Home Empirische Grundlagen zur Weiterentwicklung klinischer Seelsorge. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage in der Schweiz
Article Publicly Available

Empirische Grundlagen zur Weiterentwicklung klinischer Seelsorge. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage in der Schweiz

  • Simon Peng-Keller

    Prof. Dr. theol., seit 2015 Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich. Begleiter kontemplativer Exerzitien im Geistlichen Zentrum St. Peter im Schwarzwald und im Lassalle-Haus, Schweiz. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich Spiritualität und Spiritual Care.

    EMAIL logo
    , Jörg Schneider

    M.A., Sozial- und Medienforscher, Geschäftsinhaber von js_studien+analysen und Research Associate am Forschungsinstitut für Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich.

    , Fabian Winiger

    Promovierter Medizin- und Sozialanthropologe. Seit 2018 tätig an der Professur für Spiritual Care an der Universität Zürich. Forschungstätigkeit im Bereich Spiritualität, Digitalisierung und Gesundheitswesen.

    ORCID logo
    and David Neuhold

    Prof. Dr. Mag. theol., seit 2023 Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Hochschule Chur mit einem Schwerpunkt in Mittlerer und Neuerer Kultur- und Religionsgeschichte. Von 2018–2023 Mitarbeiter an der Professur für Spiritual Care an der Universität Zürich.

    ORCID logo
Published/Copyright: January 18, 2024
Become an author with De Gruyter Brill

Zusammenfassung

Mit Blick auf die aktuellen Transformationsprozesse im Bereich klinischer Seelsorge untersuchte die vorliegende Studie die diesbezüglichen Erfahrungen und Erwartungen der Schweizer Bevölkerung. Mittels einer repräsentativen Onlinebefragung (n = 1.223) wurde zum einen in retrospektiver Hinsicht untersucht, in welchen Kontexten Menschen bereits Erfahrungen mit Seelsorgenden gemacht hatten und wie sie diese einschätzten; in prospektiver Hinsicht wurden zum anderen die konkreten Erwartungen an seelsorgliche Unterstützung bei schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigung erfragt. Die Datenanalyse ergab vier Bedürfnistypen: (1) Ablehnung von Religion und Spiritualität (24.2 %); (2) Skepsis gegenüber Religion bei spiritueller Offenheit (41.4 %); (3) Religiosität ohne ausgeprägte Spiritualität (12.6 %); (4) ausgeprägte Spiritualität bei religiöser Offenheit (21.8 %). Während Typus 1 der Seelsorge gegenüber grundsätzlich ablehnend eingestellt ist, gibt es bei Typus 2 eine moderate Offenheit gegenüber einer Seelsorge, die ihren Schwerpunkt in einer psychosozialen Unterstützung hat. Bei Typus 3 überwiegt ein deutlich ausgeprägter Wunsch nach einer religiös-spirituellen Unterstützung durch Gebete und Rituale, während Personen, die dem Typus 4 zuzuordnen sind, das Seelsorgeangebot in dessen ganzen Breite nutzen wollen würden. Der Aufbau eines digitalen Seelsorgeangebots wird von 25 % der Befragten als sinnvoll erachtet.

1 Einführung

Die Seelsorge im Gesundheitswesen ist im Wandel begriffen. Die weltanschauliche und religiös-spirituelle Pluralisierung, die rückläufigen personellen und finanziellen Ressourcen der Kirchen sowie die vielfältigen Transformationsprozesse im Gesundheitswesen, zu denen neben Spezialisierung, Ökonomisierung und Digitalisierung auch das Aufkommen interprofessioneller Spiritual Care gehört, führen zu einer intensiven Diskussion über das professionelle Selbstverständnis klinischer Seelsorge (Roser 2017; Peng-Keller 2021). Die Frage, wie sich die Krankenhausseelsorge in der Schweiz angesichts dieser Transformationsprozesse positionieren und weiterentwickeln soll, sorgte in den letzten Jahren für intensive Diskussionen und führte mitunter auch zu heftigen Kontroversen. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob und in welchem Maße sich die Krankenhausseelsorge künftig als spezialisierte Spiritual Care in die interprofessionelle Versorgung einbringen soll. Diese Grundsatzdiskussion konkretisiert sich nicht allein in der Frage, welchen Einfluss der 2022 gegründete Berufsverband für Seelsorge und spezialisierte Spiritual Care im Gesundheitswesen der Schweiz (BSG) künftig haben wird, sondern ebenso an gegenläufigen Einstellungen zu Nutzung digitaler Instrumente (z. B. Videotelefonie, Seelsorgeplattformen und Apps), insbesondere zu digitaler Seelsorgedokumentation.

Um das seelsorgliche Angebot noch besser auf die sich wandelnden Bedürfnisse von Patienten und Patientinnen, Angehörigen und Gesundheitsinstitutionen abstimmen zu können, braucht es verlässliche empirische Grundlagen. Zu erforschen sind dabei sowohl die spirituellen Bedürfnisse von Patienten und Patientinnen, als auch ihre Erfahrungen mit Krankenhausseelsorgenden und ihre Erwartungen an sie. Während ersteres bereits intensiv erforscht wurde (Balboni et al. 2022), sind die seelsorgespezifischen Erfahrungen und Erwartungen bislang untererforscht (eine Ausnahme bildet die Studie von Lawton et al. 2023). Auch wenn die religiös-spirituellen Einstellungen und Praktiken (Bundesamt für Statistik 2020; Stolz et al. 2022) und die aktuelle Situation der Spitalseelsorge in der Schweiz (Pahud de Mortanges et al. 2018; Projektgruppe SeeliG 2018) gut erforscht sind, fehlt es bislang an einer repräsentativen Befragung, die die Erwartungen an die klinische Seelsorge sowie die Erfahrungen mit ihr erhebt.

