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„Selbstoptimierung“ und Gesellschaft. Grenzen und Perspektiven eines Konzepts

Loreen Dalski / Kirsten Flöter / Lisa Keil / Kathrin Lohse / Lucas Sand / Annabelle Schülein (Hrsg.), Optimierung des Selbst: Konzepte, Darstellungen und Praktiken. Bielefeld: transcript 2022, 222 S., kt., 45,00 € Marcel Eulenbach (Hrsg.), Selbstoptimierung – Theoretische und empirische Erkundungen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022, 189 S., kt., 29,95 € Nadine Glade / Christiane Schnell (Hrsg.), Perfekte Körper, perfektes Leben? Selbstoptimierung aus der Perspektive von Geschlecht und Behinderung. Bielefeld: transcript 2022, 218 S., kt., 29,50 € Vera King / Benigna Gerisch / Hartmut Rosa (Hrsg.), Lost in Perfection: Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche. Berlin: Suhrkamp 2021, 338 S., kt., 25,00 €
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Published/Copyright: March 11, 2024
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Rezensierte Publikationen:

Loreen Dalski / Kirsten Flöter / Lisa Keil / Kathrin Lohse / Lucas Sand / Annabelle Schülein (Hrsg.), Optimierung des Selbst: Konzepte, Darstellungen und Praktiken. Bielefeld: transcript 2022, 222 S., kt., 45,00 €

Marcel Eulenbach (Hrsg.), Selbstoptimierung – Theoretische und empirische Erkundungen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022, 189 S., kt., 29,95 €

Nadine Glade / Christiane Schnell (Hrsg.), Perfekte Körper, perfektes Leben? Selbstoptimierung aus der Perspektive von Geschlecht und Behinderung. Bielefeld: transcript 2022, 218 S., kt., 29,50 €

Vera King / Benigna Gerisch / Hartmut Rosa (Hrsg.), Lost in Perfection: Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche. Berlin: Suhrkamp 2021, 338 S., kt., 25,00 €


Die aktuelle Debatte zum Thema Selbstoptimierung schreibt sich in die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ein, die die Soziologie seit ihren Anfängen prägt. Damit verbunden sind Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen von Individualität, Prozessen der Individualisierung wie auch Formen, Folgen und kulturellen Besonderheiten des Individualismus, einschließlich seiner pathologischen Formen. Dabei stehen gesamtgesellschaftliche, organisationale und mikrosoziologische Einheiten und Prozesse in steter Wechselwirkung, mit anderen Worten: Die kapitalistische, (bio-)technologische oder auch massenmediale Vergesellschaftung (um nur ein paar herausgehobene Phänomene zu nehmen) prägt nicht nur Organisationen und makrostrukturelle Prozesse, sondern auch die Menschen, die diese Arten von Vergesellschaftung in ihren Praktiken vollziehen und sich darin ko-konstituieren, wie es insbesondere subjektivierungstheoretische Perspektiven betonen.

Wenn man also nach den Gründen für selbstoptimierende Praktiken fragt (Warum machen die Leute das?), geht es immer auch um den institutionellen (z. B. Arbeits- und Bildungskontext), sozialen (Milieu- und Klassenzugehörigkeit) wie auch gesamtgesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen sich Menschen bewegen, denken und handeln. Dies impliziert die Frage, wie selbst- oder fremdbestimmt ihre Praktiken in Anbetracht der unhintergehbar sozialen, aber auch materiell-technischen Situiertheit menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens erfolgen und was Autonomie in einem solchen Kontext bedeuten kann. In einer „Gesellschaft der verallgemeinerten Autonomie“ (Ehrenberg, 2019, S. 26), einer Gesellschaft also, in der die individuelle Autonomie einen zentralen gesellschaftlichen Wert darstellt, lässt sich die nicht nur medial weit verbreite Kritik an Selbstoptimierung als Reaktion auf die zunehmende, tatsächliche oder als solche wahrgenommene Unterminierung autonomen Denkens und Handelns im Kontext von Selbstoptimierung begreifen.[1] Selbstoptimierung steht dann für den Inbegriff instrumentell-technischer Rationalität, für das Unterwerfen menschlichen Eigensinns unter kapitalistische (wahlweise: „neoliberale“) und/oder technische Vorgaben und Metriken (10.000 Schritte am Tag gehen!), mit einem Wort: für die Kapitalisierung, Neoliberalisierung und/oder Technisierung des Menschen selbst. Eine derartige Kritik an Selbstoptimierung steht positiven Perspektiven, die sich beispielsweise bei Personen aus dem Fitness- und/oder Selbstvermessungsbereich findet[2], diametral entgegen. Bei Letzteren ist Selbstoptimierung ein dezidiert positiv besetzter Begriff, der mit persönlicher Leistung(sfähigkeit), Verbesserungs- und Perfektionierbarkeit in Verbindung gebracht wird. Im Phänomen der Selbstoptimierung prallen also der Anspruch auf individuelle Autonomie und Selbstgestaltung und die Kritik am (auch technisch vermittelten) Einfluss gesellschaftlicher Normen und Einflüsse auf das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen besonders scharf aufeinander. Neben den Befürwortern und Gegnern gibt es auch eine dritte mögliche Haltung zum Thema. Sie besteht darin, die Relevanz des Phänomens insgesamt zu relativieren oder gar zu negieren, indem man es als reines Diskursphänomen abtut: es wird darüber geredet und geschrieben (etwa in sich kulturkritisch gebenden Feuilletons bildungsbürgerlicher Zeitungen), aber was genau damit gemeint ist und welche Relevanz es hat, weiß niemand so genau. Diese, zugegebenermaßen, überspitzte Darstellung wird dem zwar immer noch überschaubaren, aber doch stetig zunehmenden soziologisch-, sozial- und geisteswissenschaftlichem Forschungsstand zum Thema Selbstoptimierung nicht mehr gerecht (z. B. Fenner, 2019; Röcke, 2021; Straub, 2019; von Felden, 2020).[3]

