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Noch einmal: Erklären und Verstehen

Zum Unterschied von empirischer und kultureller Erfahrung
  • Volker Schürmann EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 2. August 2025
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Zusammenfassung

Gegen weit verbreitete Auffassungen, dass die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen überholt sei, ist die leitende These des Beitrags, dass sich das sachliche Problem, auf das diese Unterscheidung hingewiesen hatte, nicht erübrigt hat. Völlig zurecht sagen wir, dass ein Witz kein Witz mehr ist, wenn man ihn erklären muss. Die Aufgabe ist deshalb, den grundsätzlichen Unterschied so zu formulieren, dass er nicht zum Dualismus gerät, und insbesondere das Verstehen nicht als vermeintlich nicht objektivierbar aus dem Bereich des Wissenschaftlichen ausgrenzt. Das wiederum verlangt eine Binnendifferenzierung im Erfahrbaren, hier empirische und kulturelle Erfahrung genannt. Als wissenschaftstheoretischer Beitrag argumentiert er nicht spezifisch sportwissenschaftlich. Allerdings wird die Sportwissenschaft dort wichtig, wo es um Phänomene des Präsentischen geht. Von ihnen hat Gumbrecht in Lob des Sports geltend gemacht, dass sie weder erklärt noch verstanden werden können bzw. sollten. Dagegen wird der Beitrag darauf insistieren, dass es darum geht, sportliches Sich-Bewegen zu verstehen – mit praktischen Konsequenzen auch diesseits akademischer Distinktionsgewinne.

Summary

Contrary to the widespread view that the fundamental distinction between explaining and understanding is outdated, the guiding thesis of this article is that the factual problem to which this distinction refers has not become superfluous. We are quite right to say that a joke is no longer a joke if you have to explain it. The task is therefore to formulate the fundamental difference in such a way that it does not become dualistic and, in particular, does not exclude understanding from the realm of the scientific as supposedly not objectifiable. This in turn requires an internal differentiation within what can be experienced, here called empirical and cultural experience. As a contribution to the philosophy of science, the article does not argue specifically in terms and cases of sports science. However, sports science becomes important when it comes to phenomena of the so-called presentic. In his In Praise of Athletic Beauty, Gumbrecht argues that these phenomena can and should neither be explained nor understood. In contrast, this article insists that the aim is to understand sporting movement–with practical consequences even beyond academic gains in distinction.

„Umrandung, Kontur lassen sich zeichnen, der Sachverhalt der Begrenzung läßt sich nur verstehen, aber nicht zeichnen.“ (Plessner 1928: XX)

Die folgenden Überlegungen sind wissenschaftstheoretischer Art. Sie sind damit, zunächst wenigstens und logisch primär, nicht spezifisch für die Sportwissenschaften, vertrauen aber darauf, dass es auch in den Sportwissenschaften ein übergreifendes Interesse daran gibt, was das, gegebenenfalls eigentümlich, Wissenschaftliche an den Sportwissenschaften ist. In dem weiten Feld der Wissenschaftstheorie geht es um die Frage, was die Hermeneutik als Lehre vom Sinn-Verstehen ausmacht. Eine Antwort auf diese Frage ist unter anderem ein Beitrag zu der Frage, worin das Wissenschaftliche der humanities und worin das spezifisch Wissenschaftliche der humanities in Unterscheidung von den sciences liegt.

1 Das Anliegen

Um die Hermeneutik ist es ruhig geworden. Es ist nicht still um sie geworden. Nach wie vor ist auch in den Wissenschaften präsent, dass es darum geht oder gehen könnte, Heilige Schriften, andere Kulturen, Musik zu verstehen, und auch in den Methodenlehren greifen Konzepte qualitativen Forschens noch auf hermeneutische Traditionen zurück. Aber das Sinn-Verstehen drängt sich nicht mehr auf; es ist nicht mehr, sagen wir: im Vergleich zu den Lebzeiten Gadamers, ein naheliegender oder gar selbstverständlicher Kandidat der wissenschaftlichen Analyse. Das gilt insbesondere für die Sportwissenschaften. Dass es heutzutage naheliegend geschweige häufig ist, sportliche Bewegungen verstehen zu wollen, wird man nicht behaupten können. In den Sportwissenschaften geht es primär darum, sportliche Bewegungen funktional-analytisch zu erklären, und es gibt einige Ansätze, sportliche Bewegungen phänomenologisch zu analysieren, zuletzt ergänzt um neophänomenologische Ansätze im Klima einer Renaissance von Hermann Schmitz. Demgegenüber ist der von Prohl und Seewald (1995) herausgegebene Sammelband Bewegung verstehen heutzutage kaum noch bekannt, geschweige in der Diskussion. Das hat sicher auch etwas mit schwierigen Abgrenzungsproblemen zwischen Phänomenologie und Hermeneutik zu tun, zumal es explizit hermeneutische Phänomenologien gibt (Römer 2023). Aber selbst dort fällt beides nicht zusammen, und alle Nähe zwischen Phänomenologie und Hermeneutik beseitigt nicht die systematische Differenz zwischen hermeneutischem Sinn-Verstehen und phänomenologischer Analyse (vgl. früh und grundsätzlich dazu Misch 1929/30). Dass es heutzutage (auch) in den Sportwissenschaften kaum noch hermeneutische Ansätze gibt, hat ganz sicher vielfältige, und primär wissenschaftssoziologisch zu untersuchende, Gründe. Aber es gibt auch einen inneren Grund aus der Sache selbst heraus.

Das Sinn-Verstehen benötigt einen Gegenbegriff, und dieser Gegenbegriff ist traditionell der des Erklärens. Die Debatten um diese Unterscheidung sind regalefüllend und Legende, aber das Ergebnis dieser Debatten ist erdrückend: Die Unterscheidung von Erklären und Verstehen scheint veraltet zu sein, und zwar ganz unabhängig davon, woran man den Unterschied festmacht. Bei Max Weber wird beides in einem Atemzug genannt, so dass kein grundsätzlicher Unterschied bestehen bleibt: „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“ (Weber 1921: 542). Die traditionellen Kandidaten, an denen man den Unterschied von Verstehen und Erklären festmachen wollte, haben sich als unhaltbar erwiesen. Es ist nicht so, dass Naturwissenschaften (generell) erklären, während Geisteswissenschaften (generell) verstehen; es ist auch nicht so, dass es bestimmte Gegenstände gibt – etwa naturale –, die man nur erklären könne, während man andere, dann kulturelle, nur verstehen könne. Das alles scheitert daran, dass es nicht die Natur selbst ist, die eine Grenze zwischen Natur und Kultur zieht, sondern dass diese Unterscheidung eine kultürliche Grenze ist; und erst recht ist es nicht so, dass die Naturwissenschaften die naturale Seite dieser kultürlichen Unterscheidung von Natur und Kultur erforscht, und die Geisteswissenschaften die kulturelle. Wir wissen schließlich, dass es so etwas gibt wie biomechanische Analysen kultureller, etwa sportlicher Bewegungen, und wir können auch um Ansätze von Natur-Hermeneutiken wissen. Generell kann man sagen, dass die Unterscheidung von Verstehen und Erklären in der Wissenschaft(stheorie) eine unleidliche Rolle gespielt hat, weil sie als Dualismus gehandhabt wurde (Daniel 2001: 400–409). Deshalb ist das Ergebnis dieser Debatten so erdrückend: die Unterscheidung selbst scheint unhaltbar zu sein.[1] Aber genau auch deshalb ist dieses Ergebnis so unbefriedigend.

