Home Religionspsychologie, religionspsychologisch
Article Publicly Available

Religionspsychologie, religionspsychologisch

  • Michael Utsch EMAIL logo
Published/Copyright: January 19, 2017
Become an author with De Gruyter Brill

Zu Geschichte und Profession

R.es Denken ist zurückzuverfolgen bis zu den Beschreibungen des Erlebens, Träumens und Bewusstseins in den asiatischen Religionen und der frühchristlichen Philosophie und Mystik. Mit dem Beginn der Psychologie als empirischer Sozialwissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch religiöses Erleben und Verhalten wissenschaftlich untersucht, und es entstand ein Forschungszweig mit regen Aktivitäten.

Als Begründer dieser Disziplin gilt der Pfarrerssohn Wilhelm Wundt, der im Jahr 1879 in Leipzig das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie gründete, das vor allem Sinnesreize erforschte. Neben einer Allgemeinen Psychologie legte Wundt eine zehnbändige Völkerpsychologie vor. In dieser kulturwissenschaftlichen Untersuchung werden die höheren geistigen Prozesse wie die Entwicklung des Denkens, der Sprache, der Phantasie und der Religion beschrieben. Neben der kulturwissenschaftlichen Untersuchung kann man in der Blütezeit der deutschsprachigen R. bis in die späten 1920er Jahre drei weitere methodische Zugänge zur Religiosität unterscheiden. Bei der ‚experimentellen Introspektion‘ wurden unmittelbar nach der Lektüre religiöser Schriften die inneren Erlebnisse protokolliert und analysiert. In der phänomenologischen Richtung wurden religiöse Rituale untersucht, und aus tiefenpsychologischer Perspektive wurden systematische Zusammenhänge zu unbewussten Wünschen hergestellt.

Durch den Behaviorismus, die Dialektische Theologie und die Diskreditierung der Religion durch den Nationalsozialismus kam die Forschung zum Erliegen. Während in den USA seit den 1960er Jahre die quantifizierende r.e Forschung einen enormen Aufschwung verzeichnet, entsprechende Fachgesellschaften gegründet wurden und zahlreiche Fachbücher erschienen, blieb die Wiederbelebung dieser psychologischen Teildisziplin in Deutschland aus. Eine Ursache ist auch in der Bevorzugung quantifizierender Forschung innerhalb der Psychologie zu sehen, die „weiche“ und komplexe Phänomene wie Glaubensüberzeugungen übergangen hat. Während jedoch andere kulturelle Phänomene wie Sport, Musik, Arbeit oder Werbung heute psychologisch intensiv erforscht werden, fristet die R. in Deutschland immer noch ein Schattendasein. Nur einzelne deutschsprachige sozialwissenschaftliche Universitätslehrstühle beschäftigen sich aktuell damit.

Dagegen hat der amerikanische Fachverband der Psychologen APA in den letzten 15 Jahren über ein Dutzend (!) Lehrbücher zur Psychologie der Religiosität und Spiritualität herausgegeben. R.e Erkenntnisse werden in dem Fachjournal „Psychology of Religion and Spirituality“ veröffentlicht. Seit zwei Jahren erscheint zusätzlich die Quartalsschrift „Spirituality in Clinical Practice“, die spirituell geprägte klinische Interventionen wissenschaftlich untersucht (http://www.apa.org/pubs/journals/scp). Kenneth Pargament (2013) hat mit Kollegen ein zweibändiges Handbuch herausgegeben, das den aktuellen Wissensstand zusammenfasst.

Obwohl deutschsprachige theologische Autoren viel beachtete und differenzierte r.e Lehrbücher vorgelegt haben (Susanne Heine, Wien; Anton Bucher, Salzburg; Bernhard Grom, München), wird der Verdacht der christlichen Voreingenommenheit geäußert und fehlende Distanz zum Forschungsobjekt kritisiert. Ohne Zweifel ist eine ergebnisoffene Forschung auch bei dem persönlich bedeutsamen Thema des Glaubens wichtig. Allerdings wird die Förderung r.er Forschung in den USA von der Templeton-Stiftung mit ihrem Credo „Eine spirituelle Welt ist eine bessere Welt“ dominiert, wodurch manche Studiendesigns und Ergebnisse fragwürdig geworden sind.

Weil in der Psychologie die existenzielle Dimension des Menschseins vernachlässigt wurde, der Bedarf nach einer haltgebenden Sinndeutung angesichts gesellschaftlicher Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung aber gestiegen ist, hat sich in der Psychotherapie und Beratung ein psycho-spiritueller Lebenshilfemarkt etabliert, dessen Angebote zum Teil fragwürdig, ja gefährlich sind. Eine verbindliche Leitlinie zum professionellen Umgang mit religiös-spirituellen Bedürfnissen und existenziellen Fragen seitens eines psychotherapeutischen Fachverbandes steht noch aus.