Welchen Beitrag liefern vor diesem Hintergrund die zu besprechenden vier Bücher zum Themenfeld? Es handelt sich bei den besprochenen Titeln um Sammelbände, die das Phänomen der Selbstoptimierung aus verschiedenen disziplinären, theoretischen und themenspezifischen Perspektiven in den Blick nehmen. Der von Loreen Dalski, Kirsten Flöter, Lisa Keil, Kathrin Lohse, Lucas Sand und Annabelle Schülein herausgegebene Band Optimierung des Selbst: Konzepte, Darstellungen und Praktiken versammelt interdisziplinäre (im weitesten Sinn sozialwissenschaftliche) Beiträge aus dem Kontext einer Tagung des Graduiertenkollegs „Ethnographien des Selbst in der Gegenwart“ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Der von Marcel Eulenbach herausgegebene Band „Selbstoptimierung – theoretische und empirische Erkundungen“ hat einen überwiegend erziehungswissenschaftlichen Fokus, wohingegen der ursprünglich auf Englisch erschienene, von Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa herausgegebene Band Lost in Perfection: Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche schwerpunktmäßig psychosoziale Perspektiven verfolgt, aber ebenfalls interdisziplinär angelegt ist. Der von Nadine Glade und Christiane Schnell herausgegebene Band Perfekte Körper, perfektes Leben? Selbstoptimierung aus der Perspektive von Geschlecht und Behinderung wiederum geht auf eine mehrsemestrige Ringvorlesung zum Thema vom Lehrstuhl für Gender und Diversity im Fachbereich Rehabilitationswissenschaften an der Technischen Universität Dortmund zurück und beinhaltet neben wissenschaftlichen vor allem politisch-aktivistische Beiträge.

Die vier Bücher eint die Überzeugung, dass „Selbstoptimierung“ ein wichtiges soziales Phänomen mit spezifischer zeitgenössischer Bedeutung ist. Marcel Eulenbach beispielsweise unterstreicht die „Vehemenz, mit der Individuen zur Selbstoptimierung angehalten werden“ (S. 17) und deutet Selbstoptimierung als „kulturelle Leitvorstellung“ (S. 7), die sich auf alle möglichen Lebensbereiche bezieht. Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa sehen im „Streben nach Optimierung“ (von dem die Optimierung des Selbst eine spezifische Ausprägung ist) ebenfalls eine der „bedeutsamsten Leitvorstellungen in gegenwärtigen Gesellschaften“ (S. 1). Nadine Glade geht in ihrer Einleitung davon aus, dass „Menschen aller Geschlechter beständig dazu angehalten werden, ihren Körper und ihr Selbst in irgendeiner Art und Weise zu optimieren“ (Glade in Glade & Schnell, S. 12) und es folglich einen „allgemeine[n]Trend zur Selbstoptimierung“ gibt (Glade in Glade & Schnell, S. 14). Alena Berg und Katja Serry diagnostizieren schlicht den Bestand einer „Selbstoptimierungsgesellschaft“ (Berg & Serry in Eulenbach, S. 53). Sie teilen zudem das kritische Narrativ vom „neoliberalen Credo der Selbstoptimierung“ (Berg & Serry in Eulenbach, S. 52). Dies bedeutet, dass Strategien und Praktiken der Selbstoptimierung als integraler Bestandteil, Ausdruck und Motor einer als neoliberal bezeichneten Gesellschaft konzipiert werden, in der Menschen permanent an ihrer Ausstattung mit Humankapital arbeiten müssen und (aufgrund internalisierter Wertvorstellungen) auch wollen. Der:Die Selbstoptimierer:in wird hier zur perfekten Verkörperung des neoliberalen Subjekts. Mögliche Kritikpunkte an dieser Darstellung sind die bisweilen dünne (wenn überhaupt vorhandene) empirische Dimension der Analysen, der Fokus auf Diskurse anstelle konkreter Praktiken wie auch die Ausblendung möglicher positiver Facetten oder zumindest die Berücksichtigung konstitutiver Ambivalenzen von Selbstoptimierung (Röcke, 2021). Die folgende Besprechung der vier Bücher beginnt mit konzeptionellen Überlegungen, woran sich ein Abschnitt anschließt, der die analysierten „Pathologien“ von Selbstoptimierung in den Blick nimmt. Daraufhin werden verschiedene mögliche Anwendungsbereiche diskutiert.