Das Ergebnis ist in beide Richtungen unbefriedigend. Es ist schlicht nicht plausibel, dass die mit Bezug auf kanonische Phänomene eingeführte und so lange hitzig debattierte Unterscheidung gar nichts einfängt und sich einfach in harmonische Luft auflöst. Und andersherum: Dass die Unterscheidung durch einen Dualismus unterlegt wurde, macht sie nicht überflüssig, sondern fordert ganz im Gegenteil dazu auf, sie eben als Unterscheidung, und nicht als Dualismus, zu handhaben. Das wäre das Programm, die Unterscheidung von Verstehen und Erklären nicht durch einen Dualismus von Entitäten oder Phänomenen zu unterlegen, sondern sie als Perspektivendifferenz zu reformulieren. Das wiederum verlangt die Umstellung auf eine Dreierstruktur, vorausgesetzt man hält daran fest, dass es sich tatsächlich um eine Unterscheidung handelt, deren Seiten sich nicht monistisch auf die je andere reduzieren lassen. Dreierstruktur deshalb, weil zwei grundsätzlich unterschiedene, nicht aufeinander reduzierbare, Perspektiven dann und nur dann nicht ihrerseits dualistisch auseinanderfallen, wenn sie Perspektiven ‚desselbigen‘ sind. Wer an konkrete Beispiele denkt, muss dann ein und dasselbe Phänomen festhalten, das man sowohl verstehen als auch erklären kann, womit aber je etwas grundsätzlich anderes in den Blick kommt. Zum Beispiel ein Hochspringen, das man als Bewegungsverlauf eines menschlichen Organismus biomechanisch erklären kann oder aber als personale Sinn-Gestaltung verstehen kann.

Der programmatische Grundsatz lautet dann also: Verstehen und Erklären sind zwei verschiedene Arten und Weisen („Modi“) Desselbigen, sagen wir probeweise: zwei verschiedene Modi des Erfahrens (ausführlicher Schürmann 2024).

2 Der Einsatzpunkt: Was die Unterscheidung einfängt

Was nun ist die Problemgemengelage, auf die jene Unterscheidung von Verstehen und Erklären hinweist? Was ist der Ansatzpunkt der Vermutung, dass sich wissenschaftliche Analysen auch grundlegend unterscheiden, so dass die Unterscheidung von Erklären und Verstehen je Eigenes trifft und beides wechselseitig unreduzierbar aufeinander ist? Einen Hinweis, wenn auch noch keine überzeugende Antwort, gibt die alte Unterscheidung von „nomothetischen“ und „idiographischen“ Wissenschaften: „Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war“ (Windelband 1894: 12). So wenig überzeugend es ist, diese Unterscheidung zwischen ‚auf allgemeine Gesetze bezogen‘ und ‚auf einzigartig Einzelnes bezogen‘ mit einer Unterscheidung ganzer Wissenschaftsgruppen, also einem Dualismus von Phänomenen, gleichzusetzen, so ist es doch immerhin plausibel, beide Analyseformen je für „typisch“ zu halten, sei es für die Naturwissenschaften, sei es für die Geisteswissenschaften. Aber auch das ist noch keine Antwort, sichtbar z. B. daran, dass ein solcher Verweis auf eine Typik einen ratlos bei der Frage zurücklässt, was denn typisch für die Psychologie sei. Gleichwohl ist die Grundintuition klar: Irgendetwas stimmt nicht, wenn man Napoleons verlorene Schlacht bei Waterloo als Fall einer allgemeinen historischen Gesetzmäßigkeit „erklärt“. Eine solche Erklärung funktioniert nicht recht, denn sie macht den Unterschied zwischen dieser Niederlage und einer beliebig anderen, etwa Caesars Niederlage in Gergovia, entweder zu pauschal klar oder durch Verzettelung in einer langen und unabschließbaren Liste von teils idiosynkratischen Bedingungen, denen solche Schlachten unterlagen. Wichtiger aber ist, dass eine solche „Erklärung“ einer Schlacht nicht sein soll, weil eine solche Erklärung (als Fall eines Gesetzes) der Freiheit der Beteiligten ins Gesicht schlägt. Zwar verlor selbst Napoleon die Schlacht nicht jenseits aller historischen Bedingungen, aber auch Napoleon war weder Erfüllungsgehilfe geschweige Inkarnation des Weltgeistes. Ein strikt deterministisches Geschichtsverständnis ist spätestens in der politischen Moderne anachronistisch, und man repariert ein strikt deterministisches Verständnis nicht dadurch, dass man nur noch stochastische Gesetzmäßigkeiten zulässt. Jene Grundintuition, eine solche Schlacht könne man nicht erklären, sondern müsse sie verstehen, appelliert daran, beide Momente des berühmten Marxschen Diktums zugleich festzuhalten: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ (Marx 1852: 115)

Analoges gilt für Kunstwerke, seien es Gemälde, Romane, Gedichte, Musikstücke, Skulpturen, Performances, was immer. Kunstwerke wollen in ihrer Einzigartigkeit verstanden werden, und nicht als Fall einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit erklärt werden. Auch hier gilt die Beobachtung, dass eine solche Erklärung nicht so recht funktioniert, und vor allem gilt auch hier, dass eine solche Erklärung nicht sein soll, weil sie die Spezifik des singulären Kunstwerks nicht einfängt. Ein durch KI erzeugtes ‚Kunstwerk‘ mag beeindruckend und staunenswert sein, aber es ist und bleibt eine rein technisch erzeugte Neukombinatorik vorher bestehenden Materials; ein solches Erzeugnis hat weder dieses Material noch die Situation seines Erzeugens kommentiert. Ein Kunstwerk dagegen ist nicht deshalb Kunst, weil seine technische Herstellung von großer Güte oder gar perfekt ist, sondern weil es ein Stellungnehmen in der Situation zu der Situation ist. Ein Kunstwerk öffnet uns daher (potentiell) in ganz anderer Weise die Augen, als jedes Beeindrucktsein von technischer Güte es je vermag.

Analoges gilt für sportliche Bewegungen. Das eine, und ganz sicher ein großer Gewinn, ist es, eine solche Bewegung als gesetzmäßigen funktionalen Zusammenhang eines menschlichen Organismus zu erklären, der unter angebbaren physischen, biotischen, chemischen, psychischen, sozialen, ökonomischen, ideologischen, alltagskulturellen, rechtlichen usw. Bedingungen realisiert ist. Das andere ist, was eine frei handelnde Person in ihrem Sich-Bewegen aus und mit diesen Bedingungen macht.

