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Ohne zutreffende Diagnose keine gute Therapie

  • Christoph M. Schmidt EMAIL logo
Published/Copyright: October 18, 2023

Es gehört zu den beruhigenden Konstanten im Leben, dass selbst ein äußerst turbulentes Jahr eine Reihe wiederkehrender Fragen an uns richtet. Im laufenden Jahr 2023 lauten zwei dieser Kernfragen: „Befindet sich die deutsche Volkswirtschaft tatsächlich im (schleichenden) Niedergang?“ und „Was ist zu tun, um einem drohenden Niedergang entgegenzuwirken?“. Gute Antworten vor allem auf die zweite Frage sind dringend nötig, um überhaupt eine Chance zu haben, die von der Bundesregierung vollmundig angekündigte „Zeitenwende“ hin zu einer wirtschaftlich prosperierenden und zugleich ökologisch nachhaltigen sowie sozial inklusiven Zukunft zu verwirklichen. All das ohne gestärkte Wirtschaftskraft zu stemmen, dürfte kaum möglich sein.

In der vorherigen Ausgabe 2023/02 hatten die Kollegen Fuest und Potrafke sowie Gropp und Reifschneider dargelegt, dass der Einstieg in einen internationalen Subventionswettlauf wohl kaum Teil einer vernünftigen Antwort sein kann. Das in massiven Subventionszusagen an ansiedlungswillige Unternehmen manifest werdende praktische wirtschaftspolitische Handeln des laufenden Jahres weist jedoch stark darauf hin, dass diese Mahnungen bislang recht ungehört verhallen. Falls es so bliebe, könnte es rasch zu spät sein, eine echte Kurskorrektur einzuleiten und auf die forcierte Ausprägung eigener Stärken zu setzen.

 Foto: Sven Lorenz/RWI

Foto: Sven Lorenz/RWI

Die Rubrik Unsere Welt in Zahlen greift diese Thematik neuerlich auf. Die Abbildung in der vorherigen Ausgabe war noch darauf ausgerichtet, die ernsten wirtschaftlichen Konsequenzen der großen Herausforderungen der deutschen Volkswirtschaft zu illustrieren, die sich bereits vor der Corona-Pandemie aufgebaut hatten, aber im wirtschaftspolitischen Diskurs der vergangenen Jahre doch nicht ernst genug genommen worden waren. Alle drei sind noch da:

  • Die Einbindung deutscher Unternehmen in die globale Arbeitsteilung ist vulnerabel gegenüber Nationalisierungs- und Regionalisierungstendenzen.

  • Der einzig sinnvolle Beitrag Deutschlands zur globalen Nachhaltigkeitstransformation liegt in der Entwicklung (technologiebasierter) innovativer Lösungen, nicht im Verzicht.

  • Wirtschaftskraft und Innovationsfähigkeit unserer Volkswirtschaft werden durch den demographischen Wandel massiv infrage gestellt, Stichwort „Fachkräfte“.

Und leider sind zusätzliche Herausforderungen – Stichworte sind „Sicherheit“ und „Resilienz“ – zutage getreten, deren erfolgreiche Bewältigung weitere Ansprüche an unsere volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit stellt. Zu allem Überfluss werden die Spielräume, die uns durch Grenzen der planetaren Tragfähigkeit gesteckt sind, offenbar rasch kleiner.

Vor diesem Hintergrund unterfüttert die Abbildung in dieser Ausgabe illustrativ die nun endlich ins Rampenlicht rückende Debatte über die Attraktivität des Investitionsstandorts Deutschland: Die Abbildung kontrastiert rein illustrativ Abflüsse von Direktinvestitionen aus Deutschland und Zuflüsse von Direktinvestitionen nach Deutschland, jeweils in Relation zur aktuellen Wirtschaftsleistung, mit Maßen des aus Sicht des jeweiligen Vorjahres für die kurze (im kommenden Jahr) und mittlere (über die kommenden fünf Jahre hinweg) Frist für Deutschland zu erwartenden jahresdurchschnittlichen Potenzialwachstums.

Die aktuelle Kontroverse darum, ob Deutschland nun wieder der „kranke Mann Europas“ ist oder nicht, speist sich aus Eindrücken wie dem Niedergang der Zuflüsse am aktuellen Rand. Die Abbildung visualisiert das naheliegende Argument, dass diese Entwicklung nicht zuletzt eine Reflexion der Attraktivität des heimischen Investitionsstandorts darstellen könnte. Denn um das kurz- bis mittelfristig zu erwartende Potenzialwachstum ist es offenbar nicht sonderlich gut bestellt. Der Niedergang der zu erwartenden Wachstumsraten am aktuellen Rand dürfte dabei vor allem dem zunehmenden demographischen Wandel geschuldet sein, und das könnte die Entscheidungen potenzieller Investoren weiter eintrüben. Die Politik wäre offenbar gut beraten, diesem Argument mehr Aufmerksamkeit zu widmen als bislang.