Zum Konzept von Selbstoptimierung

Einsatzpunkt des Bandes Optimierung des Selbst: Konzepte, Darstellungen und Praktiken ist die Beobachtung, dass es eine Diskrepanz zwischen öffentlichem, überwiegend kritischen Diskurs und der „Lebenswirklichkeit“ der Menschen gibt: „Schrittzähler, Biohackingtipps, Diätpläne oder Meditations-Apps sind im Alltag ubiquitär, fest verankert und hoch gefragt“ (Dalski et al., S. 7)[4]. Die Herausgeber:innen und Autor:innen der Einleitung möchten daher zeigen, „dass Selbstoptimierung komplexer und vielschichtiger ist, als viele kulturpessimistische Sichtweisen suggerieren (Dalski et al., S. 8). Exemplarisch dafür steht der Beitrag von Jörg Scheller. Er verfolgt mit seinem Text das Anliegen, den „doppelten Boden“ oder auch die „Janusköpfigkeit“ von Selbstoptimierung herauszuarbeiten (Scheller in Dalski et al., S. 54, 59). Scheller gehört im deutschen Sprachraum zu den Verfechtern einer Perspektive, die auch die – potenziell – positiven Seiten betont. „Selbstoptimierung kann [...] der Ausgang des Menschen aus der körperlichen und/oder psychischen Unmündigkeit und des Unvermögens (sein), sich seines Körpers und/oder seiner Psyche ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ – zumindest „solange man sie nicht mit ihren pathologischen Formen in eins setzt“ (Scheller in Dalski et al., S. 67–68). Dass es diese pathologischen Formen gibt wird nicht bestritten, Selbstoptimierung aber nicht darauf reduziert. Es würde sich lohnen, Schellers zahlreiche eher lose miteinander gekoppelten Argumente, Ideen und Thesen, wie etwa die der religiösen Dimension von Optimierungspraktiken (S. 59) genauer auszuarbeiten. Dann ließe sich vermutlich auch der sperrige Titel („Apotheose der Krämerseele – Was die Optimierung des Quantified Self mit Heavy Metal, Karl Marx, dem Kirchenvater Augustinus, gotischen Kathedralen und spirituellen Bodybuildern zu tun hat“) in eine griffigere Form bringen. Stefan Groth wiederum betont in seinem Beitrag „Selbstoptimierung und Navigational Capacity“ über das Beispiel des Breitensports, wie voraussetzungsvoll eine Handlungslogik der Selbstoptimierung ist, da sie verschiedene (kognitive, monetäre, soziale...) Ressourcen erfordert (Groth in Dalski et al., S. 118). Er zeigt verschiedene Optimierungslogiken im Kontext des sportlichen Trainings auf und betont, dass Selbstoptimierung ein „(ergebnis-)offener, multimodaler und kontingenter Prozess“ ist, der einer bzw. mehrerer, sich unter Umständen auch widersprechender Steigerungslogiken folgt (Groth in Dalski et al., S. 111, 114). Die Herausgeber:innen des Bandes starten in ihrer Einleitung mit einer weiten Begriffsdefinition, der zufolge Selbstoptimierung allgemein den „Prozess einer relativ kontinuierlichen Entwicklung eines Individuums hin zu einem besseren Zustand“ umfasst (Dalski et al., S. 11). Daraufhin grenzen sie den Gegenstandsbereich mithilfe folgender Kriterien ein: Intentionalität, Rationalisierung, Operationalisierung und Kontinuität (Dalski et al., S. 12). Man muss sich optimieren wollen (Intentionalität), dies systematisch angehen (Rationalität) und umsetzen können (Operationalisierung) und daran über einen bestimmten Zeitraum festhalten (Kontinuität). Hinzu kommen fakultative Merkmale wie beispielsweise „eine prozessbegleitende, kontinuierliche Evaluation“ (Dalski et al., S. 12). Eine konsequent über einen längeren Zeitraum betriebene Diät ist mit diesen Kriterien ein Beispiel für Selbstoptimierung, ebenso der systematisch betriebene Versuch, sich bestimmte Gewohnheiten abzugewöhnen. Ein Beispiel hierfür liefert Martina Wagner-Egelhaaf in ihrer literaturwissenschaftlichen Analyse von Diskursüberlagerungen zwischen Stil (Lebensstil/Schreibstil) und Selbstoptimierung. Sie befindet: „Schon Goethe war ein Selbstoptimierer“ (Wagner-Egelhaaf in Dalski et al., S. 203) und bezieht sich dabei unter anderem auf Darstellungen des deutschen Dichters zu Abhärteübungen aus seiner Straßburger Studienzeit, wie etwa nächtliche Spaziergänge auf Friedhöfen, um sich gegen „Anfechtungen der Einbildungskraft [...] zu stählen“ (Wagner-Egelhaaf in Dalski et al., S. 203). Ein noch breiteres Verständnis von Selbstoptimierung verfolgt Lucas Sand, der in seinem Text das biblische Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Matthäus 25, 14–30) analysiert. Er interpretiert die im Gleichnis geforderte gewinnbringende Nutzung und Mehrung der eigenen Talente, inklusive einer moralischen Lobpreisung oder Verurteilung desjenigen, der dieser Maßgabe folgt bzw. nicht folgt, als „Maxime der Selbstoptimierung“ (Sand in Dalski et al., S. 82–83). In dieser breiten Lesart ist Selbstoptimierung deckungsgleich mit Begriffen wie Selbstdisziplinierung, Selbstformung (Kipke, 2011), Selbstverbesserung oder auch Bildung. Auch Benjamin Franklin wäre dann mit seiner methodisch-rationalen Lebensführung ein Selbstoptimierer, ebenso die altägyptische Königin Kleopatra mit ihren Bädern in Eselsmilch und Honig oder die (ausschließlich männlichen) Teilnehmer der antiken Olympia-Sportfestspiele, die einen spezifischen Ernährungsplan verfolgten und persönliche Berater hatten, um sich optimal vorzubereiten (Swaddling, 2004, S. 70, 73). Entsprechend der „These des Selbstoptimierens als eine ‚Conditio Humana‘, als ein dem Menschen innewohnendes Bedürfnis sich selbst zu verbessern“ (Sand in Dalski et al., S. 77) mag diese breite Herangehensweise Sinn machen. Gleichzeitig verwischt sie aber sämtliche konzeptuellen Unterschiede zwischen Selbstverbesserung und Selbstoptimierung. Wenn es also darum geht, ein spezifische(re)s Begriffsverständnis zu entwickeln und nach den historischen Besonderheiten von Selbstoptimierung in der Gegenwart zu fragen (was die Analyse von historischen Prototypen avant la lettre nicht ausschließt), ist ein derart weites Begriffsverständnis von Selbstoptimierung als einer ahistorischen anthropologischen Konstanten nicht zielführend.