An dieser Stelle mag man mit den Augen rollen, weil diese Unterscheidung zwischen menschlichen Organismen und frei handelnden Personen allzu deutlich eine Verbeugung vor der reinen Schreibtischtätigkeit von Kant ist,[2] was man, durchaus nicht grundlos, als transzendentale Lüge abtun kann. Aber man könnte stattdessen auch einen Blick auf typische Trainingssituationen werfen, um zu sehen, dass es Trainingsregime gibt, die „kranke“ Systeme generieren, weil sie den Unterschied von menschlichen Organismen und frei handelnden Personen schleifen.[3] Aber auch sehr weit diesseits solch drastischer Hinweise ist das Insistieren auf einem grundsätzlichen Unterschied von Verstehen und Erklären davon getragen, keine bloße Schreibtischunterscheidung zu sein, sondern eine solche, die sich auch und gerade in sportlicher Praxis bemerkbar macht. Ich habe versucht, das exemplarisch am Fall der unterschiedlichen Methodiken aufzuzeigen, die es dafür gibt, sportliche Bewegungen zu lehren und zu lernen, einschließlich der unterschiedlichen Beiträge, die die Sportmotorik (exemplarisch Hossner & Künzell 2022) und die Bewegungspädagogik (festgemacht an den Autoren Bietz, Loibl, Scherer) dazu leisten (Schürmann 2024: Kap. 2.11 u. 3; vgl. Arenz und Schürmann 2025).

3 Was auf dem Spiel steht: Die Mitteilbarkeit des Verstehens

Doch jene ‚Rettung‘ einer grundsätzlichen Differenz ist nur die eine Richtung der Abgrenzung, und es benötigt eine zweite Abgrenzung. Es gibt nämlich auch nicht- oder anti-hermeneutische Positionen, die die Grundintuition eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen Verstehen und Erklären teilen, und die diesen Unterschied durchaus auch an die Rolle des Individuellen und an das Moment der Freiheit personalen Handelns binden. Aber dort gerät die grundsätzliche Differenz zum Dualismus, weil das dritte Moment nicht thematisiert wird, welches eine Unterscheidung erst zu einer Binnenunterscheidung, statt zu einem Dualismus, macht. Ein solcher Dualismus dokumentiert sich in zahllosen Variationen der Unterstellung, dass man dem singulär Einmaligen wissenschaftlich nicht gerecht werden könne, also auch nicht wissenschaftlich verstehen könne. Das singulär Einmalige sei, je nach Variation, fluide, hybrid, nicht auf die Sprache der Worte zu bringen, rein privat und ausschließlich in Erster-Person-Perspektive ‚erfahrbar‘ etc. Historisch dokumentiert sich diese Unterstellung in der Lebensphilosophie, aber der ‚romantische‘ Zug der Unterstellung der wissenschaftlichen Unerreichbarkeit ist kein Privileg der Lebensphilosophie. Auch bei Adorno schimmert diese Unterstellung durch, wenn er auf der, bei Licht besehen, Selbstverständlichkeit insistiert, dass das singulär Einmalige nicht wiederholbar sei, aber mit diesem Argument nahelegt, es gebe gar keine Objektivierung des singulär Einmaligen, da Verallgemeinerung vermeintlich an Wiederholung gebunden sei. Überall dort gerät die grundsätzliche Unterscheidung von Verstehen und Erklären zu einem Dualismus von wissenschaftlich und nicht-wissenschaftlich. In allen genannten Beispielen wird das jeweilige ‚nicht-wissenschaftlich‘ positiv (und als nötig komplementär zu ‚wissenschaftlich‘) bewertet; die Tragweite dieses Dualismus sieht man aber bei gegenteiliger Bewertung in szientistischen Konzeptionen. Dort wurzelt die Polemik: Naturwissenschaften erklären und Geisteswissenschaften dichten.

Ein prominentes Beispiel in der Sportwissenschaft ist Lob des Sports von Gumbrecht. Gumbrecht (2005) beharrt mit überzeugenden Gründen darauf, dass der Sport eine „Präsenzkultur“ sei, die grundsätzlich in ihrer Eigenheit nicht durch repräsentische Formen des Wissens einzufangen sei. Gumbrecht kritisiert äußerst scharf alle Positionen (die ihm spürbar schon rein körperlich zuwider sind), die uns weismachen wollen, dass wir dann, wenn wir Sport treiben oder beim Sport zusehen, eigentlich nur stellvertretend tätig sind. Eigentlich würden wir dann etwas anderes tun, wahlweise den Kapitalismus stützen, für unsere Gesundheit sorgen, die Gesellschaft zusammenhalten, unsere Nation vertreten, was immer. Demgegenüber hält Gumbrecht entschieden fest, dass der Sport das seinetwegen alles auch sei, aber dass ihn das nicht in seiner Eigenart treffe: Sport sei eine Präsenzkultur; er stehe nicht stellvertretend („re-präsentisch“) für etwas Anderes. Gumbrecht zieht aus dieser, durchaus zustimmungspflichtigen, Diagnose allerdings den offensiven Schluss, dass auch die Hermeneutik als Lehre vom Verstehen auf eine repräsentische Form des Wissens ziele. Insofern werde man Präsenzkulturen auch und gerade nicht durch ein Verstehen gerecht; vielmehr benötige es Zugänge „diesseits der Hermeneutik“ (Gumbrecht 2004). Bezogen auf den Sport heißt das mit Gumbrecht: Das singulär Einzigartige eines sportlichen Wettkampfs (z. B. in Abgrenzung zu einer ökonomischen Konkurrenz) zeige sich (nur) epiphanisch – und daran scheiden sich dann die Geister: die Eingeweihten sind sich dem Gehalt solcher Epiphanien gewiss, alle anderen warten draußen vor der Tür und erzählen uns weiterhin, dass wir eigentlich einer ökonomischen Konkurrenz, einem Gesunderhaltungsprogramm oder einem Event zur Stärkung von Gesellschaft und/oder Nation beiwohnen. Denen ist dann auch nicht zu helfen. Selbstverständlich bestreitet Gumbrecht vehement, dass er damit einen Dualismus einführe. Er habe doch gar nichts gegen die Hermeneutik, die durchaus ihre Berechtigung und Wichtigkeit habe. Es sei gar kein Dualismus, weil ja doch beides nötig sei. Aber wir sollten ihm das nicht als Argument durchgehen lassen. Wenn zwei Dinge nötig sind, ändert das rein gar nichts an deren Eigenheiten. Der pure Verweis darauf, dass es nicht möglich ist, 24/7 zu arbeiten, weil es zwischendurch auch vergnügliche Erholung braucht, macht aus der Arbeit noch kein Vergnügen. Epiphanien im Sinne Gumbrechts sind nicht verstehbar, sondern vermeintlich unmittelbar gewiss, und das ist ein Unterschied ums Ganze.[4] Verweise auf unmittelbare Gewissheit sind konstituiert durch ein snobistisch-aristokratisches Moment: nur Eingeweihte teilen diese Gewissheit. Oder mit Hegel: Es ist ein Appell ans „inwendige Orakel“, der die „Wurzel der Humanität mit Füßen“ tritt, die vielmehr in der Verständigung, in der Mit-Teilung liegt (Hegel 1807: 64 f.).