Die vorliegende Studie antwortet auf dieses Forschungsdefizit. Sie stützt sich auf eine repräsentative Bevölkerungsumfrage, die im Frühjahr 2023 in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz durchgeführt worden ist. Die Befragung hatte einen doppelten Fokus: In retrospektiver Hinsicht untersuchten wir, in welchen Kontexten Menschen bereits Erfahrungen mit Seelsorgenden gemacht hatten und wie sie diese einschätzten; in prospektiver Hinsicht erfragten wir konkrete Erwartungen an seelsorgliche Unterstützung bei schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigung. Dabei interessierte uns insbesondere, ob und in welchem Maße diese Erwartungen von der eigenen Verortung im religiös-spirituellen Feld abhängig ist. Im Hinblick auf das Forschungsprojekt „Digital Spiritual Care“ des Universitären Forschungsschwerpunkts „Digital Religion(s)“ (Universität Zürich), in dessen Rahmen die vorliegende Studie durchgeführt wurde, erhoben wir zudem die Einstellungen bezüglich digitaler Seelsorgeformate.

2 Methode und Stichprobe

Die Daten wurden mit einer repräsentativen Onlinebefragung der schweizerischen Bevölkerung im Rahmen einer umfassenden Befragung zur Reputation religiöser Gemeinschaften erhoben. Als Erhebungsinstrument verwendeten wir einen strukturierten Fragebogen. Neben Fragen zu Religiosität und Spiritualität war die Seelsorge allgemein und insbesondere die Seelsorge im Gesundheitswesen ein Schwerpunktthema. Gefragt wurde nach Erfahrungen und Bewertungen sowie nach Präferenzen und Einstellungen zu diesem Thema. Der Fragebogen wurde auf Deutsch erstellt und ins Französische übersetzt, um die Befragung in den beiden großen Sprachregionen der Schweiz durchführen zu können.

Die Grundgesamtheit war die sprachassimilierte Wohnbevölkerung in der Deutschschweiz und der Suisse Romande im Alter zwischen 18 und 74 Jahren. Die Datenerhebung führte das Befragungsinstitut Intervista durch, das die Teilnehmer/-innen aus seinem zertifizierten Online-Panel mit über 120.000 aktiven Panellisten und Panellistinnen rekrutierte (Intervista 2023). Insgesamt wurden vom 10. bis 27. März 2023 in einer geschichteten Zufallsstichprobe 1.223 Interviews realisiert. Innerhalb von vier Großregionen wurden proportional zur Bevölkerungsverteilung Quotenzellen interlocked nach Geschlecht und Alter vorgegeben, wodurch auch die Verteilungen der Bildungsstufen und der Religionszugehörigkeiten gut abgebildet werden konnten. Verbliebene Abweichungen konnten durch eine bevölkerungsproportionale Gewichtung nach Alter und Geschlecht ausgeglichen werden (Bundesamt für Statistik 2023). Die Gewichtungsfaktoren bewegen sich zwischen 0.88 und 1.15.

Für die Datenanalyse steht somit ein gewichteter Datensatz zur Verfügung, der sich sprachregional zu 75.1 % auf die Deutschschweiz und zu 24.9 % auf die Suisse Romande verteilt. Er beinhaltet die Antworten von 49.6 % weiblichen und 49.5 % männlichen Personen sowie 0.9 % Personen mit non-binären Geschlechtsidentitäten. Die Altersklassen haben folgende Anteile: 19.5 % 18 bis 29 Jahre, 29.1 % 30 bis 44 Jahre, 30.1 % 45 bis 59 Jahre, 21.3 % 60 bis 74 Jahre. 14.0 % der Befragten haben einen obligatorischen Schulabschluss, 46.0 % haben die Sekundarstufe II und 40.0 % die Tertiärstufe absolviert. 33.3 % haben keine Religionszugehörigkeit, 29.8 % bekennen sich zur römisch-katholischen und 27.6 % zur evangelisch-reformierten Kirche, 9.3 % geben sonstige Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeiten an. Insbesondere muslimische Gemeinschaften sind somit in der Stichprobe unterrepräsentiert (Bundesamt für Statistik 2023).

3 Ergebnisse

3.1 Religiös-spirituelle Bedürfnistypen

Um unterschiedliche religiös-spirituelle Bedürfnistypen zu eruieren, wurde sowohl die Relevanz von Religion als auch der Grad der Religiosität und Spiritualität erhoben. Durch die Einbettung in Fragen zur Reputation von religiösen Gemeinschaften und zur eigenen Religionszugehörigkeit ist der Begriff ,Religion’ in unserer Befragung als ,institutionalisierte Religion’ gefasst, was sich denn auch in den Antworten der Teilnehmenden widerspiegelt. Auch wenn die Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung bekundet, dass Religion im Alltag für sie nicht bedeutsam ist, geben 42.6 % an, dass sie diese bei Lebensereignissen wie Geburt, Hochzeit oder Beerdigung als (sehr) wichtig erachten (Werte 5 und 4 auf der Skala von 1 bis 5). Religion ist für rund ein Drittel in schwierigen Momenten des Lebens (33.3 %) und für ein gutes Viertel im Falle einer Krankheit (28.5 %) relevant. Im Vergleich dazu gibt nur ungefähr jede zehnte Person an, dass Religion für die eigenen politischen Ansichten und Entscheidungen (10.3 %), fürs Sexualleben (8.6 %) und bei Ernährungsgewohnheiten (8.1 %) von Bedeutung ist.

Religiosität wurde anhand von fünf Items, die von Huber (2008) vorgeschlagen werden, auf einer fünfstufigen Likert-Skala abgefragt (s. Annex). Die Skala für Religiosität weist eine hohe Reliabilität auf: Cronbachs Alpha = .90, Index-Mittelwert = 2.46. Spiritualität wurde ebenfalls auf einer fünfstufigen Likert-Skala abgefragt, wobei die sieben Items der aus dem Englischen übersetzten Skala von Houtman und Tromp (2021) verwendet wurden (s. Annex). Die Skala für Spiritualität weist eine hohe Reliabilität auf: Cronbachs Alpha = .89, Index-Mittelwert = 3.11. Die Trennschärfe der beiden Konstrukte zur Messung von Religiosität und Spiritualität konnte empirisch bestätigt werden (Schwaiger et al. 2022).