Eine gewisse konzeptionelle Orientierung bietet vor diesem Hintergrund die „heuristisch vereinfacht[e]“ (S. 9) Unterscheidung von Perfektionierung und Optimierung, die Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa in ihrem Einleitungskapitel zum Buch Lost in Perfection: Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche umreißen. Die Optimierung des Selbst wird hier als Teilbereich einer institutionell viel breiter ausgreifenden Optimierungsbewegung gedeutet, die sich auf die Gesellschaft insgesamt erstreckt und insbesondere auch im Arbeitsleben manifestiert. Der Begriff der Perfektionierung wird „als ein auf das Ganze der Lebensgestaltung, auf Integration und Balance ausgerichtetes regulatives Ideal“ gefasst, Optimierung hingegen im Sinne „einer weitgehend instrumentellen, strukturell an Renditen und Investitionsabwägungen orientierten Logik der Unabschließbarkeit“ (S. 11). Während Perfektionierung „normative Orientierung“ biete, basiere „instrumentelle Optimierung“ auf „einer durch entsprechende Aktivität zu erreichenden, verschiebbaren Ziellinie“, die immer wieder neu überschritten werden kann (S. 10). Erstere basiert auf einem ganzheitlichen Ansatz, Balance und Integration, letztere hingegen auf einer Logik „permanenter Grenzüberschreitung“ (S. 10), die auf „einzelne Zielfunktionen“ und „in der Tendenz auf immer kleinteiligere Parameter ausgerichtet“ (S. 11) ist. Optimierung als instrumentelle Parzellisierung und Steigerung steht also der Perfektionierung im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes gegenüber. Bei Selbstoptimierung, so lassen sich diese Überlegungen weiterführen, zielt die instrumentelle, kleinteilig operierende und auf Überschreitung angelegte Vorgehensweise auf Facetten des eigenen Selbst, also etwa auf die äußere Erscheinung oder bestimmte körperliche Prozesse und Funktionsweisen wie etwa das Leistungsniveau. Ulrich Bröckling führt in seinem Beitrag „Das Subjekt auf dem Marktplatz, das Subjekt als ein Marktplatz“ eine konzeptionelle Dreiteilung von „Modi der Optimierung“ ein (Bröckling in King, Gerisch & Rosa, S. 43). Perfektionierung ist hier kein Gegenbegriff zur Optimierung, sondern eine ihrer Ausprägungen. Hinzu kommen noch Optimierung als Steigerung und als Wettbewerb. Im weiteren Verlauf des Artikels geht es um die „Subjektivierungseffekte“ im Kontext der dritten Form, des Wettbewerbs. Wesentlich ist hier die Tatsache, dass „der/die UnternehmerIn in eigener Sache nie mit irgendetwas fertig“ und zum permanenten Weitermachen genötigt wird (S. 57). Ein zentrales Charakteristikum von Selbstoptimierung ist entsprechend der „Zwang zur Selbstüberbietung“ (S. 57). Anhand des Kriteriums einer instrumentellen Überbietungslogik kann man argumentieren, dass die Beispiele von Goethe oder aus der Bibel nicht einer engeren Konzeption von Selbstoptimierung entsprechen.

Pathologien von Selbstoptimierung

Allgemein zielt der Band Lost in Perfection auf eine Analyse der „gesellschaftlichen und psychischen Herausforderungen und Kosten“, der „Paradoxien und Grenzen einer vorwiegend instrumentell ausgerichteten Optimierungspraxis“, wobei ein Schwerpunkt auf den „ambivalenten Folgen des sozialen Wandels für das Individuum, einschließlich der Bedeutungsverschiebungen dessen, was als ‚normal‘ oder ‚pathologisch‘ erachtet wird“ (King, Gerisch & Rosa, S. 7), liegt. Die theoretische Perspektive des Herausgebergremiums von Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa wie auch der von ihnen geleiteten Forscher:innengruppe, aus deren Feder sechs der insgesamt sechzehn Beiträge stammen, verbindet modernetheoretische Bezüge (etwa zu Beschleunigung und Ökonomisierung) mit einer an Norbert Elias erinnernde Perspektive der Verbindung von Sozio- und Psychogenese. Der inhaltliche Schwerpunkt der Projektgruppe wie auch des Bandes liegt auf den mit Optimierung und Selbstoptimierung verbundenen „Pathologien des Sozialen“, wie auch die Überschrift des zweiten Teils lautet. Auf Grundlage einer breiten Datenbasis werden in den Beiträgen aus dem Projektkontext qualitative Fallstudien vorgestellt, anhand derer sich jeweils spezifische und problematische sozio-psychische Dynamiken veranschaulichen lassen. Beispielsweise zeigen Vera King, Julia Schreiber, Niels Uhlendorf und Benigna Gerisch in ihrem Beitrag „‘Da habe ich eben Besseres vor‘“ auf, „[w]ie sich Effizienz- und Optimierungsimperative auf Beziehungen sowie Sorge für sich und andere auswirken“ können. Sie analysieren mögliche negative Konsequenzen, wenn soziale Beziehungen „in den Sog der instrumentellen und entgrenzten Zeitgestaltung, der Effizienz- und Optimierungsmaschinerie geraten“ (S. 117). Dies schließt keineswegs aus, dass sich „äußerer Druck“ und vorhandene, in den einzelnen Beiträgen rekonstruierte psychische Dispositionen miteinander verbinden, „so dass die Subjekte auch Gewinn aus der Anpassung“ an externe Vorgaben ziehen können (S. 118). Die Konsequenzen bleiben gleichwohl desaströs, unterminieren doch „autonomieorientierte Optimierungsbestrebungen zugleich die potentiellen Bedingungen ihrer Ermöglichung“, indem sie „die Beziehungen zu Körper und Selbst, aber auch zu anderen [...] und Sorgebeziehungen qualitativ aushöhlen können“ (S. 118). Neben den weiteren projektinternen Artikeln zu den Bereichen Organisation (Hartmut Rosa, Diana Lindner, Jörg Oberthür), digitale Selbstvermessung (Vera King et al.) und Körperoptimierung (Benigna Gerisch et al.) enthält der Band Beiträge von Ada Borkenhagen („Optimierte Körper: Todesabwehr mittels Schönheitsmedizin“), Heinz Bude („Die Wahrheit der Angst“), Ève Chiapello („Optimierung im Kontext der Finanzialisierung“), Alain Ehrenberg („Überlegungen zu einer Anthropologie des Unbehagens in der individualistischen Gesellschaft“), Sophie de Mijolla-Mellor („Perfektion, Sublimierung und Idealisierung“), Judy Wajcman („Fitter, glücklicher, produktiver: Zeitliche Optimierung mittels Technologie“), Heinz Weiß und Heinrich Merkt („Eine pathologische Organisation auf der Grundlage des Strebens nach Perfektion“). Steffen Krüger beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der politischen Dimension von Selbstoptimierung am Beispiel digitaler Selbstvermessungspraktiken. Auf Grundlage einer kombinierten Foucault’schen und psychoanalytischen Perspektive unterscheidet er drei historische Phasen der Selbstvermessung: Containment (Eindämmung der Angst vor Gefahren durch Selbstvermessung), Kommodifizierung (radikale Ausweitung und Vermarktlichung der Selbstvermessung), Unterordnung (unter extern vorgegebene Vorgaben). In der letzten Phase komme eine „potentiell autoritäre Dynamik“ (Krüger in King, Gerisch & Rosa, S. 199) ins Spiel, etwa wenn Selbstvermesser:innen im Tausch von Vergünstigungen ihre erhobenen Daten freiwillig in Systeme von Versicherungsgesellschaften einspeisen. Damit müssen sich die Menschen zwar keine Gedanken mehr darüber machen, ob ihre Werte angemessen und ‚gut genug‘ sind, ordnen sich aber einer neuen Instanz unter. Der Autoritarismus liege