Gumbrecht ist, wie gesagt, nur ein Beispiel. Auch die phänomenologischen Ansätze in der Sportwissenschaft kämpfen damit, dass ihnen die Unterscheidung zwischen Nomothetik (Dritte-Person-Perspektive) und Idiographie nicht zum Dualismus gerät, weil sie zwingend damit kämpfen, dass ihnen die Erste-Person-Perspektive nicht zu einer einsam-egologischen Gewissheit von Königskindern gerät, die im Nachhinein die unlösbare Aufgabe erwartet, sich auch miteinander zu verstehen. Merleau-Ponty repariert dieses Dualismus durch die Einführung der Kategorie der Zwischenleiblichkeit (ausführlich dazu Meyer-Drawe 1984), d. h. die Erste-Person-Perspektive wird zur Erste-Person-Plural-Perspektive. Aber es bleibt schillernd, ob diese Reparatur gelingt. Die Phänomenologie wäre wohl nicht mehr Phänomenologie, wenn sie nicht die grundlegende Rolle der Lebenswelt betont. Aber durch den Rekurs auf eine phänomenologisch gefasste Lebenswelt bekommt die Wissenschaft einen prinzipiellen Makel. Sie mag nützlich sein, aber dieser Nutzen sei erkauft durch eine verzerrende Fixierung, um nicht mit Adorno zu sagen: Verdinglichung, des ursprünglichen Phänomens. Hier ist die umgekehrte Polemik angelegt: Geisteswissenschaften stoßen zu den Sachen selbst vor, Naturwissenschaften quantifizieren (so deutlich angelegt bei Becker 2021). Die jüngst vernehmbarer werdenden neo-phänomenologischen Ansätze wollen den Dualismus von Wissenschaft und Lebenswelt erst gar nicht reparieren, sondern stellen ihn eigens heraus. Auch dort quantifizieren und fixieren die Wissenschaften ihre Gegenstände, allen voran den Körper; das mag nützlich und hilfreich sein wie auch immer, sei und bleibe aber Verrat am Leib, den man nur Spüren könne und müsse. Dies ist das lebensphilosophische Erbe der neophänomenologischen Stiftungsfigur Ludwig Klages und dessen Dualismus von Geist und Leben.[5]

Angesichts dieser doppelten Abgrenzung gilt es also, zwei Fragen zu beantworten: Was macht die grundsätzliche und nicht-dualistische Differenz von Erklären und Verstehen aus? Und zweitens: Gibt es ein objektiviertes Verstehen von Präsentischem oder bleibt es dort bei subjektiven Versicherungen von Gewissheiten?

Auch Antworten auf diese Fragen sind, zunächst, nicht spezifisch für die Sportwissenschaften (s. o.). Aber es ist auch nicht beliebig austauschbar, dass Gumbrecht gerade auf den Sport verweist. Folgt man ihm in der Diagnose – und ich denke, dass man es tun sollte –, dass der Sport eine Präsenzkultur ist, dann kann man am Sport auch die Grundsätzlichkeit des Unterschieds von Verstehen und Erklären prototypisch aufzeigen. Dort, wo in traditionellen Hermeneutiken die besondere und aussagekräftige Rolle der Kunst thematisiert wird, kann auch, und vielleicht sogar besser, der Sport einspringen. Will man dann noch den Verdacht ausräumen, das Verstehen sei nur für re-präsentischen, nicht aber für präsentischen Sinn zuständig resp. geeignet, empfiehlt es sich, sich nach einer „‚anderen‘ Hermeneutik“ (Weingarten 2005) umzuschauen. Deshalb knüpfe ich hier an die lebenslogische Hermeneutik von Georg Misch und Josef König an, entwickelt in engem wechselseitigem Bezug zur philosophischen Anthropologie von Helmuth Plessner. Damit dürfte dann der Relevanz der Sportwissenschaften genügend Ehre erwiesen sein, denn Plessner ist, vermittelt etwa über Ommo Grupe oder Eckhard Meinberg, eine Stiftungsfigur der Sportwissenschaften.

4 Verstehen, Erklären, Erfahren

In der Hermeneutik ist das Verstehen eingeführt als Sinn-Verstehen. Dem sei hier gefolgt, was zugleich heißt, dass alle folgenden Überlegungen nur relativ zu dieser Grundprämisse plausibel oder unplausibel sind. Verstehen kann man dann nur Sinngebilde, und das Verstehen kommt für Nicht-Sinngebilde erst gar nicht in Frage. Phänomene, die von Haus aus keinen Sinn haben (was immer Sinn dabei genau meinen mag), oder Phänomene, bei denen man vom Sinngehalt absieht (z. B. zum Zwecke des Erklärens, oder indem man den Sinn zu einer Erklärungsgröße macht; s. u., Anm. 9), kann man weder verstehen noch missverstehen. Nicht-Sinngebilde sind weder verständlich noch unverständlich, sondern averständlich; sie sind keine Kandidaten für Verstehen.

Mit diesem Einsatzpunkt entspringt zugleich eine Doppeldeutigkeit von „Verstehen“. Verstehen heißt, das Gebilde in seinem Sinn zu verstehen(1), also dieses Gebilde auszulegen, es zu deuten, es zu interpretieren – aber dazu muss man bereits verstanden(2) haben, es überhaupt mit einem Sinngebilde zu tun zu haben. Diese Differenzoperation des Verstehens(2) ist keineswegs trivial. Im Gegenteil gibt es zahlreiche plakative Fälle, in denen das Ergebnis dieser Differenzoperation heftigst umstritten ist, z. B. bei der Frage, ob ein Gedanke ein Gehirnstrom ist. Aber auch in ganz harmlosen Fällen hat das Verstehen(2) bereits seine Arbeit geleistet – etwa dort, wo man ein Gewitter mal als meteorologisches, mal als kulturgeschichtliches Phänomen analysiert. Hermeneutik ist daher traditionell – implizit beginnend bereits mit Hermes, explizit dann mit Misch einerseits, Heidegger andererseits – ein Doppeltes von erkenntnistheoretisch-methodologischer Auslegungslehre und ontologischer Konstitutionslehre (Gadamer 1974). Salopp gesprochen: Irgendwie muss Sinn ja drinstecken, wenn man ihn auslegend wiedergewinnen will.

Hermeneutische Ansätze nehmen daher bei Sinngebilden ihren Ausgang. In der Sportwissenschaft gibt es sie relativ spärlich (etwa Meinberg 1987, Prohl 1995, Schürmann 2010). Aber auch phänomenologische Ansätze nehmen Phänomene als Sinngebilde, wobei sie, wie gesagt, damit kämpfen, dies nicht als rein subjektiven Sinn auszulegen. Nicht zuletzt gibt es eine weitere, sehr viel breitere Strömung in der Sportwissenschaft, die ihre Gegenstände (des Sports) als Sinngebilde nimmt, nämlich die semiotischen Ansätzen von Lenk über Gebauer, Franke, Hildenbrandt, Drexel, Alkemeyer, Bietz, Brümmer und vielen anderen (Alkemeyer 2003). Dort werden die Gegenstände wahlweise als Zeichen, als Symbol, als Inszenierung – so oder so als Sinngebilde genommen. In dieser Traditionslinie ist freilich eher von Bedeutung denn von Sinn die Rede: Zeichen sind ein Doppeltes von Zeichenträger und Bedeutung, so die dortige Version von „Sinngebilde“ (weshalb ich im Folgenden „Sinn“ und „Bedeutung“ synonym verwende). Schon länger ist dort zwar nicht mehr von Semiotik die Rede, aber die Grundidee, den Ausgang bei Sinngebilden zu nehmen, ist geblieben. In eher soziologischen Kontexten geht es um eine „Kultursoziologie“ (Brümmer et al. 2021); in eher sprachphilosophischen Kontexten geht es um Symbolisierungen im Anschluss an Cassirer, prominent in den Arbeiten von Elk Franke und Jörg Bietz.