In der Rubrik Aus aktuellem Anlass setzt sich 2023 als ein Jahr der Jubiläen fort: Vor 30 Jahren, am 1. November 1993, trat mit der Ratifizierung durch alle EU-Mitgliedstaaten der Maastricht-Vertrag in Kraft und schuf die rechtliche Grundlage für die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Otmar Issing (CFS, Frankfurt), der einstige Chefökonom der Deutschen Bundesbank und Gründungs-Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB), wirft einen Blick auf die seitdem gesammelten Erfahrungen. Mehrere große Krisen konnten überwunden werden, aber es gibt zum Teil auch fundamentale Kritik. Issing warnt, dass diese Kritik jedoch meist übersieht, dass jede in der Realität eingebettete kontrafaktische Weichenstellung ihre eigenen Konflikte und Probleme aufgewiesen hätte und dass somit unklar bleiben muss, welche Alternativen zu insgesamt überzeugenderen Ergebnissen geführt hätten.

Der nächste Artikel ist dem endgültigen Rückzug aus der Nutzung von Kernenergie zur Elektrizitätserzeugung gewidmet. Hiermit ist die Angelegenheit noch keineswegs erledigt, wie Christian von Hirschhausen und Alexander Wimmers (beide TU Berlin und DIW Berlin) zeigen: Rückbau der abgeschalteten Kernkraftwerke und Entsorgung radioaktiver Abfälle werden uns noch Jahrzehnte begleiten. Bereits heute allerdings stellen sich wichtige ordnungspolitische Fragen aufgrund der Verzögerungen im Rückbau von Forschungsreaktoren und kommerziellen Reaktoren sowie angesichts der angekündigten Verschiebung der Entsorgung radioaktiver Abfälle um mehrere Jahrzehnte. Vor allem gilt es, Wege zu finden, Prozesse zu beschleunigen und die sich aus den Verzögerungen ergebenden Kostensteigerungen zu begrenzen.

Die zum Auftakt der lange ausstehenden Gesamtedition seines Werks veröffentlichten Briefe des bedeutenden deutschen Nationalökonomen Walter Eucken aus den Jahren 1907–1933 bieten für Karen Horn eine Gelegenheit, um unsere Vorfreude auf die Entdeckung vielfältiger weiterer Schätze aus dessen Nachlass zu wecken.

Das Gespräch führte sie mit Volker Wieland (Frankfurt), dem langjährigen Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den er mit seiner makroökonomischen Expertise in dieser Zeit stark geprägt hatte. Es geht um Inflation und Geldpolitik, Staatsfinanzen, makroökonomische Modelle – und den Sachverständigenrat.

Wohl kaum ein Thema heizt die öffentliche Debatte ähnlich intensiv an wie die Entwicklung der Wohnungsmieten. Am Beispiel Berlins zeigen Bernd Raffelhüschen und Sebastian Will (beide Freiburg) allerdings in ihrem Beitrag aus der Forschung nicht nur, dass die Bestandsmieten weit langsamer gestiegen sind als die Neuvertragsmieten, sondern dass ihre Steigerung durch das Wachstum der Einkommen in den zurückliegenden Jahren übertroffen wurde. Das Risiko einer hohen Mietbelastung relativ zum Einkommen fällt jedoch für Junge, Zuziehende und Geringverdienende tendenziell deutlich höher aus als für andere Mieter.

Johannes Rausch (MEA, München) demonstriert auf Basis eines einschlägigen Rentensimulationsmodells, wie wichtig es bei Abschätzungen der künftigen Entwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) sein kann, die Einkommensheterogenität der Versicherten zu berücksichtigen. Werden Aspekte wie unterschiedliche Lebenserwartungen und Rentenbezugsdauern berücksichtigt, erhöht sich nicht nur die Projektionsgüte der Simulationsmodelle, sondern es ergeben sich auch inhaltlich wertvolle Erkenntnisse, insbesondere im Hinblick auf die Verteilungseffekte von Rentenreformen.

Wie dem Phänomen der Steuerhinterziehung erfolgreich begegnet werden kann, bleibt trotz aller Erkenntnis- und Regelungsfortschritte ein Dauerbrenner der ökonomischen Forschung. Dieter Pfaff, Patricia Ruffing-Straube (beide Zürich) und David Staubli (Eidgenössische Steuerverwaltung) analysieren für die Schweiz die Konsequenzen der internationalen Einführung des automatischen Informationsaustauschs (AIA), in Verbindung mit der dort seit einiger Zeit bestehenden Möglichkeit zur straflosen Selbstanzeige. Zudem nutzen sie kantonale Unterschiede, um die Bedeutung möglicher Bestimmungsfaktoren der Steuerhinterziehung empirisch auszuloten.

Wir zählen bei den Perspektiven der Wirtschaftspolitik weiterhin auf Ihre Einreichungen! Und ich wünsche Ihnen an dieser Stelle wiederum eine anregende Lektüre, herzlichst

Ihr Christoph Schmidt

Online erschienen: 2023-10-18
Erschienen im Druck: 2023-11-06

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 10.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pwp-2023-0043/html
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