im Eintauschen der steten Ungewissheit persönlicher Adäquatheit gegen die konkreten und bindenden Standards privater Versicherungsgesellschaften. Konfrontiert mit der immer schwerwiegenderen Verantwortung für das eigene Leben werden Menschen dazu eingeladen, sich dieser Verantwortung zu entledigen, indem sie sich von einem ‚starken Partner‘ abhängig machen. Diese Autorität verspricht uns Erleichterung, indem sie uns genau sagt, wie gesund wir sein müssen, um dazuzugehören. (S. 204)

Die vielschichtigen und ambivalenten psychosozialen Aspekte digitaler Selbstvermessung werden im Text „Optimierung mit Zahlen und digitalen Parametern: Psychische Bedeutungen des digitalen Messens und Vergleichens“ diskutiert, der von den drei Herausgeber:innen und sieben weiteren Personen geschrieben wurde. So verweist das Spannungsfeld zwischen „Kontrollieren und Kontrolliertwerden“ auf die potenziell autoritäre Dimension des Messens, genauso wie der Gedanke „externalisierter Selbstregulation“, mithilfe derer „Struktur und Bedeutung“ in den Alltag und das Selbstverhältnis gebracht werden sollen (King et al. in King, Gerisch & Rosa, S. 172). Hier, wie auch bei Krüger oder den anderen Beiträgen des Bandes, ist Selbstoptimierung denkbar weit vom „Ausgang des Menschen aus der körperlichen und/oder psychischen Unmündigkeit“ (Scheller) entfernt; eher stellt sie einen zentralen Pfeiler eines neuen und auf immer subtilere Weise funktionierenden Gehäuses der Hörigkeit dar, das die Menschen bis in ihre emotional-psychischen Tiefenschichten durchdringt.

Ähnlich pessimistisch ist der Text von Jürgen Straub, der eine historische Perspektive einnimmt und sich mit den Rationalisierungsexzessen eines Ratgeber-Autors aus den 1920er Jahren beschäftigt: „Selbstoptimierung als Rationalisierung der Lebensführung. Gustav Großmanns Exzess als Paradigma: Buchhalterische Existenz für zweckrationale Zwangscharaktere“.[5] Er versteht Großmann als „eine[n] der eindrucksvollsten Apologeten und Propagandisten der Selbstoptimierung“ (Straub in King, Gerisch & Rosa, S. 285) und sieht in seinem Beispiel eine „spezifische Form der Selbstoptimierung“ (S. 284): „optimierende Selbstrationalisierung“ (S. 285) bzw. „rationalisierende Selbstoptimierung“ (S. 297); zwischen beiden Bereichen bestehen vielfältige und nicht mehr auseinanderzudividierende Überlappungen. Auch bei Straub finden sich (nicht explizierte) Anleihen an die Soziologie Norbert Elias‘. So erinnern Formulierungen wie die „Installierung einer systematisch konstruierten Selbstzwangsapparatur“ (S. 285) bei Leser:innen und Anwender:innen von Großmanns Schriften deutlich an den ‚gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang‘ aus dem Prozess der Zivilisation. Der Analysefokus bezieht sich dabei allerdings ausschließlich auf die Schriften Großmanns, also auf den Diskurs. Straub begreift Großmanns Schriften als Ausdruck einer exzessiven und bisweilen „zwangsneurotischen“ (S. 296) Form umfänglicher Selbstrationalisierung. Eine Analyse des sozio-historischen, politischen und kulturellen Kontextes ist hier unabdingbar, denn: „Rationalisierungswille und -fähige Subjekte fallen nicht vom Himmel. Sie müssen von langer Hand vorbereitet und abgerichtet, herangezogen und ausgerüstet werden, mental und materiell. Großmann war in diesem Metier ein Meister“ (S. 300). Seine Schriften sind also Teil eines „machtvollen gesellschaftlichen Disziplinar- und Kontrolldispositivs“ wie auch „entsprechender kultureller Imperative“, die den Menschen sagen, was sie „wollen, lassen und tun sollen“ (S. 300). Was die Menschen damit dann allerdings bei oder nach der Lektüre tatsächlich machen, ob sie die Anleitungen auch umsetzen, eigensinnig uminterpretieren oder sie als „gelebten Konjunktiv“ (Heimerdinger, 2008) in ihr Leben integrieren, steht auf einem ganz anderen Blatt und ist eine Frage für die empirische Forschung.