Dieser Mangel, sowie gesellschaftliche Herausforderungen wie die Migrationsströme und ein bedrohlich zugenommener Fundamentalismus weisen auf die Bedeutung der R. hin. Die Pluralisierung der Glaubensüberzeugungen in der Gesellschaft macht ein kultursensibles Vorgehen unverzichtbar. Die R. liefert Verständigungshilfen, um das interreligiöse Gespräch und das Verstehen fremder Glaubenshaltungen zu ermöglichen. Der fundamentalistischen Versuchung nach Kontrolle über das Unverfügbare kann sie zu mehr Toleranz und zum Aushalten von Zweifel und Widersprüchen verhelfen.

Zwei Beispiele für psychologische Zugänge zur Religiosität und Spiritualität

Die Terrormanagement-Theorie hat mittels sozialpsychologischer Studien herausgefunden, dass religiöse Menschen mit Hilfe des Glaubens dem unausweichlichen Tod seinen Schrecken nehmen können (Solomon et al. 2016). Ausgangspunkt bildet das Wissen um die menschliche Sterblichkeit. Die Gewissheit des Todes, die dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb zuwiderläuft, kann ‚Terror‘ auslösen. Um diesen aversiven Zustand abzuwehren und dadurch ein erfolgreiches Terrormanagement zu betreiben, haben die Forscher zwei psychologische Strategien vorgefunden: die Aneignung einer kulturellen Weltsicht und die Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls. Aus r.er Sicht kann Religiosität die Todesangst verringern.

In der Persönlichkeitsforschung wird Spiritualität als eine anthropologische Konstante untersucht. Hier wird derzeit überprüft, ob Spiritualität das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (‚big five‘) um eine sechste Dimension ergänzt (Piedmont & Wilkens 2013). Der amerikanische Persönlichkeitspsychologe Piedmont entwickelte eine Spiritualitätsskala mit der zentralen Komponente der Verbundenheit: Horizontal hin zu Natur/Kosmos sowie sozialer Mitwelt und vertikal hin zu einer höheren Wirklichkeit oder der Transzendenz. Die meisten religiösen Systeme beschreiben Wege zu einem Transzendenzbezug, in der christlichen Tradition zu Gott. Piedmont hat seine Spiritualitätsskala an verschiedenen religiösen und säkularen Stichproben überprüft und dabei ‚spirituelle Selbsttranszendenz‘ als eine Universalie beschrieben, die er deshalb als grundlegender und umfassender ansieht als Religiosität. Zu den fünf empirisch gut belegten Persönlichkeitsdimensionen der Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, emotionalen Stabilität und Offenheit für Erfahrungen tritt nach Piedmonts Studien der Faktor ‚spirituelle Transzendenz‘ hinzu. Spiritualität als eigenständiger, sechster Faktor der Persönlichkeit wurde auch in dem stärker säkularisierten Kontext einer deutschsprachigen Studie nachgewiesen (Meindl & Bucher 2015). ‚Spirituelle Transzendenz‘ bezeichnet die Fähigkeit, sich außerhalb des unmittelbaren Raum- und Zeitempfindens zu begeben und von einer höheren Perspektive aus die Einheit und Verbundenheit allen Lebens wahrzunehmen.

Auch für andere Forschungsgebiete sind r.e Erkenntnisse relevant. Für die Erhebung eines demografischen „Religionsmonitors“ für Deutschland wurden genuin deutschsprachige Instrumente zur Erfassung der subjektiven Bedeutsamkeit (Zentralität) und der inhaltlichen Ausprägung entwickelt. In vielen anderen Bereichen besteht jedoch r.er Forschungsbedarf. Seit einigen Jahren wird bemängelt, dass die klassischen Modelle religiöser Entwicklung von theologischen Vorverständnissen geprägt sind und der Überarbeitung bedürfen. Hier ist besonders die Konversionsforschung von einem besonderen Interesse, weil Glaubenswechsel in pluralistischen Gesellschaften häufiger vorkommen und oft mit Konflikten einhergehen. Mit erstaunlicher Offenheit untersuchen Psychoanalytiker neuerdings die Religiosität und Spiritualität – möglicherweise weil immer mehr Patienten diese Fragen in die Behandlungen einbringen. Aus der Verbindung von Neuro- und Religionswissenschaft sind neue, vielversprechende Ansätze zum Verständnis der biologischen Grundlagen der Religiosität entstanden. Um die R. in Deutschland zu revitalisieren, sind vor allem eigenständige Forschungsprojekte nötig.