Es gibt zwei springende Punkte bei diesen, unter sich sehr verschiedenen Ansätzen, von Sinngebilden den Ausgang zu nehmen. Zum einen ist dabei je (mit schwankender Klarheit) die semiotische Bedeutung von „Bedeutung“ bzw. von „Sinn“ gemeint, nicht aber die psychologische Bedeutung von „Bedeutung“. Gemeint ist, dass ein Zeichen eine Bedeutung hat; nicht (primär) gemeint ist, dass ein Zeichen für jemanden bedeutsam bzw. sinnvoll ist. Eine Bedeutung zu haben heißt, als etwas zu gelten, unabhängig davon, ob du oder ich diesem Etwas diese oder eine andere ‚Bedeutung‘ oder Bedeutsamkeit zuschreiben. Das Paradebeispiel eines solchen semiotischen Ansatzes ist eine Geldnote als institutionalisierte Tatsache (Searle), die entweder gültig ist oder nicht, unabhängig davon, ob du oder ich das wahrhaben wollen, ob du oder ich eine solche Geldnote lieber als Zigarrenanzünder nutzen wollen oder was immer. Semiotische Bedeutung gibt es daher nur mitweltlich (im Sinne Plessners), nicht aber logisch primär individuell-subjektiv, um dann verallgemeinert zu werden. In diesem Sinne ist personales Handeln eo ipso verstrickt in Sinnbezüge bzw. in ein je bestimmtes „Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1983: 9). Deshalb ist der auch hier vertretene Kulturbegriff „wesentlich ein semiotischer“ (ebd.).[6]

Zum zweiten, oder besser: deshalb, gibt es Sinn nur in personalen Welten, in Kulturen – Natur gilt in semiotischen Ansätzen als asinnhaft. ‚Kultur‘ ist hier kein Teilaspekt von personalen Welten, den man von anderen Aspekten, etwa dem Ökonomischen oder dem Rechtlichen, unterscheiden könnte, sondern der Titel für personale Welten, im Unterschied zu naturalen Welten. Kultur ist also synonym mit Gesellschaft, Mitwelt, personale Welt, hebt aber eigens heraus, dass personale Welten eo ipso Sinn-Welten sind. Der semiotische Kulturbegriff ist damit eine Reformulierung der Unterscheidung von Welt und Umwelt bei v. Uexküll und Plessner (vgl. Krüger 2019: Kap. 7). Den Ausgang von Sinngestalten zu nehmen heißt dann, den Sport (in diesem übergreifenden Sinne) kulturwissenschaftlich bzw. kulturphilosophisch zu analysieren. Schon die Oberfläche jener semiotischen Ansätze stellt diesen springenden Punkt heraus: der Mensch als animal symbolicum (Cassirer), Kultursoziologie, Gesellschaft als Inszenierung. All das meint: Eine Person ist nicht zunächst triebhaft, ökonomisch interessiert, sozial den Mitmenschen im Auge habend, wie auch immer unterwegs, um dann, logisch sekundär, gelegentlich die Laune zu entwickeln, in Sinnbezüge einzutauchen, sondern er gilt in semiotischen Ansätzen als Wesen, das handelnd in Bedeutungsgewebe verstrickt ist. Dass man dieselbe personale Welt auch als naturale, als gegebene, als nicht qua Sinn gestaltete Welt in den Blick nehmen kann, ist uns allen bekannt und geläufig, ist in semiotischen Ansätzen aber ein logisch sekundäres Absehen von Sinn. Genau dies ist auch der Clou von dichten Beschreibungen im Sinne von Geertz: Eine dichte Beschreibung beschreibt das zu Beschreibende als etwas, also in dessen Bedeutung. Spontan sehen wir keine schnelle Bewegung des Augenlides, sondern ein Sinngebilde, nämlich entweder ein bloßes Zucken oder ein Blinzeln (Geertz 1983: 10–12).[7] Eine dünne Beschreibung ist demgegenüber kein Makel, sondern sieht aus Gründen und Anlässen von der Bedeutung des zu Beschreibenden ab.

So oder so leben semiotische Ansätze (auch) in den Sportwissenschaften von einer Unterscheidung von Kultur und Natur. Man muss heutzutage nicht eigens betonen, dass dies das ganze Unternehmen scheinbar oder tatsächlich wieder an den Anfangspunkt zurückwirft: Die Natur-Kultur-Unterscheidung sei schließlich wahlweise alteuropäisch, dualistisch, überflüssig oder fehlleitend – in Wahrheit könne man die Unterscheidung gar nicht machen, da alles hybrid, fluide und bunt sei. Als eine Stimme unter vielen: „Während wir zwei Kammern für unbedingt notwendig erachteten, um unser Kollektiv zusammenzuhalten, bestanden die anderen Kulturen stets darauf, nicht zwei zu haben. […] Es gibt nur Naturen/Kulturen oder vielmehr Kollektive, die […] verstehen wollen, was sie gemeinsam haben könnten.“ Die anderen Kulturen „ignorierten die Unterscheidung“ (Latour 2001: 64).

Will sagen: Eine grundsätzliche, aber nicht dualistische Unterscheidung von Erklären und Verstehen herausstellen zu wollen, ist äquivalent zu einem Versuch, das Verhältnis von Natur und Kultur als grundsätzlichen, aber nicht dualistischen Unterschied zu bestimmen. Klar ist dabei lediglich, dass die Unterscheidung von Natur und Kultur eine kultürliche Unterscheidung ist, also von innerhalb einer Kultur vollzogen wird, weil uns die Natur nicht selbst sagt, wo und wie sie von Kultur zu unterscheiden ist. Hier liegt also eine entscheidende Weichenstellung für das hermeneutisch-semiotische Bemühen, die Erklären-Verstehen-Unterscheidung plausibel zu machen. Diese Weichenstellung kann hier nur markiert werden; sie ist andernorts näher begründet.[8]

Diese Umstellung auf eine Dreierstruktur – die Unterscheidung von Natur und Kultur innerhalb von ‚Kultur‘ – ist der oben markierte entscheidende Schachzug der hier vorgenommenen Verhältnisbestimmung von Erklären und Verstehen, nämlich diesen Unterschied als einen Perspektivenunterschied, und nicht als zwei Sorten von Weltzugängen zu konzipieren. Schon Windelband (1894: 12) hatte diesen Punkt herausgestellt. Es gehe um die Behandlung von Gegenständen, nicht um deren Inhalt, weshalb „auch dieselben Gegenstände zum Objekt einer nomothetischen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden können“. Das hänge auch damit zusammen, dass man den Zeitraum des Untersuchten variieren kann und muss. Das, was „immer“ ist, ist je an ein bestimmtes Immer gebunden: „Was innerhalb sehr großer Zeiträume keine unmittelbar merkliche Veränderung erleidet und deshalb auf seine unveränderlichen Formen hin nomothetisch behandelt werden darf, kann sich darum doch vor einem weiteren Ausblick als etwas nur für einen immerhin begrenzten Zeitraum Gültiges, d. h. als etwas Einmaliges erweisen“ (ebd.). Windelband nennt die Beispiele einer Sprache und die Lebensformen der organischen Natur. Kurz und gut: „damit wird das historische Prinzip auf das Gebiet der Naturwissenschaften hinübergetrieben“ (ebd. 13). Auch die theoretische Physik ist dann eine historische Wissenschaft, und alle Arbeiten von Claus-Artur Scheier insistieren in diesem Sinne konsequent (auch und sogar) auf der Historizität des Logischen.