Bereiche von Selbstoptimierung

Die besprochenen Bücher zeigen die Vielfalt und Breite möglicher Anwendungsfelder von Selbstoptimierung, inklusive der damit unter Umständen verbundenen Problematik des concept stretching. Die Anwendungsfelder beinhalten die verschiedenen Facetten des „Selbst“, etwa Körper, Psyche und alltägliche Lebensführung, aber auch verschiedene institutionelle Kontexte wie die von Arbeit, Bildung, Sport oder Literatur. Der Band Selbstoptimierung – theoretische und empirische Erkundungen etwa setzt einen Schwerpunkt im Bereich Bildung und Erziehung. Er beinhaltet Themen wie Identitätskonstruktionen junger Erwachsener (Anna Kristina Sailer), „Lern- und Selbstoptimierung“ von bildungsbenachteiligten Jugendlichen (Alena Berg & Katja Serry), Burnout in Schulen (Marcel Eulenbach) oder Soft Skill Trainings (Cornelia Schendzielorz). Der Beitrag von Matthias Grundmann beschäftigt sich dagegen mit „Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung – sozialisationstheoretisch betrachtet“. Er hebt die unhintergehbare soziale Einbettung des Menschen hervor, die „Mehrdeutigkeit des Selbstbezugs“ wie auch die grundlegende Ambivalenz vom „Selbst“ (Grundmann in Eulenbach, S. 177). Zudem betont er, dass die insbesondere mit Selbstoptimierung verbundenen „Vorstellungen eines individualisierten Selbst“ sich „nur als ein soziokulturelles Leitbild bestimmen“ lassen, das „diskursiv, normativ (politisch) durchgesetzt werden muss – und auch wird“ (S. 180), was auf die anfangs angeführten Thesen zur Wirkmächtigkeit von Idee und Wert der Selbstoptimierung verweist. Marcel Eulenbach spricht in seinem Einleitungstext von einer „paradoxen Anforderung“ (S. 8) an die Subjekte. Sie operiere nicht über (direkten) Zwang, sondern über „institutionelle und diskursive Rahmenbedingungen“ (S. 9), die das individuelle Handeln beeinflussen. Die Menschen sollen sich also (gemäß mehr oder minder ausformulierter gesellschaftlicher Vorgaben) optimieren wollen und sich dabei als autonome Agenten ihrer Lebensführung begreifen. Dominik Wagner-Diehl stellt in seinem Text zudem die These auf, dass „die Bedeutungszunahme einer Semantik der Selbstoptimierung“ symptomatisch für eine gesellschaftliche Entwicklung steht, in der „jede Person selbst für die Realisierung ihrer Potenziale verantwortlich gemacht wird“ (Wagner-Diehl in Eulenbach, S. 94). Als Beispiel dafür führt er den vielfach analysierten Wandel vom fürsorgenden zum aktivierenden Sozialstaat und die in diesem Kontext erfolgten Hartz-Reformen an. Auch Boris Traue sieht im Beispiel der „therapeutisch-beraterische[n] Selbstoptimierung“ eine Antwort auf strukturelle Faktoren wie der „Entgrenzung von Arbeit und Leben, Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, Wettbewerbskultur“ (Traue in Eulenbach, S. 152). Er konzipiert Formen von Beratung und Therapie als „Techniken der Optionalisierung“, die auf eine „individuelle Maximierung von Handlungsmöglichkeiten nach Maßgabe von Arbeits- und Beziehungsmärkten ausgerichtet“ ist (S. 147, 152, H.i.O.).

Das Thema Körperarbeit und Geschlecht steht im Zentrum der Beiträge von Julia Schreiber („Weiblichkeitsentwürfe im Kontext von Körperoptimierung“) und Julia Wustmann („Ästhetisch-Plastische Chirurgie als optimierende Körperarbeit“) aus dem Band Perfekte Körper, perfektes Leben? Der Beitrag von Corinna Schmechel bietet „Einblicke in die feministische und queere Sportkultur“. Schmechel erörtert das eingangs thematisierte Spannungsfeld zwischen „Ermächtigung und Normunterwerfung“ (Schmechel in Glade & Schnell, S. 142) und plädiert für eine Forschungsperspektive, die danach fragt, „wie die Freiheitsgrade in der notwendigen Normunterwerfung vergrößert werden können“ (S. 149). Neben Fragen der Faszination sportlicher Körperarbeit diskutiert sie u. a. die Ambivalenzen und „impliziten Reproduktionen hegemonialer Körpernormen im feministischen Sport“ (S. 145). Allgemein geht es den Herausgeberinnen und Beitragenden des Bandes um eine kritische Hinterfragung gesellschaftlich vermittelter Körperbilder, die überwiegend an Werten wie Jugendlichkeit, Fitness, Schlankheit und Gesundheit ausgerichtet sind und Personen betreffen, die eine weiße Hautfarbe und keine Behinderung haben. Insbesondere die letzten beiden Punkte sind ein Bereich, der in der Forschung bisher wenig Berücksichtigung gefunden hat. Dabei gehört der Band insgesamt (ungeachtet einzelner Ausnahmen) weniger in die Kategorie soziologischer Fachliteratur, sondern möchte vielmehr den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen. Behandelte Themen sind die Body Positivity Bewegung (Magda Albrecht), vegane Ernährung und Männlichkeit (Martin Winter), Reproduktionstechnologien (Ute Kalender), Fürsorgearbeit in der Kleinfamilie (Sarah Diehl) und das „Single Shaming“ (Gunda Windmüller). Der Bezug zu Selbstoptimierung ist bisweilen eher lose, etwa in Form allgemeiner Verweise auf (neoliberale) Körperbilder und/oder Schönheitsnormen. Nichtsdestotrotz verweist das Thema Behinderung auf eine wichtige konzeptionelle Frage. Gehört der Ausgleich einer Behinderung mit zum Phänomenbereich oder fängt Selbstoptimierung erst dann an, wenn vermeintlich ‚normale‘ Körper besser in Bezug auf den (stets variablen) Normbereich oder als Andere werden sollen? Im Sinne einer engeren Definition ist sicherlich letzteres der Fall, aber wenn es darum geht, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten das bestmögliche Ergebnis zu erreichen, ist das Themenfeld deutlich breiter. Gleichzeitig können Menschen mit Behinderung selbstredend Bereiche ihres Körpers, ihrer Psyche oder Lebensführung optimieren, die keine Beeinträchtigung haben. Vor diesem Hintergrund bietet die von der Weltgesundheitsorganisation erarbeitete Definition von Behinderung Orientierung. Sie findet sich in Martina Puschkes Beitrag über „Tattoos und krummer Rücken. Frauen mit Beeinträchtigung zwischen allen Idealen“. Die Definition ist dreigeteilt bzw. basiert auf drei Stufen:

Grundlegend ist eine Schädigung (zum Beispiel das Fehlen eines Beines), aus der eine Beeinträchtigung hervorgeht (zum Beispiel Probleme beim Treppensteigen), die zu einer Behinderung führen kann (wenn eine Prothesenträgerin im Sportverein nicht akzeptiert wird). Folglich ist eine Behinderung immer ein Konstrukt aus einer Beeinträchtigung und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. (Puschke in Glade & Schnell, S. 113)

Interessant ist zudem Puschkes Darstellung der Diskussionen im Zusammenhang des ersten deutschen Schönheitswettbewerbs für Frauen im Rollstuhl im Jahr 2004, ‚Beautys in Motion‘. Als Siegerinnen sind drei normschöne Frauen hervorgegangen, „in langen Abendkleidern [...], schlank, langhaarig, mit makelloser Haut“ (Puschke in Glade & Schnell, S. 109) und weißer Hautfarbe. Es bestand und besteht keineswegs Einigkeit darüber, ob das Ziel emanzipatorischer Bewegungen darin bestehen sollte, in die bestehende Schönheitsindustrie inkludiert zu werden oder demgegenüber andere Schönheits- und Körperideale zu fordern. Ebenso stellt sich die Frage, welche Implikationen es hat, „behinderte Körper als Potentiale“ zu betrachten, wie Katta Spiel in ihrem Beitrag „Transreal Tracing. Queerfeministische Spekulationen zu Behinderung und Technologie“ mit Bezug auf einen Artikel von Karen Barad schreibt. Während Barad in emanzipatorischer Absicht „behinderte Körper neu als Oberfläche von Möglichkeiten“ imaginiert (vgl. Spiel in Glade & Schnell, S. 59), lässt sich mit Verweis auf Alain Ehrenbergs Buch „Die Mechanik der Leidenschaften“ auch auf eine mögliche Kehrseite schließen. Grundsätzlich geht Ehrenberg davon aus, dass sich in der gegenwärtigen Gesellschaft das Ideal der Autonomie verallgemeinert hat. Ausdruck dessen sei „das fähige Individuum, das ungeachtet seiner Behinderungen, Abweichungen oder Krankheiten in der Lage ist, sich zu entfalten, indem es seine Handicaps in Trümpfe verwandelt“ (Ehrenberg, 2019, S. 26, H.i.O.). Gerade Menschen mit Behinderungen werden hier also zu „Super-Individuen“ (Ehrenberg, 2022), die in der Lage sind, trotz bzw. gerade wegen Ihrer bestehenden Beeinträchtigungen außerordentlich zu sein bzw. außerordentliches zu leisten. Ehrenberg bezeichnet dies als „Ideal des verborgenen Potentials“ (Ehrenberg, 2019, S. 26). Es kann bestärkend (im Sinne von empowerment) wirken, aber ebenso soziale Erwartungen und Druck erzeugen.

Lohnend ist vor diesem Hintergrund auch ein Blick in die historischen Entstehungsbedingungen derartiger Erwartungen, Orientierungen und Dispositionen. So entwickelt Peter Wehling die These, dass „die Idee und Praxis einer unabschließbaren (Selbst-)Optimierung ‚des‘ Menschen einen Effekt des Zusammenspiels und der Wechselwirkungen von Biomacht und kapitalistischer Ökonomie seit dem 18. Jahrhundert darstellt“ (Wehling in Glade & Schnell, S. 24). An anderer Stelle spricht er auch von einer „Art von Wahlverwandschaft“ (S. 27) zwischen beiden Phänomenen. Wie genau die These der Wahlverwandschaft zwischen „spezifischen Machttechniken und ökonomischen Praktiken“ (S. 26) zu verstehen ist, müsste man noch genauer darlegen (zumal der Fokus im Beitrag deutlich stärker auf der Entwicklung von Biomacht als auf der des Kapitalismus liegt), ebenso die konzeptionellen Zusammenhänge von Optimierung und Selbstoptimierung. Im Band Optimierung des Selbst verfolgt Deborah Frommelt in ihrem Beitrag „Vom guten Leben in einer Bildergesellschaft. Selbstoptimierung und Selbstvermessung als Kennzeichen moderner Gesellschaften“ ebenfalls eine historische Perspektive. Ihr geht es darum, die „tieferliegenden gesellschaftlichen Bedingungen“ von Selbstvermessung und Selbstoptimierung zu ergründen (Frommelt in Dalski et al., S. 30). Ihr zufolge müsste man für ein besseres Verständnis der Phänomene Selbstoptimierung und Selbstvermessung in der Forschung noch stärker die „vielschichtigen (nicht-)diskursive[n] Prozesse, Machtkämpfe und tiefgreifenden Veränderungen in mehr als 200 Jahren (Kultur- und Sozial-)Geschichte westlicher Gesellschaften“ berücksichtigen (S. 45), was auf ein breites historisch(-soziologisches) Forschungsprogramm verweist. Daneben finden sich im Band zur Optimierung des Selbst noch weitere disziplinäre und thematische Perspektiven auf das hier behandelte Thema: das Recht (Johanna Kästel), therapeutische Alltagspraktiken (Kirsten Flöter), Literatur (Johanna Tönsig), Blogs (Ralph Köhnen) sowie der Zusammenhang von Testosteron, Leistung, Optimierung und Geschlecht (Lisa Keil).

