenden „Viagra-Kalle“ handelte, zeichnete das Blatt die Ehe als Institution, die sich in Sozialhilfeempfängerkreisen in prekärem Zustand befand. Durch die Förderung einer Lebensführung, die mit dem traditionellen Familienmodell unvereinbar war, untergrub der Sozialstaat, so der Subtext, das Fundament der Gesellschaft und stellte eine schleichende Bedrohung für die Geschlechterordnung dar.
Bild generierte also eine zweidimensionale „moral panic“, in deren Zentrum der Unmut über die Arbeitsethik und die Ehemoral männlicher Sozialhilfeempfänger stand. Dass Bild männliche Erwerbslose in den Mittelpunkt rückte, verweist auf die stillschweigende Annahme, dass Maßnahmen zur Krisenbewältigung auf die Remaskulinisierung von Leistungsempfängern durch geregelte Lohnarbeit abzielen müssten, um damit auch eine Stabilisierung der Ehe als gesellschaftlicher Institution zu bewirken. Diese indirekte Forderung stand in Einklang mit dem Verdacht gegen die zweifelhafte Arbeitsmoral vieler Leistungsempfänger, den kein geringerer als Kanzler Schröder medienwirksam geäußert hatte. Es war nur konsequent, dass die Rot-Grüne Koalition die Auslandssozialhilfe kurz nach Beginn der Bild-Kampagne abschaffte.
Mit dieser symbolischen Maßnahme war der Ton gesetzt für die bereits geplanten und 2004 verabschiedeten Hartz-Gesetze. Die durch die Dämonisierung von „Florida-Rolf“ verstärkte mediale Aufregung bereitete somit den Boden für Sozialreformen, die auf eine vielfach geforderte Aktivierung Erwerbsloser abzielten und diesen die Pflicht auferlegten, verstärkt nach Arbeit zu suchen und zumutbare Stellenangebote anzunehmen.
Die Bundesregierung erblickte in diesem Gesetzeswerk unter den Schlagworten Fördern und Fordern nicht nur eine Maßnahme zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, sondern auch zur Stärkung individueller Arbeitsmoral.[100] In welchem Umfang die Hartz-Reformen tatsächlich als Erfolg gewertet werden können, ist hoch umstritten. Einerseits sind seit 2005 höhere Erwerbs- und deutlich niedrigere Arbeitslosenquoten sowie geringere Sozialausgaben zu verzeichnen. Andererseits expandierte der Niedriglohnsektor, der für verschärfte Einkommensunterschiede und unsichere Beschäftigungsverhältnisse verantwortlich ist. Darüber hinaus erfahren viele Empfänger von Sozialleistungen ihren Alltag als ausgesprochen prekär, da sie sich unter erheblich stärkerer bürokratischer Überwachung befinden als vor den Hartz-Reformen.[101]
Für die Hauptperson des Mediensturms vom Sommer 2003 hatten die Gesetzesänderungen auf jeden Fall einschneidende Folgen. Nachdem sein Anspruch auf Auslandssozialhilfe zum 1. April 2004 erloschen war, kehrte Rolf J. vier Wochen später in die Bundesrepublik zurück.[102]Bild feierte seine Ankunft mit einer triumphierenden Schlagzeile: „Florida-Rolf wieder da!“[103] Zehn Jahre nachdem er die Aufmerksamkeit der Bild-Zeitung auf sich gezogen hatte, zeigte sich Rolf J. im Sommer 2013, trotz ursprünglichen Misstrauens, „nach mehreren längeren Telefonaten“ zu einem Treffen mit der Berliner Zeitung bereit.[104] Sehr um ein ausgewogenes Portrait bemüht, unterstrich der Journalist Rolf J.s Bestreben, seiner Existenz als Empfänger von Grundsicherung positive Seiten abzugewinnen. J. vertreibe „sich die langen Tage mit ausgedehnten Spaziergängen, [...] mit Einkäufen und mit dem Kochen, einer spät erwachten Leidenschaft“. Der Rückkehrer aus Miami gab an, er habe gelernt, „genügsamer zu werden“. Allerdings fehlte es in der ausführlichen Reportage nicht an deprimierenden Details. Rolf J. wohnte nun in einer kleinen, „zweckmäßig eingerichtete[n]“ Hinterhofwohnung in Berlin. Er litt weiterhin an den „Schmerzattacken seiner Bauchspeicheldrüse“, die ihn bereits Jahre zuvor hatten arbeitsunfähig werden lassen. Da er „einen neuen Freundeskreis [...] seit seiner Rückkehr [...] nicht mehr aufgebaut“ habe, sei seine Wohnung, in der „[d]as Küchenradio [...] ebenso permanent zu laufen [schien] wie der gerade auf tonlos gestellte Fernseher“, von „allgegenwärtige[m] Alleinsein“ geprägt. Vor allem aber sei sein „Kampfeswille [...] Resignation und Milde gewichen“, wobei „man spürt, dass sich die erzwungene Rückkehr [...] nach all den Jahren noch wie eine Niederlage anfühlt“. Diesen Sozialhilfeempfänger hatte die Agenda 2010 keineswegs aktiviert oder remaskulinisiert. Sie hatte ihn vielmehr so nachhaltig diszipliniert, dass er nun dem konventionellen Bild eines hilfsbedürftigen, passiven Leistungsempfängers deutlich besser entsprach als zur Zeit der Boulevardkampagne zehn Jahre zuvor.
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- „Florida-Rolf“ lässt grüßen
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- „Abolish Economists!“
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