Um das Seelsorgeangebot im Gesundheitswesen adressatenbezogen ausrichten und weiterentwickeln zu können, braucht es empirisches Wissen darüber, welche religiösen und spirituellen Bedürfnisse von der Allgemeinbevölkerung an es herangetragen werden. Um entsprechende Bedürfnistypen empirisch abzugrenzen, werden die Befragten anhand der vorgestellten Indices für Religiosität und Spiritualität klassifiziert. Mit einer Clusteranalyse, die durch einen iterativ-partionierenden k-means-Algorithmus Befragte mit ähnlichen Religiositäts- und Spiritualitätsmustern in ein Cluster zusammenfasst und dabei möglichst unterschiedliche Cluster voneinander trennt, können vier Cluster gebildet werden. Die Vier-Cluster-Lösung erweist sich als besonders trennscharf zwischen den Clustern und gleichzeitig relativ homogen innerhalb der einzelnen Cluster. Die Cluster lassen sich als religiös-spirituelle Bedürfnistypen interpretieren: Typus 1, Ablehnung von Religion und Spiritualität (r-/s-); Typus 2, Skepsis gegenüber Religion bei spiritueller Offenheit (r-/s+); Typus 3, Religiosität ohne ausgeprägte Spiritualität (r+/s-); Typus 4, ausgeprägte Spiritualität bei religiöser Offenheit (r+/s+). Die Bedürfnistypen können anhand ihrer Clusterzentren dargestellt werden, die die Mittelwerte der klassifizieren Befragten für Religiosität und Spiritualität abbilden. Die Kreisgrößen (Durchmesser) stehen für die relative Häufigkeit (siehe Abb. 1).

Der Typus 1 macht rund ein Viertel der Bevölkerung aus (24.2 %), wobei 20.3 % dieser Gruppe katholisch ist, 23.1 % reformiert und 51.9 % ohne Religionszugehörigkeit. Männer sind hier signifikant häufiger anzutreffen. Außerdem sind die jüngeren Altersgruppen unter 45 Jahren überrepräsentiert. Den Gegenpol bildet der Typus 4 (21.8 %). Bei diesem Typ sind Frauen in der Überzahl und deutlich mehr Personen aus den älteren Altersgruppen über 45 Jahren vertreten. 36.7 % sind katholisch, 32.2 % reformiert und 20.6 % ohne Religionszugehörigkeit. Auch hinsichtlich der Bildung unterscheiden sich die beiden Typen, insofern die ablehnende Haltung eher bei den höher Gebildeten ausgeprägt ist. Beim größten Bedürfnistyp 2 (41.4 %) sowie bei Typus 3 (12.6 %) sind keine größeren Unterschiede bezüglich der soziodemografischen Variablen Geschlecht, Alter und Bildung zu verzeichnen. Die gewichtigsten Unterschiede bestehen bei der Religionszugehörigkeit. Personen, die sich explizit keiner Konfession oder Religion zugehörig fühlen, sind im Typus 2 deutlich häufiger anzutreffen. In dieser Gruppe sind 37.5 % ohne Religionszugehörigkeit, während 31.0 % katholisch und 27.9 % reformiert sind. Im Typus 3 sind nur 5.8 % ohne Religionszugehörigkeit, 32.3 % katholisch und 27.7 % reformiert, während hier der Anteil „Sonstige“, zu dem Angehörige von muslimischen Gemeinschaften und Freikirchen gezählt werden, am höchsten ist: 34.2 %.

Abb. 1: Religiös-spirituelle Bedürfnistypen (n = 1.223)
Abb. 1:

Religiös-spirituelle Bedürfnistypen (n = 1.223)

3.2 Bisherige Erfahrungen mit Seelsorge im Gesundheitswesen

Von den 1.223 befragten Personen hatten 39.8 % schon einmal einen Kontakt mit der Seelsorge, 14.9 % in einem Gesundheitskontext (Krankenhaus, Pflegeheim, psychiatrische Klinik, Hospiz, Reha-Klinik oder alternative medizinische Behandlung). Wie die folgende Grafik zeigt, lag der Schwerpunkt der erfahrenen Unterstützung in Gesprächen, wobei nur etwa ein Viertel dieser Gespräche beratenden Charakter hatte:

Der Schwerpunkt der erfahrenen Seelsorge liegt in einer primär psychosozialen Unterstützung (durch Gespräche, aufmerksames Dasein und Beratung; insgesamt 87.1 %). Deren religiös-spiritueller Prägung wird zwar durch die Seelsorgeperson repräsentiert, kann jedoch implizit bleiben. Von ausdrücklich religiös-spirituellen Vollzügen (Gebet und Ritual) berichten 23.5 %. 20.1 % der Befragten gaben an, Seelsorge in beiden Formen erfahren zu haben. Während diese Anteile wenig überraschend sind, ist es bemerkenswert, dass die Bewertung der seelsorglichen Unterstützung deutlich positiver auffällt, wenn sie auch religiös-spirituelle Vollzüge umfasste:

Die Einschätzung der seelsorglichen Unterstützung fällt insgesamt deutlich positiv aus: 39.7 % fühlten sich unmittelbar nach der seelsorglichen Begegnung besser, wobei sie für 29.3 % auch eine mittel- und langfristige Hilfe bedeutete. Dass nur 9.8 % der Befragten sich eine andere Form seelsorglicher Unterstützung gewünscht hätten, lässt vermuten, dass für mehr als die Hälfte der Befragten das seelsorgliche Angebot keinen nennenswerten Einfluss auf die Befindlichkeit hatte. Vergleichsweise moderat ist auch die Anzahl derer, die sich mehr seelsorgliche Unterstützung gewünscht hätten (8.7 %). Beachtlich ist hingegen, dass die seelsorgliche Unterstützung bei 17.5 % die Einstellung zu den Kirchen verbesserte.

3.3 Präferenzmuster: Formen der Seelsorge bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung

Um die Erwartungen und Wünsche der Bevölkerung gegenüber der Seelsorge im Gesundheitswesen zu ermitteln, luden wir alle 1.223 Teilnehmenden der Befragung zu einem Gedankenexperiment ein. Da gemäß der repräsentativen Umfrage des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2019 für 53.1 % der Schweizer Bevölkerung Religion und Spiritualität in schwierigen Momenten des Lebens von Bedeutung ist (Bundesamt für Statistik 2020), gingen wir in der Entwicklung des hypothetischen Szenarios davon aus, dass seelsorgliche Unterstützung am ehesten in einer Extremsituation gewünscht ist. Deshalb luden wir die Befragungsteilnehmenden ein, sich vorzustellen, sie befänden sich selbst mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung in einem Spital. Welche Form von Unterstützung würden sie sich in einer solchen Situation wünschen? Und wie viele der Befragten möchten keinerlei seelsorgliche Unterstützung?