Erklären und Verstehen sind nun, nächster Argumentationsschritt, deshalb unterscheidbare Perspektiven, weil es Antworten auf grundsätzlich verschiedene Fragen sind. Man kann an jeden Gegenstand die Frage stellen, warum dieser Gegenstand so ist, wie er (jetzt gerade eben) ist – also etwa: warum er so geworden ist, warum er so funktioniert, wie er eben funktioniert, warum er sich vermutlich wie entwickeln wird. Eine Antwort auf solcherart Warum-Fragen ist ein Erklären. Ein Erklären sieht davon ab, dass es sich um ein Sinngebilde handelt oder nimmt den Sinn als eine von mehreren erklärenden Bedingungen. Eine ganz andere Frage an denselben Gegenstand ist die Was-Frage: Was ist und bedeutet dieser Gegenstand? Als was gilt er? Eine Antwort auf solcherart Was-Fragen ist ein Verstehen. In diesem Sinne sind Erklären und Verstehen nicht zwei Sorten von Weltzugängen, sondern zwei Perspektiven eines Weltzugangs – oder auch: zwei grundsätzlich verschiedene Arten und Weisen, zwei Modi des Begreifens von Welt, wobei „Begreifen“ meint, eine Erfahrung zu objektivieren (wie angemessen oder unangemessen auch immer).[9]

Als Zwischenbilanz bleibt festzuhalten, dass Erklären und Verstehen zwei verschiedene Perspektiven des Begreifens sind. Ihr Unterschied ist ein grundsätzlicher, weil diese Perspektiven Antworten auf unterschiedliche Fragen sind, die nicht durcheinander ersetzbar sind: Was-Fragen können nicht durch Antworten auf Warum-Fragen beantwortet werden und umgekehrt – eine Variation der alten philosophischen Einsicht, dass Fragen der Geltung nicht mit Auskünften zur Genese beantwortbar sind. Aber die Grundsätzlichkeit ihres Unterschieds ist kein Dualismus, da es sich (nur) um grundsätzlich verschiedene Modi eines Begreifens, und nicht um zwei ganz verschiedene Weltzugänge handelt. Dieser Nicht-Dualismus dokumentiert sich in der entschiedenen Abwehr direkter, also vermeintlich nicht kultürlich vermittelter Weltzugänge; also positiv in dem Aufweis, dass der grundsätzliche Unterschied von Erklären und Verstehen überhaupt nur in einem übergreifenden Raum sinnvermittelten Begreifens angesiedelt sein kann. Oder formelhafter: Der Unterschied von Erklären und Verstehen ist ein kategorialer Unterschied, also ein Unterschied in dem, was Erklären und Verstehen je bedeutet, nicht aber ein Unterschied von charakteristischen Merkmalen.

5 Eine Eigenart des Sports: Verstehen von Präsentischem

Diese Antwort auf die Frage nach einem grundsätzlichen, gleichwohl nicht dualistischen Unterschied von Verstehen und Erklären, ist noch keine Antwort auf die zweite oben aufgeworfene Frage, ob es ein objektiviertes Verstehen von Präsentischem gibt oder ob es dort bei subjektiven Versicherungen von Gewissheiten bleibt. Die harte These Gumbrechts ist, dass Verstehensleistungen prinzipiell die Form repräsentischen Wissens haben, so dass man präsentisches Wissen nur „diesseits der Hermeneutik“ begreifen könne. Bei Gumbrecht reproduziert das den Dualismus von wissenschaftlich und nicht-wissenschaftlich, da bei ihm das Begreifen von Präsentischem die Form der subjektiven Gewissheit annimmt. Will man diesen Dualismus außer Kraft setzen, dann muss man entweder gegen Gumbrecht begründen, dass es gar keine Formen präsentischen Wissens gibt (dass alles Wissen re-präsentisch sei), oder man muss aufzeigen, dass auch das Begreifen von Präsentischem ein Sinn-Verstehen (in spezifischem Modus) ist. Auch dieser Punkt kann hier nur markiert, aber nicht ausgearbeitet werden (vgl. dazu Schürmann 2024). Aber es sei eigens darauf hingewiesen, dass der Sport besonders prädestiniert ist, den Unterschied von repräsentischem und präsentischem Wissen plausibel zu machen. Dazu muss man diesen Unterschied nur in den Unterschied von Wissen-dass und Können übersetzen. Auch dies ist kein dualistischer Unterschied, denn auch ein Wissen-dass ist ein Können. Der hier wichtige(re) Punkt ist, dass nicht jedes Können auch ein Wissen-dass ist. Vor allem jedes Bewegen-Können, insbesondere sportliches Bewegen-Können plausibilisiert den Unterschied von repräsentischem Verstehen und präsentischem Begreifen: Wer Fahrradfahren kann, der hat etwas von und in dieser Welt begriffen, aber dieses Können ist weder dadurch begründet noch dadurch gerechtfertigt, dass so jemand Auskunft darüber geben kann, wie er*sie es anstellt, dies zu können. Sportliches Bewegen-Können ist eines der Paradebeispiele des Umstands, dass nicht jedes Begreifen die Form eines Wissens-dass hat. Der Unterschied zum Wissen-dass ist dort sogar so aufdringlich, dass fraglich wird, ob es sich überhaupt um eine Wissensform, also um Mit-Teilbares handelt, oder ob wir es hier alleine mit subjektiven Gewissheiten zu tun haben. Unser alltägliches Sprechen würde die zweite Option recht nahelegen. Denn der Umstand, keine Auskunft darüber geben zu können, wie man es angestellt hat, jetzt Fahrradfahren zu können, führt typischerweise zu Kommentaren der Art, dass man auch nicht darum wisse, wie einem geschieht. Dass solch präsentisches Begreifen tatsächlich auch ein Verstehen ist, nicht aber ein Drittes neben dem Erklären und Verstehen – also kein Spüren, kein epiphanisches Erleuchtetsein, kein ureigener Privatbesitz –, das ist eine Art Wette darauf, dass man um Präsentisches tatsächlich auch wissen kann, und nicht nur daran glauben oder davon subjektiv gewiss sein kann.

Gumbrecht hatte auf den gegenteiligen Joker gesetzt, und damit ist er wahrlich nicht allein. Schon im Alltag, allzu häufig auch in den Wissenschaften kann man sich – pars pro toto – um den sachlichen Gehalt eines Gedichts nicht mehr streiten, weil das vermeintlich eine Art Geschmacksfrage sei, also jede*r selber wissen müsse, was einem so ein Gedicht sagt. Überzufällig oft ist auch in den Sportwissenschaften dort, wo man auf das Phänomen präsentischen Begreifens stößt, die Charakterisierung des Prä-Reflexiven bei der Hand. Nimmt man diese Redeweise ernst, und nicht nur als verschämten Ausdruck einer Verlegenheit, dann geht es im Präsentischen also vermeintlich gänzlich ohne Sinnvermitteltheit, sondern stattdessen direkt-unmittelbar zu: präsentisches ‚Wissen‘ als Privatbesitz. Den gegenteiligen Joker, auch präsentisches Begreifen als Wissensform, als Verstehen zu begreifen, ziehen in der Sportwissenschaft nur Wenige. So insistiert etwa Franke (2001, 2006) darauf, dass es auch im Präsentischen reflexiv zugehe, wenn auch in einem ganz anderen Modus von Reflexion, nämlich als „Reflexion im Vollzug“ (vgl. auch, Franke folgend, Bietz 2015: 204; vgl. Schürmann 2008, Temme 2024)

Das Verstehen von Präsentischem ist also das Nadelöhr, durch das eine überzeugende Hermeneutik bzw. Semiotik hindurch muss. Präsentisch Verstandenes muss sich als von Haus aus gemeinsam geteiltes Wissen, nicht aber als gespürter Privatbesitz erweisen. So ausgesprochen, erweist sich das Nadelöhr aber als offenes Scheunentor, denn auch das Begreifen von Präsentischem ist (selbstverständlich, sage ich) ein Vorgang, der sich innerhalb eines schon gegebenen, miteinander geteilten Bedeutungsraums vollzieht. Das heißt auch, dass nicht erst wissenschaftliches Verstehen mitteilbar wird, sondern jedes Sinn-Verstehen die Minimalbedingung erfüllt, in methodisch kontrollierter Weise objektiviert werden zu können.