Literatur

Bucher A (2014) Psychologie der Spiritualität. Weinheim: Beltz.Search in Google Scholar

Grom B (2007) Religionspsychologie. München: Kösel. Search in Google Scholar

Heine S (2005) Grundlagen der Religionspsychologie. Modelle und Methoden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.Search in Google Scholar

Klein C, Berth H, Balck F (Hg.) (2011) Gesundheit, Religion, Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze. Weinheim: Juventa.Search in Google Scholar

Meindl J, Bucher A (2015) Gibt es eine spirituelle Persönlichkeit? Eine differentialpsychologische Studie. Wege zum Menschen 67:228–238.10.13109/weme.2015.67.3.228Search in Google Scholar

Pargament KI, Exline JJ, Jones JW (2013) APA Handbook of psychology, religion, and spirituality. Washington: American Psychological Association.10.1037/14046-000Search in Google Scholar

Piedmont RA, Wilkins TA (2013) Spirituality, religiousness, and personality: Theoretical foundations and empirical applications. In Pargament KI, Exline JJ, Jones JW (Hg.) APA Handbook of psychology, religion and spirituality, vol. 1. Washington: American Psychological Association. 173–186.10.1037/14045-009Search in Google Scholar

Schnell T (2016) Psychologie des Lebenssinns. Berlin: Springer.10.1007/978-3-662-48922-2Search in Google Scholar

Solomon S, Greenberg J, Pyszczynski T (2016) Der Wurm in unserem Herzen. Wie das Wissen um die Sterblichkeit unser Leben beeinflusst. München: DVA.Search in Google Scholar

Streib H, Keller B (2015) Was bedeutet Spiritualität? Befunde, Analysen und Fallstudien aus Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 10.13109/9783666604539Search in Google Scholar

Utsch M, Bonelli R, Pfeifer S (2014) Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen. Berlin: Springer. 10.1007/978-3-662-45902-7Search in Google Scholar

Online erschienen: 2017-1-19
Erschienen im Druck: 2017-4-1

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. „Spiritual Care“ im Plural
  5. Originalia
  6. Raum, Leib und Ritualität. Beobachtungen zu einigen Aspekten verleiblichter Spiritualität in Schweizer Universitätsspitälern
  7. Development of the connection between spirituality and medicine: historical and current issues in clinical contexts
  8. „Spiritual Care“ im Werden
  9. Der Care-Begriff in Spiritual Care
  10. Diskrete Spiritual Care – zwischen Dokumentationspflicht und Seelsorgegeheimnis
  11. Wenn die Sinnquelle zu versiegen droht ...
  12. Krankheit, Alter und Sterben in der Migrationsgesellschaft. Das Beispiel der bayerischen jüdischen Gemeinden
  13. Essay
  14. Dokumentation und Verletzbarkeit
  15. Spiritual Care – How does it work?
  16. Response to Eckhard Frick’s reflections on Spiritual Care
  17. Krankenhausseelsorge und Spiritual Care
  18. Was ist spirituell an der Medizin?
  19. Glaube versetzt Berge – Berge versetzen Glauben
  20. Bloß nicht im Abseits stehen
  21. Spiritueller Impuls
  22. Nur dieser Augenblick
  23. Interview
  24. Ein Ort, der Wohlbefinden, Glück und Zufriedenheit bringt
  25. Erfahrungsbericht
  26. Is a philosophically-oriented discussion serving the purpose of spiritual care?
  27. Seelsorge in der (stationären) Palliativversorgung
  28. Spiritual Care im Medizinstudium an der Universität Zürich
  29. Das frankophone Netzwerk Santé, Soins et Spiritualités RESSPIR
  30. Tagungsbericht
  31. Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität 2016: Spiritual Care und Islam
  32. Das Stichwort
  33. Religionspsychologie, religionspsychologisch
  34. Missionieren, missionarisch
  35. Rezensionen
  36. Gillen Erny (2016) Gesund geführt im Krankenhaus. Die Papst-Franziskus-Formel. Esch-sur-Alzette: Moral Factory. ISBN 978-1535249577; 80 Seiten; Taschenbuch 19,80 €; E-Book 9,98 €.
  37. George Fitchett & Steve Nolan (Hg.) (2015) Spiritual Care in practice: Case studies in Healthcare Chaplaincy. London: Jessica Kingsley Publishers. ISBN: 978-1849059763; 320 Seiten; Preis: 24,69 €, 18.99 £, E-Book: 15,70 €.
  38. Jeanine Young-Mason (Hg.) (2015) The Patient’s Voice. Experiences of Illness. Philadelphia: F.A. Davis. ISBN: 978-0-803-65865-3; 245 Seiten; Preis: E-Book 30,25 €.
  39. Mitteilungen
  40. Mitteilungen
Downloaded on 17.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/spircare-2016-0189/html
Scroll to top button