Abb. 2: Seelsorgliche Unterstützung im Gesundheitskontext: „Wie wurden Sie im Gesundheitskontext (Spital, Pflegeheim, Hospiz, Reha oder Psychiatrie) seelsorglich unterstützt?“ (Mehrfachantworten möglich; n = 183)
Abb. 2:

Seelsorgliche Unterstützung im Gesundheitskontext: „Wie wurden Sie im Gesundheitskontext (Spital, Pflegeheim, Hospiz, Reha oder Psychiatrie) seelsorglich unterstützt?“ (Mehrfachantworten möglich; n = 183)

Abb. 3: Bewertung der seelsorglichen Unterstützung: „Wie beurteilen Sie die seelsorgliche Unterstützung, die Sie im Gesundheitskontext (Spital, Pflegeheim, Hospiz, Reha oder Psychiatrie) erfahren haben?“ (n = 183).
Abb. 3:

Bewertung der seelsorglichen Unterstützung: „Wie beurteilen Sie die seelsorgliche Unterstützung, die Sie im Gesundheitskontext (Spital, Pflegeheim, Hospiz, Reha oder Psychiatrie) erfahren haben?“ (n = 183).

Abb. 4: Wünsche bei lebensbedrohlicher Erkrankung: „Bitte stellen Sie sich die folgende Situation vor: Sie liegen mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Spital. Wie stark treffen die folgenden Aussagen auf Sie persönlich zu? In einer solchen Situation würde ich es gut finden, …“ (n = 1.223)
Abb. 4:

Wünsche bei lebensbedrohlicher Erkrankung: „Bitte stellen Sie sich die folgende Situation vor: Sie liegen mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Spital. Wie stark treffen die folgenden Aussagen auf Sie persönlich zu? In einer solchen Situation würde ich es gut finden, …“ (n = 1.223)

Die zur Bewertung vorgelegten Optionen für das vorgestellte Szenario benennen unterschiedliche Unterstützungsformen, die für die Seelsorge typisch sind, jedoch zumindest teilweise auch von anderen Berufsgruppen oder von freiwilligen Helfern und Helferinnen bzw. An- und Zugehörigen wahrgenommen werden können. Das gilt insbesondere für die von 61.3 % der Befragten bejahten Form einer grundlegenden psychosozialen Unterstützung: dem aufmerksamen Zuhören und Dasein. Auffällig ist, dass die Begleitung und Unterstützung der Angehörigen ebenfalls sehr hoch gewichtet wird (53.6 %) und dass die Beratung in Entscheidungssituationen (47.5 %) und die Unterstützung bei der Verarbeitung aktueller Erfahrungen (41.5 %) stärker gewichtet werden als ausdrücklich religiös-spirituelle Unterstützungsangebote (Bestärkung von eigenen Überzeugungen: 24.4 %; Gebet: 20.2 %).

Bemerkenswert ist auch die nicht geringe Anzahl derer, die keine Antwort anzugeben wusste (zwischen 5 und 10 %) oder sich in der unentschiedenen Mitte verortete (rund zwischen 12 und 22 %). Von der anderen Seite her gelesen, ergibt sich ein nicht weniger konsistentes Bild: Während das aufmerksame Zuhören und Dasein nur von 20.8 % keine gewünschte Option darstellt, liegt die Zahl beim Gebet bei 61 %. Ganze 41.3 % der Befragten möchten nicht mit Fragen nach dem Sinn des Lebens behelligt werden, 24.4 % möchten keine Beratung in Entscheidungssituationen und 29.1 % keine Unterstützung in der Verarbeitung aktueller Erfahrungen in Anspruch nehmen. Personen, die bereits Kontakt mit Seelsorgenden hatten, sei es im Gesundheitskontext oder in anderen Bereichen, sind offener für seelsorgliche Angebote. Der Anteil der Befragten, die explizit keine Fragen nach dem Sinn des Lebens besprechen wollen, ist jedoch in den beiden Gruppen mit und ohne seelsorgliche Erfahrungen gleich hoch.

Aus der Bewertung der einzelnen Optionen für das Szenario lassen sich anhand einer Hauptkomponentenanalyse empirische Muster ermitteln. Dabei werden die bevorzugten Optionen, die typischerweise in Kombination genannt werden zu latenten Faktoren zusammengefasst und als Präferenzmuster interpretiert. Für das Szenario konnten drei Präferenzmuster identifiziert werden, die mit den deskriptiven Beobachtungen übereinstimmen. Die beiden ersten Präferenzmuster stehen einem Seelsorgeangebot in Gesundheitsinstitutionen positiv gegenüber. Sie unterscheiden sich jedoch dahingehend, welche Unterstützungen bevorzugt werden: die psychosozialen Angebote (Muster „Wunsch nach psychosozialer Unterstützung“) oder die Angebote mit religiös-spirituellem Charakter (Muster „Wunsch nach religiös-spirituellen Vollzügen“). Das dritte Präferenzmuster erfasst dagegen einen Wunsch, sich nicht mit Sinnfragen auseinandersetzen zu müssen (Muster „Ablehnung von seelsorglichen Gesprächsangeboten“).

Abb. 5: Persönliche Präferenzmuster der Bedürfnistypen bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Dargestellt sind unter- bzw. überdurchschnittliche Zustimmungen zu den Präferenzmustern (Skala: Standardabweichung vom Mittelwert des Musters in der Gesamtstichprobe) (n = 1.223)
Abb. 5:

Persönliche Präferenzmuster der Bedürfnistypen bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Dargestellt sind unter- bzw. überdurchschnittliche Zustimmungen zu den Präferenzmustern (Skala: Standardabweichung vom Mittelwert des Musters in der Gesamtstichprobe) (n = 1.223)

Analysiert man die Präferenzmuster in Hinblick auf die oben herausgearbeiteten religiös-spirituellen Bedürfnistypen (vgl. 3.1), können Hinweise auf seelsorgliche Zielgruppen gewonnen werden. Es zeigt sich, dass sich die Präferenzmuster zwischen den Bedürfnistypen signifikant unterscheiden.