6 Empirische und kulturelle Erfahrung

Falls man also dem Wetteinsatz folgt, dass man auch präsentisch Begriffenes wissen kann, dann wird es auch methodisch kontrolliertes, also wissenschaftliches Wissen darum geben. Hier zeigt sich dann die eigentümliche Brisanz der Unterscheidung von Erklären und Verstehen, denn beide Modi des Begreifens verlangen unterschiedliche Modi des Erfahrens: Sinn-Verstehen wurzelt nicht in Sinnlichkeit.

Oben hatte es noch etwas von bloßer Begriffspolitik. Damit die Unterscheidung von Erklären und Verstehen nicht zu einem Dualismus gerät, hatte ich umgestellt auf eine Dreierstruktur: Verstehen und Erklären seien zwei grundsätzlich unterschiedene Modi des Begreifens – und ein Begreifen liege dort vor, wo eine Erfahrung zum Ausdruck komme. Überträgt man das auf methodisch kontrolliertes Begreifen, dann heißt das, dass jedes wissenschaftliche Verstehen und jedes wissenschaftliche Erklären Erfahrungswissenschaft ist. Der eingeführte und übliche Name dafür ist, empirische Wissenschaft zu sein. Die genannte Brisanz liegt darin, dass wissenschaftliches Verstehen Erfahrungswissenschaft ist (was zu zeigen, nicht bloß begriffspolitisch einzuführen ist), aber nicht im Modus empirischer Wissenschaft.

Der empirische Modus von Empirie – um die Brisanz auch sprachlich auf ein Paradox zu bringen – verlangt, einen konstitutiven Anker in Sinnesdaten zu haben. Noch bei Windelband (1894) war die übliche Gleichsetzung von Empirie und Erfahrung so eingefleischt, dass er zwar wie selbstverständlich verschiedene Sorten von Wissenschaft unterschied, aber z. B. Mathematik und Philosophie nicht als Erfahrungswissenschaften, sondern als rationale Wissenschaften ansprach (ebd.: 8). Dass nicht-empirische Wissenschaften Erfahrungswissenschaften sein könnten, ist nicht vorgesehen, obwohl er schon nahe daran war, wenn er auch die Naturwissenschaften als historische Wissenschaften begreifen konnte (s. o.). Die Mathematik bleibt im Neukantianismus offenkundig eine sogenannte platonische Wissenschaft. Sie speist sich rein aus der Ratio, und d. h. dort: nicht aus Erfahrung, weil nicht aus Sinnesdaten. Selbstverständlich ist bereits eine Wahrnehmung, und erst recht jeder Fall von wissenschaftlich-empirischer Empirie, ein Fall von verarbeiteter bzw. strukturierter Sinnlichkeit, also ein Doppeltes von Sinnlichkeit und Verstand. Aber ohne eine Verankerung in der Sinnlichkeit wäre es keine Empirie.[10] Sinnlichkeit ist dabei zwar auch, aber nicht nur der Zugangsweg zu solcher Erfahrung. Verankerung meint vielmehr, dass die Bezugnahme auf Sinnesdaten der ausschlaggebende Geltungsgrund für die Richtigkeit oder Angemessenheit von Erfahrung in diesem Modus ist. Nur deshalb kann man einem Experiment eine falsifizierende Kraft zutrauen. Und deshalb ist auch die andere Akzentsetzung möglich: Aufgrund dieser Verankerung in Sinnlichkeit, noch diesseits einer Historizität des Verstandes, ist die theoretische Physik eine Erfahrungswissenschaft, denn ohne jeden Bezug zu physischer Sinnlichkeit wäre sie nicht Physik, sondern Mathematik.

Die Brisanz liegt nun darin, dass ein (wissenschaftliches) Verstehen diesem Verständnis von Erfahrung als (allein) empirische Erfahrung nicht folgen kann, denn Sinnhaftigkeit ist nichts, was in den Sinnen gegeben ist. Um den Unterschied zwischen einem bloßen Zucken des Augenlids und einem Zwinkern wissen wir aus Erfahrung, aber nicht aus dem empirischen Modus von Erfahrung. Es besteht „ein gewichtiger Unterschied zwischen Zucken und Zwinkern, wie ein jeder bestätigen wird, der ersteres fatalerweise für letzteres hielt“ (Geertz 1983: 10); und auch um den Unterschied zwischen einer Fluchtbewegung und einem Hinsprinten oder zwischen einem gerechten und einem ungerechten Einkommensunterschied wissen wir aus Erfahrung, aber all diese Fälle von Unterschieden in der Sinnhaftigkeit, Bedeutung, Geltung haben keinen Anker in der Sinnlichkeit. Solche Unterschiede sind erfahrbar und folglich kann man um sie wissen, aber man kann sie nicht (im engeren oder weiteren Sinne) wahrnehmen[11] – man muss sie verstehen. Pars pro toto: Eine immens große Ungleichverteilung von Einkommen kann ich wahrnehmen; aber ich muss diese ungleiche Verteilung nicht als ungerecht erfahren – ich könnte auch im Glauben leben, dass jede ihres eigenen Glückes Schmied sei; diesen normativen Unterschied zwischen ‚ungerechte Verteilung‘ und ‚schon ganz in Ordnung so‘ kann man nicht wahrnehmen; Ungerechtigkeit zu erfahren, ist etwas anderes als: Ich lehne die Ideologie ‚Einkommen richtet sich nach individuellem Verdienst‘ ab, und deshalb interpretiere ich eine außerordentlich ungleiche Verteilung als Ungerechtigkeit.[12] Kurz und gut: Sinnunterschiede sind erfahrbar, aber man beruft sich nicht auf Sinnlichkeit, wenn man um die (Un-)Angemessenheit solcher Erfahrungen streitet. Ihr Geltungsgrund ist nicht Sinnlichkeit, sondern eine Bedeutungsdifferenz. Weil es Sinnunterscheidungen nur in Kulturen gibt, bietet es sich an, solcherart Erfahrungen als kulturellen Modus von Erfahrung zu bezeichnen und vom empirischen Modus von Erfahrung zu unterscheiden.[13]

Eine kulturelle Erfahrung ist, wie gesagt, nicht an Sinnlichkeit, sondern an Sinnhaftigkeit gebunden. Eine kulturelle Erfahrung ist damit die bestimmte Erfahrung, die sie ist, insofern sie an ein je bestimmtes „Bedeutungsgewebe“ (Geertz) gebunden ist, in das das jeweilige Handeln verstrickt war; oder auch: Eine kulturelle Erfahrung ist an einen bestimmten Bedeutungsraum bzw. an einen bestimmten kategorialen Rahmen gebunden – ganz im Sinne von Saussure: Ein Zeichen ist dieses Zeichen nur a) in einem systemischen Zusammenhang von Zeichen (= einem bestimmten Bedeutungsraum), durch b) eine ihm eigene Nuance („Referenz“) und c) dadurch, dass und wie es sich von den anderen Zeichen seiner Umgebung unterscheidet („Wert“). Ein Bedeutungsgewebe ist also nicht das Bedingungsgefüge, das erklärbar macht, warum ein Zeichen diese Bedeutung hat, sondern das intrinsische Differenzengeflecht umgebender Bedeutungen, das verstehen lässt, dass dieses Zeichen dieses-und-nicht-jenes bedeutet. An dieser Stelle ist der Name Kontext (des Sinngebildes) nicht hilfreich, da er diese grundlegende Differenz zwischen Bedeutungsgewebe und Bedingungsgefüge vergleichgültigt.