Schlussbetrachtung

Die vier Publikationen zeugen von der Diffusion der Semantiken von Optimierung und Selbstoptimierung in verschiedene disziplinäre und thematische Kontexte. Vergleichbar mit der Rede von „Resilienz“, ist dieser Erfolg auf die doppelte deskriptive und normative Dimension des Begriffs wie auch auf seine inhaltliche Offenheit zurückzuführen (Endreß 2023, S. 523). Als erstes Fazit lässt sich hieraus schlussfolgern, dass Selbstoptimierung zu einer zentralen Chiffre für gesellschaftliche Körperideale, Vorstellungen von individueller Leistung wie auch individueller Verantwortung für das eigene Leben geworden ist. Gerade für eine soziologische (und breitere sozialwissenschaftliche) Perspektive reicht dies jedoch nicht aus. Entsprechend ist die Kehrseite der inhaltlichen Offenheit und Anschlussfähigkeit die des möglichen Verlusts analytischer Präzision. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass das Problem weniger im Begriff als solchem als in der Art und Weise seiner Verwendung liegt – eben mitunter als Schlagwort, das vor allem Aufmerksamkeit erzeugen und mögliche Leser:innen ansprechen soll. Wie deutlich wurde, liegen durchaus konzeptionell-analytische Ausarbeitungen vor, die sich für die weitere Forschung nutzen und weiterentwickeln lassen.[6] Mit Vorsicht zu genießen sind allgemeine Verweise auf „die“ Selbstoptimierung oder auch Zeitdiagnosen, die das Bestehen einer „Optimierungsgesellschaft“ suggerieren. Ganz im Gegenteil stellt sich im Kontext der aktuellen sozio-politischen Großwetterlage, die vom Zusammenwirken multipler Krisen (Klimawandel, Kriege, Populismus...) geprägt ist, die Frage, ob nicht bereits der Anfang vom Ende der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit vom Ideal der Selbstoptimierung begonnen hat. Boris Traue argumentiert in seinem Beitrag, dass ein „Abschied von Selbstoptimierung als Ideal der Selbst- und Lebensführung [...] zumindest vorstellbar geworden“ ist (Traue in Eulenbach, S. 152). Diese Einschätzung trifft insbesondere dann zu, wenn man Selbstoptimierung als Bestandteil, Ausdruck und/oder Motor einer neoliberalen politischen Ordnung oder Gesellschaftsformation konzipiert, die ihren Zenit vielleicht schon überschritten hat (Gerstle, 2022). Auch hier wäre es jedoch verfehlt, vorschnell ein Ende zu proklamieren und das Kind gleichsam mit dem Bade auszuschütten. Die Digitalisierungsdynamik geht unvermittelt weiter, die (bio-technologischen) Zugriffs- und Einwirkungsmöglichkeiten auf Facetten des „Selbst“, und damit auch die Möglichkeiten ihrer Optimierbarkeit, werden immer vielseitiger und ein Ende der normativen (und materiell gestützten) Wirkmächtigkeit von Fitness-, Schönheits- und Schlankheitsidealen, die zu Praktiken der Selbstoptimierung animieren, ist nicht in Sicht – ob man sie nun als „neoliberal“ betitelt oder nicht. Daher vermute ich weniger ein Ende von Ideen und Praktiken der Selbstoptimierung als vielmehr ihre weitere Verbindung mit anderen, etwa spirituellen, religiösen oder ästhetischen Orientierungen. Neben einer genaueren Untersuchung derartiger hybrider Kombinationen besteht weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich der sozialstrukturellen Dimension von Praktiken der Selbstoptimierung, ihrer Verbindung mit Dynamiken der sozialen Ungleichheit als auch die Etablierung einer international vergleichenden und transnationalen Untersuchungsperspektive auf das Thema, die sich auch auf Länder jenseits des „globalen Nordens“ erstreckt. Dies sind einige (von vielen weiteren wichtigen) Themen und Fragen für eine soziologische und sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Selbstoptimierung. Es bleibt zudem abzuwarten, welche weiterführenden Perspektiven sich aus der hier dokumentierten interdisziplinären Anschlussfähigkeit des Themas (inklusive der damit verbundenen Tücken und Herausforderungen) noch ergeben werden.

Literaturverzeichnis

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Online erschienen: 2024-03-11
Erschienen im Druck: 2024-03-31

© 2024 Anja Röcke, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
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  8. Themenessay
  9. „Selbstoptimierung“ und Gesellschaft. Grenzen und Perspektiven eines Konzepts
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  27. Einzelbesprechung Wohnen
  28. François Höpflinger / Valérie Hugentobler / Dario Spini (Hrsg.), Wohnen in den späten Lebensjahren. Grundlagen und regionale Unterschiede. Age Report IV. Zürich/Genf: Seismo 2019, 316 S., br., 33,00 €
  29. Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2024
  30. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 27.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2082/html
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