Während Typus 1 der Seelsorge gegenüber grundsätzlich ablehnend eingestellt ist, gibt es bei Typus 2 eine moderate Offenheit gegenüber einer Seelsorge, die ihren Schwerpunkt in einer psychosozialen Unterstützung hat (Gespräche, aufmerksames Dasein, Beratung). Bei Typus 3 überwiegt ein deutlich ausgeprägter Wunsch nach religiös-spiritueller Unterstützung durch Gebete und Rituale, während Personen, die dem Typus 4 zuzuordnen sind, das Seelsorgeangebot in seiner ganzen Breite nutzen wollen würden.

Der Wunsch nach psychosozialer Unterstützung ist bei Frauen, bei Angehörigen der Reformierten Kirche sowie bei älteren Menschen und bei solchen mit einer ausgeprägten spirituellen Orientierung stärker als bei Männern, Katholiken und Katholikinnen und jüngeren Menschen. Der Wunsch nach religiös-spiritueller Unterstützung ist hingegen bei Angehörigen von Freikirchen oder der Katholischen Kirche deutlicher ausgeprägt als bei Reformieren.

3.4 Einstellungsmuster: Haltungen gegenüber struktureller Verankerung von Seelsorge im Gesundheitskontext

Mit Blick auf die erwähnten Diskussionen um die Zukunft klinischer Seelsorge interessierte uns auch, wie die repräsentative Kohorte sich zu deren Finanzierung und strukturellen Verankerung stellt. Wünscht sich die Bevölkerung eher die Beibehaltung der bisherigen Form kirchlicher Seelsorge oder eine stärkere Integration ins Gesundheitswesen?

Abb. 6: Strukturelle Verankerung der Seelsorge: „Wenn es um seelsorgliche Angebote im Spital oder anderen Gesundheitsinstitutionen (Pflegeheim, Hospiz, Reha, psychiatrische Klinik) ganz allgemein geht: Wie stark stimmen Sie den folgenden Aussagen zu?“ (n = 1.223)
Abb. 6:

Strukturelle Verankerung der Seelsorge: „Wenn es um seelsorgliche Angebote im Spital oder anderen Gesundheitsinstitutionen (Pflegeheim, Hospiz, Reha, psychiatrische Klinik) ganz allgemein geht: Wie stark stimmen Sie den folgenden Aussagen zu?“ (n = 1.223)

Überblickt man die Antworten, so fällt zum einen ihre gleichmäßige Verteilung über die verschiedenen Optionen auf, zum anderen die nochmals höhere Anzahl derer, die entweder keine Antwort anzugeben wusste oder sich wiederum in der Mitte zwischen ,zutreffend’ und ,nicht zutreffend’ verortete (zwischen 31–36 %). Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung ist diesen strukturellen Fragen gegenüber indifferent eingestellt. Bei den übrigen zwei Dritteln sind die Meinungen geteilt: 36 % befürworten eine stärkere Integration der Seelsorge ins Gesundheitswesen, 33 % lehnen dies ab; 32 % befürworten eine Beauftragung und Finanzierung durch Glaubensgemeinschaften und ebenso viele lehnen das ab; 30 % befürworten die Finanzierung und Beauftragung durch den Staat und das Gesundheitswesen, 39 % lehnen dies ab; 28 % wünschen, dass Seelsorgende ihren eigenen weltanschaulichen Hintergrund teilen, 40 % sprechen sich dagegen aus; 25 % befürworten den Aufbau digitaler Seelsorge, 41 % äußern sich diesbezüglich kritisch.

Mittels einer Hauptkomponentenanalyse lassen sich drei Einstellungsmuster identifizieren. Das erste steht für eine allgemeinem Offenheit für Seelsorge-Angebote, das zweite für eine Befürwortung eines konfessionellen Seelsorge-Angebots und das dritte für den Wunsch nach digitalen Seelsorge-Angeboten. Zwischen den religiös-spirituellen Bedürfnistypen unterscheiden sich die Einstellungen hinsichtlich der strukturellen Fragen ebenfalls markant.

Kaum überraschend ist es, dass der Bedürfnistyp 1 auch hinsichtlich der strukturellen Fragen ablehnend eingestellt ist. Weniger vorhersehbar war hingegen, dass der Bedürfnistyp 2 nicht nur gegenüber einer kirchlichen Finanzierung und Beauftragung gegenüber skeptisch eingestellt ist, sondern auch gegenüber einer durch den Staat und Gesundheitsinstitutionen beauftragte und finanzierte Seelsorge. Eher überraschend ist, dass nicht nur in Typus 4, sondern auch in Typus 3 die Offenheit gegenüber einer konfessionell ausgerichteten Seelsorge kleiner ist als gegenüber der Seelsorge insgesamt.

4 Diskussion

Um die erhobenen Befunde einzuordnen und zu interpretieren, ist es hilfreich, sie mit den Ergebnissen der ähnlich angelegten Erhebung von Lawton et al. (2023) zu vergleichen, die die seelsorgebezogenen Erwartungen der Allgemeinbevölkerung in den USA untersuchte (n = 1.096). Dabei zeigt sich, dass in der Schweiz ansässige Menschen in Gesundheitsinstitutionen gleich häufig mit Seelsorgenden in Kontakt kommen, das Seelsorgeangebot in den USA jedoch weit häufiger religiöse Vollzüge beinhaltet (81 % derjenigen, die mit der Seelsorge in Kontakt kamen, ließen sich durch ein Gebet unterstützen, 18 % durch ein religiöses Ritual und 71 % durch religiös-spirituelle Anleitung). Zudem schätzten die Befragten in den USA die Auswirkung der Seelsorge insgesamt deutlich positiver ein (72 % beurteilten sie als hilfreich, 7 % als belastend und 21 % als weder noch). Wie lassen sich diese Unterschiede in der Bewertung erklären? Der Hauptfaktor dürfte darin liegen, dass in der US-amerikanischen Kohorte die religiös-spirituellen Bedürfnistypen 3 und 4, die empfänglicher sind für seelsorgliche Angebote und diese positiver bewerten, weit häufiger anzutreffen sind als in der von uns untersuchten Schweizer Bevölkerung.