Beispielsweise ist die Erfahrung, die in einem Kopfnicken zum Ausdruck kommt, an bestimmte Bedeutungsräume gebunden. Insofern man je schon in einem bestimmten Bedeutungsraum handelt – in Herderscher Tradition: in einen bestimmten Bedeutungsraum „hineingeboren“ wird –, macht man zwar (selbstverständlich in persönlicher Färbung; s. o.) bestimmte kulturelle Erfahrungen, weiß aber zunächst nicht um deren bestimmte Bestimmtheit – man nimmt sie für selbstverständlich. Erst der handelnde Kontakt mit anderen Bedeutungsräumen bietet die Möglichkeit des Staunens, dass man es „bei uns“ so macht, „bei denen“ aber ganz anders. Diese Gebundenheit an einen bestimmten Bedeutungsraum wird eine kulturelle Erfahrung nicht los. Auch dann, wenn alle Menschen essen und trinken müssen, auch dann, wenn überall auf der Welt Frauen Kinder gebären, so gibt es keine von Haus aus universellen kulturellen Erfahrungen: „Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger, als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt“ (Marx 1857: 624). Die sog. universellen Erfahrungen, an denen festzuhalten sich lohnt – überall auf der Welt ist Folter und Genozid völkerrechtlich geächtet –, sind Universalisierungen, die durch zahllose Differenzerfahrungen hindurch müssen. Solche Universalisierung kann, wie wir alle erfahren haben, scheitern, und zwar sowohl im Kleinen: man schaue sich den Film Man spricht Deutsch von Gerhard Polt an, als auch im Großen: Kolonialismus.

Bei der Gebundenheit kultureller Erfahrungen an je bestimmte Bedeutungsräume kann und muss man folglich zwei Akzente setzen: Kulturelle Erfahrungen sind an Bedeutungsräume gebunden – es ist nicht so, dass man zu Bedeutungsräumen durch Induktion über zahllose kulturelle Erfahrungen kommt, denn jede einzelne kulturelle Erfahrung geschieht bereits in einem Bedeutungsraum; und kulturelle Erfahrungen sind an bestimmte Bedeutungsräume gebunden, die sich von anderen unterscheiden. Um eine bestimmte kulturelle Erfahrung zu verstehen, muss man also 1. an ein generisches „Man“ eines Bedeutungsraumes appellieren: dass man das bei uns so macht; dass es das eben bei uns bedeutet; dass das so bei uns gilt; und man muss 2. dieses „bei uns“ mit einem Index versehen, der die Bestimmtheit des Bedeutungsraumes festhält. Ohne Appell an ein generisches „Man“ sitzt man in jener Königskinderfalle der Unterstellung, man könne private ‚Erfahrungen‘ machen, die man dann miteinander teilen bzw. verallgemeinern könne. Und ohne einen solchen Index redet man aneinander vorbei. Der Index hält fest, worum es gerade geht. Zum Beispiel: Man kann verstehen wollen, welche kulturellen Erfahrungen man typischerweise in Fußballstadien der 1. Fußballbundesliga der Bundesrepublik Deutschland macht (z. B. im Unterschied zu Stadien in Brasilien; oder im Unterschied zu bundesdeutschen Eishockeystadien) – dann ist das „bei uns“ festgelegt. Die Vielfalt der Erfahrungen, die man in diesen so festgelegten Stadien macht, ist eine handfeste Schwierigkeit (an der das Verstehen durchaus auch scheitern kann), aber diese Vielfalt taugt nicht als Einwand, weil es darum ging, unsere Fußballstadien mit unseren Eishockeystadien oder mit brasilianischen Fußballstadien zu vergleichen. Will man demgegenüber wissen, welche kulturellen Erfahrungen man typischerweise im Dortmunder Stadion macht (z. B. im Unterschied zum Gelsenkirchener Stadion), ist das „bei uns“, das das Verstehen bestimmt, klarerweise ein anderes. Solche Indexikalisierung des Bedeutungsraumes ist zwingend beim Verstehen kultureller Erfahrungen – meistens läuft sie einfach mit und ergibt sich aus dem Kontext; gelegentlich muss man sie ausdrücklich machen, um ein Aneinandervorbeireden zu unterlaufen. Man versteht anderes, wenn es darum geht, Kneipenatmosphären mit Restaurantatmosphären zu vergleichen, oder wenn es darum geht, die Typik meiner Stammkneipe mit der Typik Deiner Stammkneipe zu vergleichen.

Diese prinzipielle Eingebundenheit des Verstehens in einen je bestimmten Bedeutungsraum ist die Mitweltlichkeit, die Wir-Form, das Miteinander-Geteiltsein des Verstehens. Auch Missverstehen ist dann noch ein Modus des Verstehens (so wie Unmoral eine Moral ist), über den man sich verständigen kann. Man kann und wird dann etwa bloße Missverständnisse (im gleichen miteinander geteilten Bedeutungsraum) vom Missverstehen unterscheiden, das durch Aneinandervorbeireden (= durch Verstehen in anderen Bedeutungsräumen) bedingt ist. Aber auch letztgenanntes Missverstehen kann man noch – im Prinzip und ggf. mittels Mediation – außer Kraft setzen durch Wechsel in einen miteinander geteilten Bedeutungsraum mit höherstufigem Index, in dem die sich vorher ausschließenden Bedeutungsräume ineinander übersetzbar werden. Eine solche Mitweltlichkeit des Verstehens mag man eine mediale Konzeption des Verstehens nennen. Eine mediale Konzeption steht in Entweder-Oder-Beziehungen zu sowohl atomistischen als auch holistischen Konzepten. In atomistischen Konzepten verstehen zunächst, logisch primär, die Individuen, um dann an andere auszuteilen, was sie, je für sich, da so ‚verstanden‘ haben. In holistischen Konzepten haben die Individuen gar nicht selbst zu ‚verstehen‘, sondern sie sind gehalten, richtig zuzuhören, was das Ganze eines vorgegebenen Bedeutungsraumes, einer vorgegebenen Sprache, einer gegebenen vermeintlich reinen Kultur richtig zu sagen hat. Die hier leitende Überzeugung ist, dass solche konzeptionellen Unterschiede im Verstehen auch außerhalb von Schreibtischtätigkeiten praktisch erfahrbar sind (vgl. jüngst Seel 2024).

7

7 Literatur

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Online erschienen: 2025-08-02
Erschienen im Druck: 2025-08-08

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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