Abb. 7: Einstellungsmuster der Bedürfnistypen bezüglich der strukturellen Verankerung der Seelsorge (n = 1.223)
Abb. 7:

Einstellungsmuster der Bedürfnistypen bezüglich der strukturellen Verankerung der Seelsorge (n = 1.223)

Dieselbe Differenz findet sich bemerkenswerterweise auch im Vergleich mit einer 2009 veröffentlichten Studie, in der 679 Patienten und Patientinnen in der Deutschschweiz befragt wurden (Winter-Pfändler & Morgenthaler 2010). Auch hier fiel die Bewertung der Seelsorge deutlich positiver aus als in der vorliegenden. Der Unterschied dürfte dadurch zu erklären sein, dass in dieser Studie Patienten bzw. Patientinnen und nicht die Allgemeinbevölkerung befragt wurde. Die Wertschätzung von seelsorglichen Angeboten ist vermutlich bei schwerkranken Menschen größer als bei gesunden. Und die Wünsche, die unsere Studienteilnehmer im Hinblick auf eine mögliche schwere Erkrankung äußerten, dürften von den Wünschen abweichen, die sie in einer solchen Situation tatsächlich entwickeln würden. Zu vermuten ist, dass die deutlich zurückhaltende Einstellung der von uns befragten Kohorte auch durch die sich demografisch deutlich abzeichnende Entkirchlichung zu erklären ist. Die Zahl derer, die den Bedürfnistypen 3 oder 4 zugerechnet werden können, dürfte in den letzten Jahren zurückgegangen sein. In dieselbe Richtung weist, dass in der 2009 durchgeführten Studie 43 % der befragten Patienten und Patientinnen die konfessionelle Zugehörigkeit der Seelsorgenden wichtig war, während es in unserer Erhebung nur noch 28 % sind.

Lässt sich aus diesen Vergleichen ableiten, dass die Schweizer Bevölkerung im Jahr 2023 eher skeptisch ist, dass Seelsorgeangebote in Gesundheitsinstitutionen sinnvoll sind? Nicht unbedingt. Bedenkt man, dass es sich bei der aufsuchenden Seelsorge, wie sie in der Schweiz nach wie vor die Regel ist, oft um einmalige und kürzere Kontakte handelt, so ist es beachtlich, dass die seelsorgliche Unterstützung bei 39.7 % der Befragten eine positive Auswirkung hatte und dass sie bei 29.3 % sogar eine mittel- oder langfristige Hilfe bedeutete und bei 17.5 % die Einstellung zu den Kirchen verbesserte.

Wie ist es jedoch zu erklären, dass eine nicht geringe Anzahl der Befragten von einer positiven Auswirkung berichten, sich jedoch lediglich 8.7 % mehr seelsorgliche Unterstützung wünschten? Heißt dies, dass das Maß an seelsorglicher Unterstützung für die große Mehrheit passend war? Interessanterweise findet sich in der US-amerikanischen Studie, welche die quantitative Umfrage durch 50 qualitative Interviews vertiefte, eine ähnliche Diskrepanz: Aller positiven Einschätzung zum Trotz ist auch in den USA der Wunsch, in Zukunft erneut seelsorgliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, überraschend gering ausgeprägt. Die Autoren vermuten “a conflation of the chaplain and the setting in which the chaplain was encountered. In other words, one would prefer to avoid the hospital, and thus to avoid hospital chaplains“ (Lawton et al. 2023: 12).

Ziel unserer Studie war es, empirische Grundlagen für die Weiterentwicklung klinischer Seelsorge zu schaffen. Geht man vom Grundsatz aus, dass das seelsorgliche Angebot im Gesundheitskontext so ausgerichtet sein sollte, dass es von möglichst vielen hilfsbedürftigen Personen (Patienten, Angehörige, Mitarbeitende) als unterstützend wahrgenommen wird, stellt sich die Aufgabe, die Seelsorge auf unterschiedliche religiös-spirituelle Bedürfnistypen auszurichten. Festgehalten werden kann, dass das aktuelle Seelsorgeangebot für die Bedürfnistypen 3 (r+/s-) und 4 (r+/s+) – und damit für etwa ein Drittel der Schweizer Bevölkerung – insgesamt passend ist. Die 41.4 % der Bevölkerung, die dem größten Bedürfnistyp 2 (r-/s+) zuzuordnen sind, erreicht das aktuelle Seelsorgeangebot bestenfalls in moderatem Maße. Menschen, die dem Bedürfnistyp 1 (r-/s-) zuzuordnen sind, werden gemäß unseren Daten gar nicht erreicht.

Während mit Blick auf die Bedürfnistypen 3 und 4 die Aufgabe zu lösen ist, ein religiös profiliertes Seelsorgeangebot noch stärker auf eine diversifizierte Bevölkerung auszurichten (etwa durch muslimische Seelsorge), stellt sich hinsichtlich des zahlenmäßig am stärksten ins Gewicht fallenden Typus 2 die Frage, wie ein Seelsorgeangebot aussehen müsste, das Menschen, die sich als spirituell, aber nicht als religiös verstehen, noch besser erreicht. Die Ergebnisse unserer Befragung bestätigen, dass Seelsorge in Gesundheitsinstitutionen als ein primär religiöses Angebot für kirchlich gebundene Personen wahrgenommen wird, obwohl viele im Gesundheitswesen tätige Seelsorgende sich seit geraumer Zeit anders verstehen. Dass es derzeit in der Schweizer Bevölkerung, gemäß unserer Studie, keinen Konsens gibt, wie die klinische Seelsorge finanziert und in welchem Maße sie in Gesundheitsinstitutionen verankert sein sollte, passt zu dieser Fremdwahrnehmung.

Würde die Seelsorge Menschen des Typus 2 eher erreichen, wenn sie sich künftig stärker interprofessionell vernetzt und als eigenständiger Beruf im Gesundheitswesen etabliert? Die klinische Erfahrung weist in diese Richtung (Peng-Keller & Meyer Kunz 2020). Die Seelsorge im Gesundheitswesen steht damit vor der nicht einfach zu lösenden Aufgabe, einerseits ihre religiösen Kompetenzen zu bewahren und sich andererseits um ein neues professionelles Profil zu bemühen, das nicht auf eine spezifische religiös-konfessionelle Ausrichtung festgelegt ist.

Bei der Interpretation unserer Studienergebnisse ist auf zwei Limitationen zu achten. Die erste Limitation liegt im Wesen einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, in der nicht schwerkranke Menschen, sondern Gesunde befragt werden. Ihre Antworten auf das von uns vorgelegte hypothetische Szenario ist lediglich ein ungefährer Hinweis auf den Seelsorgebedarf, der in einem wirklichen Krankheitsfall entstehen würde. Zu beachten ist auch, dass unsere Erhebung nicht alle Bereiche klinischer Seelsorge erfasst. Seelsorgende unterstützen in den meisten Gesundheitsinstitutionen nicht allein Patienten, Patientinnen und Angehörige, sondern auch Mitarbeitende und beteiligen sich an internen Weiterbildungen.

5 Fazit

Gemäß unserer Erhebung befindet sich die klinische Seelsorge in der Schweiz gegenwärtig in einer paradoxen Situation: Einerseits wird sie von einer Mehrheit der Bevölkerung als ein primär konfessionelles Angebot wahrgenommen, andererseits bekunden 65,6 % der Befragten eine Reserve gegenüber einem solchen Angebot, obwohl 41,6 % eine Offenheit gegenüber spirituellen Fragen und Praktiken haben. Ist es möglich, das seelsorgliche Angebot so auszurichten, dass es zum einen auch diese Menschen erreicht, andererseits aber diejenigen, die eine ausdrücklich religiöse Form seelsorglicher Unterstützung wünschen, nicht verliert? Mit Blick auf die klinikseelsorgliche Erfahrung der letzten Jahrzehnte dürfte diese Frage zu bejahen sein. Voraussetzung dafür ist auf einer individuellen Ebene, dass Seelsorgende die Diversifizierung, die ihnen begegnet, innerlich mitvollziehen und sich in einer religiös-spirituellen Mehrsprachigkeit und einem „Code-Switching“ üben (Cadge & Sigalow 2013). Auf einer strukturellen Ebene bedarf eine solche Neuausrichtung der Seelsorge einerseits der professionsinternen Selbstklärung, andererseits einer neuen Selbstpräsentation in Gesundheitsinstitutionen und gegenüber einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Um die wachsende Gruppe von Menschen des Bedürfnistyps 2 (r-/s+) besser zu erreichen, ist auch über ein neues Branding mittels eines Namenswechsels oder eines Namenszusatzes (Seelsorge als spezialisierte Spiritual Care) nachzudenken. In der französischsprachigen Schweiz ist eine Neubenennung der Seelsorge (bisher: aumônerie; neu: accompagnement spirituel) an einzelnen Orten bereits im Gange. Um das professionelle Selbstverständnis klinischer Seelsorge zu vermitteln und dem Trend zu ambulanter Versorgung zu entsprechen, bietet es sich an, zunehmend auch auf digitale Medien zu setzen. Dass nur 25 % der Befragten den Aufbau eines digitalen Seelsorgeangebots als sinnvoll erachtet, spricht nur auf den ersten Blick gegen eine solche Option. Sie entspricht der allgemeinen Zurückhaltung gegenüber dem Ausbau von Seelsorgeangeboten (s. Abb. 3), die durch die Unklarheiten bezüglich des Selbstverständnisses und der Adressaten klinischer Seelsorge zu erklären ist. Eine gezielte Digitalisierungsstrategie könnte vor diesem Hintergrund ein aussichtsreicher Weg professioneller Profilierung darstellen.

Über die Autoren

Prof. Dr. Simon Peng-Keller

Prof. Dr. theol., seit 2015 Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich. Begleiter kontemplativer Exerzitien im Geistlichen Zentrum St. Peter im Schwarzwald und im Lassalle-Haus, Schweiz. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich Spiritualität und Spiritual Care.

Jörg Schneider

M.A., Sozial- und Medienforscher, Geschäftsinhaber von js_studien+analysen und Research Associate am Forschungsinstitut für Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich.

PhD Fabian Winiger

Promovierter Medizin- und Sozialanthropologe. Seit 2018 tätig an der Professur für Spiritual Care an der Universität Zürich. Forschungstätigkeit im Bereich Spiritualität, Digitalisierung und Gesundheitswesen.

Prof. Dr. David Neuhold

Prof. Dr. Mag. theol., seit 2023 Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Hochschule Chur mit einem Schwerpunkt in Mittlerer und Neuerer Kultur- und Religionsgeschichte. Von 2018–2023 Mitarbeiter an der Professur für Spiritual Care an der Universität Zürich.

  1. Author contributions: All authors contributed to the conceptualization of the study, the evaluation of the data and the revision of the manuscript. JS was responsible for conducting the study and the data analysis, SPK for the writing of the manuscript. All the authors have accepted responsibility for the entire content of this manuscript and approved its submission.

  2. Research funding: This work was supported by the University Research Priority Program (URPP) Digital Religion(s), University of Zurich.

  3. Competing interests: Authors state no conflict of interest.

  4. Informed consent: Informed consent was obtained from all individuals included in this study.

  5. Ethical approval: The research related to human use complied with all the relevant national regulations, institutional policies, is in accordance the tenets of the Helsinki Declaration.

Literatur

Balboni TA, Van der Weele TJ, Doan-Soares SD, Long KN, Ferrell BR, Fitchett G, Koenig HG, Bain PA, Puchalski C, Steinhauser KE (2022) Spirituality in serious illness and health. Journal of the American Medical Association 328:184–197.10.1001/jama.2022.11086Search in Google Scholar PubMed

Bundesamt für Statistik (2020) Religiöse und spirituelle Praktiken und Glaubensformen in der Schweiz – Erste Ergebnisse der Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur 2019. Statistik der Schweiz. Bundesamt für Statistik: Neuchâtel. (Zitierdatum: 04.10.2023), abrufbar unter https://dam-api.bfs.admin.ch/hub/api/dam/assets/15023003/master.Search in Google Scholar

Bundesamt für Statistik (2023) Stand und Entwicklung. (Zitierdatum: 04.10.2023), abrufbar unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung.html.Search in Google Scholar

Cadge W, Sigalow E (2013) Negotiating Religious Differences: The Strategies of Interfaith Chaplains in Healthcare. Journal for the Scientific Study of Religion 52:146–158.10.1111/jssr.12008Search in Google Scholar

Houtman D, Tromp P (2021) The post-Christian spirituality scale (PCSS): Misconceptions, obstacles, prospects. In: Ai AL, Wink P, Paloutzian RF, Harris KA (Hg.) Assessing spirituality in a diverse world. Cham: Springer. 35–57.10.1007/978-3-030-52140-0_3Search in Google Scholar

Huber S (2008) Kerndimensionen, Zentralität und Inhalt. Ein interdisziplinäres Modell der Religiosität. Journal für Psychologie 16(3).Search in Google Scholar

Intervista (2023) intervista Online-Panel für Marktforschung. intervista. (Zitierdatum: 04.10.2023), abrufbar unter https://www.intervista.ch/panel-marktforschung/intervista-online-panel.Search in Google Scholar

Lawton A, Cadge W, Hamar Martinez J (2023) How does the American public interact with chaplains? Evidence from a national survey. Journal of Health Care Chaplaincy 1–15 (online ahead of print).10.1080/08854726.2023.2239109Search in Google Scholar PubMed

Pahud de Mortanges R, Schmid H, Becci I (2018) Spitalseelsorge in einer vielfältigen Schweiz: interreligiöse, rechtliche und praktische Herausforderungen. Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht. Zürich: Schulthess.Search in Google Scholar

Peng-Keller S (2021) Klinikseelsorge als spezialisierte Spiritual Care. Der christliche Heilungsauftrag im Horizont globaler Gesundheit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.10.13109/9783666624513Search in Google Scholar

Peng-Keller S, Meyer Kunz S (2020) Seelsorge auf der Covid-19-Intensivstation des Universitätsspitals Zürich. Spiritual Care 9: 217–219.10.1515/spircare-2020-0084Search in Google Scholar

Projektgruppe SeeliG (2018) Zwischenbericht zu Entwicklungsfragen der Spitalseelsorge. Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz. (Zitierdatum: 04.10.2023), abrufbar unter https://pk.spi-sg.ch/zwischenbericht-herausforderungen-fuer-die-seelsorge-im-gesundheitswesen/.Search in Google Scholar

Roser T (2017) Spiritual Care: Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen. Stuttgart: W. Kohlhammer.10.17433/978-3-17-033203-4Search in Google Scholar

Schwaiger L, Schneider J, Eisenegger Mark, Nchakga C (2022): Verschwörung als Ersatzreligion? Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsaffinität in Zeiten gesellschaftlicher Krisen. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik. November 2022.10.1007/s41682-022-00136-xSearch in Google Scholar PubMed PubMed Central

Stolz J, Bünker A, Liedhegener A, Baumann-Neuhaus E, Becci I, Dandarova Robert Z, Senn J, Tanner P, Wäckerlig O, Winter-Pfändler U (2022) Religionstrends in der Schweiz: Religion, Spiritualität und Säkularität im gesellschaftlichen Wandel. Wiesbaden: Springer Nature.10.1007/978-3-658-36568-4Search in Google Scholar

Winter-Pfändler U, Morgenthaler C (2010) Wie zufrieden sind Patientinnen und Patienten mit der Krankenhausseelsorge? Wege zum Menschen 62: 570–584.10.13109/weme.2010.62.6.570Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-01-18
Erschienen im Druck: 2024-02-29

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Hilfreiche oder schädliche Spiritualität?
  4. Originalia
  5. Empirische Grundlagen zur Weiterentwicklung klinischer Seelsorge. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage in der Schweiz
  6. SpECi – Ein Modellprojekt zur Implementierung spiritueller Kompetenz im Gesundheitswesen
  7. Verlauf und Inhalt der religiösen Bewältigung einer lebensbedrohlichen Krankheit
  8. Spiritualität im Kontext von Demenzerkrankungen. Ethische Anforderungen für eine ganzheitliche Betreuung am Lebensende.
  9. Spiritueller Missbrauch: Eine qualitativ-empirische Untersuchung von 105 Betroffenen in Freikirchen
  10. Werkstattbericht: Entwicklung und Evaluation eines neuen Tools für die seelsorgliche Dokumentation
  11. Research article
  12. Pastoral care and mental illness: A quantitative study to explore the competencies of Protestant pastors in Germany to support people who have a mental illness
  13. Erfahrungsbericht
  14. „Wie kann ich als zukünftige Gesundheits- und Pflegepädagogin Selbstsorge im Kontext von Spiritual Care im Unterricht der generalistischen Pflegeausbildung üben?“
  15. Spiritual Care auf einer Palliativstation. Erfahrungsbericht eines ehrenamtlichen Begleiters
  16. Das Stichwort
  17. Klage/klagen
  18. Esoterik, esoterisch
  19. Organisation
  20. Rezensionen
  21. Pamela Cone und Tove Giske (2022) The Nurse's Handbook of Spiritual Care. Hoboken: Wiley Blackwell. ISBN: 978-1-119-89077-5; 224 Seiten; Preis: D 48,90 €; A 48,90 €; CH 67,60 CHF; E-Book 33,85 €. Das Spiritual Care Handbuch für Pflegende
  22. Jürgen Janik (2022) Im Dienst der Kranken. Grundlagen einer Ethik und eines Ethos der Klinikseelsorge. Würzburg: Echter. ISBN 978-3-429-05765-7; 428 Seiten; Preis: D 48 € (Broschur); A 49,40 €; ISBN 978-3-429-05218-8 E-Book 39,99 €
  23. Cécile Loetz und Jakob Müller (2023) Mein größtes Rätsel bin ich selbst – Die Geheimnisse der Psyche verstehen. München: Hanser. ISBN: 9783446276086; 303 Seiten; Preis: D 25 €; A 25,70 €; CH 29,60 CHF; E-Book 18,99 €. My greatest mystery is myself – Understanding the secrets of the psyche.
  24. Petra Rechenberg-Winter (2022) Menschen in existenziellen Krisen begleiten. Selbstbegegnung, Orientierung und Haltung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN: 978-3-525-40801-8; 136 Seiten; Preis: D 18,00 €; A 19,00 €; CH 22,30 CHF; E-Book 18,00 €. Guiding people in existential crises. Self encounter, orientation, and attitude.
  25. Interview
  26. Spiritual and religious care – The Iranian perspective
  27. Spiritueller Impuls
  28. Ghosting
  29. Mitteilungen
  30. Mitteilungen
Downloaded on 10.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/spircare-2023-0068/html
Scroll to top button